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Shakespeare-Visionen

Einleitung zum dritten Druck der Marées-Gesellschaft

Diese Blätter enthalten Shakespeare-Visionen moderner Künstler. Hier entzündet sich Phantasie an den Gesichten, die der Seele des großen Briten entstiegen und von seinem inneren Auge zuerst wahrgenommen worden sind. Die wiederholten Gesichte haben neue Gestalter und neue Gestalt gewonnen, durch die sie sichtbar bleiben und fortwirken.

Die Vision des Dichters hat eigentlich keine Sichtbarkeit. Sie geht von Einbildungskraft zu Einbildungskraft mittelst krauser Zeichen. Einbildungskraft jedoch nennt Kant ein blindes Vermögen der Seele.

Vielleicht wird jede Shakespeare-Vision durch jede äußere Sichtbarkeit abgeschwächt: durch die des Pinsels, des Griffels sowie der Bühne, weil sie allein in dem blinden Vermögen der Seele ganz zu Hause ist. Aber was kann man über das Geheimnis des Hin und Her von geschriebener Sprache und innerer Apperzeption überhaupt aussagen?

Oder was wissen wir über den Schöpfungsprozeß, der den Visionen und Gestalten Shakespeares ihre besondere Art von Realität, Dauer und Weihe gibt? Eines von Shakespeares Dramen heißt »Der Sturm«. Vielleicht kann man den Sturm als Symbol des Schöpfungsprozesses gelten lassen. Es geschehen vielleicht in der Dichterseele Ballungen stürmender Rotation, erzeugen im Verdichten Wärme, Licht und zuletzt das Leben. Dabei ist etwas wie Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman.

Überhaupt: Ormuzd und Ahriman, Gott und Teufel, bekämpfen sich, und Schauplatz dieses Dramas ist des Menschen Brust.

So wäre denn jeder Mensch Dramatiker? Ich meine, daß es so ist. Goethe suchte die Urpflanze. Man könnte mit mehr Recht nach dem Urdrama, und zwar in der menschlichen Psyche, suchen. Es ist vielleicht zugleich der früheste Denkprozeß.

Ursprung alles Dramatischen ist jedenfalls das gespaltene oder doppelte Ich. Die beiden ersten Akteure hießen homo und ratio, oder auch »du« und »ich«. Das primitivste nach außen zur Erscheinung gebrachte Drama war das erste laute Selbstgespräch. Die erste Bühne war nirgend anders als im Kopfe des Menschen aufgeschlagen. Sie bleibt die kleinste und größte, die zu errichten ist. Sie bedeutet die Welt, sie umfaßt die Welt mehr als die weltbedeutenden Bretter.

Der Seher und Schöpfer großer Dramen bedarf allerdings nicht nur der Einbildungskraft, sondern auch der Ausbildungskraft. Er ist Bändiger und Verdichter des Sturms, Schöpfer, Demiurgos einer neuen, inneren Himmels-, Erden- und Menschenwelt, über deren Geschicken er mit der Zaubergewalt eines Prospero waltend schwebt, auch bewirkt, daß diese ganze seiende und nichtseiende Schöpfung anderen im göttlichen Lichte der Kunst erkennbar wird.

Prospero-Shakespeare ist dieser Zauberer. Niemand hat so wie er die Gewalten magischer Täuschungen in der Hand. Wir unterscheiden seine Welt des Scheins in vielen ihrer Gestaltungen nicht von der Wirklichkeit. Wem wäre zum Beispiel Falstaff nicht eine Realität! Kein Mensch ist es mehr, dem man irgend im Leben begegnet und nahe gewesen ist. Er wirkt so real wie ein Schauspieler, der ins Theater ging, um zu spielen, und den man hernach bald da, bald dort auf der Straße trifft. Sein Leibgericht und Getränk kennen die Weinwirte. Man weiß nicht nur, wie es um seinen Geldbeutel, sondern auch, wie es um sein Hirn, sein Herz, seine Leber beschaffen ist.

Es gibt unter den Dichtern keinen, der es uns so leicht macht, die Fiktion aufrechtzuerhalten, als hätten wir es in seinen Geisteswerken nicht mit Erdichtungen, sondern mit Wirklichkeiten zu tun. Der Zauber, das göttliche Blendwerk dieses Prospero, ist unergründlich und unübertrefflich. »Man kann über Shakespeare gar nicht reden, es ist alles unzulänglich«, sagt ein Goethewort. Also tritt der Sprecher zurück und gibt denen Raum, die als Künstler bilden, nicht reden.

1918.


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