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Tagebuchblätter

Sebaldusgrab. Wie grazil es ist! wie die Apostel gleich göttlichen Flammen auf Leuchtern stehen! wie alles auf eine unsägliche Kostbarkeit im Innern des Sarges deutet!

Man muß die Art, wie der Meister sein Kunstwerk genoß, wiederfinden: dann werden es die Schnecken, auf denen es ruht, langsam und feierlich um sich selbst bewegen und um das Kind, das die zentrale Erneuerung der Welt bedeutet, die es zugleich als höchste Spitze und Blüte trägt.

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Im Stephansdom, den ich morgens besuchte, empfing ich einen tiefen Eindruck von dem Grabmal Kaiser Friedrichs des Dritten (begonnen von Niclas Lerch aus Leyden 1467, vollendet 1513 durch Michael Dichter). Es ist aus rotem Marmor und steht im sogenannten Passionschor. Es ist ein gewaltiger Ernst mit diesen Monumenten in den Chor gebracht, der in der Kirche sonst nirgend noch erreicht wird. Hier ist kalte, finstere Kraft ausgesprochen, und die Nische hat eine drohende Weihe. Merkwürdig sind Gestalten von Dämonen, in Form von Hunden und Affen: sie füllen, einer an den anderen geschlungen, eine Art Rinne oder Graben aus, der um das ganze Monument geht. Die Kette ist unterbrochen durch einen Menschenschädel, zwischen dessen Kinnladen eine dicke Schlange hineinkriecht. Die Hunde nehmen allerhand natürliche beobachtende Stellungen ein, kratzen sich und so weiter, desgleichen die Affen. Dieser ganze Kranz um den altarähnlichen Bau herum ist von grausiger Kälte und Bizarrerie.

25. Januar 1897.

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Ich sah gestern im Stephansdom mit großer Ruhe ein kleines Marienbildchen, das mit einem silbernen Gitter überzogen ist und dem man göttliche Ehren erweist. Etwa hundert Menschen standen und knieten immer gleichzeitig und Gebete lispelnd davor. Der Türsteher sagte mir, Kaiser Franz Joseph habe es von Tetschen hierherbringen lassen, weil es ein wundertätiges Bild sei und aus den gemalten Augen Tränen vergossen habe. Am Fundort sei es nicht genügend verehrt worden und stünde deshalb nun hier. In der Tat: es brannten auf eisernem Ständer davor dicke und dünne, lange und kurze Opferkerzen, deren Flammen der kalte und düstere Steinhauch des riesigen Kirchenraumes hin und her bog. In der flackernden Beleuchtung gab es ein unaufhörliches Neigen, Beugen, Sichniederlassen, Sicherheben, Kommen und Davongehen. Die Andächtigsten und Gläubigsten küßten das silberne Gitter.

26. Januar 1897.

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Die Orientpracht der Kirche von San Marco erschließt Venedig. In dieses goldene Haus gehören die Purpur- und Goldgewänder der Dogenzeit. Ein messelesender Priester ordnet sich in den Prunk durch sein feuerfarbenes Meßgewand.

Von San Marco zu Tizian ist ein kleiner Schritt. Hier mußte der Meister von Pieve di Cadore gewandelt haben.

Die Priester sind zufällige Besiedler dieser Prachtschale wie die Larve eines gewissen Insekts des Raumes im Inneren einer Haselnuß. In gewisser Weise sind Priester mehr.

Tätiger Wahn, zeugender Wahn! Ist nicht dies alles, was wir wünschen können? Diese Schale ist da, um eine religiöse Hauptempfindung teils zu zeugen, teils zu verherrlichen, teils durch Umhüllung zu behüten. Nicht so die Natur. Kunst gebiert dem Menschen das Göttliche. Kunst aber ist menschlichen Ursprungs durchaus. Marmor, Porphyr, Gold, Eisen, Silber, dem menschlichen Handwerk unterworfen, das wieder der Geist zur Einheit fügt, hat die Hülse geschaffen für etwas Ungreifbares, Unmeßbares, Unwägbares, Unsichtbares.

1. Februar 1897.

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Ich träumte von Lohnig. Ich besah mir die Scheune, wo ich als Vogt neben den Arbeitern gestanden habe. Der Hof machte einen öden Eindruck. Ich ging dann ins Herrenhaus, wo Tante Julie noch wohnte, aber gänzlich vereinsamt. Die Räume und Wände enthielten für sie und mich noch die Schatten der Vergangenheit. Es herrschte ein fremder Verwalter. Wir schritten gemeinsam durch eine ungeheure Allee von Kastanien: Tante Julie und ich. Auf einmal fühlte ich, sah in ihrem Gesicht die Veränderung zum liebenden Weibe. Um die Lippen spielte Zärtlichkeit, Humor und kindliches Leben. Da sah ich und weiß nun auch im Wachen, was ihr das Leben genommen hatte. Unter den Seitenfenstern war ein stehendes Wasser, ein Teich: düster von Pappeln und Weiden umgeben. Gelbe Blätter bedeckten überall die Ufer.

Mai 1898.

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Mir ist, als hätte ich den Grat eines Gebirges erstiegen, auf dem ich nun gehe. Der Gang ist sicherer, ruhiger, leichter, indessen der innere Auftrieb, der zwecklos geworden ist, fehlt. Jetzt blicke ich gradeaus, nicht mehr in die Höhe. Ich blicke nach unten, wohin ich, wie ich fühle, wieder hinabsteigen muß, wenn ich eine Strecke in der Höhe werde gewandelt sein. Früher baute ich Utopien und bildete im Ringen nach ihrer Verwirklichung. Jetzt schwebt mir ein plastisches Werk vor, ein großes Denkmal vieler Freuden, Menschen und Dinge. Ein solcher Tempel des Todes müßte resignierend und veredelnd, scheint mir, in das noch übrige Leben hereinwirken.

14. Juni 1898.

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Warum bin ich nicht Musiker, der ich doch vor allem Musiker bin? Ich habe gestern von Sonnenuntergang bis tief in die Mondnacht mit allen Sinnen Musik gehört. Es gibt in der Musik das Konkrete und das Abstrakte wie in jeder Sprache. Die Musik des Sonnenuntergangs, die Musik der Meeresunendlichkeit, die mystische Musik der lebenzeugenden Meerestiefe, die konkrete Musik der Brandung, die machtvolle der zerklüfteten, wilden Felsküste mit ihren Faltungen und Verwerfungen. Der Kirchhof auf der Spitze mit seiner Musik. Die Musik der fortschreitenden Dämmerung, der hereinbrechenden Nacht. Das Aufgehen der Lyra des Himmels mit dem Gesang der Sterne. Luna, die Trägerin so zahlloser menschlicher Irrtümer der Sehnsucht, mit ihrer rätselvollen Urmusik. Gegen diese duldende steht die gewaltig aktive des Sol. – Die Musik der Straßen. Das aufdringende Geschrei der Menschen. Die Hähne mit ihrer Musik. Der große Karren mit riesigen Rädern, diese sich bewegend in Ton und Rhythmus. Die Schlittenschellen der vier Gäule: diese selbst von unten beleuchtet und ihre Musik. Das schwankende Licht der unterm Wagen baumelnden Laterne und die seine. Der singende Fuhrmann dazu und so weiter, und so weiter.


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