Gerhart Hauptmann
Die goldene Harfe
Gerhart Hauptmann

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Vierte Szene

Der gleiche größere Terrassensaal wie in der zweiten Szene.
Gherardini öffnet das Klavier und ordnet Noten. Die goldene Harfe ist da, und Jutta stimmt an ihr herum. Diener Sulzer rückt Stühle und Fauteuils zurecht für ein zu erwartendes Auditorium.
Wunderbarer Frühsommermorgen. Zeit gegen zehneinhalb Uhr.

Gherardini, lustig. Was heißt das, Sulzer: ich habe meine Klavierschüler wegen des Mozart-Trios eine halbe Stunde früher nach Hause geschickt, und nun läßt sich keiner der Herrschaften blicken?!

Sulzer. Die Komteß mit den Zwillingsgrafen sind vom Morgenritte noch nicht zurück.

Gherardini. Ein Leben in dulci jubilo, das ich an sich ja mit Freuden begrüße, besonders im Hinblick auf die Komteß. Und warum überhaupt ein Morgenkonzert, da ja die Vögel im Park Tag und Nacht musizieren?! Einem Sprosser habe ich gestern nacht wohl eine Stunde lang zugehört. Dieser Vogel ist sicherlich selbst unter seinesgleichen ein besonderes Genie. Er imitierte tausendfältig das Drama seines Lebens mit den Stimmen seiner Akteure: den Pfiff des Stars, die Geige des Finks, die bescheidenen Liebeserklärungen seines brütenden Weibchens macht er nach. Er scheint ein Konzert im lunarischen Halblicht zu dirigieren, darin die Geräusche der Grillen, der Heuschrecken, der Libelle und viele andere mitwirken. Es sind Stimmen, die er in blitzschnellem Wechsel nacheinander, miteinander und gegeneinander von örtlich scheinbar getrennten Punkten wirken läßt. Und doch ist nur er allein der Sänger. Wenn er volle Glockentöne hören läßt, denkt man etwa an einen See im Elysium, auf dessen glänzenden Spiegel glänzende Tropfen von den regenfeuchten Flügeln eines Engels herabfallen, der darüberfliegt. Wieder von anderen seiner Töne ist zu sagen: sie spalten die Nacht wie fallendes Licht . . . Es ist die Liebe, nicht zu vergessen, die Liebe, die uns alle zu Sängern macht. Was ich ihm übrigens wünsche, diesem Tausendsassa von einem Singvogel, ist ein bißchen weniger Unermüdlichkeit; denn er zwingt, bei geschlossenem Fenster zu schlafen.

Jutta, mit einigen Harfengriffen. Die Komteß sagt, ich müsse auch reiten lernen, Papa.

Gherardini. Das haben dir Erlaucht der Herr Reichsgraf ja schon immer angeboten. Du hast es aber mit Geige und Harfe zu tun, und das Reiten macht harte und stumpfe Hände.

Jutta, unter Arpeggien. Lebt man denn nur um des Musizierens willen, Papa?

Gherardini, mit herzhaftem Lachen. Es scheint mir, ihr habt eine neue Weltanschauung aufgebracht, du und die Komteß, mit dem Grundsatz, nur so in den Tag hineinzuleben.

Jutta nimmt die Hände von den Saiten. Gestern sagte Juliane wirklich allen Ernstes zu mir, es beherrsche sie eine ausgesprochene Vergnügungssucht. Wieso und warum, wisse sie nicht.

Gherardini. Mir ist die Verwandlung unsrer lieben Komteß nun nicht weiter verwunderlich. Wer, der nicht zum Besenstiele geworden ist, wollte dem Sturmwind des Lebens, der mit den beiden Grafen über uns gekommen ist, standhalten?! – Aber wenn die Herrschaften nun nicht bald kommen, werde ich Ihnen die Appassionata vorspielen, Sulzer. Kommen Sie her, Sie lieben ja doch die Musik . . .

Sulzer. Sie belieben zu scherzen, Meister. Sulzer öffnet eine Tür und läßt die Reichsgräfin Anna, den Reichsgrafen Waldemar und Gräfin Ludmilla eintreten.

Reichsgräfin Anna. Das Kleeblatt noch immer nicht da, lieber Meister?

Gherardini. Immer noch nichts zu spüren davon.

Reichsgräfin Anna. Es ist ihnen doch nichts zugestoßen? ich meine, da ja doch Juliane seit Jahren nicht mehr im Sattel gewesen ist.

Reichsgraf Waldemar. Sie hat sich brillant hineingefunden, und an Angstvisionen leide ich nicht.

Gherardini. Kastor und Pollux zu beiden Seiten, die Rossebändiger par excellence: wer bekommt nicht Respekt, der sie in Rom auf der Treppe zum Kapitol gesehen hat?! Bei solcher Bewachung – was sollte der Reiterin zustoßen?!

Reichsgräfin Anna. Was sagen Sie überhaupt, Meister, zu unserer Tochter?!

Gherardini. Ich gratuliere schon heut und denke, am Ende dieser Reihe von schönen Tagen wird erst recht, und in einem präziseren Sinne, zu gratulieren sein.

Reichsgräfin Anna. So weit versteigen sich Ihre Hoffnungen? Juliane ist unberechenbar: sie hat bisher noch jeden Bewerber schließlich und endlich ausgeschlagen.

Gherardini, mit anzüglichem Lachen. Und im gegebenen Falle bietet sich für die Umworbene noch eine ganz besondere Schwierigkeit, ähnlich der von Buridans Esel zwischen den beiden Heubündeln.

Reichsgräfin Anna. Um ein treffendes Scherzwort wird der Meister niemals verlegen sein.

Reichsgraf Waldemar. Die Wahl würde schwerfallen, ganz gewiß: die Grafen gleichen einander, jeder in seinen besonderen Vorzügen, abgesehen davon, daß man ihre Stimmen, wenn man sie nicht sieht, unmöglich unterscheiden kann.

Gräfin Ludmilla. Man kann sie buchstäblich nicht unterscheiden.

Reichsgräfin Anna. Vielleicht wäre der eine tiefer, der andre blendender.

Gräfin Ludmilla. Beide haben mein Herz gewonnen – letztlich aber zieht es mich zu dem Tieferen, zu dem Dichter-Grafen, hin.

Jutta nickt bedeutsam mit dem Kopf.

Reichsgraf Waldemar. Gräfin, Sie werden ja rot, Sie geraten in Feuer!

Gherardini. Man beruft einen Menschen als tief, einen anderen als flach: trotzdem kann gerade der Oberflächliche tief und der Tiefe der Oberflächliche sein.

Reichsgraf Waldemar. Nun, jetzt tollen ja beide mit Juliane manchmal wie Buben herum.

Reichsgräfin Anna. Damals ging es ebenso zu, eh sie mit Heinz-Herbert ins Feld zogen. Gott sei Dank hat die heutige Fröhlichkeit nicht den dunklen, schicksalsschweren Hintergrund!

Gherardini. Das gebe der Himmel! wir wollen auf Holz klopfen. Er pocht stark, so daß die Saiten hallen, mit dem Knöchel auf den Klavierdeckel.

Reichsgraf Waldemar. Es war für Juliane höchste Zeit. Man konnte fürchten, sie werde tiefsinnig. – Hätten wir Sie nicht gehabt, lieber Meister, der Sie gleichsam ein immer wacher Arzt an Julianens Seite gewesen sind – vielleicht wäre der Umschwung zu spät gekommen.

Gherardini. Erlaucht, ich vertraue auf die Komteß. Selbstverständlich bei einer großen Natur, daß sie zur Tragik fähig ist. Ist sie erst einmal ganz gereift, wird sie gewiß auch das Leben meistern. Man hört Lärm und Lachen über die Terrasse. Nun, die Windstille ist vorüber. Gebe Gott den gesunden und frischen Lüften Bestand!

Die beiden Grafen Friedrich-Alexis und Friedrich-Günther bringen Komteß Juliane zwischen sich auf ihren verbundenen Händen hereingetragen. Sie hat den rechten Arm um Graf Friedrich-Alexis', den linken Arm um Graf Friedrich-Günthers Nacken gelegt. Sie ist im Reitkleid. Die Grafen tragen Reitröcke und Zylinder. In das übermütige Gelächter der Gruppe stimmt vor allem Gherardini ein.

Gherardini. So lobe ich mir unsre allgeliebte Komteß: mit heiterer Seele und lachendem Herzen, von starken Armen durchs Leben getragen.

Graf Friedrich-Alexis. Nun halt! und mit jeder gebotenen Sorgfalt, Günther! Das allerkostbarste Gut im ganzen großen Römischen Reich Deutscher Nation ist uns anvertraut.

Sorgfältig, als ob sie aus Glas wäre, wird die Komteß auf die Füße gestellt.

Komtess Juliane. Guten Morgen, maman. Guten Morgen, Papa. Guten Morgen, Meister. Wir haben einen wundervollen Ritt gehabt!

Graf Friedrich-Alexis. Die Komteß ist wie Penthesilea geritten.

Graf Friedrich-Günther. Eine Zeitlang sind wir einem Stück Rotwild über Hecken und Gräben nachgaloppiert.

Komtess Juliane. Ein wildes Vergnügen, kleine Jutta, weitab von der Harfe, weitab von Musik. Man fühlt etwas anderes in sich aufstehen, etwas, das im Schoße vergangener Zeiten einmal der ganze Mensch gewesen ist.

Gherardini. Es ist das Gesunde, man sollte es niemals vernachlässigen.

Graf Friedrich-Alexis rezitiert.
    Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
    wo Starkes sich und Mildes paarten,
    da gibt es einen guten Klang.

Reichsgräfin Anna. Ich staune, sie ist völlig umgeschlagen.

Komtess Juliane. Was meinst du mit umgeschlagen, maman?

Reichsgräfin Anna. Ich meine damit, daß du sozusagen über Nacht den Wildfang in dir wiedergefunden hast, der du als kleines Mädchen gewesen bist.

Komtess Juliane. Was bleibt einem übrig, zwischen zwei solchen Wildfängen?!

Sie tippt dem einen wie dem anderen Zwilling, die beide gebeugt stehen, mit der Reitgerte auf den Hut.

Graf Friedrich-Alexis. Für jede Unart bitten wir untertänigst um Entschuldigung.

Graf Friedrich-Günther. Und nun wollen wir uns vor allem umziehen.

Reichsgräfin Anna. Ja, wenn überhaupt das Konzert noch stattfinden soll.

Graf Friedrich-Alexis. Meine Finger sind leider ganz steif, ich fürchte, ich kann den Flötenpart nicht durchführen.

Komtess Juliane. Und meine geliebte Harfe – o weh!

Graf Friedrich-Alexis. Dann soll uns wenigstens Günther, von Meister Gherardini auf dem Klavier begleitet, die »Adelaide« in der Vertonung von Beethoven vortragen.

Jutta. Oder, mit Erlaubnis der Komteß, begleitet von mir auf der goldenen Harfe.

Graf Friedrich-Günther. Verzeihung, ich singe längst nicht mehr.

Graf Friedrich-Alexis. Er lügt – Sie würden den größten Genuß haben.

Sulzer. Belieben die Komteß ein Glas Mandelmilch?

Komtess Juliane, sich fächelnd. Limonade, Mandelmilch – was du willst. Sie läßt sich in einen Lehnsessel fallen. Ja, singen Sie uns! singen Sie uns die »Adelaide«!

Gherardini singt feurig.
    Abendlüftchen im zarten Laube flüstern,
    Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln,
    Wellen rauschen und Nachtigallen flöten:
    Adelaide!
Aber diese Adelaide ist tot und begraben – wir hier wollen dem Leben huldigen.

Graf Friedrich-Günther. So oder so: jeder wahrhaft gelebte Tag ist ein Auferstehungstag

Komtess Juliane, plötzlich unsicher. Ja ja, das mag immer sein, aber . . . ich verstehe mich denn doch manchmal nicht, wie ich so in den Tag hineinlebe.

Reichsgraf Waldemar legt seine Hand auf ihren Scheitel. Hier gibt es kein Wenn und kein Aber, Juliane. Wir alle im Schloß sind glücklich und überglücklich, daß du so heiter bist.

Gherardini, schalkhaft auf dem Klavier anschlagend, ohne den Text zu singen: »Das ist Lützows wilde verwegene Jagd.«

Komtess Juliane zuckt zusammen, sieht sich fremd um, faßt, wie um sich zu besinnen, an die Stirn. Zu Jutta. Sag, was ist heut für ein Wochentag?

Jutta. Mittwoch, Komteß.

Komtess Juliane. So hab' ich mich gestern einer schweren Unterlassung schuldig gemacht. Nach einem Augenblick des Nachdenkens entfernt sie sich schnell und ohne Abschied.

Reichsgräfin Anna. Was mag sie wohl haben, Waldemar?

Gherardini. Ich bin zu tadeln, ich trage die Schuld, weil ich »Lützows wilde verwegene Jagd« intoniert habe. Ich würde mir gern die härtesten Strafen zudiktieren, könnte ich diesen Fauxpas ungeschehen machen.

Reichsgräfin Anna. Ist es immer noch so empfindsam, das liebe Ding?

Jutta. Komteß Juliane pflegen jeden Dienstag persönlich irgendeine Blumenspende am Grabmal im Park niederzulegen, weil Graf Heinz-Herbert an diesem Tage gefallen ist. Gestern ist es vergessen worden.

Reichsgraf Waldemar. Sie hat es vergessen, und jetzt ist's ihr eingefallen – gewiß. Wir wollen den Umstand weiter nicht schwernehmen. Suspendieren wir das Konzert – zum Frühstück ist sie bei strahlender Laune!

Die beiden jungen Grafen meistern ihre Erregung durch eine streng gesellschaftliche Haltung.

 


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