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Geht vor sich acht Monate nach dem vierten Akt. Der Garten eines kleinen Anwesens unweit Hamburg. Alte Bäume, verwilderte Wege. Der Garten wird rechts durch die Rückseite eines kleinen Landhauses abgeschlossen. Es hat nur Parterre und Dachgeschoß. Zur Haustür führt eine Steinstufe. Zwei Fenster auf jeder Seite der Tür.
Ein Lattenzaun schließt dicht hinter dem Hause das Grundstück ab. In diesem Zaun, nahe dem Hause, Eingangspförtchen. Mit diesem Teil grenzt er an die Straße, mit dem anderen, weitaus größeren, an ein Nachbargrundstück, in dem auf Leinen zwischen Pfählen Wäsche getrocknet wird. Auch an einem Waschtrog sind junge Wäscherinnen tätig.
Hubert Pfannschmidt sitzt auf einer Bank an der Hauswand unter den Fenstern, über ein Buch gebeugt, das vor ihm auf einem länglichen Tische liegt. Durch das Gartenpförtchen kommt Gotthold mit dem Schulranzen.
Hubert. Nichts von Onkel Herbert bemerkt, Gotthold?
Gotthold. Im Zug war er nicht.
Hubert. Na ja, er ist ja auch nicht allein. Und dein ehrenwerter Erzieher, der gewaltige Pastor Angermann, würde sich ja vor dir erst recht nicht verstecken können.
Gotthold. Und ich bin ausdrücklich, ehe ich einstieg, auf dem Dammtorbahnhof mehrmals den ganzen Zug auf und ab gelaufen.
Leonore, im Küchenkostüm, tritt aus der Haustür. Du bist's, Gotthold! – Nun also, wir können mit Essen anfangen!
Hubert. Vielleicht bringst du mir meinen Löffel Suppe heraus. Die Zimmerluft legt sich mir auf den Brustkasten.
Gotthold. Ich bringe dir alles heraus, Papa.
Gotthold und Leonore verschwinden ins Haus. Dr. Weiß erscheint hinter dem Gartenpförtchen. Er trägt Strohhut, Sommerpaletot, Stock und macht einen gutbürgerlichen Eindruck.
Hubert. Die Tür ist offen, drücken Sie nur.
Dr. Weiß. Ich wollte Ihnen nur mal guten Tag sagen. Und dann wollte ich mich erkundigen, wie das Befinden unserer Patientin ist.
Hubert. Kommen Sie nur getrost herein, Doktor!
Dr. Weiß ist unsicher eingetreten. Erlauben Sie, ich gehe gleich wieder. Auch nach Ihrem Befinden wollte ich mich natürlich erkundigen.
Hubert. Ich werde langsam zu Wasser, Doktor. Meine Beine sind schon zwei Wasserkannen. Und was nun Dorothea betrifft . . .
Dr. Weiß. Ich bin grade deswegen recht ernstlich beunruhigt. Es drängt sich mir immer wieder die Frage auf, ob ich Sie eigentlich mit dieser Sache befassen durfte. Es war übereilt. Besser, ich hätte Ihnen ganz und gar geschwiegen davon und die arme Person in einem Hamburger Krankenhause untergebracht, bis man den Vater von ihrer Lage verständigt hätte.
Hubert. Ach wissen Sie, ich glaube, daß so etwas, wie es auch immer geschieht, seine Ordnung hat. Ich kann es mir schon nicht mehr anders denken. Sie ist hier. Sie ist nochmals in meinen Gesichtskreis getreten. Jeden Augenblick fühle ich es mehr, die Sache hat ihre Richtigkeit.
Dr. Weiß. Der Ozean des Lebens hatte sie wirklich nackt und bloß an den Strand der alten Heimat gespült.
Hubert. Ja freilich, nach Ihrem Bericht zu schließen.
Dr. Weiß. Ich wußte zunächst nicht, wo in meiner Erinnerung ich sie hinstecken sollte. Der Anblick war zu fürchterlich. Ich werde es nicht vergessen, wie ich erschrak, als sie mich eine Weile mit diesen unterlaufenen Augen angeglotzt hatte, schließlich meinen Namen zu formen suchte und formte und ich nun erkannte, wer sie war oder eigentlich mehr gewesen war. Hat ihr Vater sich angemeldet?
Hubert. Nein. Trotzdem erwarte ich ihn jeden Augenblick.
Dr. Weiß. Ist es nicht seltsam? Erst am Tage, bevor sie mir bei Sankt Pauli in den Wurf kam, hatten wir ihr Schicksal erörtert.
Hubert. Wie schnell dieses arme, liebe Geschöpf unter die Räder gekommen ist!
Dr. Weiß. Wer darunter kommt, kommt immer schnell darunter. Ich muß nach Hause, ich hab' eine Frau. Sie kommt immer zu spät, ist aber überaus ungnädig, wenn man sich selber einmal verspätet, ganz besonders beim Mittagbrot. Bitte verfügen Sie ganz über mich, wenn Sie in dieser Sache noch Hilfe brauchen.
Kurze Verabschiedung. Als Dr. Weiß eben die Gartenpforte hinter sich schließt, tritt Dorothea aus der Haustür, sehr einfach gekleidet und sehr verändert. Sie trägt zwei Teller Suppe.
Dorothea. Ich bringe uns unsere Suppe, Herr Hubert. Ich hatte einen unwiderstehlichen Trieb, auch meine Suppe mit Ihnen gemeinsam im Freien zu löffeln.
Hubert. Na dann kommen Sie her, und platzen Sie sich.
Dorothea, nachdem sie die Teller auf den Tisch gestellt und Platz genommen hat, mit dem Löffel in der Hand. Das war Dr. Weiß, der eben durchs Gartentor gegangen ist!?
Hubert. Ein sonderbarer Heiliger das!
Dorothea. Aber für mich trotz allem ein wirklicher. Ohne sein wundertätiges Walten hätte ich nicht hierhergefunden. Für Sie eine Last, aber für mich viel mehr als ein Glück.
Hubert. Dieser Dr. Weiß ist seit einem halben Jahre hier angesiedelt. Bewohnt eine Villa mit Garten, »Waldfrieden«. Großer Imker, züchtet auch Rosen. Da hat er für Sie ganz unauffällig eine Krause Honig hingestellt. Befleißigt sich übrigens einer absoluten Eingezogenheit. Vor drei Wochen kamen wir mal ins Gespräch. Was kam innerhalb von zehn Minuten heraus? – Er kannte Herbert, er kannte Sie, Pastor Angermann, hatte viel von meinen Eltern gehört, wußte von mir und meinen Schicksalen in Amerika, aber wollte nicht so recht über das Wie und Warum mit der Sprache heraus. Er ist auch in anderer Beziehung scheu. Bevor er den Garten betritt, muß man ihn zwei-, dreimal auffordern.
Dorothea. Ich könnte Ihnen den Grund wohl sagen. – Komisch. Ach, lieber Hubert, was habe ich bloß mit meinen Verehrern für Pech gehabt.
Hubert. War Dr. Weiß etwa auch Ihr Verehrer?
Dorothea verfällt in ihr Lachen. Ich hätte ihn können vom Zuchthaus weg heiraten!
Hubert. Was heißt das: vom Zuchthaus weg, Dorothee?
Dorothea. Er hat Wechsel gefälscht und gesessen dafür. Als er in unserem Haus Kalfaktor, Mädchen für alles, war, hat er mir seine Liebe gestanden. Leider war ich damals noch hochmütig. Sonst säße ich jetzt in der Villa »Waldfrieden«, könnte den Honig von Gott weiß wie vielen Bienenstöcken ganz allein essen oder mir Nürnberger Pfefferkuchenmännchen backen nach Herzenslust! – So kommt es, wenn man verblendet ist. – Trotz alledem, Reue fühle ich nicht.
Hubert. Sie sind die allerwunderlichste Weibsperson, die mir jemals vorgekommen ist!
Dorothea, überzeugt. Ich bin äußerst wunderlich, ganz gewiß.
Hubert, in einer bestimmten Erinnerung. Donnerwetter noch mal, Sie sind wunderlich!
Dorothea. Ich bin wunderlicher als wunderlich! – Woran denken Sie aber, wenn Sie das sagen?
Hubert. Ich denke an Ihr Ja- und Ihr Neinsagen. Der Speck wird geröstet und hingehalten. Aber wehe, wenn Karo schnappt, da hat er auch schon seinen blutigen Durchzieher. Denken Sie zum Beispiel an Meriden. Da haben Sie zwei Tölpel wie meinen Bruder und mich durch Ihre Wunderlichkeit in eine recht wunderliche Lage gebracht.
Dorothea. Aber wenn Sie erst wüßten, daß ich in dem Augenblick, als ich euch verließ, im Geiste zwei Todesurteile unterschrieben hatte. Ich lebe ja nur noch, weil die Vollstreckung langsamer ist.
Hubert. Ich sterbe, Sie werden wieder gesund werden.
Dorothea. Ich bin noch ganz anders wunderlich. Wenn es mir jemand früher gesagt hätte: Du wirst noch einmal so wunderlich, ich würde es ihm, weiß Gott! nie geglaubt haben. Ihr Lachen geht in Weinen über.
Hubert legt seine Hand sanft auf die ihre. Sehen Sie mich an, Dorothee. Die Frage ist: sind wir für das, was mit uns geschieht, verantwortlich? War es zu ändern oder nicht? Nein, wir sind nicht verantwortlich. Der Zufall, andere nennen ihn Vorsehung, ist verantwortlich. Das benimmt uns wenigstens den Gedanken der Schuld. Meine körperlichen Organe sind viel zu früh zerstört. Ein Zufall ist der Grund davon. Ich war ein Schlingel, nicht besser, nicht schlechter, wie alle sind. Ich hatte Triebe: oho, warum nicht? Da erschien das bekannte »fremde Mädchen« im Ort. »Sie war nicht in dem Tal geboren, man wußte nicht, woher sie kam«, aber ihre Spur war keineswegs verloren, sobald das Mädchen Abschied nahm. Bei sieben oder acht jungen Leuten waren recht deutliche Spuren zurückgeblieben. In zwei Minuten war das geschehen, wodurch ich um zwei Drittel meines Lebens gebracht worden bin. Nicht zu ändern! wir wollen es hinnehmen.
Dorothea macht mehrmals einem Täuberich nach. Gurrucku! Gurrucku! und lacht unterdrückt und zwangsmäßig.
Hubert. Jawohl, so machen die Täuberiche, die kleinen Tiesen piepsen nur. Trotzdem, der Effekt ist immer der nämliche.
Dorothea. Herr Hubert, kennen Sie Herberts Frau?
Hubert, nicht ganz ohne Ironie. Sie paßt zu ihm, sie ist ganz die Rechte.
Dorothea. Ich hätte nicht zu Herbert gepaßt. Wir hätten besser zusammen gepaßt, Hubert!
Hubert. Sehr ehrenvoll! Wieso meinen Sie das?
Dorothea. Das mit dem »Mädchen aus der Fremde« war doch gewiß auf dem Dach bei dem Taubenschlag?
Hubert. Oho! Donnerwetter! Sie können wohl hellsehen?
Dorothea. Wenn ich zum Beispiel der Herrgott wär': warum hat es der Vater im Himmel nicht so eingerichtet? Wenn Sie mich zum Beispiel dort oben gefunden hätten und ich Sie, statt des Mario: wir säßen heute wohl auch beieinander, aber kerngesund und auf eine ganz andere Art und Weise, als es uns jetzt beschieden ist.
Hubert. Das wäre wohl denkbar, Frau Dorothee.
Dorothea. Ach, wenn ich ein großes Wasserglas ganz voll Rum hätte.
Hubert. Der Arzt verbietet's. Ich hätte nicht das geringste dagegen, Dorothee.
Dorothea. Aber Morphium spritzen sie einem ein. Apropos Morphium! – Morphium! – Morphium! – Wissen Sie übrigens, daß mein Mann . . . Sie wissen ja, Mario war doch mein Mann . . . unter Morphium eingeschlafen ist?
Hubert. Man pflegt unter Morphium einzuschlafen.
Dorothea. Nicht so, er ist gänzlich hinübergeschlafen. – Man kann Ihnen alles sagen, Hubert. Sie begreifen die Menschen, Sie richten nicht. Sie haben mit dem Leben Ihren Abschluß gemacht. Vor Herbert müßte ich alles geheimhalten. Denken Sie, Hubert: es ist mir fraglich, ob ich nicht Mario in einem Anfall von Wut gegen ihn und gegen das Schicksal umgebracht habe!
Hubert. Dann wären Sie eine Mörderin.
Dorothea. Das habe ich mir auch schon gesagt: dann wäre ich eine Mörderin. Ihr Lachen packt sie. Hu, was Sie da wieder für ein Gesicht machen!
Hubert. Der Schurke ist tot, dessen sind Sie gewiß?
Dorothea. Ist er denn eigentlich wirklich ein Schurke?
Hubert. Das müssen Sie besser wissen als ich.
Dorothea. Er hat mich ja auf die Gasse gejagt. Ich habe ihm müssen Dollars verdienen. Wenn ich kein Geld hatte, kümmerte er sich nicht um mich. Hatte ich etwas, war er da und stahl mir den letzten Groschen aus der Tasche.
Hubert. Ist das alles, was er verbrochen hat?
Dorothea. Er hat in zwei oder drei großen Fischzügen, wie er sagte, seine Hände gehabt. Seide hat er dabei nicht gesponnen. Hätte man ihn erwischt, man hätte ihm wahrscheinlich mit dem elektrischen Stuhl den Rest gegeben. Er nannte sich manchmal Anarchist. Und weil alles Eigentum Diebstahl wäre, müsse man mit Gewalt das Gestohlene zurückholen.
Leonore erscheint, zwei Teller mit Braten in der Hand.
Leonore. Da seid ihr! Kalbsbraten und Kartoffeln, mögt ihr das?
Hubert. Wir mögen alles, was eßbar ist. Wir sitzen hier sehr gemütlich, Leonore. Dorothea will mir das Gruseln beibringen.
Leonore setzt die Teller nieder, die sie gebracht hat, und nimmt Suppenteller und Löffel auf. Da haben sich mal die Rechten gefunden! Ihr klönt wahrhaftig den ganzen Tag.
Dorothea. Es ist schrecklich, daß ich euch so zur Last falle! – Lange dauert es aber sicher nicht!
Leonore. Nein, weil du gesund werden und mit deinem Vater nach Liegnitz zurückreisen wirst.
Dorothea. Ich möchte Vater noch einmal sehen. Aber nein, mit ihm zurückreisen werde ich nicht!
Leonore. Der Arzt meint, du könntest recht wohl wieder ganz gesund werden.
Dorothea. Nie und nimmermehr kann ich gesund werden. Für den Notfall habe ich dagegen mir bis heut ein Pülverchen aufgespart. Es handelt sich schließlich nur noch darum, einige quälende Wünsche erfüllt zu sehen, um sie los zu sein. Wenn aber Vater nicht kommen sollte und eben die Wünsche nicht erfüllt werden – es wird am Ende dasselbe sein. Sie steht auf, um sich ins Haus zur Ruhe zu begeben. Das einzige, was mir noch ein gewisses Vergnügen macht, ist, über mein Schicksal nachzudenken. Wenn ich zum Beispiel nicht hustete und nicht auswürfe und alle meine Organe gesund wären und nicht das Gegenteil, ich könnte doch nicht mehr weiterleben. Irgendwie ist die Atmosphäre, sind die Bedingungen dieser Erde nicht mehr für mich. Es ist alles verbraucht bis zum letzten Rest, verbraucht, verbraucht, was sie für mich in petto hatte. Sie geht langsam ins Haus.
Hubert. Sie gibt einem wirklich Nüsse zu knacken, diese Dorothee.
Leonore. Nimm dich nur vor ihr ein bißchen in acht, Hubert.
Hubert. In acht nehmen? wieso, Leonore?
Leonore. So krank und mitgenommen sie ist, sie hält sich noch immer für unwiderstehlich.
Hubert. Oho! Auch hier immer noch die Eifersucht! Gibt es überhaupt etwas, worauf Eifersucht nicht eifersüchtig ist? Dorothea und ich sind einander verwandt, weil wir leider Gottes beide ziemlich tief in der Tinte sind. Auch darauf ist Eifersucht eifersüchtig. Die Gartenschelle geht. Hubert erhebt sich. Teuf! Drei feine Herren am Gartentor! Das ist ja wie 'ne Gerichtskommission!
Professor Herbert Pfannschmidt, Pastor Angermann erscheinen im Reiseanzug, geführt von Dr. Weiß.
Dr. Weiß. Sie sind nun am Ort. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Pastor.
Pastor. Es war mir sehr angenehm und beruhigend, Sie wiederzusehen. Es geht Ihnen also zufriedenstellend.
Dr. Weiß. Viel besser, als ich verdiene, geht es mir.
Herbert. Nochmals Dank für die Führung, Herr Doktor. Dr. Weiß grüßt nochmals flüchtig und entfernt sich schnell. Herbert geht auf Hubert zu, umarmt ihn stumm und sagt dann in gehaltenem Ton. Wir sind nun also gekommen, Hubert.
Hubert. Wenn ich nicht fehlgehe, ist dies Herr Pastor Angermann.
Pastor, sehr aufgeräumt. Jawohl, ich bin Pastor Angermann. Die Welt ist klein. Ich habe eben einen ehemaligen Klienten von mir, einen entlassenen Sträfling, wiedergetroffen. Nach dem, was ich höre und was er sagt, geht es ihm bedeutend besser als mir. Er lebt behaglich von seinem Geld, und ich muß mir das meine sauer verdienen, sozusagen im Schweiße meines Angesichts. Verzeihen Sie mir diese kleine, laute Reflexion. Gottes Wege sind wunderbar, dabei muß es nun einmal bleiben. Sie wohnen hier recht idyllisch!
Hubert. Bis auf die Waschanstalt nebenan.
Pastor. Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Er betrachtet befriedigt einige jugendliche Wäscherinnen mit bloßen Armen, die Wäsche an Leinen hängen. Was haben Sie gegen den Anblick einer kernig derben Wäscherin? Wir sind übrigens sehr interessant gereist, Herr Pfannschmidt. Ich habe dabei die Erfahrung machen können, daß Ihr Herr Bruder auch nicht ganz das bescheidene Unschuldspflänzchen ist, wie es manchmal den Anschein hat. – Ihre Frau Gemahlin, nicht wahr?
Hubert. Mein Weib Leonore. Nicht zu leugnen: sowohl daß sie mein Weib, als daß sie Leonore heißt. Sage und schreibe: Leonore! »Lenore fuhr ums Morgenrot . . .« L wie Ludwig, E wie Emil et cetera.
Pastor. Sie sind bei Humor, das lobe ich mir. Ach, gnädige Frau, die Welt ist doch wunderschön! Ich bin jahrelang nicht aus Liegnitz herausgekommen! Schon die Eisenbahnfahrt nach Berlin! Dann Berlin, die Linden, die Militärs! Wir haben wie die Götter gefrühstückt. Gestern abend kamen wir dann in Hamburg an. Die Binnenalster! Ich habe dann noch – die vielen Lichter! – einen Spaziergang gemacht! Zum Professor. Apropos, Fritzi Dröge, die damals im Schwarzen Adler das Kochen erlernte, obgleich sie es gar nicht nötig hatte: ein Schwerenotsracker, das weiß Gott! trotzdem sie in etwa acht Tagen einen Senator heiraten wird. Verraten Sie nicht, wo wir waren, Professor, aber in Hamburg gewesen zu sein, ohne sich's einmal an Hummer und Austern gütlich zu tun, das ist einem Sünder wie mir nicht zuzumuten.
Leonore. Demnach hat Ihnen diese ganze Reise eher Vergnügen gemacht?
Pastor. Sie hat mir schlechthin und in jeder Beziehung das größte Vergnügen gemacht. Es war ja beinah, als sei einem Sträfling plötzlich die Gefängnistür aufgesprungen! Gotthold und seine Geschwister kommen aus dem Haus. Gotthold! Erbarm' sich! Jungchen, wie geht es dir? Dich hatte ich ja beinahe vergessen!
Gotthold. Ich bin in die Untersekunda versetzt worden.
Pastor. Brav, Gotthold! Fahre so fort, mein Sohn. Und nun ein halb Dutzend kleiner Mädchen! Er streichelt den Mädchen die Köpfe. Mit diesem Artikel weiß ich Bescheid! Ich könnte gern einen Posten abgeben. In der Tür erscheint Dorothea. Er stutzt, ernüchtert. Ach richtig! und du, Dorothea! da bist du ja!
Dorothea, erkältet, geht sehr ruhig auf ihn zu und legt ihren Kopf an seine Schulter.
Pastor, geschäftsmäßig. Nun ja, sei gut! Du bist Witwe geworden, laß gut sein! Na ja, du bist Witwe geworden! das muß man ertragen, wie Gott es schickt, Dorchen. Es kommt auch mal wieder anders herum. Hat er ein schweres Ende gehabt? – Doch laß uns den Schmerz nicht weiter aufrühren! Wie sagt der Weise? Alles zu seiner Zeit. Du wirst mir dein Herz mal in Ruhe ausschütten. – Aber sag auch Professor Pfannschmidt guten Tag, Dorchen!
Herbert nimmt ihre dargebotene Hand. Willkommen zu Hause, liebe Dorothee!
Dorothea, bedeutsam. Ein Wort, guter Herbert: ich lobe es mir! Ich höre es auf viel tiefere Weise.
Pastor. Du hast vieles durchgemacht, Dorothee. Dein Aussehen dachte ich mir viel schlimmer. Wir werden nun sehen, wie alles wird, und die Zeit, liebes Kind, wird das übrige tun. – Dürfte ich nun um Tempus bitten für eine oberflächliche Säuberung?
Leonore. Gotthold, sage Herrn Pastor Bescheid.
Gotthold, der Pastor und Leonore ab ins Haus. Die Mädchen begeben sich an die Schaukel.
Herbert, zu Dorothea, die, wie versteinert, sich nicht bewegt. Dorothee, darf ich dir meinen Arm bieten?
Dorothea wankt selbständig auf Hubert zu und sinkt in seine Arme. Aus einem trockenen Röcheln wird ein Schluchzen, dann unaufhaltsames Weinen. Nachdem sie sich beruhigt hat. Nun kann ich weinen. Warum konnte ich es denn am Halse meines Vaters nicht?
Hubert. Wir sind zwei Freunde geworden, Herbert.
Dorothea läßt sich mit Unterstützung der Brüder am Tisch nieder. Erstaunlich, wie alles verändert ist! Ich kann mich durchaus nicht mehr zurechtfinden!
Herbert. Wieso? Inwiefern, liebe Dorothee?
Dorothea. Weißt du, was für eine Empfindung in mir ist? Als hätte mich eben irgendeine empfindungslose Kraft, etwa eine Woge, gepackt und mich, ebenfalls wie einen toten, empfindungslosen Gegenstand, gegen einen Felsen geworfen.
Herbert. Wie ich dir ganz bestimmt versichern möchte, irrst du in bezug auf deinen Vater, Dorothee!
Hubert. Es ist nicht das, was sie meint, gutes Kind.
Herbert. Dein Vater ist durchaus versöhnlich gestimmt.
Dorothea. Nun, Sie wissen es, Hubert, was ich gemeint habe. Das Leben selbst ist die Brutalität. Leiden – ein Schicksal macht anspruchsvoll! Der echte Vater weiß es genau, was trifft er nicht alles nach Rückkehr des verlorenen Sohnes für Anstalten! Leider steht es nur auf dem Papier. Das Leben hat keine Zeit dazu. Es kümmert sich nicht im allergeringsten darum, ob das verlorene Kind die Treber der Schweine frißt oder selbst von den Schweinen gefressen wird und ob es zurückkehrt oder nicht. Das blieb mir noch übrig zu erfahren, denn diese ganze furchtbare Wahrheit kannte ich immer noch nicht! Sie legt die Hände auf den Tisch und die Stirn darauf. So verharrt sie schweigend.
Hubert bedeutet Herbert, Dorothea ein Weilchen in Ruhe zu lassen, und geht dann leise mit ihm ein wenig abseits. Verstehst du die Art, wie der Pastor die Sache zu nehmen beliebt? Zu deutsch: er scheint ja ein ziemlich herzloser Mensch zu sein.
Herbert, achselzuckend. Mag sein. Doch durchaus nicht in jeder Beziehung.
Hubert. Wie geht's deiner Frau?
Herbert. Danke, hoffnungsvoll.
Hubert. Was willst du damit sagen . . .?
Herbert. Du kannst gratulieren.
Hubert. Was tut sie denn dort? Wo geht sie denn hin? Er verfolgt Dorothea mit den Augen, die aufgestanden ist und gradefort in den Garten geht. Du kannst mir glauben, man muß auf sie aufpassen.
Herbert. Weißt du, daß ich es in ihrer Nähe kaum aushalten kann?
Hubert. Aus welchem Grunde, Herbert, nicht aushalten?
Herbert. Weil ihr doch sonst so liebes Gesicht einen gar zu schrecklichen Stempel erhalten hat. – Was soll man der Ärmsten eigentlich wünschen?
Hubert. Krankheit! Eine Reise im Zwischendeck mit allerlei Menschenkehricht zusammen! Mangel! Verzweiflung. Sie war betrunken, als Weiß sie fand. Und doch der Drang, der unstillbare Drang, wieder auf Heimaterde zu sein. Ich wüßte nicht, was mich tiefer erschüttern könnte. Ich finde ihr Aussehen auch nicht abstoßend.
Herbert. Abstoßend ist auch zuviel gesagt.
Hubert. Ich bin geradezu froh, daß sie bei uns ist. Sie ist weder mir noch Lore lästig. Und schließlich, du weißt ja, in Anbetracht . . .
Herbert. Auch meine Frau ist hierin sehr einsichtig.
Dorothea bleibt stehen und blickt herüber.
Hubert. Suchen Sie etwas?
Hubert. Was wäre das Gegenteil?
Dorothea. Etwas fliehen! Sie geht weiter zwischen den Stämmen umher.
Hubert. Ihr Leiden ist ohnegleichen, Herbert!
Herbert. Und doch bin ich an ihr völlig irre geworden.
Hubert. In welcher Hinsicht?
Herbert. Unter anderem in puncto Wahrhaftigkeit. Sie scheint da sehr viel phantasiert zu haben. Zum Beispiel davon, daß sie sich vergangen habe und aus irgendeinem Zwange habe heiraten müssen, weiß ihr eigener Vater, der Pastor, nichts! Und wie hat sie dies alles nicht ausgemalt, dem Vater die ganze Schuld aufgeladen.
Dorothea steht plötzlich dicht vor Herbert. Ich habe eben ein Vierblatt gefunden. Für deine Frau! Du nimmst es ihr mit. Und sage ihr Grüße von Dorothee!
Herbert nimmt das Kleeblatt und bringt es in seiner Brieftasche unter. Es wird sie freuen. Soll besorgt werden.
Dorothea. . . . und soll ihr Glück bringen! Sie wandelt weiter unruhig durch den Garten.
Die Mädchen bei der Schaukel singen.
Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?
Ja, den Meister will ich loben,
solang noch mein' Stimm' erschallt!
Pastor Angermann tritt aus dem Haus.
Pastor. Brav, Kinder! Singt! Es heißt ja mit Recht: »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder!«
Man hört die Mangel im Nebengarten. Plötzlich intonieren die Wäscherinnen.
Die Wäscherinnen.
Du kannst mer mal die Rolle drehn,
du bist so dick und stramm!
zier der nich, schenier der nich,
wer drehn det Ding zusamm'!
Pastor. Das nenne ich das Unkraut neben dem Weizen! Dorothea trifft Anstalten, über den Zaun zu den Wäscherinnen hinüberzusteigen. Aber Dorothea, wo willst du hin?
Dorothea. Wo ich hingehöre, gestrenger Herr Vater!
Pastor. Zu den Wäscherinnen gehörst du nicht!
Dorothea steht ab von ihrem Plan. Im Grunde kannst du recht haben, Vater.
Pastor. Komm nun einmal zu mir her und setze dich.
Hubert. Ihr Nervensystem ist sehr mitgenommen, gehen Sie schonend mit ihr um.
Pastor. Keine Angst! Ich weiß, wie ich mit meinen Kindern umgehe.
Hubert winkt den Kindern, die sich verziehen. Er selbst verschwindet, Arm in Arm mit Herbert, um die Hausecke. Dorothea hat ihrem Vater gegenüber am Tische Platz genommen.
Pastor. Nun sag mir doch einmal, gute Dorothee, wie es gekommen ist, daß du in deinem Leben auf eine so traurige Weise Schiffbruch gelitten hast.
Dorothea. – – – Mit dem Hummer in Hamburg warst du zufrieden?
Pastor überhört. Ich habe mir oft recht ernstliche Sorgen um dich gemacht. Aber deinen Aufenthalt kannte man nicht. Dein Mann ist ja schließlich ein tüchtiger Koch und im großen ganzen ein tüchtiger Mensch gewesen.
Dorothea. Hat dir der Spaziergang mit Fritzi Dröge Vergnügen gemacht?
Pastor. Was redest du denn von Fritzi Dröge, wo es sich ja ausschließlich um dich handelt!?
Dorothea. Aber wenn sie doch einen Senator heiratet!
Pastor. Liebes Kind, ich verstehe dich nicht.
Dorothea. Ist mein kleines Mamachen gut bei Weg?
Pastor. Wenn du mit dem kleinen Mamachen meine liebe Frau und Ehehälfte meinst, sie ist gesund, und ich danke der Nachfrage. Ich will dir nun aber etwas sagen: solltest du deine Lage verkennen und etwa meinen, es ließe sich Selbstverschuldetes zum Verdienst stempeln, merke dir, dieses Verfahren mache ich nicht mit!
Dorothea, zerstreut. So so, das also machst du nicht mit?!
Pastor. Weißt du, weshalb ich gekommen bin?
Dorothea. Ich dachte, um eine Reise zu machen, weil du doch seit Jahren nicht aus Liegnitz herausgekommen bist.
Pastor. Willst du mich etwa zum Narren machen? Ich habe diese Reise gemacht, und du bist der furchtbar traurige Anlaß dazu. Nun bin ich hier und sitze bei dir . . .
Dorothea. . . . in dreitausend Meilen Entfernung, Vater!
Pastor. Ach, rede nicht puren, nackten Blödsinn, Kind! Du bist hier bei freundlichen Leuten untergekommen. Diese beiden Brüder, Herbert und Hubert, benehmen sich gradezu musterhaft. Du schreibst ihm ein Kärtchen, und Hubert holt dich vom Dampfer ab, er erwartet dich an der Landungsbrücke . . .
Dorothea. Das hat dir Herbert eröffnet, Vater?
Pastor. Zu Hause ist kein Kubikmeter Platz. Das Kleinmädchen schläft in der Badewanne. Also mit mir heimnehmen kann ich dich nicht. Trotzdem bin ich gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Auch mit Fritzi Dröge hab' ich gesprochen. Irgendwie wirst du, so oder so, untergebracht. Und nun, nimm Vernunft an und rede vernünftig!
Dorothea. Lieber Vater, du kennst mich nicht, und du bist auch für mich nicht der richtige Beichtiger. Zwei Türen, eine auf die freie Straße, die andere auf den Hof des Gefängnisses, hat dein Haus. Mich müßtest du durch die zweite hinausschicken, ginge es mit rechten Dingen zu. Ich sage dir das nicht etwa zerknirscht, sondern höchstens, um deinen Hochmut zu dämpfen. Ich selbst habe einen Menschen getötet, und zu mehreren ähnlichen Taten war ich zum mindesten Mitwisserin!
Pastor. Du gehörst hinter Schloß und Riegel, mein Kind, aber Gott sei Dank nur ins Irrenhaus!
Dorothea. Ach nein, Papa, ich habe schon meinen Kubikmeter. Mein Kubikmeter wartet auf mich.
Pastor. Höre, wenn du krank bist, wenn deine Nerven zerrüttet sind, so kämpfe dagegen an, mein Kind. Du kannst dich in Ungelegenheiten bringen und wiederum, ganz natürlich, auch mich!
Dorothea. Keine Angst, ich verpfeife dich nicht!
Pastor. Verpfeifen? Was sind das für gräßliche Ausdrücke? Aber sonst, verpfeife mich, wie du willst. Mein ganzes Leben liegt offen da, man kann es von allen Seiten durchleuchten.
Dorothea. Vielleicht: trotzdem du ein Mörder bist!
Pastor. Du machst mich erbleichen, Dorothee! Das hatte ich nicht geahnt: du bist wahnsinnig!
Dorothea. Viel schlimmer, ich bin schon tot, Papa! Und das eben ist es: Du bist mein Mörder!
Pastor. Ach so! Mir fällt eine Last von der Brust!
Dorothea. Du schlugst mich an jenem Tage tot, als du mich zwangst, diesen Mann zu heiraten.
Pastor. Verfehlungen, Irrtümer, meinethalben! wenn nur in deinem armen Kopf nicht irgendeine fixe Idee von irgendeinem Verbrechen sitzt und du damit vollkommen schuldlose Menschen bezichtigst. Auch an deine Selbstbezichtigungen glaube ich nicht. – Beim Himmel, ich schwitze Angstschweiß, mein Kind! Er tupft seine Stirn. So hatte ich mir deinen Zustand denn doch nicht vorgestellt. Da muß man die Sache doch anders anfassen.
Dorothea. Du hast mich aus dem Wege geräumt. Ich stand dir im Weg, und du räumtest mich aus dem Weg. Ich war dir nicht mehr als ein Gegenstand. Nun steh' ich dir abermals im Weg. Du mußt mich zum zweiten Male wegräumen, wozu du aber noch einen Schubkarren nötig hast.
Pastor. Sag mal, es ist in dir eine Art von kalter, zynischer Dreistigkeit. Hast du diesen unehrerbietigen und einem Vater gegenüber ganz unmöglichen Ton in deinen New Yorker Kreisen aufgelesen?
Dorothea. Mein Schicksal hat ihn mir aufgedrängt. Nur diesen Ton ließ das Schicksal mir übrig, nachdem es mir die ganze Saitenbespannung meines Seelenorgans zerschnitten, zerfetzt, zerrissen hat! Da geriet, zu meinem eigenen Staunen, ja beinahe Entsetzen, diese Saite bei mir in Schwingungen. Kein Wunder, wenn du dieselbe Empfindung hast.
Pastor. Wo soll nun eigentlich unser Gespräch hinaus, Dorothea? Sollen wir bis zum Jüngsten Tage so fortreden? Einander näherbringen, wie ich fühle, wird es uns nicht. Ich habe eine ganz bestimmte Pflicht gegen dich, nämlich dir nach Vermögen aufzuhelfen. Du könntest einen Kindergärtnerinnenkurs durchmachen, wenn du erst einmal gesundheitlich besser bei Wege bist.
Dorothea. Jetzt meinst du, ich sollte Kinder betreuen? Dorothea lacht auf ihre Art verhalten. Nachdem die Angst vor dem einen, nur erst in Aussicht stehenden unseligen Wurm dich zum Mörder deiner eigenen Tochter machen konnte?
Pastor. Ich rufe die Brüder Pfannschmidt, Dorothea! Ich weiß nicht, was ich sonst noch tue und veranlasse, wenn du nicht ganz entschieden von diesem Tone abzustehen den Willen und das Vermögen hast.
Dorothea. Aber sag mir doch, ob du nicht vor dem Gespenst dieses Kindchens furchtsam bis . . . bis zum Verbrechen gewesen bist!
Pastor. Was? Willst du etwa hier zu Gericht sitzen?
Dorothea. Nein. Denn das würde voraussetzen, daß irgend etwas der Gerechtigkeit Ähnliches überhaupt auf der Erde wäre!
Pastor. Große Worte! Fortwährend sprichst du von Schicksal! Jetzt bezweifelst du die Gerechtigkeit! Mir und aller Welt machst du Vorwürfe! wo doch die ganze Sache mit einem Satze, und zwar erschöpfend, zu bezeichnen ist: Was man sich einbrockt, muß man auslöffeln! Der Pastor springt auf. Nun, später mehr! Wenn du ein bißchen zur Besinnung gekommen bist! Er läßt Dorothea sitzen und schreitet, die Hände auf dem Rücken, merklich erregt, in die Tiefe des Gartens ab.
Dorothea bleibt am Tisch, ohne dem Davongehenden nachzublicken. Sie zerpflückt Astern und starrt, scheinbar alles um sich vergessend, auf das, was sie tut.
Leonore kommt aus dem Hause. So allein, Dorothee?
Dorothea. So allein, Leonore! So allein! – so allein! – so allein! – Ihre Hände auf der Tischplatte werden ruhig. Ihre Stirn sinkt darauf nieder.
Der Pastor erscheint wieder. Leonore, die mit einer Wasserkanne zur Pumpe geht und diese vollgepumpt hat, wird vom Pastor angesprochen.
Pastor. Der Fall meiner Tochter liegt bei weitem nicht so einfach, als ich gedacht habe.
Leonore, kühl. Sie hatten es sich weniger schlimm vorgestellt?
Pastor. Ich würde darüber sehr gern bald Ihren Mann sprechen.
Leonore. Sie hat sich unendlich gefreut auf das Wiedersehen. – Es hat sie natürlich sehr angegriffen.
Hubert tritt aus den Büschen, gesellt sich zu seiner Frau und dem Pastor. Entschuldigen Sie: ich brauche immer mein Feldstühlchen. Er hat den Feldstuhl mitgebracht und setzt sich darauf.
Pastor. Da haben wir wirklich ein Beispiel dafür, was flüchtiger Leichtsinn für einen endlosen Jammer nach sich ziehen kann.
Hubert. Hier kann ich Ihnen von Herzen zustimmen!
Pastor. Ihr Bruder! Denken Sie, denken Sie! was alles sie sich verscherzt, was sie ausgeschlagen hat! – Der Mann ist tot. Dafür mag man Gott danken. Im übrigen scheint mir hier guter Rat teuer zu sein. Sie ist zerrüttet. Man wird wohl nichts anderes tun können, als sie einer öffentlichen Anstalt anzuvertrauen. Professor Pfannschmidt tritt herzu. Wir reden von Dorothea, Professor!
Herbert. Sie scheint zu schlafen. Man muß sie mit aller Vorsicht zu Bett bringen. Und wie war der Eindruck, Herr Pastor?
Pastor. Über alles Erwarten schmerzlich und ungünstig. Fast weiß man nicht, was man wünschen soll!
Herbert. Nach alledem wird man wohl zu dem Schluß kommen müssen, ständige Pflege, ständige ärztliche Kontrolle sei hier vor allem notwendig. – Leider muß ich heute abend mit dem Nachtzug ab- und bis Breslau durchreisen, da, wie mir eben meine Frau telegraphiert, morgen nachmittag Rektoratssitzung ist.
Hubert. Es ist nicht so schlimm, ich kenne sie: wir werden Dorothee bei uns behalten.
Pastor. Für ewige Zeiten geht das doch nicht. Wissen Sie was? Wir fahren gleich nach Hamburg zurück. Ich besuche meinen Amtsbruder und Studienfreund an der Jakobikirche. Ich bin gewiß, er wird Rat schaffen. In diesem Fall telegraphiere ich.
Leonore hat sich Dorothea genähert und kommt mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht zurück. Ich glaube, es ist nicht mehr nötig, Herr Pastor.
Pastor. Was ist nicht mehr nötig? Wie meinen Sie das?
Leonore. Ich weiß nicht, ich bin so erschrocken, Herr Pastor.
Hubert steht auf. Oh, mein kleines Feldstühlchen, brich mir nicht!
Pastor. Liebe Frau Pfannschmidt, wovor sind Sie erschrocken?
Hubert. Laß nur, erschrick nur nicht, liebes Kind, sie dürfte vielleicht ganz das Rechte getan haben!
Herbert. Es ist doch nicht möglich . . . es ist doch nicht möglich, daß Dorothea . . .
Hubert. Warum denn nicht? Es ist immer sehr wahrscheinlich, wenn es heißt, daß einer gestorben ist!
Alle haben sich Dorothea genähert.
Pastor berührt sie. Ich glaube, der Tod ist eingetreten.
Leonore. Pst! Ruhe! Um Gottes willen, nicht laut sprechen!
Pastor. Aber wie kann denn das möglich sein? Sie hat ja noch eben ganz klar und vernünftig mit mir gesprochen!
Herbert. Ein geschlossenes Kuvert, adressiert an Sie. Er nimmt das Kuvert vom Tisch und überreicht es dem Pastor. Der Pastor reißt das Kuvert auf, liest.
Hubert. Sie ist auf eine sehr schlichte, sehr unauffällige Weise davongegangen.
Herbert. – – –? Wir dürfen natürlich nicht fragen, Herr Pastor?
Pastor starrt auf den Brief. Um Gottes willen! Nein! Fragt mich nicht!