Gerhart Hauptmann
Dorothea Angermann
Gerhart Hauptmann

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Dritter Akt

Geht vor sich in einer kleinen Stadt von dreißigtausend Einwohnern im Staate Connecticut, unweit New York, Vereinigte Staaten von Nordamerika.

Längliches Zimmer in einem Holzhause am Rande der Stadt.

Inmitten des niedrigen Raumes steht ein großer brennender Anthrazitofen. Rechts und links von ihm je zwei Feldbettstellen mit sehr spartanischen Kopfkissen und Wolldecken ohne Überzug. In der Wand rechts zwei Türen zu Küche und Flur. In der Wand links zwei kleine verschneite Fenster, die nur wenig Licht hereinlassen. Es ist gegen Weihnachten.

Dieser Akt spielt ungefähr ein Jahr später als der vorige.

An einem kleinen Tischchen dicht unter den Fenstern sitzen Hubert Pfannschmidt und Mr. Lehmann beim Schach, während Frau Leinefelder mit Staubwischen usw. beschäftigt ist. Hubert Pfannschmidt ist nahe den Vierzigen, breit, gutmütig, niederländisch, rothaarig. Man merkt an der Art, wie er zuweilen schwer atmet und geht, daß er leidend ist. Mr. Lehmann ist ein riesiger amerikanischer Policeman. Frau Leinefelder ist über sechzig, eine sauber gekleidete Matrone mit weißem Häubchen und weißer Schürze.

Hubert. O my dear Sir, my dearest honourable Mister Lehmän, Sir Lihmän, Leimän, Lohmän, Leimon, Ceitron, Citron, Sie sitzen auf dem Proppen, Sie sind um spätestens elf Uhr zwei amerikanischer Zeit total matt gesetzt.

Lehmann. Well, we'll see. But I must go on the street. When I've got the time, I'll come back.

Hubert, den deutschsprechenden Engländer nachäffend. Ui uäre es, uenn Sie noch einen kleinen Uisky mit on the street nähmen, Sir? Am Fenster. Herrgott, da geht heute schon das dritte Pferd mit dem Schlitten durch!

Lehmann. Well, I must go. Good bye, Mister Pfännschmidt. Seinen Knüppel drehend, geht er langsam ab.

Hubert. Wenn dieser Goliath nicht eine so wilde Leidenschaft für das Schachspiel hätte, wäre ich längst vor Langerweile krepiert, Leinefelderin. Sage mal, wie ist es eigentlich dort oben bei dir in dem städtischen Versorgungsheim?

Frau Leinefelder. Gut. Was sollte ich auch tun, wenn es schlechter wäre?!

Hubert. Es sieht so komfortabel aus wie in Europa ein Sanatorium.

Frau Leinefelder. Aber du kommst nicht hinein, Hubert, weil du noch keine zehn Jahre hier im Orte bist.

Hubert. O du gute alte Eulalia Leinefelderin, so lange kann dein Milchsohn nicht mehr warten um der Ehre willen, in einem amerikanischen Armenhause aufgenommen zu sein.

Frau Leinefelder klopft ihm den Hinterkopf. Hubertchen, rede nicht dummes Zeug.

Hubert. Sieh dir diese vier Bettstellen an. Sie müssen für fünf Personen ausreichen. Glaub's oder nicht: ich weiß nicht, wie ich uns morgen satt machen soll.

Frau Leinefelder. Warum hast du denn die Stelle nicht angenommen in der Tapetenfabrik?

Hubert. Als sie mich sahen, war es nichts.

Frau Leinefelder. Hubert, du mußt nicht so viel gebückt sitzen.

Hubert. Es ist beinahe wie ein Wunder für mich, daß du da bist, du alte gute Milchflasche, du! Nicht zu sagen, was für ein Trost in meiner scheußlichen Unbeholfenheit. Man kommt hierher. Man glaubt, aus der Welt zu sein. Plötzlich meldet sich jemand und sagt: »Ich bin deine alte Amme.« Ich wußte nicht mal, daß ich eine gehabt habe. Siehst du, ich trage das Zeugnis für dein Wohlverhalten und deine Leistungsfähigkeit mit der Unterschrift meiner guten Mutter, das du mir gegeben hast, stets auf der Brust. Die Mutter ist also nun auch hinüber.

Frau Leinefelder. Das Zeugnis gibst du mir aber wieder, Hubertchen.

Hubert. Oho! meinst du wirklich, daß du es nochmal brauchst, Leinefelderin? Hat es aus der Brusttasche genommen und betrachtet es. Wie energisch das brave Muttchen damals noch seinen Namen unterfertigt hat. Ja, die Welt ist klein, teure Jungfrau Eulalie!

Frau Leinefelder. Oh, die Madame war immer energisch. Ich hatte dich mal bloß ein halbes Stündchen allein gelassen, und da hatte der Ofen ein bißchen geraucht, und da haute sie mir immerzu, immerzu einen Pantoffel um die Ohren. Ich dachte immer: wann wird sie bloß aufhören? Sie hörte nicht auf und hörte nicht auf.

Hubert, mit unaufhaltsamem Lachen. Herrgott, wie so was doch in der Erinnerung lustig ist! Na ja, sie ist eben nun tot, die Mutter. Mein Anwalt in Breslau hat mir die Nachricht mit einem höchst steifen Schreibebrief meines Bruders Herbert übermittelt. Er zieht seine Uhr. 's ist gegen halb zwölf. In Europa herrscht schon nächtliches Dunkel. Und meine geliebte Frau Leonore ist immer noch nicht aus der Stadt zurück. Das Einholen wird eben täglich schwieriger. Die Kaufleute sperren den Kredit. Kennst du die alte Uhr mit der alten Kette noch?

Frau Leinefelder. Natürlich, Hubert, die trug ja der Herr – so nannten wir deinen Vater doch.

Hubert. Gut deutsch würde man heut »der Chef« sagen. Nun also: die alte Väteruhr wird morgen zu Anthrazit gemacht, und sie wird acht Tage die Stube heizen, was bei achtzehn Grad Kälte ja schließlich, wenn man nicht erfrieren soll, notwendig ist.

Frau Leinefelder. Du sagtest doch, daß du erben wirst.

Hubert. Der Schwarze Adler muß verkauft werden. Mein Bruder Herbert kann ihn nicht fortführen. Du weißt ja, daß er Universitätsprofessor geworden ist. Das Haus ist verschuldet. Übrigbleiben wird da wohl nichts. Gerechter Strohsack! Wer gibt mir, in Gottes Namen, auch nur das Geld zur Überfahrt. Aber auch sonst: man schämt sich. Man gilt womöglich als reicher Amerikaner. Und wie träte man schließlich drüben auf! Hast du nicht auch manchmal Sehnsucht nach der alten Heimat, Leinefelderin?

Frau Leinefelder. Mein Mann liegt hier auf dem Kirchhof von Meriden, warum sollte ich da woanders sein?

Hubert. Ich hab's mit dem Heimweh, grauenhaft. Drüben kann ich sterben oder wieder gesund werden. Aber selbst wenn ich sterbe, müßt' ich gesund werden. Weißt du, daß andere Völker für das, was wir Heimweh nennen, kein entsprechendes Wort haben? Es handelt sich gar nicht um Leben und Sterben, um das Begrabenwerden handelt sich's eigentlich nur noch bei mir. Und doch, wenn ich das große Los gewönne, würde es mich nur deswegen freuen, weil ich mir dieses unendliche Glück – ich sage Glück! Glück! Glück! – dafür kaufen könnte, in Heimatserde eingebuddelt zu werden. Und in meinem Kopf geht es zu – Tag und Nacht, nicht zu sagen wie, Leinefelderin. Was da nicht alles mit meinem verstorbenen Vater, mit meiner verstorbenen Mutter zu erledigen ist! Es ist ja alles lächerlicher Unsinn gewesen, was uns im Zorne geschieden hat, jetzt sind wir uns wieder ganz nahe gekommen. Kannst du dich noch an den Schwarzen Adler erinnern?

Frau Leinefelder. Ich würde mich blind darin zurechtfinden.

Hubert. An den blauen Saal mit den gelben Ripsmöbeln? Die großen, heißen Küchen mit dem glühenden Oberlicht? die alte Büfettstube, wo man durch das Fenster in den Hintergarten stieg? die drei moosbewachsenen flachen Dächer? Unterm dritten der große Taubenschlag. Es war immer eine Leiter da. Immer sah man jemand hinauf- oder herabkriechen. Verwilderte Katzen, Ratten, Hühner, Enten, Gänse, was weiß ich . . . Weißt du, daß ich drüben noch einen Sohn habe?

Frau Leinefelder. Natürlich weiß ich's, ich weiß es von dir, Hubert.

Hubert. Als ich fortging, war er zwei Jahre alt, vor acht Tagen hat er das elfte erreicht. Wenn ich ihm auf der Straße begegnete, ich würde nicht wissen, daß es mein Junge ist. Ist das nicht verrückt, Leinefelderin?

Frau Leinefelder. Na, und was wird denn nun jetzt aus ihm?

Hubert. Willst du einen ganz bestimmten Beweis dafür haben, daß mich das Heimweh seit dem Tode meiner guten Mutter völlig wahnsinnig macht? Nacht für Nacht sehe ich Gotthold leibhaftig an mein Bett treten. Ich bilde mir ein, daß mein Bruder Herbert ihn mir persönlich herüberbringen wird. Von jedem Steamer, der in Cuxhaven oder Bremen Deutschland verläßt, studiere ich die Passagierlisten.

Frau Leonore Pfannschmidt, dürftig gekleidet, tritt hocherregt ein. Sie ist eine früh gealterte Frau von fünfunddreißig Jahren.

Leonore. Gott sei Dank, daß ich wenigstens wieder in der Wärme bin. Sie stellt ein Netz ab, in dem Pakete, Gemüse, gefüllte Tüten, Fleisch eingeschlossen sind.

Hubert. Das sieht ja recht stattlich aus, Leonore.

Leonore. Aber frag mich nur nicht, auf welche Weise ich das schließlich zusammengekratzt habe. Damit ist es nun aber gründlich Schluß. Ohne Geld kann ich nun nicht mehr einkaufen!

Hubert. Du bist ja so aufgeregt, sage doch mal.

Leonore. Aufgeregt? Heulen vor Wut und Scham könnte ich! Kannst du es fassen, daß mich dieser Mulatte, dieser Halbaffe, der an der Ecke den Materialwarenladen hat, vor allen Leuten geradezu abkanzelt? Geld müßte ich bringen, oder nicht einen Fingerhut Kartoffelmehl bekäme ich mehr. Er täte es diesmal nur noch wegen Weihnachten und wegen seiner eigenen deutschen Frau. Du brauchtest nur etwas arbeiten, brüllte er.

Hubert. Meinen Hut, meinen Stock! Ich werde mir diesen Schweinhund kaufen. Bei diesem Kerl braucht man nicht lange zu trommeln, um den Richter Lynch aus dem Schlafe zu wecken!

Frau Leinefelder, beschwichtigend. Laß du den reden! Das wäre so was!

Leonore. Gott sei Dank gibt's auch noch andere Menschen. Als ich es Apotheker Lamping erzählte, hat er mir gleich das Geld zur Begleichung vorgestreckt.

Hubert. Das hast du dem Schuft doch nicht hingetragen?!

Leonore. Ich habe es ihm auf den Tisch gezählt und ihm dabei dermaßen den Text gelesen, daß er abwechselnd käsegrün und blau im Gesicht geworden ist.

Hubert. Das ist er ja gar nicht wert, so'n Geld.

Leonore. Übrigens laden Lampings uns und die Kinder morgen zur Christbescherung ein. Ist der Briefträger hiergewesen?

Hubert. Mit dem bekannten Geldbrief, meinst du, von dem unbekannten Wohltäter?

Leonore. Ich weiß nicht, aber der Briefträger hat mir vorhin aus der Ferne, als er auf die Elektrische sprang, so vergnügt zugewinkt. – Die »Auguste Viktoria« hat gestern am Kai von Hoboken festgemacht. Es soll auch bereits ein deutscher Herr mit seinem Sohne hier herumlaufen, der mit der »Auguste Viktoria« gekommen ist.

Hubert lacht auf. Es wird Herbert und Gotthold sein.

Leonore. An Zeichen und Wunder glaube ich nicht.

Hubert. Natürlich habe ich Spaß gemacht. Aber Zeichen und Wunder? Warum denn das?

Leonore. Lieber, Lieber, du kannst einem beinahe leid tun, so hast du dir diesen Unsinn in den Kopf gesetzt, Herbert würde uns Gotthold herüberbringen. Auch mich hast du beinahe mit verrückt gemacht. Schlag dir das endlich aus dem Kopf.

Hubert. Lorchen, laß mir bitte meinen sorgsam begossenen – ah, du hast auch eine Flasche Kognak mitgebracht! –, meinen sorgsam immer wieder zu begießenden mikroskopischen Hoffnungskeim. Nimm mir nicht noch mein einziges, von mir mir selbst dediziertes Weihnachtsbäumchen! Ich weiß ja selbst, daß es unsinnig ist, und ich würde ja schließlich am Herzschlag abkratzen.

Die Kinder des Ehepaares Pfannschmidt, Erna, Hedda, Agathe, neun-, acht- und siebenjährig, stürmen herein und werfen die Schultaschen ab.

Die Kinder, durcheinander. Guten Tag, Vater! Guten Tag, Mutter! Oh, wie das heute schneit, Vater! Furchtbar kalt ist es heut, Mutter!

Hubert. Mutter, Vater, Vater, Mutter!

Die Kinder, durcheinander. Ach Mutter, ich habe Hunger, Mutter! Mir tut förmlich der Magen weh, Vater! Die Schmidts haben heut Turkey zum Mittagbrot! Bei den Mitchers ist heute ein Faß Sauerkraut aus Deutschland angekommen! Hu, Mutter, Sauerkraut, Sauerkraut!

Leonore. Weißt du nicht noch was! Sauerkraut!

Die Kinder. Die Lehrerin hat uns heute jedem einen Pfefferkuchen geschenkt! Die Scherings haben eine ganze große Kiste Nürnberger Lebkuchen auf dem Hausflur stehen! Der Christbaum bei Millers ist riesengroß! riesengroß!

Hubert verteilt Äpfel aus dem Netz. Da! Freßt, solange noch etwas vorhanden ist. Dankt dem lieben Gott und eurer Mutter. Wenn sie nicht eine Löwin wäre, so könntet ihr höchstens gefälligst nach Luft schnappen.

Während die Kinder nach den Äpfeln springen, wird stärker und stärker an die Tür geklopft.

Eine verschleierte, junge, auffällig gekleidete Dame tritt ein.

Die Dame. Bin ich hier recht bei dem Herrn Patentanwalt Hubert Pfannschmidt?

Hubert. Das ist mein Name. Patentanwalt bin ich aber schon lange nicht mehr. Was stünde zu Diensten, meine Gnädige?

Die Dame. Das ist nicht mit zwei Worten gesagt.

Hubert. Bitte nehmen Sie Platz, wenn Sie nämlich Platz finden, meine ich. Es ist bei uns ein bißchen Gedränge. Kinder, macht euch gefälligst hinaus! Kinder ab in die Küche. Wie gesagt: mit Patentamtssachen habe ich schon lange nichts mehr zu tun.

Die Dame. Ich suche nicht Ihre Hilfe, Herr Pfannschmidt. Ich suche nicht einmal Ihren Rat.

Hubert. Es würde auch schwerhalten, Hilfe von jemand zu erlangen, der sich selber nicht helfen kann.

Die Dame. Es zog mich hierher, weil ich Ihnen dies und das aus der alten Heimat berichten kann und weil ich ebenfalls, ich möchte sagen, nach einigen Herzenslauten aus der Heimat Verlangen trage.

Hubert. Sind Sie am Ende erst mit der »Auguste Viktoria« angekommen?

Die Dame. Ich bin schon seit einem Jahre von Liegnitz weg und ebensolange in diesem Lande.

Hubert. Kennen Sie mich? Kennen Sie meine Familie? Die Welt ist nämlich unendlich klein, wie ich immer wieder erfahre. Wie haben Sie meinen Aufenthaltsort ausfindig gemacht?

Die Dame. Ich sehe Sie heut zum erstenmal. Dagegen kenne ich Ihre Familie. Als die »Auguste Viktoria« am Kai in Hoboken anlegte, stand ich unter der Menge, wie oft, wenn ein Dampfer aus Deutschland gemeldet ist. Ich sehe dann Deutsche, ich höre deutsch sprechen. Da hörte ich, wie ein New Yorker Herr einen eben gelandeten Passagier informierte. Der Name Hubert Pfannschmidt in Verbindung mit der Stadt Meriden fiel. Sofort war ich entschlossen, Sie aufzusuchen.

Hubert. Sonderbar! Es darf Sie nicht wundern, wenn ich von dem allen ein bißchen befremdet bin.

Die Dame. Zunächst eine Frage: wissen Sie etwas von Dorothea Angermann?

Hubert. Ein weibliches Wesen dieses Namens kenne ich nicht.

Die Dame. Dagegen wissen Sie doch wohl etwas von Pastor Angermann?

Hubert. Angermann? Pastor Angermann?

Leonore. Gotthold ist ja doch in Pension bei einem Pastor Angermann.

Hubert. Aber natürlich, um Gottes willen! Schließlich vergesse ich noch, daß ich auf den Namen Hubert getauft worden bin! Ich habe einen Sohn von elf Jahren. Gewiß! Er wird erzogen bei einem Pastor Angermann.

Dorothea. So ist es, und ich bin dessen Tochter.

Leonore. Die Tochter von Pastor Angermann?

Dorothea. Die Tochter von Pastor Angermann.

Leonore. Und unseren Sohn, unseren Gotthold, kennen Sie, Fräulein Angermann?

Dorothea. Er ist ein prächtiger Junge geworden.

Hubert. Sachtchen! Sachtchen! Eins nach dem andern, Fräulein Angermann. Ich hab' es ein bißchen mit dem Herzen. Meine Universalmedizin, Leinefelderin! Frau Leinefelder bringt ihm einen Tassenkopf voll schwarzen Kaffees. Ein Schluck schwarzer Kaffee, und ich kann wieder Bäume ausreißen. – Wie kommen Sie nach Amerika, Fräulein Angermann? Legen Sie bitte ab, Fräulein Angermann.

Dorothea. Ich bin nicht mehr Fräulein Angermann.

Leonore. Aber bitte, bitte, Sie müssen ablegen.

Hubert. Sie müssen erzählen. Wir haben seit neun Jahren keinen Menschen gesprochen, der Gotthold mit eigenen Augen gesehen hat. Leonore, Kognak, Bananen, Butterbrot!

Leonore. Wie sieht Gotthold aus? Ist er klein oder groß für sein Alter? Trägt er langes Haar? Spricht der Junge richtiges, ausgewachsenes Deutsch?

Hubert. Natürlich lallt er noch, Leonore! – Sie kennen auch andere Mitglieder meiner Familie?

Dorothea. Oh, Ihre liebe Frau Mutter hat sich meiner, als ich im Schwarzen Adler das Kochen lernte, wie eine richtige Mutter angenommen. Ich darf wohl hoffen, daß ich nicht der Überbringer einer sehr, sehr traurigen Nachricht bin . . .?

Hubert. Ich weiß, meine Mutter ist nicht mehr am Leben. Sie hat sich stillschweigend davongemacht. Haben Sie nun aber auch meinen stattlichen, wohlbestallten, gelehrten Herrn Bruder, den Stolz unseres Hauses, kennengelernt?

Dorothea. Auch Herbert . . . auch Herrn Herbert . . . auch Herrn Professor Herbert Pfannschmidt habe ich kennengelernt.

Hubert. Geht's ihm gut? Ist der Jüngling verheiratet?

Dorothea. Verheiratet ist er, glaube ich, nicht.

Hubert. – Was meiner Erwartung durchaus entspricht. Herbert und Frauen, das denke ich mir ungefähr so wie eine Telegraphenstange und ein Suppenhuhn. Also, meine liebe gnädige Frau, Sie haben im Schwarzen Adler kochen gelernt: da kennen Sie doch auch die Büfettstube?

Dorothea. Dort aßen wir Kochfräuleins und Frau Renner unser Mittagbrot.

Hubert. Sie stahl wie ein Rabe, die brave Person. Also die Rennern ist auch noch da! Jedes Jahr wollten die Eltern sie abschaffen . . . Und der Koch? Haben Sie den alten, braven Küchenchef Philipsen auch noch kennengelernt?

Dorothea. Nein, der Küchenchef hieß nicht Philipsen.

Hubert. Richtig. Mein Anwalt, Dr. Freund in Breslau, schrieb mir ja einmal, Philipsen hätte einen leichten Anfall gehabt und hätte die Kocherei aufgeben müssen. Statt seiner habe mein Vater einen Burschen, den er einige Jahre hatte ausbilden lassen, einen sehr talentvollen Windhund, eingestellt.

Dorothea schlägt den Schleier zurück und sagt mit zitternden Lippen. Diesen Windhund hab' ich geheiratet.

Hubert. Um Gottes willen, verzeihen Sie mir, gnädige Frau. Ich weiß von dem jungen Mann ja eigentlich nichts. Sie werden es mir zugute halten, wenn ich nicht auf den Gedanken kam, daß die Tochter von Pastor Angermann gerade einen Koch heiraten würde. Übrigens bin ich genug Amerikaner: an Vorurteilen gegen dergleichen Ehen kranke ich nicht.

Dorothea. Ich kranke an solchen Vorurteilen! Sie tupft sich die Augen. Aber was habe ich nur im Sinne gehabt? Was war es eigentlich, weshalb ich Sie aufsuchte? Nun, da ich hier bin, scheint mir fast, daß ich sinnlos gehandelt habe.

Leonore. Legen Sie ab, Fräulein Angermann. Oder wie darf ich sonst sagen?

Dorothea. Nein, danke, nur noch einen Augenblick. Es ist mir schon eine Wohltat gewesen, Mitglieder der Familie Pfannschmidt sprechen zu hören und mit Augen zu sehn.

Hubert. Oho! So leicht kommen Sie uns gewiß nicht aus, gnädige Frau.

Dorothea. Sie können nicht wissen, was ich erlebt habe! Und wenn ich es Ihnen eröffnen wollte, die Erniedrigung wäre zu groß. Dabei ist mein Schicksal eine ordinäre Alltäglichkeit. Wer sie erlebt freilich, diese Alltäglichkeit, trägt nicht leicht.

Hubert. Es ist mir sehr bedauerlich zu hören, was Sie mir da zu hören geben, gnädige Frau.

Dorothea, in einem wachsenden Verzweiflungsausbruch, mehr und mehr fassungslos. Ich bin nicht gnädig! Ich bin keine Frau! Ich hätte es einmal werden können, aber ich war dessen leider unwürdig. Wohl dem, der den unergründlichen Sumpf nicht kennt, auf dem auch die Welt des Bürgertums höchstens wie eine irisierende Pfütze schwimmt. Dagegen bin ich in diesen Sumpf, in diese Sumpfjauche, in diesen sodomitischen Giftschlamm bis zum Ersticken und Erbrechen hinabgetaucht. Jawohl, Sie sehen in mir eine Gesunkene. Als mich mein Vater dafür hielt, da hatte mir der Sumpf allerhöchstens die Fußsohlen berührt. Engelrein bin ich darüber hingewandelt. Dann bin ich gesunken. Wenn Sie jemals gefragt werden: Sinken ist keine Kleinigkeit! – Heut hätte ich ein ganz anderes Verhältnis zu den verachteten Zuchthäuslern, für welche die Welt, inbegriffen mein Vater in seinem Berufskreise, nur das Achselzucken der Pharisäer hat. Wie lächerlich sind alle Schulen menschlicher Institution gegen die furchtbare Schule Gottes, die ich, um dieser Einsicht willen, durchmachen mußte. Ein Jahr lang hat der Kursus gedauert. Wie kann mein Vater, wie kann ein Pastor, ohne einen solchen Kursus durchgemacht zu haben, Seelsorger sein? Solche Leute wissen ja nichts von der Welt, sie ahnen ja nichts von ihren Schrecken. Weder im Guten noch im Schlimmen: sie kennen natürlich auch den Menschen nicht. Wenn man den Menschen im Schlimmen kennt, so begreift man nicht, wie ein Mensch, ohne vor Ekel und Grausen zu sterben, einen anderen auch nur berühren kann! wie ein Mensch, ohne den Browning unterm Kopfkissen und ohne Wolfshunde um sein Bett, schlafen kann. Man lächelt über Verfolgungswahn: man sollte lächeln und weinen über Menschen, die nicht merken, daß die Jagd, die kläffende Hetzjagd, daß die Meute immer und überall auf ihrer Ferse ist. Ich sage nicht, dieses Leben ist klein. Das Leben wächst, wenn man es jede Minute verteidigen muß . . .

Hubert faßt sanft ihre Hände. Gnädige Frau! Gnädige Frau! Wir sind enge Landsleute. Sie müssen mir schon erlauben, daß ich Sie bei den Händen fasse, daß ich Sie unterbreche, die Tochter eines Mannes, dem ich verpflichtet bin. Sie haben sicherlich Schweres durchgemacht. Auch über uns hängen schwere Schicksale. Seide haben auch wir nicht gesponnen in Amerika. Grade deshalb: seien wir tapfer! Teilen wir unser Elend, und legen wir unseren Mut zusammen, Fräulein Angermann!

Dorothea. O Gott, so können Sie sprechen, Herr Hubert, und ich habe es nicht einmal für möglich gehalten, daß in der ganzen Welt jemand ist, der so sprechen kann! Sie starrt ihn seltsam an. Aber zu spät! Für mich um so schlimmer. Nein, es gibt kein Zurück für mich!

Hubert. Ich kann zwar nicht wissen, wie weit Sie recht haben . . .

Dorothea. Nein, die Gebiete, in denen ich meine sogenannten Tage hinbringe, diese Höllen, diese Abgründe kennen Sie nicht. So obenhin gebraucht man das Wort Erniedrigung. Was weiß man denn von Erniedrigung?! Mein Vater hat mich hinuntergestoßen. Er hat mich in die Höhlen und Gruben der hungrigen wilden Tiere hinuntergestoßen. Entehren wir doch nicht den Ausdruck Tier. Bleiben wir doch bei den Ausdrücken Mensch, Mann, Höllenknecht. Man wird geschlagen, zertreten, mißbraucht, man wird auf die Straße gejagt und muß Geld schaffen. Wie eine Gliederpuppe, heute mit Pelzwerk ausstaffiert, wird einem alles am nächsten Tage vom Leibe gerissen. Und dann dieses Preisgeben, dieses Preisgeben! Aber hat sich einer der Puppe bedient, so geht er ausgeplündert davon. Die Gliederpuppe ist fingerfertig. Oder aber die Meute lauert, und dann wird kurzer Prozeß gemacht. Auch nur einen Fisch zu schlachten im Gasthof Zum schwarzen Adler habe ich nicht übers Herz gebracht. Heute habe ich Dinge erlebt und gesehen . . . –! Das Blut, die Nerven wandeln sich um, es geht etwas vor, wobei man nicht mehr bei Bewußtsein ist, man würde sonst vor Entsetzen zu Stein werden! Sie kennen doch das Chinesenviertel: ein Chinese, ein stiller und gütiger Mann. Er hat eine Art Vertrauen gefaßt. Man ist mit ihm irgendwo eingetreten. Ein leeres, langes, dunkles Lokal. An der Bar, in der Mitte, steht ein Mann. Der Begleiter und Sie begeben sich nach dem Hintergrund. Sie sehen, wie sich ein einzelner Kerl im großen Schlapphut starr emporrichtet. Der große, gute, weiche Chinese blickt sich um. Am Eingang zeigt sich ein zweiter Kerl. Und nun geht etwas vor, nun geht etwas vor . . . in aller Wirklichkeit, unausweichlich geht es vor, und Sie müssen es bis zum röchelnden, kotigen, blutüberströmten Ende mit ansehen! – Und nun lassen Sie mich meiner Wege gehn. Sie ist überraschend schnell durch die Eingangstür verschwunden.

Hubert. Hu, das war wie ein Schatten! Das war wie ein schwarzer, schwarzer Schatten aus dem Orkus, Leonore! Sollte das als ein Gruß aus der Alten Welt aufzufassen sein, dann müßte man freilich etwas umlernen!

Leonore, durchs Fenster beobachtend. Sie kämpft sich durch den Schnee über die Straße hinüber. Sie stutzt! O Gott, nun schwankt sie wie eine Betrunkene. Wenn sie nur noch bis zum Bahnhof kommt! Was denkst du nun über diese Person, Hubert?

Hubert. Ich zweifle nicht, sie ist die Tochter des Pastors Angermann. Was sie vom Schwarzen Adler sagt, ist ja ebenfalls alles zutreffend. Sie hat den Schlingel von Koch geheiratet. Es wird wohl so sein. Warum sollte sie so etwas aus der Luft greifen? Natürlicherweise: sie ist eine Unglückliche. Aber was sie da alles gefaselt hat, daran glaube ich nicht. Sie steht vielleicht unter Morphium. Er läßt sich längelang auf ein Bett sinken. Leiden hier, Leiden da. Was geht's einen an?! Und ich denke, wir haben am Ende mit uns selber genug zu tun. – Aber sie hat verteufelte Augen! Die Augen werden mir lange nachgehen! – Ich habe in meinem ganzen Leben kein Weib gesehen, das so verteufelte Augen hat! – Lore, besorge das Mittagbrot!

Leonore. Hubert, die alte Frau Seeliger stirbt. Ihr ganzes Sinnen und Trachten seit Jahren war darauf gerichtet, die alte Heimat wiederzusehen. Für dieses Frühjahr war alles soweit, die Reise endlich beschlossen worden. Nun wird es doch nichts, nun muß sie fort. In ihren Fieberphantasien spricht sie nur von ihrem Schwarzwälder Bauernhof.

Hubert. Das Heimweh, das Heimweh, Leonore!

    I looked out over the ocean
    and saw a sun-maiden stand . . .

Aber sage mal, sage mal, Leonore, was war denn das? In Hoboken hat sie am Kai gestanden, als die »Auguste Viktoria« angekommen ist, und da hat ein Fremder einen anderen nach mir gefragt. Und so hat sie meine Adresse erfahren?

Leonore. Ja, wer das gewesen ist, weiß ich nicht. – O Gott, diese Nacht, und draußen die arme Person, Hubert! Sie geht ab in die Küche. Im Zimmer wird es stiller und stiller und so düster, als ob die Nacht einfiele. Draußen bricht ein Schneesturm los.

Hubert, schwer atmend, halbwach, dudelt leise in sich hinein.

    Fischerin, du kleine,
    fahre nicht alleine,
    fahre nicht bei Sturmgebraus
    auf das weite Meer hinaus.

Was da geflogen kam, Himmel nochmal! das war ein finstrer, finstrer Nachtschatten! Eine richtige schwarze Fledermaus!

Längere Zeit hört man nur das Wüten des Sturmes.

Der Sturm läßt ein wenig nach, man hört Hubert laut schnarchen. Auf der unsichtbaren, engen Holztreppe des Holzhäuschens werden Schritte hörbar. Man erkennt, daß jemand bald an der einen, bald an der anderen Tür des Hausflures pocht. Der schnarchende Schläfer hört es nicht. Es wird nochmals gepocht und daraufhin, wie man hört, die Flurtür in der Küche nebenan aufgeschlossen. Es wird von einer Männerstimme gefragt und von der Stimme Leonorens geantwortet. Einer kurzen Stille folgt ein lauter Ausruf des Staunens und dann ein gedämpftes, heftiges Flüstern. Dies Flüstern setzt sich eine Weile fort, bis es sich beruhigt. Geräusche lassen erkennen, die Ankömmlinge sind in die Küche eingetreten.

Die Tür zur Küche wird nun von innen geöffnet, und, ziemlich beschneit und in Hut und Paletot, wird Herbert Pfannschmidt sichtbar, ein brennendes Licht, vor das er die Hand hält, in der Rechten. Hinter ihm stecken die Töchter Huberts, Leonore und ein Knabe ihre erregten Köpfe herein. Ohne Geräusch zu machen, tritt Herbert an das Lager seines schlafenden Bruders und betrachtet ihn. Dabei laufen ihm Tränen über die Wangen. Hubert schnarcht, ohne aufzuwachen, und Herbert zieht sich, wie er gekommen, zurück. Nunmehr erscheint auf dieselbe Weise wie sein Onkel der elfjährige Gotthold Pfannschmidt mit dem brennenden Licht. Auch er tritt an das Bett des Schlafenden, der sein ihm unbekannter Vater ist. Er tut es ungerührt, nur neugierig. Hubert öffnet nach einiger Zeit die Augen, betrachtet die Erscheinung mit dem Licht unbefremdet, als ob sie eines seiner Phantasiegebilde wäre, stutzt aber dann und richtet sich ruckweise auf.

Hubert. Allmächtiger Herrgott und Vater im Himmel! Entweder bin ich tot oder wahnsinnig!

Bei denen in der Küche bricht Rührung und Freude in Weinen und Lachen aus. Hubert sieht sich mit wilden Augen um. Er erkennt Herbert, der wieder sichtbar wird. Da erfaßt er die ganze immer erhoffte und nicht geglaubte Tatsache. Das ist sein Sohn: – er reißt ihn an sich. Wortlos tritt Herbert näher. Ohne den Sohn loszulassen und ohne Herbert anzusehen, reicht Hubert dem Bruder die Hand. Nach einer Weile macht er sich frei und winkt allen heftig mit beiden Armen, sich zu entfernen.

Und nun – schenkt mir – ich muß nur einen einzigen Augenblick Atem holen! – schenkt mir eine Minute Zeit! Herbert nimmt Gotthold mit sich. Die Mädchen werden von Leonore hinausgezogen. Man läßt Hubert allein. Er steht auf, seine Brust arbeitet, er macht ein Tuch naß, windet es aus und legt es unter dem Hemd aufs Herz. Das beruhigt ihn. Kommt herein, Kinder, nun ist alles gut. Herbert und Leonore treten ein. Es hätte mir freilich können an den Kragen gehen.

Leonore. Willst du starken Kaffee? Willst du deine Tropfen?

Hubert. Weder – noch, mein geliebtes Weib. Diesmal habe ich es noch geschafft, wie ich glaube. Näher, Herbert! Ich muß dich mal erst genau befühlen! Du wirst mir doch etwa keinen Streich spielen und als Blase der Phantasie . . .

Herbert. Nein, Lieber, das haben wir nicht zu fürchten. Sie umarmen einander, klopfen einander die Rücken, blicken einander an.

Hubert. Unmögliches ist also möglich und wirklich geworden. Ich möchte dich fast beriechen, Herbert, um meiner Sache ganz sicher zu sein.

Herbert. So unwahrscheinlich ist ja im Grunde die Sache nicht.

Hubert. Wart mal. Eins nach dem andern, Herbert. Ich werde mich dir erst mal einhaken, siehstewohl, und wir schreiten erst mal dusemang, immer dusemang in der Bildergalerie auf und ab. Er weist auf die Feldbettstellen. Das sind die Bilder, mehr sind es nicht, die ich in neun Jahren hier gemalt habe. Gib es zu: der Anblick spricht Bände, Herbert. Mensch, welcher unter den berühmten Engeln Gottes half dir die Wasserscheu überwinden und drückte dir den tollkühnsten aller Entschlüsse in die Seele, den großen Teich zu überqueren und uns unseren Jungen mitzubringen?

Herbert. Lag der Gedanke nicht ziemlich nahe? Mutters Tod, Erbschaftsregelung, die Frage Gotthold und was mit ihm werden sollte und auch noch mancherlei anderes, wovon du schon nach und nach erfahren wirst.

Hubert. Es war höchste Zeit, daß du kamst, lieber Herbert.

Herbert. Als dein Justizrat Freund bei mir auftauchte, brauchte ich nur noch zu wissen, wo du zu finden warst. Noch am selben Tage belegte ich Plätze und machte Gotthold aus der Schule los. Was sollte ich erst noch Briefe schreiben, da ich ja hoffen konnte, ebenso schnell bei dir zu sein.

Inzwischen ist es draußen heller und heller und zuletzt heller Tag geworden.

Hubert. Du hast dir wohl auch meine Lage ein ganzes bißchen rosiger vorgestellt?

Herbert. Du hast nicht geschrieben, und auch der Justizrat wußte von deinen Verhältnissen nichts.

Hubert. Man hat eben seinen Stolz, lieber Junge. Verheimlichen läßt sich ja nun aber weiter nichts. Und wenn du dir also schmeicheln solltest, daß dieser Prunk, den du da siehst, mir gehört, so muß ich dir leider die Mitteilung machen, daß alles, bis auf den Hosenknopf, möchte ich sagen, verpfändet ist. Was folgt daraus? Du wirst denken: Auf, auf nach Amerika! – – Sie müssen hinüber! Sie schwitzen Talent! sagten meine Ratgeber. Ich habe geschwitzt! Ich habe geschwitzt! Ich habe mein ganzes Talent verschwitzt, Geld, Gesundheit, alles verschwitzt! Und immer noch schwitze ich auf Teufel komm raus! und bin in den letzten drei Wochen, ehe du kamst, aus dem Angstschweiß nicht herausgekommen. Wie alles kam, erfährst du schon noch. Es ist übrigens immer dieselbe Geschichte. Nicht eine eigentlich, sondern zwei. Die eine erlebt der Mensch, dem es glückt, nach oben zu kommen, die andere der Mensch, der abwärts rutscht. Aber schließlich, nichts wäre verloren, wenn das nicht wäre. Er deutet auf die Gegend seines Herzens.

Herbert. Dagegen heißt es nun eben vor allem etwas tun, Hubert!

Hubert, erregt, hastig. Langen die Mittel? Ich möchte nach Wildungen. Denke dir, ich träume davon. Jede Nacht streiche ich zu Fuß oder Wagen unter den herrlichen Buchen des Thüringer Waldes herum und schlängle mich nach und nach bis nach Wildungen.

Herbert. Warum nicht, Hubert? Warum sollst du nicht im April oder so in Wildungen sein? – Zu deiner Beruhigung erstmal einen oberflächlichen Überblick über das Mindestmaß unserer elterlichen Hinterlassenschaft. Der Schwarze Adler ist verpachtet. Das ergibt für jeden von uns eine Jahresrente von sechstausend Mark. Außerdem wird, wenn alles geregelt ist, für jeden von uns fünfzig- bis sechzigtausend Mark in bar verfügbar sein. Dann sind noch gewisse Objekte vorhanden, worunter ein kleines Häuschen in Reinbek bei Hamburg ist, auf dem Vater eine Hypothek hatte und das uns wahrscheinlich zufallen wird.

Hubert. Mensch! – Aber jetzt laß nach, jetzt laß nach, guter Herbert. Jetzt, wo die Last vom Buckel weicht, fühlt man erst, wie die Knie weich werden. Laß mal, wir wollen mal lieber Platz nehmen. So denke ich es mir, wenn man von der Bergkrankheit befallen ist.

Leonore. Besser, du nimmst ein paar Tropfen, Hubert. Gibt ihm ein Zuckerstück, das sie betropft hat.

Hubert. Digitalis! Her damit! – Also höre mal, edle Leonore. Zu Herbert. Sie hat sich, bei Gott! nicht übel geführt! – Das Hundeleben, was man so nennt, das ärgste Hundeleben ist aus. Und denke dir: dein Gatte wird nach Belieben, nach Rat der ärztlichen Autoritäten mittels Eisenbahn deutsche Badeorte unsicher machen und im Landauer hübsche Ausflugsorte aufsuchen. Er wird von Kellnern bedienert werden! Hoteliers werden sich nach seinen Wünschen erkundigen. »Oh, wieso, das Zimmer gefällt Ihnen nicht? Da wollen wir aber im Augenblick Rat schaffen.« Kinder, es ist ja zum Verrücktwerden! Wie nennt man so was? Ich glaube: Glückswechsel!

Leonore schluchzt und verbirgt ihr Gesicht an Huberts Brust. Dann löst sie sich los und geht hinaus, gleichsam, um ihrer Rührung Herr zu werden.

Hubert. Na, und wie geht es eigentlich dir, Herbert?

Herbert. Sozusagen durchwachsen. Reden wir später davon.

Hubert. Hast du auch mit Halsabschneidern von Kompagnons zu tun gehabt? Weißt du auch was zu sagen von deinen lieben Mitmenschen?

Herbert. Äußerlich habe ich nicht zu klagen. Meine Arbeit an der Bibliothek und in der Universität befriedigt mich. Die Kollegen sind mir im großen und ganzen gewogen . . . Aber . . .

Hubert. Ach, Menschenskind, wo dich der Schuh auch immer ein bißchen drücken mag, sieh mich an: wenn du dich irgend mit mir vergleichst, gegen mich hast du das große Los gewonnen. Allein schon der Feind, der mir hier im Busen sitzt.

Herbert. Gerade da vielleicht sitzt auch bei mir der Feind.

Hubert. Ein Mann, der so aussieht wie du, so geht und so atmet . . .?

Herbert. Es braucht ja nicht immer und in jedem Falle ein körperliches Leiden zu sein.

Hubert. Mann Gottes, rede mir nicht von Seelenleiden! Geldnot, Hunger, Durst, Zahnschmerz, Asthma et cetera, alles andere ist eingebildet. Wem es zu gut geht, hat Seelenleiden, weil er sich eben den Luxus gestatten kann. Man braucht dich bloß anzusehen, um zu wissen, daß man bei dir keinen Grund hat, besorgt zu sein.

Herbert. Ernstlich besorgt? Davon ist auch im Augenblick nicht die Rede.

Hubert. Die Laune verderben lass' ich mir nicht.

Herbert. Dazu gibt meine Sache auch nicht den geringsten Anlaß im Augenblick. Mein hauptsächlichster Zweck ist erreicht. Ich habe dich glücklich aufgestöbert. Ich habe Gotthold einen Vater gegeben und euch euren Sohn gebracht. Das andere findet sich auch mit der Zeit.

Hubert. Jetzt aber, Herbert, machst du mich neugierig. – Du trägst keinen Ring, du bist nicht verheiratet?

Herbert. Hubert, lassen wir das.

Hubert. Aber nochmals: où est la femme?

Herbert. Ich will es nicht leugnen. Neben der Frage: où est le frère? hat mich auch diese Frage hierhergeführt. Deine Spürnase täuscht dich nicht.

Hubert. Feind im Busen, Seele und so – in deinem Alter noch unbeweibt –, warum soll da kein Frauenzimmer dahinterstecken? Du hast also, wie es scheint, Appetit auf eine begüterte Amerikanerin!?

Herbert. Das nenn' ich ein bißchen danebengeraten. Es handelt sich vielmehr um eine mir bekannte Persönlichkeit: plötzlich aufgetaucht und ebenso plötzlich verschwunden. Von der ganzen Erscheinung ist übrigens in Wahrheit eben nur ein leises Nagen und Bohren zurückgeblieben.

Hubert. Du bist abgeblitzt? Die Liebe war unglücklich?

Herbert. Mehr und weniger als abgeblitzt. Es handelt sich eher um schwerste Enttäuschungen. Dagegengehalten ist ein sogenannter Korb eine bloße Kleinigkeit. Etwas hatte mich immer an ihr beunruhigt. Aus ihrem Auge kam manchmal so ein Blitz von Verwegenheit . . .

Hubert. Nun also: Europa ist dir zu eng geworden. »Es lebt eine Ratt' im Kellernest . . . es war zu eng ihr in der Welt, als hätte sie Liebe im Leibe«, und so und dergleichen. Du kannst nicht mehr mit ihr gemeinsam in dem gleichen Erdteil sein. Oho, wir kennen solche Geschichten.

Herbert. Durchaus nicht. Sie ist in Amerika.

Hubert. Süd- oder Nordamerika?

Herbert. Sie muß sich in oder um New York aufhalten. – Nun mal im Ernst: davon zu sprechen lohnt fast nicht. Damit du mir das aber wirklich glaubst, wisse, ich würde beinah nicht lügen, wenn ich sagte, ich habe eine wirkliche Braut in Deutschland zurückgelassen.

Hubert lacht. Oho! »Beinah nicht lügen«, und »eine wirkliche Braut«? Der ganze Herbert, wie er gebacken ist. Bei dir gibt's also auch unwirkliche Bräute. Noch immer der alte Umstandsrat. Wie heißt denn nun die beinahe wirkliche Braut?

Herbert. Sie ist eine Breslauer Stadtratstochter. Den Namen nenne ich einstweilen lieber noch nicht.

Hubert. Und die andre, die um New York herum ansässig ist?

Herbert. Das ist keine Breslauer Stadtratstochter. Aber auch ihren Namen möcht' ich einstweilen geheimhalten.

Hubert Also Umstandsrat und Geheimerat!

Herbert. Ja Gott, es ist so ein Aberglaube.

Hubert. Das liegt uns Pfannschmidts doch eigentlich nicht.

Herbert. Ich fange manchmal an, stutzig zu werden. Glaub's oder nicht: als ich im Herbst eines Mittags nach einem riesigen Platzregen aus der Universität auf die Straße trat, da hörte ich mich bei Namen anrufen. Ganz unwillkürlich rief ich: Dorothee! Aber Dorothee!

Hubert. Sie heißt also demnach Dorothee?

Herbert. Wer? – Meinethalben also auch Dorothee. Ich dachte, sie sei wieder heimgekommen. Gefunden habe ich sie aber nicht.

Hubert überlegt, sehr ernst. Sag mal: ist Dorothee eine Pastorstochter?

Herbert. Dann hat dir also Dr. Freund etwas mitgeteilt?

Hubert. Lassen wir mal den Dr. Freund. Hat Dorothee einen Koch geheiratet?

Herbert. Ja, sie hat einen Koch geheiratet.

Hubert. Hat deine Dorothee, wie du sie nennst, im Schwarzen Adler das Kochen gelernt?

Herbert. Es ist nicht zu leugnen, auch das ist zutreffend. Aber woher weißt du denn das?

Hubert. Kennt Gotthold sie?

Herbert. Er kennt sie, er sagt sogar Tante zu ihr. Es ist ja ihr Vater, bei dem dein Sohn bis zum Tode unserer Mutter erzogen wurde.

Hubert. Mensch, Mann! Nun laß mich mal einen Augenblick nachdenken. Was mir da dämmert, ist aus dieser und jener Nachricht von da und dort zusammengeflickt. Ich möchte mich aber nicht blamieren und etwa etwas Dummes anstiften.

Herbert. Du weißt am Ende gar, wo sie ist?

Hubert. Schluß damit! Kein Wort mehr davon! Ich werde dir morgen ein Briefchen heraussuchen, das sich hoffentlich noch vorfinden wird. In San Franzisko ist es zur Post gebracht. Ein Durcheinander. Ich wußte aus dem Geschreibsel nichts Rechtes zu machen. Dagegen neigten ich und auch Leonore dazu, die Briefschreiberin für meschugge zu halten.

Herbert. Aus dem fernen Westen kam der Brief?

Hubert. Ich werde ihn, wie gesagt, morgen heraussuchen. Dorothea, das war ganz gewiß ihr Vorname. Aber wie sie sonst heißt, weiß ich nicht. Und nun, lieber Engel Uriel, Ariel oder Gabriel, lieber Ritter Sankt Georg, der du den Drachen meines Elends, meines Jammers und meiner Not zertreten hast – du hast mich aus Kerker, Ketten und Banden genommen! – Aber laß mich nun eine Stunde allein, sonst kann es kommen, daß ich das Geschenk meiner Freiheit nicht mehr zu genießen imstande bin. Und heut abend wollen wir Pläne schmieden.

Herbert. Ja, ja, du hast recht! Auf heut abend denn!

Die Brüder drücken einander die Hand, und Herbert geht davon durch die Küchentür.

Hubert, hoch aufgerichtet, einen Augenblick nachdenklich, ruft dann plötzlich laut. Leonore!

Leonore erscheint sogleich. Hier, Hubert.

Hubert, Finger auf dem Mund, leise und heftig. Mund zu! Komm schnell mal her, Leonore! – Hast du Herbert irgend etwas von der armen, verrückten Person gesagt, die uns heute morgen die Ehre ihres Besuches gegeben hat?

Leonore. Ich wollte ihm eben von ihr erzählen.

Hubert. Kein Sterbenswörtchen wirst du erzählen! Kein Sterbenswörtchen, verstehst du mich?

Leonore. Weißt du denn, daß sie auf der Straße zusammengebrochen ist? Dein Freund, der Policeman Mr. Lehmann, hat sie gefunden und persönlich ins Hospital des Armenhauses geschafft. Die Leinefelder war noch mal hier. Sie war gerade dabei, als Lehmann sie einlieferte. Wer weiß, ob sie wieder aufkommen wird. Man fand bei der armen Person weder Papiere noch irgendwelche Subsistenzmittel.

Hubert. Kein Wort davon an Herbert berichten. Es steckt da nämlich etwas dahinter, was nur mit der allergrößten Subtilität zu behandeln ist, wenn Herbert die Zeche nicht zahlen soll. Wir müssen gehörig auf ihn aufpassen. – – Was sagst du zu einem solchen Vormittag, Lore? In Nacht und Sturm, in Sturm und Schnee etwas ganz dicht, ganz nahe zu fühlen, etwas wie das greifbare Walten einer Vorsehung.

 


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