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Liegnitz. Dienstwohnung des Pastors Angermann. Das Studierzimmer des Pastors. Bücherwand rechts. Im Hintergrund Tür nach dem Speisezimmer. Sie ist geschlossen. Links ein breites Fenster mit Fensterbrett voller Blumen.
Es ist gegen zwei Uhr mittags im Monat Dezember. Helle Wintersonne scheint herein.
Auf einem Ritschchen sitzt lesend der Zuchthaussträfling Weiß und schiebt einen nagelneuen Kinderwagen, in dem ein Säugling ruht, leise hin und her. Er ist ein Mann in den mittleren Jahren und trägt eine Hornbrille.
Im Speisezimmer sitzt man noch bei Tisch. Es geht lebhaft und heiter zu.
Durch eine Tür der Linkswand, die vom sogenannten Entree hereinführt, tritt, wirtschaftlich gekleidet, Dorothea.
Dorothea . Hat er sich noch nicht gemeldet, Weiß? Sie tritt an den Kinderwagen.
Weiß. Nein.
Dorothea. Ich habe mich schon gewundert, bei dem Lärm, den wir nebenan machen.
Weiß. Sie machen aber doch keinen Lärm.
Dorothea. Mag sein, vielleicht bin ich nicht grade die lauteste.
Weiß. Ein stilles, tiefes, tiefes Wasser sind Sie, Fräulein Dorothee.
Dorothea, schmerzlich lächelnd. Durchsichtig oder undurchsichtig?
Weiß. Höchstens vorübergehend getrübt, Fräulein Dorothee.
Dorothea. Und doch sehen Sie, wie Sie glauben, durch Ihre große Eulenbrille bis auf den Grund in einen hinein.
Weiß. Nein, aber ich kann von Stirnen und Mundwinkeln manches ablesen.
Dorothea. Lesen Sie laut, man hat vielleicht etwas davon.
Weiß. Sie hören ja doch nicht auf den Rat eines Zuchthäuslers, Fräulein Dorothee!
Dorothea. Sie wissen genau, das trifft mich nicht.
Weiß. Man ist heiter, man trinkt sogar Wein dadrin. Der ehrenwerte Herr Pfannschmidt ist von Breslau herübergekommen, zum erstenmal mit dem Titel Professor. Ihr Vater ist heilsvergnügt über das, was nun kommt. Sie aber sind nicht so heilsvergnügt darüber, Fräulein Dorothee.
Dorothea. Wenn es aber so wäre, was es nicht ist: wie sollte man diesen Dingen ausweichen?
Weiß. Durch tiefstes, durch unverbrüchliches Stillschweigen!
Dorothea wird rot. Ich habe nichts zu verschweigen.
Weiß. Und doch! – Meine Strafzeit ist am fünfzehnten Februar verbüßt. Das ist in etwa zwei Monaten. Ich bin der einzige Sohn meiner Mutter. Sie wissen, meine Mutter ist Witwe und wohlhabend. Zwei Tage nach meiner Entlassung bin ich, wieder als Dr. Weiß, auf dem Wege zu treuen Freunden und Verwandten in Amerika. Könnten Sie in mein Herze sehen, Fräulein Dorothee, wie ich Ihr Schicksal durchblicken kann, Sie würden keinen Augenblick zögern, um diesen Ausweg zu ergreifen.
Dorothea errötet noch tiefer. Ausweg? wozu brauche ich Auswege?
Weiß, unbeirrt. Jeder andere Ausweg, glauben Sie mir, wird schlimmer sein.
Dorothea. Sie wollen mich doch nicht etwa heiraten?
Weiß. Sie würden jedenfalls an meiner Seite für immer geborgen sein!
Dorothea sieht ihn starr an. Wenn ich nur wüßte, wie es kommt, daß man bei jemand, der selbst nicht gerade auf Rosen gebettet ist, solches Mitleid erregen kann?
Pastor Angermann und Dr. Pfannschmidt treten ein.
Pastor, laut und aufgeräumt. Erbarm' sich! Das wird Tote geben bei dem Monstreprozeß, der drüben auf dem Kriminalgericht im Gange ist. Aber fort damit. Fort mit der vermaledeiten Politik! Weiß, steig mal auf das Regal hinauf, hol mir mal die Zigarren herunter. Weiß klettert auf das Regal hinauf und tut es. Weiß macht sich nämlich im Hause nützlich. Fluchtverdächtig ist er nicht, da er binnen kurzem seine zwei Jahre hinter sich hat. Wie Sie wissen, sind wir hier in die Hofmauer des Gefängnisses eingebaut. Empfängt die Zigarrenkiste. Danke, Weiß. Nun kannst du den Kinderwagen hinausschieben.
Dorothea, zu Weiß. Danke, danke, ich tue es schon.
Der Säugling beginnt zu schreien.
Die hübsche neunzehnjährige Pastorin tritt ein.
Pastor. Liebe Cläre, du hörst, es ist Zeit! Der Herrscher des Hauses wünscht zu trinken. Tu deine Pflicht. Wir haben auch einst nach den Mutterbrüsten nicht vergeblich verlangt.
Pastorin errötet über und über, stottert. Aber Liebling . . . was sind das – was sind das für Worte, guter Paul?!
Pastor. Nun, du verleugnest doch nicht deine beiden Milchquellen?! Die Mutter Maria hat den Heiland der Welt doch auch nicht mit Mehlsuppe aufgepäppelt. Die junge Pastorin schüttelt den Kopf. Das schreiende Baby wird von ihr, Weiß und Dorothea hinausgeschoben. Der Pastor und Dr. Pfannschmidt allein. So vergnügt war ich lange nicht! Aber das mußte natürlich gefeiert werden. Es ist eben ein Lebensabschnitt, wenn man Professor geworden ist. – Trinken wir erst mal noch einen Schnaps, und dann quetschen wir uns in aller Gemütsruhe eine von diesen Havannas zwischen die Zähne! Ein braver Christenmensch, dessen Sohn ich getauft habe, hat mir dafür dies unbezahlbare Giftkistchen dediziert.
Der Likör ist eingeschenkt, die Zigarren sind angezündet. Die Herren haben in bequemen Stühlen Platz genommen. Dr. Pfannschmidt ist sehr blaß, offenbart Zeichen von Erregung, verschluckt sich am Rauch, hustet usw.
Pastor, nach längerer Pause. Wir wollen uns etwas die Westen aufknöpfen. Königsberger Klops war von jeher mein Leibgericht. Aber eine Boa constrictor, die ungestraft einen lebenden Ochsen verschlingt und verdaut, ist man ja schließlich nicht. Nach abermaligem Stillschweigen. Ja, dieser Weiß, dieser Sträfling, den Sie gesehen haben, hat Wechsel gefälscht. Er hat höchst überflüssigerweise einen Wechsel gefälscht: den Namen seines reichen Schwagers darunter geschrieben. Hätte er ihm oder seiner begüterten Mutter ein Wort gesagt . . . Ein kluger Mensch, ein Doktor, ein Kunsthistoriker, der solche riesige Dummheit macht! Aber, nun, Doktor: Sie wollten mich unter vier Augen sprechen. Prosit! Er stürzt den Likör. Ungeniert! Ich bin ganz Ohr.
Dr. Pfannschmidt. Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter Dorothea.
Pastor, nach kurzer Pause. Das überrascht mich nicht, lieber Doktor!
Dr. Pfannschmidt. Nein, ganz und gar überraschen kann es Sie nicht. Seltsam und scheinbar zufällig berühren und verweben sich Schicksale. Was soll man weiter darüber sagen?! Durch Zufall habe ich Sie und habe ich Ihre Tochter kennengelernt. Interesse faßt' ich für Dorothea, sobald ich ihrer ansichtig wurde. In meinem Vaterhause habe ich dann ihr tiefes, goldreines Gemüt kennen, schätzen und lieben gelernt. Ich ging mit der Wahrheit nicht heraus. Ich wollte mir diesen Schatz gleichsam erst verdienen. So habe ich mir die Erreichung eines bestimmten akademischen Grades und Titels vorgesetzt, um damit – aus einem gewissen ethischen Eigensinn tat ich das! – . . . um damit, nach meinen Begriffen, ihrer mehr würdig zu sein. Mag sein, Herr Pastor, ich bin darin altmodisch, ich . . . Nun, was ich wollte, ist heut erreicht.
Gotthold, mit Schulbüchern unterm Arm, platzt heftig durch die Tür herein.
Pastor. Was willst du denn, Gotthold?
Gotthold. Ich komme zur Stunde, Herr Pastor.
Pastor. Wieso, Gotthold, welche Zeit ist es denn?
Gotthold. Halb drei, Sie haben die Zeit bestimmt zur Lateinstunde.
Pastor. Richtig. Dann will ich dir etwas sagen: Wirf heut mal deinen Ranzen weg, und mache dich augenblicklich fort auf die Schlittschuhbahn.
Gotthold. Ach danke, danke, danke, Herr Pastor! Er stürzt hinaus.
Pastor. Dieser frische Bengel hat uns ja eigentlich zusammengebracht. Es fällt mir ein, weil Sie vom Zufall sprachen: allmächtig hat ihn der große Preußenkönig genannt. In einem Biergarten fiel mir der Junge auf. Und da er mit Ihrem Vater war – ich hatte am selben Tische Platz gefunden –, machte die Anfreundung keine Schwierigkeit. Ihr Vater liebte den Burschen sehr.
Dr. Pfannschmidt. Ja, weil er eigentlich auch meinen verschollenen Bruder mehr als mich liebte.
Pastor. Ja, um auf besagten Hammel zurückzukommen: ein Engel ist Dorchen nun eben nicht. Es dürfte jedenfalls besser sein, wenn Sie von vornherein bei ihr mit einer hübschen Anzahl von, sagen wir gelinde – Seltsamkeiten rechnen wollten.
Dr. Pfannschmidt. Es ist die Frau, die ich brauche, Herr Pastor. Ich habe mich da sehr gewissenhaft . . . ich habe mich immer wieder geprüft. Es ist die Frau, die ich immer gesucht habe. Es gibt auf der ganzen Welt eben nur diese eine Frau für mich.
Pastor erhebt sich. Das scheint einem so . . . Aber immerhin . . . Bliebe mir also nur zu fragen, ob Sie mit Dorothea einig sind?
Dr. Pfannschmidt. Das walte Gott! Wir sind einig geworden.
Pastor. Womit meine überflüssige Frage noch als besonders dumm und überflüssig gebrandmarkt ist. Wenn du nun also erwarten solltest, mein geliebter Sohn, ich würde mich lange zieren, dein Vater zu werden oder, nach Art meiner Berufstätigkeit als Gefängnisgeistlicher, eine peinliche Inquisition mit dem Motiv anstellen: »Bist du imstande, meine Tochter glücklich zu machen?«, irrst du dich. Ich wünsche mir keinen besseren Schwiegersohn! Beide Männer umarmen und küssen einander. So, nun wollen wir noch einen Schnaps trinken. Seine Hand zittert beim Eingießen des Likörs, er versucht vergeblich, seine Bewegung zu meistern. Man trinkt schweigend und schüttelt dann einander kräftig und bewegt die Hand. Item! Nun hat man auch das erlebt! Obgleich ich nun, der schwierigen Lage wegen, die sich aus meiner zweiten Ehe ergeben würde, nicht gerade wünschen kann, daß meine liebe erste, selige Frau wiederkäme, so wollte ich doch, daß sie herabsehen und sich mit mir am Glück ihrer Tochter freuen könnte! Sie hat Dorothea immer besonders liebgehabt. Nun will ich erst mal dein Mädchen zu dir hereinschicken. Um dies zu tun, wohl auch, um seiner Bewegung Herr zu werden, geht er hinaus.
Dr. Pfannschmidt macht eine kleine nervöse Verbeugung hinter dem Pastor her und geht dann, allein geblieben, erregt auf und ab. Als nach einiger Zeit niemand gekommen ist, bleibt er stehen und horcht. Erregt nimmt er dann seinen Gang wieder auf. Seine Erregung wächst dermaßen, daß er sich den Schweiß von der Stirn wischen muß. Da immer noch niemand kommt, tritt er ans Fenster und trommelt an den Scheiben.
Unbemerkt von Dr. Pfannschmidt, tritt Dorothea leise ein, steht und gibt kein Lebenszeichen. Es dämmert im Zimmer. Die Wintersonne ist am Untergehen.
Dr. Pfannschmidt wendet sich, erschrickt, da er Dorothea erkennt, und sagt. Dorothea! –
Dorothea sieht auf ihre gefalteten Hände und antwortet nicht.
Dr. Pfannschmidt, indem er ihr beide Hände entgegenstreckt, wiederholt. Dorothea! – Erhält aber wiederum keine Antwort. Dorothea! –? ruft er nochmals und mit leisem Erschrecken und Befremden im Ton.
Dorothea, sehr leise und dringend. Ich hatte Sie gebeten, lieber Herbert . . . ich hatte Sie so inständig gebeten, mit dem zu warten, was Sie nun doch wohl getan haben: sonst hätte mich ja wohl mein Vater nicht zu Ihnen hereingeschickt.
Dr. Pfannschmidt, innig erregt. Ich habe getan, was geschehen mußte, liebe Dorothee. Ich habe das mit Bewußtsein getan, nachdem ich die Gewißheit erlangt hatte, daß Ihr Zögern nicht auf einen Mangel an Liebe zu mir, sondern viel eher auf einen Kleinmutswahn, einen Mangel an Selbstvertrauen zurückzuführen ist. Ich liebe Sie, liebe, liebe Dorothee! Und weil ich Sie liebe, liebe, liebe, liebe Dorothee, so mag ich keine Zeit mehr verlieren, mag Sie nicht länger schutzlos sehen, womöglich, wie in der Gasthofsküche, allen häßlichen Anhauchen und Berührungen ausgesetzt. Ich liebe Sie, und Sie lieben mich: mein Gewissen, mein Verantwortungsgefühl erträgt es nicht, Sie länger sich selbst, Sie länger Ihren selbstzerstörerischen Grübeleien zu überlassen. Aus Liebe, aus Liebe kann ich das nicht! Sie sind mein Schatz, verstehen Sie das? Ich muß meine Hand auf meinen Schatz legen, wenn ich endlich ruhig werden will! Sonst ist, so oder so, die Gefahr des Verlustes nicht ausgeschlossen. Und freilich sehne ich mich, Sie ganz zu besitzen, aber fast noch wichtiger ist es mir, daß ich mit allen meinen Kräften Ihnen zu Diensten stehen, Ihnen als Eigentum gehören kann!
Dorothea hat den Sprecher unverwandt angesehen, geht dann langsam an ihm vorüber zum Fenster und blickt hinaus. Nun, wie es kommt, wie es gekommen ist, wie es kommen wird: alles ist ja Notwendigkeit. Es war ja am Ende nichts zu tun, als Unumgängliches etwas hinauszuzögern.
Dr. Pfannschmidt. Und damit ist nun ein Ende gemacht! – Dorothea, alles, was ich pro forma noch einmal zu fragen habe, ist: Sind Sie über Ihre Neigung zu mir noch zweifelhaft?
Dorothea. Nein, Herbert, ich bin deswegen nicht zweifelhaft.
Dr. Pfannschmidt. Ob Sie Ihr Schicksal auf Lebenszeit mit dem meinen verbinden wollen: ist Ihnen das noch zweifelhaft?
Dorothea. Nein, auch das ist mir eben keineswegs zweifelhaft.
Dr. Pfannschmidt. Nun, was zögern Sie also noch? oder besser: was kann da der Anlaß sein, mich, uns beide, uns alle nutzlos zu ängstigen?
Dorothea. Herbert, fühlen Sie doch mal meine Hand.
Dr. Pfannschmidt. Um Gottes willen, was ist mit Ihnen?
Dorothea. Was ist mit mir, und was wird mit mir? – Da Sie von Angst gesprochen haben: ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich bin, so werde ich von diesen zwei Fragen gepeinigt!
Dr. Pfannschmidt. Das sind wieder solche rätselhafte, unbegreifliche Worte, wie du sie liebst, Dorothee! Aber ich gehe nun nicht mehr darauf ein. Alle Scheu ist nun überwunden. Du bist mein! Du bist mein! und keinem anderen, wer es auch sei, überlasse ich dich! Er reißt sie an sich. Auch Dorothea gerät in Glut, sie vereinigen sich im Kuß. Langes Schweigen. Dann löst sich Dorothea los und geht der Tür zu.
Dorothea. Und nun muß das Schicksal seinen Gang gehen.
Dr. Pfannschmidt. Was sagst du nun wieder, Dorothee?
Dorothea. Mich schwindelt's. Dennoch muß ich dir sagen, daß du mich falsch verstanden hast.
Dr. Pfannschmidt. Worin hätte ich dich denn falsch verstanden?
Dorothea, langsam und betont. Daß ich dich liebe, ist mir nicht zweifelhaft, so weit hast du mich recht verstanden. Aber du hast mich falsch verstanden, wenn du glaubst, daß ich mein Leben mit dem deinen verbinden kann. Darüber, daß dies nie und nimmer geschehen kann . . . darüber, Herbert, bin ich nicht zweifelhaft.
Dr. Pfannschmidt. Dorothee! Aber Dorothee . . .
Dorothea geht hinaus.
Dr. Pfannschmidt steht eine Weile und blickt bewegungslos auf die Tür, hinter der Dorothea verschwunden ist. Dann faßt er um sich herum, Halt suchend, in die leere Luft. Seine Knie werden schwach, er knickt zusammen und sinkt allmählich um und auf die Erde. Eine Ohnmacht hat ihn befallen.
Pastor Angermann tritt wieder ein, höchst aufgeräumt.
Pastor. Erbarm' sich! welche ägyptische Finsternis! Kinder! Herbert! seid ihr noch hier? – Eros hat den Schauplatz gewechselt. Trotzdem wollen wir etwas Licht machen. Er zündet seine Studierlampe an, in ihrem Licht erblickt er sogleich den Ohnmächtigen. Himmel, Doktor, was ist Ihnen denn? Er kniet nieder, öffnet dem Daliegenden die Weste, befühlt ihm die Stirn. Sind Sie krank? – Was ist Ihnen denn begegnet, Doktor? Bekommt Ihnen die Havanna nicht? Was machen Sie denn für Geschichten, Doktor?
Dr. Pfannschmidt, aus der Betäubung erwachend. Lassen Sie mich um Gottes willen! es ist ja nichts!
Pastor schleppt den sich schwach Wehrenden auf den Diwan. Nein, ich lasse Sie keineswegs. Sie waren erregt, sie waren im Grunde unnütz erregt, es hat sich Ihnen aufs Herz geschlagen.
Dr. Pfannschmidt. Herr Pastor, mit aller schuldigen Ehrerbietung: lassen Sie mich . . . ich ersticke, wenn ich nicht an die Luft komme!
Pastor. Was in Gottes Namen ist denn geschehen, Freund? – Sie wollen fort? Wollen Sie denn in die Winterkälte hinaus ohne Hut, ohne Schal, ohne Paletot?
Dr. Pfannschmidt. Inständig, inbrünstig bitte ich, Herr Pastor, schaffen Sie mir, was ich haben muß. Ich weiß nicht, wo meine Sachen sind. Ich würde meine Sachen nicht finden, und wenn ich mich dadurch vom Tode erretten könnte.
Pastor. Aber so nehmen Sie doch Vernunft an, Doktor! Ruhen Sie, sammeln Sie sich einen Augenblick!
Dr. Pfannschmidt. Sie dürfen mich hier nicht länger zurückhalten, wenn Sie nicht wollen, daß ich mich durch das Fenster auf den Gefängnishof – ja, bei Gott! das tu' ich! – hinunterstürze.
Pastor, abgekühlt. In der Tat, nein, das will ich nicht.
Dr. Pfannschmidt. Ich weiß recht wohl, ich vergehe mich gegen die Anstandspflicht. Was tun, wenn man seiner nicht mehr mächtig ist?!
Pastor hat den Klingelknopf gedrückt, ganz verändert. Ich habe bereits dem Mädchen geklingelt.
Dr. Pfannschmidt. Ich fühle, daß mein Betragen scheinbar unverzeihlich ist.
Pastor. Kein Wort mehr. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Sie müssen ja wissen, was Sie tun.
Dr. Pfannschmidt. Gott ist mein Zeuge, ich weiß es nicht. Dr. Pfannschmidt stürzt hinaus, schlägt die Stubentür hinter sich zu.
Darauf hört man die Glastür des Entrees ins Schloß fallen. Der Pastor schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn, wie wenn er sich erwecken wollte. Die junge Pastorin blickt herein und tritt dann ins Zimmer.
Pastorin. Du hast geklingelt. Pauline ist einholen.
Pastor. Hast du eine Ahnung davon, was hier soeben geschehen ist?
Pastorin. Wieso denn, Liebling, was ist denn geschehen?
Pastor. Dann kannst du mir auch nicht sagen, ob Dorothea hier gewesen und wo sie jetzt ist?
Pastorin. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Pastor. Hast du die Türen schlagen gehört? weißt du, daß Pfannschmidt ohne Hut, Stock und Mantel in einem Anfall von Raserei förmlich geflohen ist? hier aus meinem Hause geflohen, wo wir noch eben die heitersten Stunden verbracht haben? – Und Dorothee hat sich eingeschlossen? – Hat sie diesen Mann genarrt? – Diesen Ehrenmann hinters Licht geführt? – Und hat sie ihn jetzt vor den Kopf gestoßen?
Pastorin. Ich weiß es nicht. Der Zustand Dorothees in den Monaten, seit sie wieder bei uns ist, hat mich übrigens längst beunruhigt.
Pastor schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Gegenstände darauf in die Luft sausen. Zustand? Wie? Himmelkreuzmillionendonnerwetter noch mal! Mich soll wundern, was das für ein Zustand ist! Ich will wissen, was das für ein Zustand ist! Sag ihr, sie soll sofort hereinkommen. Sie soll zu mir kommen und sich rechtfertigen, soll sagen, was das für ein Zustand ist! – Weißt du, wie ich den Doktor fand? Ohnmächtig auf der Erde liegend! Ich hatte noch Hoffnung, daß Dorothea nicht die Ursache davon wäre: sie ist die Ursache, wenn sie sich eingeschlossen hat! Hier steckt etwas, was ich wissen muß! Geh, Cläre, sag ihr: ich müßte es wissen! Ich müßte es auf der Stelle wissen, mit welchen niederträchtigen Künsten sie diesen prächtigen Mann und Menschen zerbrochen, ihn niedergeschlagen, ja geradezu niedergeschmettert hat. Hörst du: ich lege die Uhr auf den Tisch: falls Dorothea nach Verlauf von fünf Minuten nicht vor mir steht und etwa die Tür ihres Zimmers noch verschlossen ist, so werde ich sie mit dem Absatze eintreten! Ihr kennt mich zur Genüge, um zu wissen, daß ich solche Drohungen ausführe! Und dann, ich bestehe auf meinem väterlichen Züchtigungsrecht! – Stehst du noch da, Cläre, willst du nicht gehen?
Pastorin. Es ist nicht möglich, daß du Dorothea in solchem Zorne gegenübertrittst. – Paul! nein, lieber Paul, du mußt dich beruhigen! Es ist da etwas, wobei ein Augenblick des Jähzorns unermeßlichen Jammer über uns alle bringen könnte.
Pastor. Was? Das wird ja, bei Gott, immer schöner und schöner! Höre mal: kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken?!
Pastorin. Paul, du sagst, wir Frauen sind unreligiös. Ich gebe zu, mein Glaube und meine Frömmigkeit macht geistlichen Beistand nicht selten notwendig. Heute nun erinnere ich dich daran, daß du ein Diener Gottes, ein Diener des verzeihenden Heilandes bist. Er hat unsere Sünden auf sich genommen . . .
Pastor. Komm mir nicht in einem solchen Augenblick mit solchen eingelernten Phrasen, mein Kind, die dir gar nicht von Herzen gehen! Du brauchst mir wahrhaftig nicht unter die Nase zu reiben, was ich mir als Geistlicher, was ich mir als berufener Diener Gottes schuldig bin. Sei gewiß, ich kenne meine Amtspflichten. Jetzt tritt beiseit, oder . . .
Pastorin. Willst du, daß Dorothea mit zerschmetterter Hirnschale auf dem Pflaster des Gefängnishofes gefunden wird? dann gehe und poltere an ihre Tür!
Pastor. Seid ihr denn alle mitsammen wahnsinnig?
Pastorin. Nein, lieber Paul, es ist vorläufig niemand wahnsinnig. Aber das, worum es sich für uns handelt, ist so, daß man sich davor hüten muß. Du nennst mich zwar immer jung und unerfahren, trotzdem sehe ich in dieser Sache weiter als du. Ich weiß, du wirst alle Kaltblütigkeit, alle Umsicht und Ruhe, die du nur aufbringen kannst, anwenden müssen, oder es brechen entsetzliche Dinge über uns herein.
Pastor, nachdem er die Frau fest und durchbohrend angesehen. Und dies alles, wovon ich nicht das geringste weiß – ich weiß ja auch jetzt nicht das allergeringste! –, hätte sich in meiner Gegenwart, hinter meinem Rücken abgespielt?
Pastorin. Nicht in deiner Gegenwart, im Gasthof Zum schwarzen Adler hat es sich, wie du es nennst, abgespielt.
Pastor. Erst hat sich diesem armen Menschen, diesem armen Herbert, das Zimmer um und um gedreht, so daß er ohnmächtig hingeschlagen ist, und jetzt fängt es richtig auch mir an zu kreisen. Mut! Kalt Blut! Zünden wir uns in aller Ruhe die zweite Zigarre an. Soviel ich weiß, hat meine Tochter Dorothea bei dem Koch Soundso – wie heißt er doch gleich? – kochen gelernt: sollte sie in dieser Umgebung am Ende noch andere Dinge gelernt haben? – Schlag mich tot: ich bin so dumm wie ein Neugeborenes! Wo ich auch hindenke, es fällt mir aber auch ganz und gar nichts ein, was mir die Handlungsweise Dorotheens, dem Doktor gegenüber, oder das, was du sagst, faßbar macht. Sage alles! Sage alles! Was sollte mich schließlich noch überraschen, da ja die Überraschung wahrhaftig nicht zu überbieten ist.
Pastorin. Mit Dorothea muß etwas Ernstes, Folgenschweres vorgefallen sein. Genaueres will sie durchaus nicht mitteilen.
Pastor. Genaueres will Dorothea nicht mitteilen: hat sie dir wenigstens das Ungenaue mitgeteilt?
Pastorin. Es ist bitter genug, Paul, kannst du mir glauben.
Pastor. So? Nun brauchst du mir nur noch sagen: Dorothea hat silberne Löffel gestohlen, oder daß sie vor Gericht einen Meineid geschworen hat.
Pastorin. Mit dem Gericht hat es nichts zu tun. Hierin kann ich dich ja beruhigen. Ich werde dir aber nicht eher die Wahrheit preisgeben, Paul, bis du mir mit einem Eid versprochen hast, ruhig und überlegt zu handeln.
Pastor. Heraus endlich damit! Hier meine Hand!
Pastorin schlingt ihre Arme um seinen Nacken und flüstert ihm etwas zu.
Pastor. Nicht ein Sterbenswörtchen begreife ich.
Pastorin flüstert aufs neue.
Pastor horcht gespannt, seine Augen werden größer und größer, endlich durchzuckt es ihn, er packt die junge Frau bei den Handgelenken und stößt sie zurück. Meine Tochter? – Wie? – Meine Tochter? – Willst du sagen . . . willst du behaupten . . . bleibst du unverbrüchlich dabei, dies sei eine Tatsache?
Pastorin. Es hilft bei Gott nichts, es abzustreiten.
Pastor. Meine Tochter? – Cläre, ich frage dich noch einmal . . . Sollte das der Grund sein, weshalb dieser Ehrenmann so Hals über Kopf den Staub dieses sauberen Pastorhauses von den Füßen geschüttelt hat? Mir wirrt sich ja alles durcheinander!
Pastorin, erschütternd weinend. Nein, sie hat ihm den Grund ihrer Weigerung nicht gesagt. Nochmals, Paul: hab Mitleid mit deiner Tochter! Wir haben uns vorher nicht gut gestanden, sie und ich. Jetzt, wo dies hereingebrochen ist, wo sie in diese Lage gekommen ist – ich bin Frau – habe selbst einen Säugling im Steckkissen. Wohin soll sie sich wenden? Sie weiß es nicht. Ich bin Mutter. Wenn ich sie von mir stieße, ich würde denken, es fiele auf mein eigenes Kind zurück.
Pastor. Sie hat ihm den wahren Grund nicht gesagt? Dann wäre also das Kind nicht von ihm?
Pastorin. Nein, was ja auch in Anbetracht der ganzen Lebensführung des Dr. Pfannschmidt ausgeschlossen ist.
Pastor, erregt umher. Schöne Bescherung! Da hat mir der unbegreifliche Ratschluß des lieben Herrgotts die Nichtigkeit meines moralischen Hochmuts, meines Angermannschen Familienstolzes auf eine recht drastische Weise zu Gemüte geführt! Was soll geschehen? Tür auf! Fußtritt! Fort das gemeine Mensch! In die Gosse mit ihr, wo sie hingehört! Auf Nimmerwiedersehen zum Hause hinaus!
Pastorin. Du hast mir geschworen . . . Bleib ruhig, Paul!
Pastor. Du hast recht, man sagt, Luthers Vater wurde in einem solchen Augenblick zum Totschläger. Gott weiß es, wessen ich fähig bin. Es wäre ja nicht das erstemal, daß ein Pastor in das Gefängnis, in dem er amtierte, als Sträfling eingezogen ist.
Pastorin. Denke an Christus und an Magdalena, die Sünderin!
Pastor. Und du, Cläre, halte den Schnabel gefälligst. Ich weiß, was ich tue. Es ist mir klar, worin ich allein und einzig gefehlt habe. Ich habe nicht nur Dorothea gegenüber, auch dir gegenüber, euch ganzem Weibervolke gegenüber die patriarchalische häusliche Zucht nicht ausgeübt. Dorothea soll augenblicklich zu mir kommen. Gehandelt muß werden, und zwar sofort. Fühlt sie sich Mutter, so muß man wissen, wer der Vater ist, von welchem Stande der Vater ist, ob er ledig oder verheiratet ist. Und danach werde ich mein Vorgehen einrichten.
Pastorin. Ich fürchte, sie nennt den Vater nicht.
Pastor. Sie soll ihn nennen! Laß mich nur machen.
Pastorin hält ihn auf. Paul! Paul! Nicht so! Übereile dich nicht!
Dorothea tritt ein, kalkweiß.
Dorothea. Ich bin selbst gekommen. Hier bin ich, Papa. Warum solltest du dir erst die Mühe machen und mich durch die ganze Wohnung herschleppen? Laß deinen gerechten Zorn und deine gerechte Verzweiflung nur ganz ruhig an mir aus.
Pastor wendet sich gegen sie, holt mit der Faust zum Schlage aus und steht so dicht vor ihr. Du hast die Stirn, selbst vor mich hinzutreten?!
Dorothea. Warum nicht? da ich ja eigentlich gar nicht mehr am Leben bin.
Pastor läßt die Faust sinken, knirscht. Leider, leider bist du am Leben!
Dorothea. Was mehr? Du hast recht, wenn es wirklich so ist.
Pastor. Du bist am Leben, um mich, deine tote Mutter, deine Stiefmutter, deine Geschwister mit unauslöschlicher Schmach und Schande zu bedecken, in Schmach und Schande einzusargen. So ist die Lage. Verstehst du mich?! Wer ist der Mensch, der deine Ehre, dich und uns alle unter die Füße getreten hat?
Dorothea. Ich weiß nicht, ob ich berechtigt bin, ihn zu nennen.
Pastor. Vor allen Dingen muß ich wissen, ob er verheiratet oder noch ledig ist.
Dorothea. Ich würde ihn, so oder so, doch nicht heiraten.
Pastor. Das würde sich finden. Warten wir ab.
Dorothea. Vater, ich bin in deiner Gewalt. Ich habe unverzeihlich gefehlt, ich fühle, daß du zu jeder Härte berechtigt bist. Jeden Gehorsam bin ich dir schuldig. Ich verweigere ihn dir, des sei gewiß, wenn du mich mit einem Menschen, den ich verachte, verkuppeln willst.
Pastor. Dirne! Hure! Du sprichst von Verkuppeln? Mir, deinem Gott sei Dank unbescholtenen Vater, sprichst du davon? Ist es ein Graf und ein Lumpenhund, so heiratet er dich natürlich nicht! Ist es ein Bürger, so wird er dich heiraten, weil er dir deine Ehre wiedergeben muß und mir meine Ehre wiedergeben, und dafür laß mich sorgen, daß es geschieht! Er wird bald genug merken, mit wem er angebunden hat! Ist es ein Hausknecht oder Bierkutscher: das ändert nichts, dann wird dich eben der Bierkutscher heiraten. Und wenn du dich weigerst – gnade dir Gott!
Dorothea. Ich werde Mario niemals heiraten! Ich gebe dir hiermit den Namen preis. Ich weiß selbst nicht, wie ich plötzlich zu diesem Entschlusse gekommen bin. Ich habe überhaupt ein Gefühl . . .
Pastor. Mario, sagst du? Wer ist denn das? Ah! Aha! Nun geht mir ein Seifensieder auf! Es ist der Mandolinatalümmel, der Küchenchef, der dir also, neben dem Kochunterricht, noch einen ganz anderen Unterricht gegeben hat. Wo ist dieser Lump im Augenblick? Bist du dem Schubiack je wieder begegnet, seit du wieder im Vaterhause bist?
Dorothea. Ja, Vater, ich bin ihm wieder begegnet.
Pastor. Und du gibst vor, du willst ihn nicht heiraten, nachdem du dich an diesen gemeinen Halunken weggeworfen hast?
Dorothea. Nein, Vater, ich werde ihn niemals heiraten.
Pastor. Du wirst mir also auch nicht sagen, wo er zu finden ist?
Dorothea. Warum nicht? Ich werde dir alles sagen. Es liegt gar nicht in meiner Absicht, irgend etwas noch zu verschleiern.
Pastor. Weil du eben schon gänzlich ehrvergessen und schamlos bist.
Dorothea. Nein, Vater, nur weil ich in der Wahrhaftigkeit schließlich noch den einzigen Halt habe. Der Koch Mario ist wenig Minuten von hier, im Gubisch-Hotel, in Kondition.
Pastor. Wart! Gewiß, er hat ja vorigen Montag mich zu begrüßen die Frechheit gehabt, als ich mit einem alten Studienfreund bei Gubisch frühstückte. Mit Gottes Hilfe – und in zwei Minuten bin ich wieder hier. Der Pastor entfernt sich schnell und entschlossen. Man hört die Glastür des Entrees ins Schloß fallen.
Dorothea. Kannst du dir denken, was nun geschehen wird?
Pastorin. Ich fürchte, ja, ich kann es mir denken.
Dorothea. Ich kann mir nicht das geringste denken. Es ist mir, als wäre ich zwischen zwei weißen, hohen Wänden, eine im Rücken und eine dicht vor der Brust, eingesperrt. Ich kann mir nicht das geringste denken.
Pastorin. Ich fürchte, etwas ist unaufhaltsam ins Rollen geraten.
Dorothea. Denke, Cläre, mir ist fast zumut, als ob mich die ganze Geschichte nichts anginge, ich komme mir vor wie ein bloßer Zuschauer. Ich bin förmlich gespannt auf die Reihe von Bildern, die auf der weißen Wand vor mir erscheinen wird. – Er wird mich also dem Mario nachwerfen?!
Pastorin. Ich will nicht in dich dringen, mich darüber aufzuklären, wie dies Unausdenkbare, besonders bei deiner Liebe zu Herbert, möglich geworden ist. Daß Herbert dich aber durch eine Ehe rehabilitiert, setzest du ja selbst nicht von ihm voraus. Eine unmögliche Zumutung. Da mußt du dir schließlich und endlich sagen, welcher der einzig mögliche Ausweg ist.
Dorothea sitzt starr in einem Sessel. Es kommt mir vor, als ob ich zu Stein würde. Nach längerem Stillschweigen. Ich könnte dir vielleicht sagen, Cläre . . . plausibel machen, ich sei an diesem Ausgang unschuldig. Gewonnen wäre dabei aber nichts. Hundstagshitze. Übermüdung bis zur Besinnungslosigkeit. Überfall einer fast völlig Wehrlosen. Im Augenblick, glaube es mir, Cläre, bin ich fast im Zustand der gleichen Apathie. – Wenn er Mario trifft, glaubst du, daß er ihn hierherbringen wird?
Pastorin. Wenn er ihn trifft, so wird er ihn herbringen, dazu kenne ich deinen Vater genug. Oder aber dieser Herr Mario weigert sich, und dann helfe uns Gott! . . . dann stößt er ihn vielleicht eine Viertelstunde lang mit dem Kopf gegen die Wand, und dann bräche der Skandal, – weinend – bräche der Untergang über uns alle herein. Oder glaubst du, dein Vater könnte nach alledem sein geistliches Amt hier oder irgendwo noch fortführen?
Dorothea. Freilich: nein! Dann aber müßte man beinahe wünschen, daß er ihn findet und daß Mario verständig genug ist und mit ihm kommt.
Pastorin. Ja, wahrhaftig, das müßte man wünschen.
Dorothea. Könnte man da nun am Ende noch etwas dazu beitragen, daß er kommt? Nämlich, es ist jetzt eine Art Eisesklarheit in mir, und ich will nunmehr nur noch vernünftig und richtig handeln.
Die Haustürschelle geht heftig.
Pastorin. Barmherziger Himmel, da sind sie schon.
Dorothea erhebt sich. Es ist mir gleichgültig, was ich tue: soll ich warten, bis man mich ruft? oder soll ich ihm gleich ins Auge sehen? – ?
Pastorin. Nimm alle deine Kräfte zusammen!
Dorothea. Sei ruhig, ich habe sie, wie eine Koppel Hunde an einem Bund Riemen, in der Hand. Aber ich denke doch, daß wir die Männer vorerst allein lassen. Nur, liebe Cläre, habe die Liebe und entziehe mir, bis alles entschieden ist, bis alles vorüber ist, nicht einen Augenblick deine Hand!
Beide ab.
Die Entreetür wird aufgeschlossen. Dann erscheint der Pastor, scheinbar aufgeräumt, in der Tür und läßt den Koch Mario Malloneck vor sich ins Zimmer treten.
Pastor. Bitte, bitte, treten Sie ein. Ich bin hier zu Hause, Herr Malloneck. Der Name kommt auch in West- und Ostpreußen vor. Ich bin Masure: sollten wir aus der nämlichen Ecke herkommen? Aber nein, irgendeiner Ihrer Vorfahren soll ja wohl sizilianisches Blut haben. Sizilianisches Blut ist feuriges Blut! Aber wir Masuren sind auch nicht von Pappe! Mein seliger Vater nahm noch gelegentlich einem Schlachtermeister die Axt aus der Hand, um eigenhändig damit einem ausgewachsenen Bullen die Hirnschale einzuschlagen. Sie rauchen gewiß, Herr Mario?! Ich meine jetzt nicht den Küchenrauch, und was Sie uns etwa sonst für Dampf und Dunst machen: davon haben wir ja dann auch die ganze Bescherung auf dem Geburtstagstisch, Herr Mario! Echte Havanna. Darf ich anzünden? Es ist die vierte aus der Kiste. Zwei habe ich, die dritte hat Professor Dr. Pfannschmidt – kennen Sie ihn? – aufgeraucht, die fünfte werde ich wieder selbst rauchen. Nehmen Sie, machen Sie sich's bequem, Herr Mario.
Mario. Sie haben es hier sehr gemütlich, Herr Pastor.
Pastor. Sie meinen, mit dem Blick auf die Strafanstalt?!
Mario. Das meinte ich offen gestanden nicht.
Pastor. So wird es auch wohl mit der Gemütlichkeit hier bei mir nicht allzuweit her sein, Herr Mario! Haben Sie nun, wenn ich bitten darf, irgendeine Ahnung davon, warum ich Sie auf so ungewöhnliche Weise, auf eine so dringende und plötzliche Art und Weise zu mir gebeten habe?
Mario. Warum soll ich da lange Vermutungen auskramen? Sie werden mir ja zu hören geben, was ich nun einmal hören soll.
Pastor. Ich werde es Ihnen zu hören geben! Er schließt beide Stubentüren ab und steckt die Schlüssel zu sich.
Mario. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß dies Freiheitsberaubung und daß Freiheitsberaubung strafbar ist.
Pastor. Das ist bei dem, was wir zu verhandeln haben, kein Gesichtspunkt mehr für mich!
Mario. Gut, ich nehme Notiz davon. Ich habe ebenfalls Augenblicke, wo ich mich über dies oder das der Zehn Gebote hinwegsetze! Er greift an die Stelle seines Gürtels, wo sein Messer steckt.
Pastor. Keine Sorge: fürchten Sie nichts, guter Mann. Ich werde Sie keine Minute länger festhalten, als bis wir handelseins geworden sind. Daran freilich, daß wir es werden müssen, kann so oder so kein Zweifel sein. Die Zigarre ist gut?
Mario. Ausgezeichnet, Herr Pastor.
Pastor. Echte Havanna! Und Sie sind ein ebenso echter Halunke, Herr Mario!
Mario. Ich bitte, den Beweis anzutreten.
Pastor. Sie sind ein Schubiack, Herr Mario! Der Beweis dafür sind Sie selber!
Mario. Wenn Sie mich deshalb mit solchen Namen belegen, weil ich das getan habe, womit Sie am Trinktisch im Adler mehr wie einmal renommiert haben – oder haben Sie etwa als Student oder Kandidat niemals Bürgertöchter verführt? –, so könnte ich Ihnen die gleichen Namen zulegen.
Pastor. Eine Natur wie die Ihre würde ohne den hervorstechenden Charakterzug unverschämtester Frechheit und Dreistigkeit nicht vollkommen sein. Da drüben – er zeigt durchs Fenster auf die Strafanstalt – studiert man dergleichen zu Genüge. Kein Wort weiter! Verstanden? Schweigen Sie jetzt!
Mario. Sie führen hier eine Ihrer berüchtigten Gefangenenmaßregelungen aus. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich, wie Sie soeben richtig bemerkten, keiner Ihrer entrechteten und geknechteten Züchtlinge bin!
Pastor. Geduld! Wir werden es bald heraushaben. De facto ist zwischen Ihnen und einem nahezu überwiesenen Untersuchungshäftling im Augenblick kein Unterschied. – Schweigen Sie! Machen Sie mich nicht zum Gewalttäter! Sie haben an meinem Kinde ein Verbrechen verübt, ich bin aufs genauste unterrichtet. Meine Tochter wurde das Opfer einer gemeinen Schurkerei!
Mario. Ach, reden Sie doch nicht von dieser Geschichte! Man kriecht diesen Weibern auf den Leim, dann kriegen sie Reue und ängsten sich, und dann verfallen sie, wie ein Mann, auf die Behauptung, man habe ihnen womöglich Gewalt angetan.
Pastor. Sie wollen leugnen, wie Sie Ihre Autorität mißbraucht haben? auf welche abgefeimte und wohlüberlegte Art Sie hinter meiner Tochter her gewesen sind, in dieser Abraumsphäre des Hintergartens, als Sie . . .
Mario. Selbstverständlich! Die Leitergeschichte!
Pastor. Ja eben die Leitergeschichte, die meine ich!
Mario. Das Hotel hat rückwärts drei flache Dächer. Auf dem ersten sind Geflügelkörbe und allerlei Geflügel untergebracht, da mußten die Damen natürlich hinaufsteigen und ganz natürlicherweise auch ich. – Ich hätte die Leiter heraufgezogen! Gewiß: sonst konnte ich nicht auf das nächste flache Dach steigen, auf dem wir Dörrobst zu liegen hatten. Da zog ich die Leiter wieder herauf und stieg gelegentlich mit einer der Damen aufs oberste Dach: nun, Gott im Himmel, warum denn nicht?! Man will auch mal gelegentlich einen schönen Blick haben!
Pastor, am Schreibtisch lebhaft schreibend. Herr Mario Malloneck, ehe Sie mir dies Dokument hier unterschrieben haben, verlassen Sie dies Zimmer nicht. Wenigstens nicht bei lebendigem Leibe! Sie haben meine Tochter an einen abgelegenen Ort verlockt, sie der Freiheit beraubt durch Heraufziehen einer Leiter, dann haben Sie ihre hilflose Lage auf brutalste Weise ausgenützt. Das haben Sie nicht nur bei ihr getan, ich werde aus der Reihe der Hotelmädchen Zeugen herbeischaffen. Aber diese Sache hat Folgen gehabt . . .
Mario. Umgekehrt, diese gemeinen Laster haben immer wieder mich verführt!
Pastor. So! Da säßen Sie in der Falle, Herr Mario! Ich hatte nämlich nur auf den Strauch geschlagen. Jetzt nehmen Sie, bitte, am Schreibtisch Platz, Sie haben Zeit, sich das Schriftstück in Ruhe durchzulesen.
Mario. Warum soll ich denn Ihr Geschreibsel nicht durchlesen? Aber ich habe schon eine und die andere Gerichtsverhandlung mitgemacht, so einfach geht das wahrhaftig nicht. Er beugt sich über den Schreibtisch und liest.
Pastor, am Fenster. In dieser Zelle gerade gegenüber – die Eisenstangen sind armesdick – sitzt ein ehemaliger Kommerzienrat, daneben, leider Gottes, ein Amtsrichter, in der dritten Zelle ein Koch, mit dem könnten Sie dann vielleicht anknüpfen!
Mario. Sie haben vergessen, daß in der vierten ein ehemaliger Pastor sitzt!
Pastor. Bitte, sind Sie fertig mit Durchlesen?
Mario. Warum soll ich den Unsinn durchlesen, ich gebe doch nie meine Unterschrift.
Pastor. Sie lesen dies Schriftstück und unterschreiben es, oder – er zieht eine Bibel aus dem Bücherregal und blättert darin – ich lege die Hand auf die Bibel! – Sie verlassen lebend dies Zimmer nicht! – Lesen Sie ruhig, wir haben Zeit, – es ist heut Sonnabend, ich vertiefe mich in das morgige Evangelium.
Mario, am Schreibtisch. Wenn ich Ihnen damit ein Vergnügen mache . . . Er liest. Langes Stillschweigen. Als er zu Ende gelesen hat, blickt Mario konsterniert und befremdet nach dem Pastor hin, der in die Bibel vertieft scheint. Nun beginnt er das Schriftstück nochmals zu lesen und studiert es aufmerksam. Wiederum blickt er danach zweifelnd und befremdet den Pastor an, der auch diesmal seinen Blick nicht erwidert. Dann spricht er. Soll das, was Sie auf diesen Bogen Papier geschrieben haben, Herr Pastor, eine Verhöhnung meiner Wenigkeit bedeuten?
Pastor. Sie niederzuschlagen, Sie durch das Fenster auf die Straße zu stürzen, möcht' ich wohl nicht üble Lust haben. Aber Sie zu verhöhnen, dazu ist mir ein Lumpenkerl wie Sie nicht wichtig genug!
Mario. Aber trotzdem: ich soll Ihre Tochter heiraten?!
Pastor. Das sollen Sie! Es handelt sich hier um eine Gesunkene, der Sie wenigstens einen ehrlichen Namen als Frau wiederzugeben haben, was, wer Sie schließlich auch sein mögen, Ihre Verpflichtung und einzig in Ihre Macht gegeben ist.
Mario. Sie verlangen, ich soll Ihre Tochter heiraten?
Pastor. Ganz gewiß, das verlange ich. Aber noch am Tage der Trauung schiffen Sie sich mit Dorothea ein nach Amerika.
Mario. Die Wendung überrascht mich, Herr Pastor.
Pastor. Auch mich hat sie überrascht, gewiß.
Mario. Immerhin verstehe ich jetzt Ihren Gedankengang. Die Sache wird aus der Welt geschafft! – Nun ja, eine gewisse Schuld an den prekären Umständen, wenn sie vorhanden sind, leugne ich nicht. Ich bin auch bereit, nach Vermögen zu sühnen. Schließlich muß man sich erst in die Sache hineinleben. Er vertieft sich abermals in das Dokument.
Pastor. Dazu haben Sie ungefähr fünf Minuten Zeit. Wenn dann Ihre Unterschrift nicht geleistet ist, so . . .
Mario. Wird der Skandal öffentlich, so haben Sie Ihre Stellung verloren. Dann können Sie, soviel ist ja klar, den Pastor quittieren und sich einen Broterwerb suchen gehn. Dieser Ausweg verhindert das.
Pastor. Ich habe dazu weiter nichts zu sagen.
Mario. Wer gibt uns aber das Geld zur Überfahrt nach Amerika?
Pastor. Ich dachte es mir: jetzt wird er zu Erpressungen fortschreiten!
Mario. Ich habe kein Geld. Ohne Geld kommt man nicht über den Atlantischen Ozean.
Pastor. Ich habe auch diesen Umstand in Rücksicht gezogen, man weiß ja, wes Geistes Kind Sie sind! – Dorothea besitzt von einem Onkel, einem Bruder meiner Frau, bei dem sie bis zu seinem Tode Pflegerinnendienste verrichtet hat, zwölftausend Mark. Diese zwölftausend Mark werden Ihnen nach geschehener Trauung ausgezahlt.
Mario unterschreibt. Ich habe unterschrieben, Herr Pastor.
Pastor prüft das Schriftstück, öffnet eine der Türen und ruft hinaus. Dorothea, dein Bräutigam erwartet dich! – Darauf verläßt er das Zimmer durch die andere Tür.