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Georg von Sturmfeder war nicht von so kühlem Blut, daß ihn die Nachricht, die er heute erhielt, nicht aus allen Schranken der Billigkeit und Mäßigung herausgejagt hätte; er war überdies in einem Alter, wo zwar die offene Seele sich noch nicht daran gewöhnt hat, den Menschen a priori zu mißtrauen wo aber ein solcher Fall umso überraschender ist, umso gefährlicher wirkt, eben weil das arglose Herz ihn nie gedacht hat.
Georg war auf der Stufe der düsteren, stillen Wut und der Rache angekommen; über diese Empfindung brütend, saß er unempfindlich gegen die Kälte der Nacht auf dem bemoosten Stein, und sein einziger, immer wiederkehrender Gedanke war, den nächtlichen Freund »zu stellen, und ein Wort mit ihm zu sprechen«.
Es schlug zwei Uhr in einem Dorf über dem Wald, als er sah, daß sich Lichter an den Fenstern des Schlosses hin bewegten; erwartungsvoll pochte sein Herz, krampfhaft hatte seine Hand den langen Griff des Schwertes umfaßt. Jetzt wurden die Lichter hinter den Gittern des Tores sichtbar, Hunde schlugen an; Georg sprang auf und warf den Mantel zurück. Er hörte, wie eine tiefe Stimme ein vernehmliches »gute Nacht« sprach. Die Zugbrücke rauschte nieder und legte sich über den Abgrund, der das Land von Lichtenstein scheidet, das Tor ging auf, und ein Mann, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, den dunklen Mantel fest umgezogen, schritt über die Brücke und gerade an den Ort zu, wo Georg Wache hielt.
Er war noch wenige Schritte entfernt, als dieser mit einem dröhnenden: »Zieh, Verräter, und wehr Dich Deines Lebens!«, auf ihn einstürzte; der Mann im Mantel trat zurück und zog; im Augenblick begegneten sich die blitzenden Klingen und rasselten klirrend aneinander.
»Lebendig sollst Du mich nicht haben«, rief der andere; »wenigstens will ich mein Leben teuer genug bezahlen!« Zugleich sah ihn Georg tapfer auf sich eindringen, und an den schnellen und gewichtigen Hieben merkte er, daß er keinen zu verachtenden Gegner vor der Klinge habe. Georg war kein ungeübter Fechter, und er hatte manch ernsten Kampf mit Ehre ausgefochten, aber hier hatte er seinen Mann gefunden. Er fühlte, daß er sich bald auf die eigene Verteidigung beschränken müsse, und wollte eben zu einem letzten, gewaltigen Stoß ausfallen, als plötzlich sein Arm mit ungeheurer Gewalt festgehalten wurde; sein Schwert wurde ihm in demselben Augenblick aus der Hand gewunden; zwei mächtige Arme schlangen sich um seinen Leib und fesselten ihn regungslos, und eine furchtbare Stimme schrie:
»Stoßt zu, Herr! Ein solcher Meuchelmörder verdient nicht, daß er noch einen Augenblick zum letzten Paternoster habe!«
»Das kannst Du verrichten, Hans«, sprach der im Mantel, »ich stoße keinen Wehrlosen nieder; dort ist sein Schwert, schlag ihn tot, aber mach es kurz.«
»Warum wollt Ihr mich nicht lieber selbst umbringen, Herr!« sagte Georg mit fester Stimme. »Ihr habt mir meine Liebe gestohlen, was liegt an meinem Leben?«
»Was habe ich?« fragte jener und trat näher.
»Was Teufel ist das für eine Stimme?« sprach der Mann, der ihn noch immer umschlungen hielt, »Die sollte ich kennen!« Er drehte den jungen Mann in seinen Armen um, und wie von einem Blitz getroffen, zog er die Hände von ihm ab! »Jesus, Maria und Joseph! Da hätten wir bald etwas Schönes gemacht! Aber welcher Unstern führt Euch auch gerade hierher, Junker? Was denken auch meine Leute, daß sie Euch fortlassen, ohne daß ich dabei bin!«
Es war der Pfeifer von Hardt, der Georg so anredete und ihm die Hand zum Gruß bot; dieser aber schien nicht geneigt, dieses freundliche Zeichen einem Mann zu erwidern der noch soeben das Handwerk des Henkers an ihm verrichten wollte; wild blickte er bald den Mann im Mantel, bald den Pfeifer an. »Meinst Du«, sagte er zu diesem, »ich hätte mich von Deinen Weibern in Gefangenschaft halten lassen sollen, daß ich Deine Verräterei hier nicht sehe? Erbärmlicher Betrüger! Und Ihr«, wandte er sich zu dem anderen, »wenn Ihr ein Mann von Ehre seid, so steht mir, und fallt nicht zu zweit über einen her; wenn Ihr wißt, daß ich Georg von Sturmfeder bin, so mögen Euch meine früheren Ansprüche auf das Fräulein nicht unbekannt sein, und mit Euch mich zu messen, bin ich hierher gekommen. Darum befehlt diesem Schurken, daß er mir mein Schwert wiedergebe, und laßt uns ehrlich fechten, wie es zwei Männern geziemt.«
»Ihr seid Georg von Sturmfeder?« sprach jener mit freundlicher Stimme und trat näher zu ihm. »Es scheint mir, Ihr seid etwas im Irrtum hier. Glaubt mir, ich bin Euch sehr gewogen und hätte Euch längst gerne gesehen. Nehmt das Ehrenwort eines Mannes, daß mich nicht die Absichten in jenes Schloß führen, die Ihr mir unterlegt, und seid mein Freund!«
Er bot dem überraschten Jüngling die Hand unter dem Mantel hervor, doch dieser zauderte; die gewichtigen Hiebe dieses Mannes hatten ihm zwar gesagt, daß er ein Ehrenwerter und Tapferer sei, darum konnte und mußte er seinen Worten trauen; aber sein Gemüt war noch so verwirrt von allem, was er gehört und gesehen, daß er ungewiß war, ob er den Handschlag dessen, den er noch vor einem Augenblick als seinen bittersten Feind angesehen hatten empfangen sollte oder nicht.
»Wer ist es, der mir die Hand bietet?« fragte er. »Ich habe Euch meinen Namen genannt und könnte wohl billigerweise dasselbe von Euch verlangen.«
Der Unbekannte schlug den Mantel auseinander und schob das Barett zurück; der Mond beleuchtete ein Gesicht voll Würde, und Georg begegnete einem glänzenden Auge, das den Ausdruck gebietender Hoheit trug. »Fragt nicht nach Namen«, sprach er, indem ein Zug von Wehmut um seinen Mund blitzte, »ich bin ein Mann und dies mag Euch genug sein; wohl führte auch ich einst einen Namen in der Welt, der sich mit dem ehrenwertesten messen konnte, wohl trug auch ich die goldenen Sporen und den wallenden Helmbusch, und auf den Ruf meines Hüfthorns lauschten viele hundert Knechte; er ist verklungen. Aber eines ist mir geblieben«, setzte er mit unbeschreiblicher Hoheit hinzu, indem er die Hand des jungen Mannes fester drückte, »ich bin ein Mann und trage ein Schwert: Si fractus illabatur orbis, Impavitum ferient ruinae.«
Er drückte das Barett wieder in die Stirn zog seinen Mantel hoch herauf und ging vorüber in den Wald.
Georg stand in stummem Erstaunen auf sein Schwert gestützt. Der Anblick dieses Mannes – es war ihm unbegreiflich – hatte alle Gedanken der Rache in seinem Herzen ausgelöscht. Dieser gebietende Blick, dieser gewinnende, wohlwollende Zug um den Mund, das tapfere, gewaltige Wesen dieses Mannes erfüllten seine Seele mit Staunen, mit Achtung, mit Beschämung. Er hatte geschworen, mit Marien in keiner Berührung zu stehen, er hatte es bekräftigt mit jener tapferen Rechten, die noch eben die gewichtige Klinge leicht wie im Spiel geführt hatte; er hatte es bekräftigt mit einem jener Blicke, deren Strahl Georg wie den der Sonne nicht zu ertragen vermochte, eine Bergeslast wälzte sich von seiner Brust, denn er glaubte, er mußte glauben.
»Wer ist dieser Mann?« fragte Georg den Pfeifer, der noch immer neben ihm stand.
»Ihr hörtet ja, daß er keinen Namen hat, und auch ich weiß ihn nicht zu nennen.«
»Du wüßtest nicht, wer er ist?« entgegnete Georg, »und doch hast Du ihm beigestanden, als er mit mir focht? Geh! Du willst mich belügen!«
»Gewiß nicht, Junker«, antwortete der Pfeifer, »es ist, Gott weiß es, wahr, daß jener Mann derzeit keinen Namen hat; wenn Ihr übrigens durchaus erfahren wollt, was er ist, so wißt, er ist ein Geächteter, den der Bund aus seinem Schloß vertrieb; einst aber war er ein mächtiger Ritter im Schwabenland.«
»Der Arme! Darum also ging er so verhüllt? Und mich hielt er wohl für einen Meuchelmörder! Ja, ich erinnere mich, daß er sagte, er wolle sein Leben teuer genug verkaufen.«
»Nehmt mir nicht übel, werter Herr«, sagte der Bauer, »auch ich hielt Euch für einen, der dem Geächteten auf das Leben lauern wollte, darum kam ich ihm zu Hilfe, und hätte ich nicht Eure Stimme noch gehört, wer weiß, ob Ihr noch lange geatmet hättet. Wie kommt Ihr aber auch um Mitternacht hierher, und welches Unheil führt Euch gerade dem geächteten Mann in den Wurf! Wahrlich, Ihr dürft von Glück sagen, daß er Euch nicht in zwei Stücke gehauen; es leben wenige, die vor seinem Schwert standgehalten hätten. Ich vermute, die Liebe hat Euch da einen argen Streich gespielt!«
Georg erzählte seinem ehemaligen Führer, welche Nachrichten ihm im Hirsch in Pfulligen mitgeteilt worden seien. Namentlich berief er sich auf die Aussage der Amme, des Pfeifers Schwester, die ihm so höchst wahrscheinlich gelautet habe.
»Dacht' ich's doch, daß es so was sein müsse«, antwortete der Pfeifer. »Die Liebe hat manchem noch ärger mitgespielt, und ich weiß nicht, was ich in jungen Jahren in ähnlichem Fall getan hätte. Daran ist aber wieder niemand schuld als meine alte Rosel, die alte Schwätzerin, was hat sie nötig, der Wirtin im Hirsch, die auch nichts bei sich behalten kann, zu beichten?«
»Es muß aber doch etwas Wahres an der Sache sein«, entgegnete Georg, in welchem das alte Mißtrauen hin und wieder aufblitzte. »So ganz ohne Grund konnte doch Frau Rosel nichts ersinnen!«
»Wahr? Etwas Wahres müsse daran sein? Allerdings ist alles wahr nach der Reihe; die Knechte werden zu Bett geschickt und die alte Aufpasserin auch, um elf Uhr kommt der Mann vor das Schloß, die Zugbrücke fällt herab, die Tore tun sich ihm auf, das Fräulein empfängt ihn und führt ihn in die Herrenstube –«
»Nun? Siehst Du?« rief Georg ungeduldig. »Wenn dies alles wahr ist, wie kann dann jener Mann schwören, daß er mit dem Fräulein –«
»Daß er mit dem Fräulein ganz und gar nichts wolle?« antwortete der Pfeifer. »Allerdings kann er das schwören; denn es ist nur ein Unterschied bei der ganzen Sache, den die Gans, die Rosel, freilich nicht gewußt hat, nämlich, daß der Ritter von Lichtenstein in der Herrenstube sitzt, das Fräulein aber sich entfernt, wenn sie ihre heimlich bereiteten Speisen aufgetragen hat. Der Alte bleibt bei dem geächteten Mann bis um den ersten Hahnenschrei, und wenn er gegessen und getrunken und die erstarrten Glieder am Feuer wieder erwärmt hat, verläßt er das Schloß, wie er es betreten.«
»Oh ich Tor! Daß ich dies alles nicht früher ahnte. Wie nahe lag die Wahrheit und wie weit ließ ich mich irreleiten! – Aber sprich«, fuhr Georg nach einigem Nachsinnen fort, »auffallend ist es mir doch, daß dieser geächtete Mann alle Nacht ins Schloß kommt; in welch unwirtlicher Gegend wohnt er denn wo er keine warme Kost, keinen Becher Wein und keinen warmen Ofen findet? – Höre, wenn Du mich dennoch belögest!«
Des Pfeifers Auge ruhte mit einem beinahe spöttischen Ausdruck auf dem jungen Mann. »Ein Junker wie Ihr«, antwortete er, »weiß freilich wenig, wie weh Verbannung tut; Ihr wißt es nicht, was es heißt, sich vor den Augen seiner Mörder verbergen, Ihr wißt nicht, wie schaurig sich's in feuchten Höhlen, in unwirtlichen Schluchten wohnt, Ihr kennt die Wohltat nicht, die ein warmer Bissen und ein feuriger Trunk dem gewährt, der bei den Eulen speist und beim Uhu in der Miete ist: aber kommt, wenn es Euch gelüstet; der Morgen bricht noch nicht an, und in der Nacht könnt Ihr nicht nach Lichtenstein; ich will Euch dahin führen, wo der geächtete Ritter wohnt, und Ihr werdet nicht mehr fragen, warum er um Mitternacht nach Speise geht.«
Die Erscheinung des Unbekannten hatte Georgs Neugierde zu sehr aufgeregt, als daß er nicht begierig den Vorschlag des Pfeifers von Hardt angenommen hätte, besonders auch, da er darin den besten Beweis für die Wahrheit oder Falschheit seiner Aussagen finden konnte. Sein Führer ergriff die Zügel des Rosses und führte es einen engen Waldweg bergab. Georg folgte, nachdem er noch einen Blick nach den Fenstern des Lichtensteins zurückgeworfen hatte. Sie zogen schweigend immer weiter, und dem jungen Mann schien dieses Schweigen nicht unangenehm zu sein, denn er machte keinen Versuch, es zu unterbrechen. Er hing seinen Gedanken nach über den Mann, zu dessen geheimnisvoller Wohnung er geführt wurde. Unablässig beschäftigte ihn die Frage, wer dieser Geächtete sein könnte. Er erinnerte sich fast wie aus einem Traum, daß mehrere Anhänger des vertriebenen Herzogs aus ihren Besitzungen gejagt worden seien, ja es deuchte ihm sogar, es sei in der Herberge zu Pfullingen während seines teilnahmslosen Hinbrütens, von einem Ritter, Marx Stumpf von Schweinsberg, die Rede gewesen, nach welchem die Bündischen fahnden. Die Tapferkeit und ausgezeichnete Stärke dieses Mannes war in Schwaben und Franken wohlbekannt; und wenn sich Georg die zwar nicht überaus große, aber kräftige Gestalt, die gebietende Miene, das heldenmütige, ritterliche Wesen des Mannes ins Gedächtnis zurückrief, wurde es ihm immer mehr zur Gewißheit, daß der Geächtete kein anderer als der treueste Anhänger Ulrichs von Württemberg, Marx Stumpf von Schweinsberg, sei.
So dachte in jener Nacht Georg von Sturmfeder, aber noch viele Jahre nachher, als der Mann, den er in jener Nacht bekämpfte, längst wieder in seine Rechte eingesetzt war, und seinem Hüfthorn wieder Hunderte folgten, rechnete er es unter seine schönsten Waffentaten, dem tapferen, gewaltigen Unbekannten keinen Schritt breit gewichen zu sein.
Die Wanderer waren während dieses Selbstgesprächs des jungen Mannes auf einer kleinen, freien Waldwiese angekommen; der Pfeifer band das Pferd seitwärts an und winkte Georg zu folgen. Die Waldwiese brach in eine schroffe, mit dichtem Gesträuch bewachsene Abdachung ab; dort schlug der Pfeifer einige verschlungene Zweige zurück, hinter welchen ein schmaler Fußpfad sichtbar wurde, welcher abwärts führte. Nicht ohne Mühe und Gefahr folgte Georg seinem Führer, der ihm an einigen Stellen kräftig die Hand reichte. Nachdem sie etwa achtzig Fuß hinabgestiegen waren, befanden sie sich wieder auf ebenem Grund, aber umsonst suchte der junge Mann nach der Stätte des geächteten Ritters. Der Pfeifer ging nun zu einem Baum von ungeheurem Umfang, der innen hohl sein mußte, denn jener brachte zwei große Kienfackeln daraus hervor; er schlug Feuer und zündete mit einem Stückchen Schwefel die Fackeln an.
Als diese hell aufloderten, bemerkte Georg, daß sie vor einem großen Portal standen, das die Natur in die Felsenwand gebrochen hatte, und dies mochte wohl der Eingang zu der Wohnung sein, wo der Geächtete, wie sich der Pfeifer ausdrückte, beim Uhu zur Miete war. Der Mann von Hardt ergriff eine der Fackeln und bat den Jüngling, die andere zu tragen, denn ihr Weg sei dunkel und hie und da nicht ohne Gefahr. Nachdem er diese Warnung geflüstert, schritt er voran in das dunkle Tor.
Georg hatte eine niedere Erdschlucht erwartet, kurz und eng, dem Lager der Tiere gleich, wie er sie in den Forsten seiner Heimat hin und wieder gesehen, aber wie erstaunte er, als die erhabenen Hallen eines unterirdischen Palastes vor seinen Augen sich auftaten. Er hatte in seiner Kindheit aus dem Munde eines Knappen, dessen Urgroßvater in Palästina in Gefangenschaft geraten war, ein Märchen gehört, das von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden war; dort war ein Knabe von einem bösen Zauberer unter die Erde geschickt worden, in einen Palast, dessen erhabene Schönheit alles übertraf, was der Knabe je über der Erde gesehen hatte. Diese Sage, die sich der kindlichen Einbildungskraft tief eingedrückt, lebte auf und verwirklichte sich vor den Blicken des staunenden Jünglings. Alle Augenblicke stand er still, von neuem überrascht, hielt die Fackel hoch und staunte und bewunderte, denn in hohen, majestätisch gewölbten Bogen zog sich der Höhlengang hin, und flimmerte und blitzte, wie von tausend Kristallen und Diamanten. Aber noch größere Überraschung stand ihm bevor, als sich sein Führer links wandte und ihn in eine weite Grotte führte, die wie der festlich geschmückte Saal des unterirdischen Palastes anzusehen war.
Sein Führer mochte den gewaltigen Eindruck bemerken, den dieses Wunderwerk der Natur auf die Seele des Jünglings machte. Er nahm ihm die Fackel aus der Hand, stieg auf einen vorspringenden Felsen und beleuchtete so einen großen Teil der Grotte.
Der Führer stieg, nachdem er das Auge des Jünglings für hinlänglich gesättigt halten mochte, wieder herab von seinem Felsen. »Das ist die Nebelhöhle«, sprach er, »man kennt sie wenig im Land, und nur den Jägern und Hirten ist sie bekannt; doch wagen es nicht viele hereinzugehen, weil man allerlei böse Geschichten von diesen Kammern der Gespenster weiß. Einem, der die Höhle nicht genau kennt, möchte ich nicht raten, sich herabzuwagen; sie hat tiefe Schlünde und unterirdische Wasser, aus denen keiner mehr ans Licht kommt. Auch gibt es geheime Gänge und Kammern, die nur fünf Männern bekannt sind, die jetzt leben.«
»Und der geächtete Ritter?« fragte Georg.
»Nehmt die Fackel und folgt mir«, antwortete jener, und schritt voran in einen Seitengang. Sie waren wieder etwa zwanzig Schritte gegangen, als Georg die tiefen Töne einer Orgel zu vernehmen glaubte. Er machte seinen Führer darauf aufmerksam.
»Das ist Gesang«, entgegnete er, »der tönt in diesen Gewölben gar lieblich und voll. Wenn zwei oder drei Männer singen, so lautet es, als sänge ein ganzer Chor Mönche die Hora.« Immer vernehmlicher tönte der Gesang, je näher sie kamen, desto deutlicher wurden die Biegungen einer angenehmen Melodie. Sie bogen um eine Felsenecke und von oben herab ertönte ganz nah die Stimme des Singenden, brach sich an den zackigen Felsenwänden in vielfachem Echo, bis sie sich verschwebend mit den fallenden Tropfen der feuchten Steine und mit dem Murmeln eines unterirdischen Wasserfalles mischte, der sich in eine dunkle, geheimnisvolle Tiefe ergoß.
»Hier ist der Ort«, sprach der Führer, »dort oben in der Felswand ist die Wohnung des unglücklichen Mannes; hört Ihr sein Lied? Wir wollen warten und lauschen, bis er zu Ende ist, denn er war nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, als er noch oben auf der Erde war.«
Die Männer lauschten und verstanden durch das Echo und das Gemurmel der Wasser etwa folgende Worte, die der Geächtete sang:
»Vom Turme, wo ich oft gesehen
Hernieder auf ein schönes Land,
Vom Turme fremde Fahnen wehen,
Wo meiner Ahnen Banner stand.
Der Väter Hallen sind gebrochen,
Gefallen ist des Enkels Los,
Er birgt, besiegt und ungerochen,
Sich in der Erde tiefem Schoß.
Und wo einst in des Glückes Tagen
Mein Jagdhorn tönte durchs Gefild,
Da meine Feinde gräßlich jagen,
Sie hetzen gar ein edles Wild.
Ich bin das Wild, auf das sie pirschen,
Die Bluthund' wetzen schon den Zahn,
Sie dürsten nach dem Schweiß des Hirschen,
Und sein Geweih steht ihnen an.
Die Mörder han' in Berg und Heide
Auf mich die Armbrust aufgespannt,
Drum in des Bettlers rauhem Kleide
Durchschleich' ich nachts mein eigen Land;
Wo ich als Herr sonst eingeritten
Und meinen hohen Gruß entbot,
Da klopf' ich schüchtern an die Hütten
Und bettle um ein Stückchen Brot.
Ihr warft mich aus den eignen Toren,
Doch einmal klopf' ich wieder an,
Drum Mut! Noch ist nicht all verloren,
Ich hab' ein Schwert und bin ein Mann.
Ich wanke nicht; ich will es tragen;
Und ob mein Herz darüber bricht,
So sollen meine Feinde sagen,
Er war ein Mann und wankte nicht.«
Er hatte geendet, und der tiefe Seufzer, den er den verhallenden Tönen seines Liedes nachsandte, ließ ahnen, daß er im Gesang nicht viel Trost gefunden habe. Dem rauhen Mann von Hardt war während des Liedes eine große Träne über die gebräunte Wange gerollt, und Georg war es nicht entgangen, wie er sich anstrengte, die alte feste Fassung wiederzuerhalten und dem Bewohner der Höhle eine heitere Stirn und ein ungetrübtes Auge zu zeigen. Er gab dem Junker auch die zweite Fackel in die Hand und klimmte den glatten schlüpfrigen Felsen hinan, der zu der Grotte führte, woraus der Gesang erklungen war. Georg dachte sich, daß er ihn vielleicht dem Ritter melden wolle, und bald sah er ihn mit einem tüchtigen Strick zurückkehren. Er klimmte die Hälfte des Felsens wieder herab und ließ sich die Fackeln geben, die er geschickt in eine Felsenritze an der Seite steckte; dann warf er Georg den Strick zu und half ihm so die Felsenwand erklimmen, was ihm ohne diese Hilfe schwerlich gelungen wäre. Er war oben und wenige Schritte noch, so stand er vor dem Felsengemach des Geächteten.