Wilhelm Hauff
Lichtenstein
Wilhelm Hauff

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Kapitel 10

Georg fühlte sich leichter, als er auf seinem Zimmer über das Vorgefallene nachdachte. Jetzt war ja entschieden, was zu entscheiden er so lange gezögert hatte, entschieden auf eine Weise, wie er sie besser nicht hätte wünschen können. So hatte er jetzt einen guten Grund, das Heer sogleich zu verlassen, und der Oberst-Feldleutnant mußte die Schuld sich selbst beimessen.

Wie schnell hatte sich doch alles in den vier Tagen gewendet; wie verschieden waren die Gesinnungen, mit denen er in diese Stadt einzog, von denen, die ihn aus ihren Mauern hinaustrieben! Damals, als der Donner der Geschütze, der feierliche Klang aller Glocken, die lockenden Töne der Trompeten ihn begrüßten, wie schlug da sein Herz dem Kampf entgegen, um Marien zu verdienen! Und als er das erste Mal vor jenen Frondsberg geführt wurde, wie erhebend war der Gedanke, unter den Augen dieses Mannes zu streiten, aus seinem Mund sich Ruhm zu erwerben! – Und wie erkaltete bald darauf sein Eifer, als der Bund in seinen Augen jenen Glanz verlor, mit welchem ihn seine jugendliche Phantasie umgeben hatte; wie schämte er sich, sein Schwert für die zu ziehen, die, nur von Eigennutz und Habgier getrieben, das schöne Land sich zur Beute ausersehen hatten! Wie schrecklich war ihm der Gedanke, Marie und die Ihrigen auf der feindlichen Seite zu wissen, treu ergeben dem unglücklichen Fürsten, den auch er aus seinen Grenzen zu jagen helfen sollte? Um eine solche Sache sollte er jenes teure Herz brechen, das unter jedem Wechsel treu für ihn schlug? »Nein! Du hast es wohl mit mir gemeint«, sprach er, indem sein Auge dem Strahl der Abendsonne, der durch die runden Scheiben hereinfiel, hinauf zu dem blauen Himmel folgte, »Du hast es wohl mit mir gemeint; was jedem anderen, der heute an meiner Stelle stand, zum Verderben gewesen wäre, hast Du für mich zum Heil gelenkt!« Jene Heiterkeit, die, seit er wußte, wie furchtbar sich das Geschick zwischen ihn und die Geliebte stellte, einem trüben Ernst gewichen war, kehrte wieder auf seine Stirn, um seinen Mund zurück; er sang sich ein frohes Lied, wie in seinen frohesten Augenblicken.

Erstaunt betrachtete ihn der eintretende Herr von Kraft. »Nun, das ist doch sonderbar«, sagte er, »ich eile nach Haus, um meinen Gast in seinem gerechten Schmerz zu trösten und finde ihn so fröhlich wie nie; wie reime ich das zusammen?«

»Habt Ihr noch nie gehört, Herr Dietrich«, entgegnete Georg, der es für geratener hielt, seine Fröhlichkeit zu verbergen, »habt Ihr nie gehört, daß man auch aus Zorn lachen und singen kann?«

»Gehört hab' ich es schon, aber gesehen nie bis zu diesem Augenblick«, antwortete Kraft.

»Nun, und Ihr habt also auch schon von der verdrießlichen Geschichte gehört?« fragte Georg. »Man erzählt es sich gewiß schon auf allen Straßen?«

»Oh nein«, antwortete der Ratsschreiber, »man weiß nirgends etwas davon, man hätte ja zugleich Eure geheime Sendung nach Württemberg damit ausposaunen müssen. Nein! Ich habe, Gott sei Dank, so meine eigenen Quellen und erfahre manches noch in der Stunde, wo es getan oder gesprochen wurde. Aber nehmt mir's nicht übel, Ihr habt da einen dummen Streich gemacht!«

»So«, antwortete Georg lächelnd, »und warum denn?«

»Bot sich Euch nicht die schönste Gelegenheit, Euch auszuzeichnen? Wem wären die Bundesobersten mehr Dank schuldig als –«

»Sagt es nur heraus«, unterbrach ihn Georg »als dem Kundschafter in des Feindes Rücken. Es ist nur schade, daß mein Vater und die Ehre meines Namens mich vor und nicht hinter den Feind bestimmt haben, es sei denn, daß er vor mir fliehe.«

»Dies sind Bedenklichkeiten, die ich nicht bei Euch gesucht hätte. Wahrlich, wenn ich so bekannt in jener Gegend wäre wie Ihr, man hätte es mir nicht zweimal sagen dürfen.«

»Ihr habt hierzulande vielleicht andere Grundsätze über diesen Punkt« sagte Georg nicht ohne Spott, »als wir in unserem Franken, das hätte Truchseß von Waldburg bedenken und einen Ulmer schicken sollen.«

»Ihr bringt mich da eben noch recht auf etwas anderes. Der Oberfeldleutnant! Wie habt ihr ihn Euch so zum Feind machen mögen, denn daß dieser Euch das Geschehene in seinem Leben nicht verzeiht, dürft Ihr gewiß sein.«

»Das ist mein geringster Kummer«, antwortete Georg »aber eines tut mir weh, daß ich den übermütigen, der schon meinem Vater Böses getan, wo er konnte, nicht vor meine Klinge stellen und ihm zeigen kann, daß der Arm nicht so ganz zu verachten ist, den er heute von sich gestoßen hat.«

»Um Gottes willen«, fiel Kraft ein, »sprecht nicht so laut, er könnte es hören. Überhaupt müßt Ihr Euch sehr zusammennehmen, wenn Ihr ferner im Heer unter ihm dienen wollt.«

»Ich will den Herrn Truchseß von meinem verhaßten Anblick bald befreien. So Gott will, habe ich die Sonne zum letzten Mal in Ulm untergehen sehen.«

»So wäre es wahr«, fragte Herr von Kraft mit Staunen, »was man noch dazu setzte und was ich nicht glauben konnte: Georg von Sturmfeder wolle wegen dieser Kleinigkeit unsere gute Sache verlassen?«

»Verletzung der Ehre ist nirgends eine Kleinigkeit«, antwortete Georg ernst, »am wenigsten bei einem Stand wie dem unsrigen. Was aber Eure gute Sache betrifft, so habe ich nachgerade eingesehen, daß ich weder für eine gute Sache noch für eine gute Meinung, sondern für ein paar große Herren und für ein paar Mauern voll Spießbürger mich schlagen sollte.«

Der unangenehme Eindruck, den besonders die letzten Worte auf den Ratsschreiber machten, entging ihm nicht, er fuhr daher, indem er seine Hand ergriff und drückte, ruhiger fort: »Nehmt mir meine scharfen Worte nicht übel, mein freundlicher Wirt, weiß Gott, ich habe Euch nicht damit beleidigen wollen. Aber aus Eurem eigenen Mund habe ich die Gesinnungen und Zwecke der verschiedenen Parteien in diesem Heer erfahren. Schreibt es Euch selbst zu, wenn ich meinen eigenen Weg einschlage, da Ihr mir die Binde von den Augen genommen habt.«

»Ihr habt so unrecht gerade nicht, guter Junker. Es wird bunt hergehen, wenn die Herren erst das schöne Land da drüben unter sich teilen. Aber da habe ich gedacht, es geht ja in einem hin, Ihr könntet Euch auch Euer Scherflein dabei verdienen. Man sagt, Ihr dürft es mir aber nicht übelnehmen, Euer Haus sei etwas herabgekommen, das meinte ich –«

»Nichts davon!« fiel Georg rasch ein, gerührt von der Gutmütigkeit seines Gastfreundes. »Das Haus meiner Väter zerfällt, unsere Tore hängen auf gebrochenen Angeln, auf der Zugbrücke wächst Moos, und auf dem hohen Wartturm hausen Eulen. In fünfzig Jahren steht vielleicht noch ein Turm oder ein Mäuerchen und erinnert den Wanderer, daß hier einst ein ritterliches Geschlecht hauste. Aber wenn auch die morschen Mauern über mir zusammenstürzen und den letzten meines Stammes unter ihren Trümmern begraben, niemand soll von mir sagen: Ich habe für ungerechtes Gut das Schwert meines Vaters gezogen.«

»Jeder nach seiner Weise«, antwortete Dietrich, »es klingt dies alles recht schön; aber ich für meinen Teil würde mir schon etwas gefallen lassen, um mein Haus anständig und wohnlich wiederherzustellen. – Mögt Ihr übrigens Euren Entschluß ändern oder nicht, auf jeden Fall hoffe ich, werdet Ihr es Euch noch einige Tage bei mir gefallen lassen.«

»Ich erkenne Eure Güte«, antwortete Georg, »aber Ihr seht, daß ich unter den gegenwärtigen Umständen nichts mehr in dieser Stadt zu tun habe. Ich gedenke mit Anbruch des Morgens zu reiten.«

»Nun, und man kann Euch Grüße mitgeben?« fragte der Ratsschreiber mit überaus schlauem Lächeln. »Ihr reitet doch den nächsten Weg nach Lichtenstein?«

Der junge Mann errötete bis an die Stirn hinauf. Es war zwischen ihm und seinem Gastfreund seit Mariens Abreise dieser Gegenstand noch nicht zur Sprache gekommen, um so mehr überraschte ihn jetzt die schlaue Frage seines Gastfreundes. »Ich sehe«, sagte er, »daß Ihr mich noch immer falsch versteht. Ihr glaubt, ich habe dem Bund nur deswegen den Rücken zugewandt, um mich an die Feinde anzuschließen? Wie mögt Ihr nur so schlimm von mir denken?«

»Ach, geht mir doch!« entgegnete der kluge Ratsschreiber. »Niemand anders als mein reizendes Bäschen hat Euch von uns abwendig gemacht. Ihr hättet wohl zu allem, was der Bund getan, ein Auge zugedrückt, wenn der alte Lichtenstein auch mitgemacht hätte. Nun er auf der anderen Seite steht, glaubt Ihr auch schnell umsatteln zu müssen!«

Georg mochte sich verteidigen, wie er wollte, der Ratsschreiber war zu fest von seiner eigenen Klugheit überzeugt, als daß er sich diese Meinung hätte ausreden lassen. Er fand diesen Schritt auch ganz natürlich und sah nichts Böses oder Unehrliches darin. Mit einem herzlichen Gruß an die Base in Lichtenstein verließ er das Zimmer seines Gastes. Doch auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um. »Fast hätte ich das Wichtigste vergessen«, sagte er, »ich begegnete Georg von Frondsberg auf der Straße. Er läßt Euch bitten, heute abend noch zu ihm in sein Haus zu kommen.«

Georg hatte sich zwar selbst vorgestellt, daß ihn Frondsberg nicht ohne Abschied werde ziehen lassen, und doch war ihm bange vor dem Anblick dieses Mannes, der es so gut mit ihm gemeint und dessen freundliche Pläne er so schnell durchkreuzt hatte. Er schnallte unter den Gedanken an diesen schweren Gang sein Schwert um und wollte eben seinen Mantel zurechtlegen, als ein sonderbares Geräusch von der Treppe her seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Schwere Tritte vieler Menschen näherten sich seiner Tür, er glaubte Schwerter und Hellebarden auf dem Estrich seines Vorsaales klirren zu hören. Er machte schnell einige Schritte gegen die Tür, um sich von dem Grund seiner Vermutung zu überzeugen.

Aber noch ehe er die Tür erreicht hatte, ging diese auf. Das matte Licht einiger Kerzen ließ ihn mehrere bewaffnete Kriegsknechte sehen, die seine Tür umstellt hatten. Jener alte Kriegsmann, der ihn heute vor dem Kriegsrat empfangen hatte, trat aus ihrer Mitte hervor.

»Georg von Sturmfeder!« sprach er zu dem Jüngling, der mit Staunen zurücktrat. »Ich nehme Euch auf Befehl eines hohen Bundesrates gefangen.«

»Mich? Gefangen?« rief Georg mit Schrecken. »Warum? Wessen beschuldigt man mich denn?«

»Das ist nicht meine Sache«, antwortete der Alte mürrisch, »doch wird man Euch vermutlich nicht lange in Ungewißheit lassen. Jetzt aber seid so gut und reicht mir Euer Schwert und folgt mir auf das Rathaus.«

»Wie? Euch soll ich mein Schwert geben?« entgegnete der junge Mann mit dem Zorn beleidigten Stolzes. »Wer seid Ihr, daß Ihr mir meine Waffen abfordern könnt? Da muß der Rat ganz andere Leute schicken als Euch, so viel verstehe ich auch von Eurem Handwerk!«

»Um Gottes willen, gebt doch nach« rief der Ratsschreiber, der sich bleich und verstört an seine Seite gedrängt hatte. »Gebt nach! Widerstand kann Euch wenig nützen. Ihr habt es mit dem Truchseß zu tun«, flüsterte er heimlicher. »Das ist ein böser Feind, bringt ihn nicht noch ärger gegen Euch auf.«

Der alte Kriegsmann unterbrach die Einflüsterungen des Ratsschreibers. »Es ist wahrscheinlich das erste Mal, Junker«, sagte er, »daß Ihr in Haft genommen werdet, deswegen verzeihe ich Euch gerne die unziemlichen Worte gegen einen Mann, der oft in einem Zelt mit Eurem Vater schlief. Euer Schwert mögt Ihr auch immerhin behalten. Ich kenne diesen Griff und diese Scheide und habe den Stahl, den sie verschließt, manchen rühmlichen Kampf ausfechten sehen Es ist löblich, daß Ihr viel darauf haltet und es nicht in jede Hand kommen lassen mögt. Aber aufs Rathaus müßt Ihr mit, denn es wäre töricht, wenn Ihr der Gewalt Trotz bieten wolltet.«

Der Jüngling, dem alles wie ein Traum erschien, ergab sich schweigend in sein Schicksal, er trug dem Ratsschreiber heimlich auf, zu Frondsberg zu gehen und diesen von seiner Gefangenschaft zu unterrichten. Er wickelte sich tiefer in seinen Mantel, um auf der Straße bei diesem unangenehmen Gang nicht erkannt zu werden, und folgte dem ergrauten Führer und seinen Landsknechten.


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