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In einem Kupee 2. Klasse des Schnellzugs Prag-Budweis befanden sich drei Personen. Oberleutnant Lukasch, ihm gegenüber ein alter, vollständig kahlköpfiger Herr und Schwejk, der bescheiden bei der Kupeetür stand. Er schickte sich gerade an, einen neuen Ansturm Oberleutnant Lukaschs über sich ergehen zu lassen, der, ohne die Anwesenheit des kahlköpfigen Zivilisten zu beachten, auf der ganzen Strecke, die sie durchfuhren, Schwejk andonnerte, er sei ein Rindvieh Gottes usw.
Es handelte sich um nichts anderes als um eine Kleinigkeit, nämlich um die Zahl der Gepäckstücke, auf die Schwejk achtzugeben hatte.
»Man hat uns einen Koffer gestohlen«, warf der Oberleutnant Schwejk vor, »das ist leicht gesagt, du Lump!«
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant«, ließ sich Schwejk leise vernehmen, »man hat uns ihn wirklich gestohlen. Aufm Bahnhof treiben sich immer viel solcher Schwindler herum, und ich stell mir halt so vor, daß einem von ihnen unbedingt Ihr Koffer gefallen hat und daß der Kerl wahrscheinlich die Gelegenheit ausgenützt hat, wie ich vom Gepäck weggegangen bin, um Ihnen zu melden, daß mit unserm Gepäck alles in Ordnung is. Er hat uns den Koffer grad nur in so einem günstigen Moment stehlen können. Auf so einen Moment lauern diese Gauner. Vor zwei Jahren ham sie aufm Nordwestbahnhof einer Frau ein Wagerl mitsamt einem Mäderl im Wickelbett gestohlen und waren so nobel, daß sie das Mäderl aufm Polizeikommissariat bei uns in der Gasse abgegeben ham, daß sies herich in einem Hausflur gefunden ham. Dann ham die Zeitungen aus der armen Frau eine Rabenmutter gemacht.«
Und Schwejk erklärte nachdrücklich: »Am Bahnhof is immer gestohlen worn und wird weiter gestohlen wern. Anders gehts nicht.«
»Ich bin überzeugt, Schwejk«, ergriff der Oberleutnant das Wort, »daß es mit Ihnen einmal schlecht enden wird. Ich weiß noch immer nicht, machen Sie einen Ochsen aus sich, oder sind Sie schon als Ochs zur Welt gekommen. Was war in dem Koffer?«
»Im ganzen nichts, Herr Oberlajtnant«, entgegnete Schwejk, ohne die Augen von dem kahlen Schädel des Zivilisten abzuwenden, der dem Oberleutnant gegenübersaß und, wie es schien, nicht das geringste Interesse für die ganze Angelegenheit zeigte, sondern die »Neue Freie Presse« las. »In dem ganzen Koffer war nur der Spiegel ausm Zimmer und der eiserne Hutrechen ausm Vorzimmer, so daß wir eigentlich keinen Verlust erlitten ham, weil der Spiegel und der Rechen dem Hausherrn gehört ham.«
Als er die fürchterliche Grimasse des Oberleutnants sah, fuhr Schwejk mit liebenswürdiger Stimme fort: »Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß ich davon, daß der Koffer gestohlen wern wird, im voraus nichts gewußt hab, und was den Spiegel und den Hutrechen betrifft, so hab ichs dem Hausherrn gesagt, daß wirs ihm zurückgeben wern, bis wir ausm Krieg nach Haus kommen. In den feindlichen Ländern gibts so viel Spiegel und Rechen, so daß wir in diesem Fall mitn Hausherrn keine Schwierigkeiten ham können. Gleich wie wir irgendeine Stadt erobern . . .«
»Kuschen Sie, Schwejk«, rief der Oberleutnant mit entsetzlicher Stimme dazwischen, »ich werde Sie noch vors Feldgericht bringen. Überlegen Sie sichs gut, ob Sie nicht der allerblödeste Kerl auf der Welt sind. Mancher Mensch würde, wenn er tausend Jahre leben sollte, nicht so viele Blödheiten anstelln wie Sie in diesen paar Wochen. Ich hoffe, daß Sie das auch gemerkt haben?«
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, ich habs auch gemerkt. Ich hab, wie man sagt, ein entwickeltes Beobachtungstalent, wenns schon zu spät is und etwas Unangenehmes geschieht. Ich hab so ein Pech, wie ein gewisser Nechleba aus der Nekázanka, der dort ins Gasthaus zur ›Hündin im Hain‹ gegangen is. Der wollt immer brav sein und von Samstag an ein neues Leben führen, und immer am nächsten Tag hat er gesagt: ›Gegen früh, Kameraden, hab ich euch bemerkt, daß ich auf einer Pritsche sitz.‹ Und immer hats ihn erwischt, wenn er sich vorgenommen hat, daß er ordentlich nach Haus gehn wird, und zum Schluß is herausgekommen, daß er irgendwo einen Zaun zerbrochen hat oder einen Droschkenkutscher ein Pferd ausgespannt hat oder sich die Pfeife mit einer Feder ausn Federbusch von einer Polizeipatrouille hat ausputzen wolln. Er war davon ganz verzweifelt, und am meisten hats ihm leid getan, daß dieses Pech ganze Generationen verfolgt hat. Sein Großvater is einmal auf die Wanderschaft gegangen . . .«
»Geben Sie mir Ruh, Schwejk, mit Ihren Beispielen.«
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß alles, was ich hier erzähl, heilige Wahrheit is. Sein Großvater is auf die Wander . . .«
»Schwejk«, rief der Oberleutnant erzürnt, »ich befehle Ihnen noch einmal, Sie solln mir nichts erzählen, ich will nichts hören. Bis wir nach Budweis kommen, werde ich mit Ihnen abrechnen. Wissen Sie, Schwejk, daß ich Sie einsperren laß?«
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, ich weiß es nicht«, sagte Schwejk weich, »Sie ham noch nichts davon erwähnt.«
Dem Oberleutnant klapperten unwillkürlich die Zähne, er seufzte, zog aus dem Mantel die »Bohemia« heraus und las die Berichte über die großen Siege und über die Tätigkeit des deutschen Unterseebootes »E« im Mittelländischen Meer; als er bei der Nachricht über die neue deutsche Erfindung des In-die-Luft-Sprengens von Städten durch neuartige, aus Flugzeugen geschleuderte Bomben, die dreimal nacheinander explodieren, anlangte, wurde er durch Schwejks Stimme gestört, der zu dem kahlköpfigen Herrn sagte:
»Entschuldigen, Euer Gnaden, sind Sie, bitte, nicht der Herr Purkrabek, Vertreter der Bank ›Slawia‹?«
Als der kahlköpfige Herr nicht antwortete, sagte Schwejk zum Oberleutnant:
»Melde gehorsamst, ich hab mal in der Zeitung gelesen, daß ein normaler Mensch durchschnittlich 60 000 bis 70 000 Haare am Kopf ham soll und daß schwarzes Haar schütterer zu sein pflegt, wie in vielen Fällen zu sehn is.«
Und er fuhr unerbittlich fort: »Dann hat mal ein Mediziner im Kaffeehaus ›Beim Schpirk‹ gesagt, daß Haarausfall von der seelischen Erregung im Wochenbett kommt.«
Und jetzt ereignete sich etwas Entsetzliches. Der kahlköpfige Herr sprang auf Schwejk zu und brüllte ihn an: »Marsch, hinaus, Sie Schweinkerl«, stieß ihn auf den Gang und kehrte ins Kupee zurück, wo er dem Oberleutnant eine kleine Überraschung bereitete, indem er sich ihm vorstellte.
Es lag ein unbedeutender Irrtum vor. Das kahlköpfige Individuum war nicht Herr Purkrabek, Vertreter der Bank »Slawia«, sondern nur der Generalmajor von Schwarzburg. Der Generalmajor unternahm gerade in Zivil eine Inspektionsreise durch die Garnisonen und fuhr nach Budweis, um die dortige Garnison zu überraschen.
Er war der schrecklichste Inspektionsgeneral, der jemals geboren worden war, und wenn er etwas in Unordnung vorfand, führte er bloß folgendes Gespräch mit dem Garnisonskommandanten:
»Haben Sie einen Revolver?« – »Ja.« – »Gut! An Ihrer Stelle wüßte ich gewiß, was ich mit ihm zu tun hätte, denn was ich hier sehe, ist keine Garnison, sondern ein Schweinestall.«
Und nach seiner Inspektionsreise pflegte sich tatsächlich ab und zu jemand zu erschießen, was Generalmajor von Schwarzburg mit Genugtuung zur Kenntnis nahm: »So solls sein. Das ist ein Soldat!«
Es hatte den Anschein, als liebe er es nicht, wenn nach seiner Inspektion überhaupt jemand am Leben blieb. Er hatte die Manier, die Offiziere stets in die unangenehmsten Orte zu versetzen. Der geringste Anlaß genügte, und schon nahm ein Offizier Abschied von seiner Garnison und pilgerte an die Grenzen Montenegros oder in irgendeine versoffene, verzweifelte Garnison in einem schmutzigen Winkel Galiziens.
»Herr Oberleutnant«, sagte er, »wo haben Sie die Kadettenschule besucht?«
»Sie sind also in die Kadettenschule gegangen und wissen nicht einmal, daß ein Offizier für seinen Untergebenen verantwortlich ist. Das ist schön. Zweitens unterhalten Sie sich mit Ihrem Burschen wie mit einem intimen Freund. Sie erlauben ihm zu sprechen, ohne daß er gefragt wird. Das ist noch schöner. Drittens erlauben Sie ihm, Ihre Vorgesetzten zu beleidigen. Und das ist das Schönste: aus all dem werde ich die Konsequenzen ziehen. Wie heißen Sie, Herr Oberleutnant?«
»Lukasch.«
»Und bei welchem Regiment dienen Sie?«
»Ich war . . .«
»Danke, davon, wo Sie waren, ist nicht die Rede, ich will wissen, wo Sie jetzt dienen.«
»Beim 91. Infanterieregiment, Herr Generalmajor. Man hat mich versetzt . . .«
»Versetzt? Daran hat man sehr gutgetan. Es wird Ihnen nicht schaden, so bald wie möglich mit dem 91. Infanterieregiment an die Front zu kommen.«
»Darüber hat man bereits entschieden, Herr Generalmajor.«
Der Generalmajor setzte nun in einem Vortrag auseinander, er habe während der letzten Jahre bemerkt, daß die Offiziere mit ihren Untergebenen in einem familiären Ton sprechen, worin er die Gefahr der Verbreitung gewisser demokratischer Grundsätze sehe. Einen Soldaten müsse man in ständiger Angst erhalten, er müsse vor seinem Vorgesetzten zittern, sich vor ihm fürchten. Die Offiziere müßten sich die Mannschaft zehn Schritt vom Leib halten und dürften ihr nicht erlauben, selbständig zu überlegen oder am Ende gar zu denken.
Darin liege der tragische Irrtum der letzten Jahre. Früher habe sich die Mannschaft vor den Offizieren gefürchtet wie vor Feuer, aber heute . . .
Der Generalmajor winkte hoffnungslos mit der Hand: »Heute verzärtelt die Mehrzahl der Offiziere die Soldaten. Das wollt ich sagen.«
Der Generalmajor ergriff abermals seine Zeitung und vertiefte sich in die Lektüre. Oberleutnant Lukasch ging blaß auf den Gang hinaus, um mit Schwejk abzurechnen.
Er fand ihn mit einem so glückseligen und zufriedenen Ausdruck am Fenster stehend, wie ihn nur ein einen Monat altes Kindlein haben kann, das sich satt gesaugt hat und eingeschlummert ist.
Der Oberleutnant blieb stehen, winkte Schwejk und wies auf ein leeres Kupee. Er trat nach Schwejk ein und schloß die Türe.
»Schwejk«, sagte er feierlich, »endlich ist der Augenblick gekommen, wo Sie paar Ohrfeigen bekommen werden, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Warum haben Sie denn diesen kahlköpfigen Herrn angerempelt? Wissen Sie, daß es der Generalmajor von Schwarzburg ist?«
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant«, ließ sich Schwejk vernehmen, der eine Märtyrermiene aufsetzte, »daß ich überhaupt nie im Leben die geringste Absicht gehabt hab, jemanden zu beleidigen, und daß ich überhaupt keine Idee und Ahnung von einem Herrn Generalmajor gehabt hab. Er ist wirklich der ganze Herr Purkrabek, Vertreter der Bank ›Slawia‹. Der is zu uns ins Wirtshaus gegangen, und einmal, wie er beim Tisch eingeschlafen is, hat ihm ein Wohltäter mit Tintenstift auf seine Glatze geschrieben: ›Wir erlauben uns, Ihnen hiermit auf Grund der beigelegten Drucksorte III c. höflich die Erwerbung einer Mitgift und Aussteuer für Ihre Kinder mittels einer Lebensversicherung anzubieten!‹ Versteht sich, daß alle weggegangen sind, und ich bin mit ihm allein dortgeblieben, und weil ich immer Pech hab, so hat er sich dann, wie er aufgekommen is und sich in den Spiegel geschaut hat, aufgeregt und gedacht, daß ich es gemacht hab und hat mir auch paar Ohrfeigen geben wolln.«
Das Wörtchen »auch« floß so ergreifend weich und vorwurfsvoll von Schwejks Lippen, daß die Hand des Oberleutnants herabsank.
Aber Schwejk fuhr fort: »Wegen so einem kleinen Irrtum hat sich der Herr Generalmajor nicht aufregen müssen, er sollt wirklich 60 000 bis 70 000 Haare ham, wies in dem Artikel gestanden is, wo aufgezählt war, was ein normaler Mensch alles ham soll. Mir is nie im Leben eingefallen, daß ein kahlköpfiger Herr Generalmajor überhaupt existiert. Das is, wie man sagt, ein tragischer Irrtum, der jedem passieren kann, wenn einer eine Bemerkung macht und der andre sich gleich an sie klammert. Da hat uns mal vor Jahren der Schneider Hyvl erzählt, wie er aus dem Ort, wo er in Steiermark geschneidert hat, über Leoben nach Prag gefahren is und einen Schinken mitgehabt hat, was er sich in Marburg gekauft hat. Wie er so im Zug fährt, hat er sich gedacht, daß er überhaupt der einzige Tscheche zwischen den Passagieren is, und wie er bei Sankt Moritz angefangen hat, den ganzen Schinken anzuschneiden, so hat der Herr, der gegenüber gesessen is, angefangen, auf den Schinken verliebte Augen zu machen, und der Speichel hat angefangen, ihm ausm Maul zu laufen. Wie der Schneider Hyvl das gesehen hat, hat er auf tschechisch laut zu sich gesagt: ›Das möchtest du fressen, du Mistvieh du.‹ Und der Herr antwortete ihm auf tschechisch: ›Freilich möcht ichs fressen, wenn du mir was geben möchtest.‹ So ham sie den Schinken zusamm aufgefressen, bevor sie nach Budweis gekommen sind. Der Herr hat Adalbert Rous geheißen.«
Oberleutnant Lukasch blickte Schwejk an und verließ das Kupee. Kaum daß er wieder auf seinem alten Platz saß, zeigte sich in der Tür das aufrichtige Gesicht Schwejks.
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, wir sind in fünf Minuten in Tabor. Der Zug hält fünf Minuten. Befehlen Sie nicht, was zum Essen zu bestellen? Vor Jahren ham sie hier sehr gute . . .«
Der Oberleutnant sprang wütend auf und sagte auf dem Gang zu Schwejk: »Ich mach Sie noch einmal darauf aufmerksam, je weniger Sie sich zeigen, desto glücklicher bin ich. Am liebsten wär mir, wenn ich Sie überhaupt nicht mehr sehen würde, und sein Sie versichert, daß ich dafür sorgen werde. Kommen Sie mir überhaupt nicht unter die Augen. Verlieren Sie sich aus meinem Gesichtskreis, Sie Rindvieh, Sie Blödian.«
»Zu Befehl, Herr Oberlajtnant.«
Schwejk salutierte, machte mit militärischem Schritt kehrt und ging ans Ende des Ganges, wo er sich im Winkel auf den Sitz des Schaffners setzte und mit einem Eisenbahner ein Gespräch anknüpfte: »Kann ich Sie, mit Verlaub, etwas fragen?«
Der Eisenbahner, der offenbar keine Lust zu einem Gespräch hatte, nickte schwach und apathisch mit dem Kopf.
»Zu mir«, redete Schwejk drauflos, »pflegte ein braver Mensch zu kommen, ein gewisser Hofmann, und der hat immer behauptet, daß die Alarmsignale nie was taugen, kurz und gut, daß sie, wenn man diesen Griff da zieht, nicht funktionieren. Ich hab mich, aufrichtig gesagt, nie darum gekümmert, aber wenn mir schon dieser Alarmapparat hier ins Aug gefallen is, so möcht ich gern wissen, woran ich bin, wenn ichs zufällig mal brauchen sollt.«
Schwejk stand auf und trat mit dem Eisenbahner zu der Notbremse: »In Gefahr.«
Der Eisenbahner hielt es für seine Pflicht, Schwejk zu erklären, worin der ganze Mechanismus des Alarmapparates besteht: »Das hat er Ihnen richtig gesagt, daß man diesen Griff ziehn muß, aber er hat gelogen, daß es nicht funktioniert. Immer bleibt der Zug stehn, weil der Apparat über alle Waggons mit der Lokomotive verbunden is. Die Notbremse muß funktionieren.«
Beide hatten dabei die Hände auf dem Griff der Bremse, und es ist wahrlich ein Rätsel, wie es geschah, daß sie daran zogen und der Zug stehenblieb.
Sie konnten auch nicht darüber einig werden, wer es eigentlich getan und das Alarmsignal gegeben hatte.
Schwejk behauptete, er habe es nicht sein können, er habe es nicht getan, er sei kein Gassenbub.
»Ich wunder mich selbst darüber«, sagte er gutmütig, »warum der Zug plötzlich stehengeblieben is. Er fährt, und auf einmal steht er. Mich verdrießts mehr als Sie.«
Irgendein ernster Herr ergriff die Partei des Eisenbahners und behauptete, er habe gehört, wie der Soldat als erster ein Gespräch über Alarmsignale begonnen habe.
Schwejk hingegen redete ununterbrochen von seiner Ehrlichkeit, er habe kein Interesse an einer Zugverspätung, denn er fahre in den Krieg.
»Der Herr Stationsvorstand wird es Ihnen schon klarmachen«, entschied der Schaffner. »Das wird Sie zwanzig Kronen kosten.«
Inzwischen konnte man die Reisenden aus den Waggons kriechen sehen, der Zugführer pfiff, eine Frau rannte erschrocken mit einem Reisekoffer über die Strecke in die Felder.
»Das steht wirklich für zwanzig Kronen«, sagte Schwejk, der vollständig ruhig geblieben war, aufrichtig, »das is noch sehr billig. Einmal, wie Seine Majestät der Kaiser in Zižkov auf Besuch war, hat ein gewisser Franta Schnor seinen Wagen angehalten, indem er vor Seiner Majestät dem Kaiser in der Fahrbahn auf die Knie gefallen is. Dann hat der Polizeikommissär aus diesem Rayon zu Herrn Schnor weinend gesagt, daß er ihm das nicht in seinem Rayon hätt machen solln, daß ers um eine Gasse tiefer hätt machen solln, was schon zum Polizeirat Kraus gehört, daß er dort hätt seine Huldigung bezeugen solln. Dann hat man diesen Herrn Schnor eingesperrt.«
Schwejk blickte gerade prüfend umher, als der Oberschaffner den Kreis der Zuhörer erweiterte.
»No, jetzt könnten wir schon weiterfahren«, sagte Schwejk, »es ist nicht angenehm, wenn der Zug sich verspätet. Wenns im Frieden wär, na dann mit Gott, aber wenn Krieg is, so soll jeder wissen, daß in jedem Zug Militärpersonen, Generalmajore, Oberlajtnants, Burschen fahren. Eine jede solche Verspätung is eine hinterlistige Sache. Napoleon hat sich bei Waterloo um fünf Minuten verspätet, und sein ganzer Ruhm war beim Teufel.«
In diesem Augenblick drängte sich Oberleutnant Lukasch durch die Gruppe der Zuhörer. Er war fürchterlich blaß und konnte nichts anderes aus sich hervorstoßen als: »Schwejk!«
Schwejk salutierte und ließ sich vernehmen:
»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, man hats auf mich geschoben, daß ich den Zug angehalten hab. Das Eisenbahn-Ärar hat sehr komische Plomben bei den Notbremsen. Man soll ihnen lieber gar nicht in die Nähe kommen, sonst kommt ein Malör heraus, und man kann zwanzig Kronen von einem verlangen, wie von mir.«
Der Oberschaffner war schon draußen, gab ein Signal, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Die Zuhörer begaben sich auf ihre Plätze in den Kupees. Oberleutnant Lukasch sagte kein Wort mehr und ging ebenfalls auf seinen Platz.
Nur der Schaffner und der Eisenbahner blieben zurück. Der Schaffner zog ein Notizbuch hervor und stellte einen Bericht über den ganzen Vorfall zusammen. Der Eisenbahner blickte gehässig auf Schwejk, der ruhig fragte: »Sind Sie schon lange bei der Bahn?«
Da der Eisenbahner nicht antwortete, erklärte Schwejk, er habe einen gewissen Mlitschka Franz aus Ouřinowetz bei Prag gekannt, der auch einmal so eine Notbremse gezogen habe und so erschrocken sei, daß er für vierzehn Tage die Sprache verloren und sie erst dann wiedergewonnen habe, als er zu einem gewissen Waněk, Gärtner in Hostiwarsch, zu Besuch gekommen sei und sich dort gerauft habe, wobei an ihm ein Ochsenziemer zerbrochen wurde: »Das is«, fügte Schwejk hinzu, »im Jahre 1912 im Mai geschehn.«
Der Eisenbahner öffnete die Tür zum Klosett und sperrte sich darin ein.
Zurück blieb der Zugführer mit Schwejk; er verlangte von diesem zwanzig Kronen Strafe, wobei er betonte, daß er ihn im umgekehrten Fall in Tabor dem Stationsvorstand vorführen müsse.
»Gut«, sagte Schwejk, »ich spreche gern mit gebildeten Leuten, und mich wirds sehr freun, wenn ich den Stationsvorstand von Tabor sehn wer.«
Schwejk zog aus der Bluse eine Pfeife hervor, zündete sich sie an, und indem er den scharfen Rauch des Kommißtabaks von sich blies, fuhr er fort: »Vor Jahren gabs in Zittau einen Stationsvorstand namens Wagner. Der war ein Leuteschinder zu seinen Untergebenen und hat sie sekkiert, wo er konnt, und am meisten hat er sich auf einen gewissen Weichenwärter Jungwirt verlegt, bis sich der Arme aus Verzweiflung im Fluß ertränkt hat. Bevor er das aber gemacht hat, hat der dem Stationsvorstand einen Brief geschrieben, daß es in der Nacht bei ihm spuken wird. Aber ich lüg Ihnen nicht. Er hats ausgeführt. Der liebe Vorstand sitzt in der Nacht beim Telegrafenapparat, die Glocken ertönen und der liebe Vorstand nimmt ein Telegramm in Empfang: ›Wie gehts dir, gemeiner Kerl? Jungwirt.‹ Die ganze Woche hats gedauert, und der Vorstand hat angefangen nach allen Seiten Diensttelegramme zu schicken, als Antwort für das Gespenst: ›Verzeihs mir, Jungwirt.‹ Und in der Nacht drauf hat ihm der Apparat folgende Antwort geklopft: ›Häng dich auf dem Semaphor bei der Brücke auf. Jungwirt.‹ Und der Herr Vorstand hat gefolgt. Dann hat man den Telegrafisten von der Station vor Morgengrauen eingesperrt. Sehn Sie, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir nicht mal eine Ahnung ham.«
Der Zug fuhr in den Taborer Bahnhof ein, und bevor Schwejk in Begleitung des Schaffners aus dem Zug trat, meldete er, wie sichs gebührt, Oberleutnant Lukasch: »Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß man mich zum Stationsvorstand bringt.«
Oberleutnant Lukasch antwortete nicht. Eine vollständige Apathie allem gegenüber hatte ihn erfaßt. Wie ein Blitz fuhr es ihm durch den Kopf, daß es am besten sei, auf alles zu pfeifen. Auf Schwejk genauso wie auf den kahlköpfigen Generalmajor gegenüber. Ruhig sitzen, in Budweis aus dem Zug steigen, sich in der Kaserne melden und mit einem Marschbataillon an die Front fahren. An der Front sich gegebenenfalls erschlagen lassen und diese elende Welt loswerden, in der sich eine Kanaille herumtreibt wie dieser Schwejk.
Als der Zug sich in Bewegung setzte, schaute der Oberleutnant aus dem Fenster. Er sah Schwejk auf dem Perron stehen, in ein ernstes Gespräch mit dem Stationsvorstand vertieft. Schwejk war von einer Menschengruppe umgeben, in der sich auch einige Eisenbahnbeamte in Uniform befanden.
Oberleutnant Lukasch atmete auf. Es war kein Seufzer des Bedauerns. Ihm war leicht ums Herz, weil Schwejk auf dem Perron geblieben war. Sogar der kahlköpfige Generalmajor schien ihm kein so widerliches Scheusal mehr zu sein.
Der Zug keuchte schon längst Budweis zu, aber auf dem Perron wurden der Leute um Schwejk herum nicht weniger.
Schwejk sprach von seiner Unschuld und überzeugte die Menge so, daß eine Frau sich äußerte: »Schon wieder sekkiert man hier einen Soldaten.«
Die Menge schloß sich dieser Meinung an, und ein Herr wandte sich an den Stationsvorstand mit der Erklärung, daß er für Schwejk die zwanzig Kronen Strafe bezahlen werde. Er sei überzeugt, daß der Soldat es nicht getan habe.
»Schaut euch ihn an«, folgerte er aus dem unschuldigen Gesichtsausdruck Schwejks, der, zu der Menge gewandt, erklärte: »Ich bin unschuldig, Leutl.«
Dann tauchte ein Gendarmeriewachtmeister auf, zog einen Bürger aus der Menge, verhaftete ihn und führte ihn ab mit den Worten: »Dafür wern Sie sich verantworten, ich wer Ihnen zeigen, die Leute aufzuwiegeln und ihnen sagen, daß niemand verlangen kann, daß Österreich gewinnt, wenn man so mit Soldaten umgeht.«
Der unglückliche Bürger schwang sich zu nichts anderem auf als zu der aufrichtigen Behauptung, er sei doch ein Fleischermeister von der alten Garde und habe es nicht so gemeint.
Inzwischen bezahlte der gute Mann, der an Schwejks Unschuld glaubte, für diesen in der Kanzlei die zwanzig Kronen und führte ihn in die Restauration dritter Klasse, wo er ihn mit Bier bewirtete; und als er feststellte, daß sich sämtliche Legitimationen sowie die Fahrkarte Schwejks bei Oberleutnant Lukasch befanden, schenkte er ihm großmütig einen Fünfer für eine Fahrkarte und weitere Ausgaben.
Als er ging, sagte er vertraulich zu Schwejk: »Also, lieber Soldat, wie gesagt, bis Sie in Rußland in Gefangenschaft sein wern, so grüßen Sie mir den Bräuer Zeman in Zdolbunow. Sie hams doch aufgeschrieben, wie er heißt. Sein Sie nur gescheit, damit Sie nicht lang an der Front sind.«
»Da müssen Sie keine Angst haben«, sagte Schwejk, »es is immer interessant, eine fremde Gegend umsonst kennenzulernen.«
Schwejk blieb allein am Tisch sitzen, und während er still den Fünfer des edlen Wohltäters vertrank, erzählten einander auf dem Perron die Leute, die bei der Unterredung Schwejks mit dem Stationsvorstand nicht zugegen gewesen waren und die Menschenmenge nur von weitem gesehen hatten, man hätte einen Spion gefangen, der den Bahnhof fotografiert habe, was eine Frau jedoch mit der Behauptung widerlegte, es handle sich um keinen Spion, sondern sie habe gehört, wie ein Dragoner einen Offizier beim Damenklosett verprügelt habe, weil der Offizier der Liebsten des Dragoners, die diesen begleitet habe, nachgekrochen sei.
Diesen abenteuerlichen Kombinationen, die die Kriegsnervosität charakterisierten, tat die Gendarmerie Einhalt, indem sie den Perron räumte. Und Schwejk trank still weiter, wobei er zärtlich des Oberleutnants gedachte. Was wird er wohl machen, bis er nach Budweis kommt und im ganzen Zug seinen Diener nicht findet?
Vor der Ankunft des Personenzuges füllte sich das Restaurant dritter Klasse mit Soldaten und Zivilisten. Vorwiegend waren es Soldaten verschiedener Regimenter und verschiedenster Nationen. Der Kriegssturm hatte sie in die Lazarette verweht, und sie fuhren jetzt neuerdings ins Feld, um sich neue Verletzungen, Verstümmelungen und Schmerzen zu holen und ein einfaches Holzkreuz über ihrem Grab zu erwerben, auf dem noch nach Jahren in den traurigen Ebenen Ostgaliziens in Wind und Regen eine verblaßte österreichische Soldatenmütze mit verrostetem »Franzl« flattern sollte; auf ihr wird sich von Zeit zu Zeit ein alter Rabe niederlassen und der einstigen fetten Gelage und des unendlichen gedeckten Tisches voll wohlschmeckender Leichen und Pferdekadaver gedenken.
Wird daran denken, wie er just unter so einer Kappe, wie der, auf der er jetzt sitzt, den schmackhaftesten Bissen fand – menschliche Augen.
Einer von diesen Leidenskameraden, der nach einer Operation aus dem Militärlazarett entlassen worden war, in schmutziger Uniform mit Spuren von Blut und Kot, setzte sich zu Schwejk. Er war irgendwie eingeschrumpft, abgemagert, traurig. Er legte ein kleines Paket auf den Tisch, zog eine zerrissene Geldbörse aus der Tasche und überzählte sein Geld.
Dann schaute er Schwejk an und fragte: »Magyarul?«
»Ich bin Tscheche, Kamerad«, erwiderte Schwejk, »willst du trinken?«
»Nem tudom, barátom.«
»Das macht nichts, Kamerad«, nötigte ihn Schwejk, sein volles Glas vor den traurigen Soldaten stellend, »trink nur ordentlich.« Der Soldat begriff, trank, dankte: »Köszönöm szivesen«, und fuhr fort, den Inhalt seiner Geldbörse zu untersuchen. Zum Schluß stand er auf und seufzte; Schwejk begriff, daß der Magyar sich gern ein Bier geben lassen würde und nicht genug Geld hatte; deshalb bestellte er ihm eines, worauf der Magyar abermals dankte und versuchte, Schwejk mit Hilfe von Grimassen etwas zu erklären, indem er in einer internationalen Sprache sagte: »Pif, paf, puz!«
Schwejk schüttelte teilnahmsvoll den Kopf, und der Rekonvaleszent teilte ihm noch mit, während er die Linke einen halben Meter hoch über die Erde hielt und dann drei Finger hob, daß er drei kleine Kinder habe.
»Nintsch ham, nintsch ham«, fuhr er fort, womit er sagen wollte, daß sie zu Hause nichts zu essen hatten, und trocknete sich die Augen, aus denen Tränen flossen, mit dem schmutzigen Ärmel seines Militärmantels, in den die Kugel, die ihm für den magyarischen König in den Leib gefahren war, ein Loch gerissen hatte.
Es war nicht überraschend, daß Schwejk bei einer solchen Unterhaltung allmählich nichts von dem Fünfer übrigblieb und daß er sich langsam aber sicher von Budweis abschnitt, denn mit jedem Glas Bier, das er für sich oder den magyarischen Rekonvaleszenten bestellte, verlor er immer mehr die Möglichkeit, eine Soldatenfahrkarte lösen zu können.
Wiederum passierte ein Zug nach Budweis die Station, und Schwejk saß fortwährend beim Tisch und hörte zu, wie der Magyar sein »Pif, paf, puz! Három gyermek, nintsch ham, éljen!« wiederholte.
Das letzte sagte der Soldat, wenn Schwejk mit ihm anstieß.
»Trink nur, Junge, magyarischer«, antwortete Schwejk, »sauf, ihr möchtet uns nicht so bewirten . . .«
Am Nebentisch sagte ein Soldat, daß die Magyaren, als das tschechische 28. Regiment nach Szegedin gekommen sei, mit aufgehobenen Händen auf sie gezeigt hatten.
Das war heilige Wahrheit, aber der Sprecher fühlte sich durch das, was später eine gewöhnliche Erscheinung bei allen tschechischen Soldaten war und was die Magyaren schließlich selbst taten, als die Balgerei im Interesse des ungarischen Königs ihnen zu gefallen aufhörte, offenbar beleidigt.
Er setzte sich ebenfalls zu Schwejk und erzählte, wie sie den Magyaren in Szegedin zugesetzt und sie aus einigen Wirtshäusern herausgeprügelt hatten. Dabei erklärte er anerkennend, daß die Magyaren sich aufs Raufen verstehen und daß er einen Messerstich in den Rücken erhalten habe, so daß man ihn in die Etappe zur Behandlung schicken mußte.
Jetzt aber, nach seiner Rückkehr, würde der Hauptmann von seinem Bataillon ihn wahrscheinlich einsperren lassen, denn er habe keine Zeit mehr gehabt, dem Magyaren den Stich, wie sichs gebührt, zurückzugeben, damit der Lump auch was davon habe und die Ehre des ganzen Regiments gerettet sei.
»Ihre Dokumente, waschi tokument?« So hübsch redete Schwejk der Kommandant der Militärkontrolle, ein von vier Soldaten mit Bajonetten gefolgter Feldwebel, in gebrochenem Tschechisch an; »ich seh Sie sitzen, nicht fahren, sitzen, trinken, fort trinken!«
»Ich hab keine, Milatschku!«Liebling. antwortete Schwejk; »Herr Oberlajtnant Lukasch, Regiment Nummer 91, hat sie mitgenommen, und ich bin hier auf dem Bahnhof geblieben.«
»Was bedeutet das: ›Milatschku‹?« wandte sich der Feldwebel an einen seiner Soldaten, einen alten Landwehrmann, der seinem Feldwebel allen Anschein nach alles zu Trotz machte, denn er sagte ruhig:
»Milatschek, das is wie: Herr Feldwebel!«
Der Feldwebel setzte die Unterredung mit Schwejk fort:
»Dokumente hat jeder Soldat, ohne Dokumente wird so ein Lauskerl auf dem Bahnhofskommando eingesperrt wie ein toller Hund.«
Man führte Schwejk zum Bahnhofskommando, wo in der Wachstube die Mannschaft saß, die ebenso aussah wie der alte Landwehrmann, der das Wort »Milatschek« seinem angeborenen Feind, der Feldwebelobrigkeit, so hübsch ins Deutsche zu übersetzen verstand.
Die Wachstube war mit Lithographien geschmückt, die das Kriegsministerium in jener Zeit an alle Kanzleien verschicken ließ. Den braven Soldaten Schwejk begrüßte ein Bild, das, der Aufschrift nach zu schließen, darstellte, wie der Zugführer Franz Hammel und die Feldwebel Paulhart und Buchmayer vom k. k. 21. Schützenregiment die Mannschaft zum Ausharren anspornen. Auf der andern Seite hing ein Bild mit der Aufschrift: »Zugführer Jan Danko vom 5. Regiment der Honvédhusaren kundschaftet die Stellung einer feindlichen Batterie aus.«
Auf der rechten Seite, etwas niedriger, hing ein Plakat: Seltene Beispiele von Tapferkeit.
Mit solchen Plakaten, deren erfundene Beispiele in den Kanzleien des Kriegsministeriums von diversen eingezogenen deutschen Journalisten verfaßt wurden, wollte das alte blöde Österreich die Soldaten begeistern, die diese Plakate niemals lasen; und wenn man ihnen solche großartigen Beispiele von Tapferkeit in Buchform an die Front schickte, drehten sie sich aus den Blättern Zigarettenhülsen für Pfeifentabak oder verwendeten sie noch zweckmäßiger, wie dies dem Wert und Geist dieser erfundenen großartigen Beispiele von Mut entsprach.
Während der Feldwebel einen Offizier suchte, las Schwejk auf dem Plakat:
Trainsoldat Josef Bong
Die Soldaten des Sanitätskorps schafften Schwerverwundete zu den Wagen, die in einem gedeckten Hohlweg bereitstanden. Sobald dieselben voll waren, fuhr man mit ihnen auf den Verbandsplatz. Die Russen, die diese Wagen bemerkten, fingen an, sie mit Granaten zu belegen. Das Pferd des Trainsoldaten Josef Bong von der k. und k. 3. Trainschwadron wurde von einem Granatsplitter getötet. Bong jammerte: »Mein armer Schimmel, es ist aus mit dir.« In diesem Augenblick wurde er selbst von einer Granate erfaßt. Trotzdem spannte er sein Pferd aus und zog das Dreigespann in ein sicheres Versteck. Hierauf kehrte er zurück, um das Geschirr seines getöteten Pferdes zu holen. Die Russen schossen ununterbrochen. »Schießt nur, verdammte Wüteriche, ich lass' das Geschirr nicht hier!« Mit diesen Worten nahm er dem Pferd das Geschirr ab. Endlich war er fertig und schleppte das Geschirr zurück zum Wagen. Hier mußte er wegen seines langen Ausbleibens ein Donnerwetter der Sanitätssoldaten über sich ergehen lassen: »Ich wollte das Geschirr nicht dortlassen, es ist beinahe neu. Es wäre schade darum, dachte ich mir. Wir haben keinen Überfluß an solchen Dingen«, entschuldigte sich der tapfere Krieger und fuhr zum Verbandsplatz, wo er sich erst dann verwundet meldete. Sein Rittmeister schmückte später die Brust des heldenmütigen Soldaten mit der silbernen Tapferkeitsmedaille.
Als Schwejk zu Ende gelesen hatte, und der Feldwebel noch immer nicht zurückkehrte, sagte er zu den Landwehrmännern in der Wachstube: »Das ist ein sehr schönes Beispiel von Tapferkeit, so wern bei uns in der Armee lauter neue Pferdegeschirre sein, aber wie ich in Prag war, so hab ich im Prager Amtsblatt noch einen hübschen Fall von einem Einjährigfreiwilligen namens Doktor Josef Vojnov gelesen. Der war in Galizien beim siebten Feldjägerbataillon, und wies zum Bajonettkampf gekommen is, so hat er eine Kugel gekriegt, und wie sie ihn aufn Verbandsplatz getragen ham, hat er sie angebrüllt, er wird sich nicht wegen so einer Schramme verbinden lassen. Und hat wieder gleich mit seinem Zug vorrücken wolln, aber eine Granate hat ihm den Knöchel abgehaut. Wieder ham sie ihn wegtragen wolln, aber da hat er angefangen auf Krücken zur Kampflinie zu humpeln und hat sich mitm Stock gewehrt, und eine neue Granate is geflogen gekommen und reißt ihm die Hand ab, in der er den Stock gehalten hat. Er hat den Stock in die andre Hand genommen, hat gebrüllt, daß er ihnen das nicht verzeiht, und Gott weiß, wie das mit ihm ausgefalln wär, wenn ihn nicht ein Schrapnell bald darauf definitiv umgebracht hätt. Möglich, daß er, wenn sie ihn zum Schluß nicht doch umgebracht hätten, auch die silberne Tapferkeitsmedaille gekriegt hätt. Weils ihm den Kopf abgerissen hat, so hat er, wie er gekollert is, noch gerufen: ›Tu immer treulich deine Pflicht, und wenn dein Aug auch dabei bricht.‹«
»Die schreiben was zsamm in den Zeitungen«, sagte einer von der Mannschaft, »aber so ein Redakteur wär in einer Stunde davon ganz blöd!«
Der Landwehrmann spuckte aus: »Bei uns in Tschaslau war ein Redakteur aus Wien, ein Deutscher. Er hat als Fähnrich gedient. Mit uns wollt er nicht mal tschechisch sprechen, aber wie man ihn zur Marschkompanie zugeteilt hat, wo lauter Tschechen waren, hat er gleich Tschechisch gekonnt.«
In der Tür erschien der Feldwebel, schaute wütend drein und legte los:
»Wenn man drei Minuten weg is, da hört man nichts anderes als: česki, česki.«
Während er hinausging – augenscheinlich in die Restauration –, sagte er dem Landwehrkorporal, auf Schwejk weisend, er möge diesen lausigen Lumpen, sobald der Leutnant kommen würde, zu ihm führen.
»Der Herr Lajtnant unterhält sich bestimmt wieder mit der Telegrafistin«, sagte der Korporal, als der Feldwebel gegangen war, »er lauft ihr schon seit vierzehn Tagen nach und is immer sehr fuchtig, wenn er vom Telegrafenamt zurückkommt, und sagt immer: ›Is das aber eine Hur, sie will nicht und nicht mit mir schlafen.‹«
Auch diesmal war er in so fuchtiger Laune, denn als er etwas später eintrat, konnte man ihn mit Büchern auf dem Tisch herumwerfen hören.
»Es nützt nichts, Junge, du mußt zu ihm«, sagte der Korporal teilnahmsvoll zu Schwejk, »durch seine Hände sind schon viele Leute gegangen, alte und junge Soldaten.«
Und schon führte er Schwejk in die Kanzlei, wo hinter einem Tisch mit zerworfenen Papieren ein junger Leutnant saß, der sich wie ein Wüterich gebärdete.
Als er Schwejk mit dem Korporal erblickte, brachte er überaus vielversprechend hervor: »Aha!« Worauf der Korporal meldete:
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, dieser Mann is auf dem Bahnhof ohne Dokumente aufgefunden worden.«
Der Leutnant nickte mit dem Kopf, als wolle er ausdrücken, daß er bereits vor Jahren vorausgesetzt habe, daß man an diesem Tag und zu dieser Stunde Schwejk ohne Dokumente auf dem Bahnhof finden werde, denn wer Schwejk in diesem Augenblick betrachtete, mußte den Eindruck gewinnen, es sei überhaupt nicht möglich, daß ein Mann mit einem solchen Gesicht und so einer Gestalt irgendwelche Dokumente bei sich haben könne. Schwejk sah in diesem Augenblick aus, als sei er von einem Planeten gefallen und blicke jetzt naiv erstaunt auf die neue Welt, wo man von ihm eine ihm bisher unbekannte Dummheit verlangte wie Dokumente.
Der Leutnant nickte mit dem Kopf, als wolle er sagen, Schwejk möge sich äußern und ihm andeuten, wonach der Leutnant ihn fragen solle.
Schließlich fragte er: »Was haben Sie auf dem Bahnhof gemacht?«
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, ich hab auf den Zug nach Budweis gewartet, damit ich zu meinem 91. Regiment komm, wo ich Bursch bin beim Herrn Oberlajtnant Lukasch, den ich zu verlassen gezwungen war, weil ich wegen einer Strafe dem Stationsvorstand vorgeführt worden bin, weil ich verdächtig war, daß ich den Schnellzug, in dem wir gefahren sind, mittels der Alarmbremse zum Stehn gebracht hab.«
»Davon werde ich verrückt«, begann der Leutnant zu schreien, »erzählen Sie es mir zusammenhängend und kurz, und quatschen Sie keinen Blödsinn.«
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, daß wir schon von dem Moment, wo wir uns mit dem Herrn Oberlajtnant Lukasch in den Schnellzug gesetzt ham, der uns so schnell wie möglich zum 91. k. k. Infanterieregiment bringen sollt, Pech gehabt ham. Zuerst is uns ein Koffer verlorengegangen, dann wieder, damit wir Abwechslung ham, hat irgendein Generalmajor mit einer Riesenglatze . . .«
»Himmel Herrgott«, seufzte der Leutnant.
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, daß es aus mir heraus muß wie aus einer haarigen Decke, damit wir eine Übersicht von der ganzen Begebenheit ham, wies immer der selige Schuster Petrlik gesagt hat, wenn er seinem Jungen befohlen hat, er soll sich die Hosen ausziehn.«
Und während der Leutnant stöhnte, fuhr Schwejk fort:
»Also ich hab diesem kahlköpfigen Herrn Generalmajor nicht gefalln und bin vom Oberleutnant Lukasch, bei dem ich Bursch bin, hinaus auf den Gang geschickt worn. Aufm Gang bin ich dann beschuldigt worn, daß ich das gemacht hab, was ich Ihnen schon gesagt hab. Bevor man die Sache in Ordnung gebracht hat, bin ich allein am Perron geblieben. Der Zug war weg, der Herr Oberlajtnant samt den Koffern mit allen seinen und meinen Dokumenten war auch weg, und ich bin hier ohne Dokumente klebengeblieben wie ein Waisenknabe.«
Schwejk schaute den Leutnant rührend und sanft an; es ward nunmehr vollkommen klar, daß der Kerl, der den Eindruck eines Idioten von Geburt an machte, die volle Wahrheit sprach.
Der Leutnant zählte Schwejk alle Züge auf, die nach dem Schnellzug nach Budweis abgefahren waren, und richtete an ihn die Frage, warum er diese Züge versäumt habe.
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant«, antwortete Schwejk gutmütig lächelnd, »daß mir unterdessen, was ich auf den nächsten Zug gewartet hab, das Malör passiert is, daß ich am Tisch ein Bier nach dem andern getrunken hab.«
So einen Ochsen hab ich noch nicht gesehn, dachte der Leutnant, er gesteht alles ein. Wie viele habe ich schon hier gehabt und jeder hat geleugnet, und der hier sagt ruhig: »Ich habe alle Züge versäumt, weil ich ein Bier nach dem andern getrunken hab.«
Diese Erwägungen faßte er in einem Satz zusammen: »Sie sind degeneriert, Mensch. Wissen Sie, was das ist, wenn man von jemandem sagt, daß er degeneriert ist?«
»Bei uns an der Ecke vom Bojischti und der Katarinengasse, melde gehorsamst, Herr Lajtnant, war auch ein degenerierter Mensch. Sein Vater war ein polnischer Graf und die Mutter war Hebamme. Er hat die Straßen gekehrt, und anders hat er sich in den Butiken nicht sagen lassen als Herr Graf.«
Dem Leutnant schien es angezeigt, die ganze Sache auf irgendeine Art zu beenden, deshalb sagte er nachdrücklich: »Also ich sage Ihnen, Sie Dummkopf, Sie Esel, Sie werden zur Kassa gehn, eine Karte kaufen und nach Budweis fahren. Wenn ich Sie hier noch erblicke, werde ich mit Ihnen verfahren wie mit einem Deserteur. Abtreten!«
Da Schwejk sich nicht rührte und die Hand ununterbrochen am Schild der Mütze hielt, brüllte der Leutnant: »Marsch hinaus, haben Sie nicht gehört, abtreten? Korporal Palanek, führen Sie diesen blöden Kerl zur Kassa und kaufen Sie ihm eine Karte nach Budweis!«
Korporal Palanek erschien bald darauf abermals in der Kanzlei. Durch die halbgeöffnete Tür guckte hinter Palanek das gutmütige Gesicht Schwejks hinein.
»Was gibts schon wieder?«
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant«, flüsterte Korporal Palanek geheimnisvoll, »er hat kein Geld für die Bahn und ich auch nicht. Umsonst will man ihn nicht fahren lassen, weil er nicht die Militärdokumente hat, daß er zum Regiment fährt.«
Der Leutnant ließ nicht lange auf seine salomonische Lösung dieser traurigen Frage warten.
»Also soll er zu Fuß gehn«, entschied er, »soll man ihm beim Regiment einsperren, weil er sich verspätet hat; wer wird sich hier mit ihm abgeben.«
»Es nützt nichts, Kamerad«, sagte Korporal Palanek zu Schwejk, als er aus der Kanzlei trat, »du mußt zu Fuß nach Budweis gehn, mein Lieber. Wir ham dort im Wachzimmer einen Laib Kommißbrot, den wern wir dir auf den Weg mitgeben.«
Und eine halbe Stunde später, nachdem sie Schwejk noch mit schwarzem Kaffee bewirtet und ihm nebst dem Kommißbrot auch ein Paket Militärtabak auf den Marsch zum Regiment mitgegeben hatten, verließ Schwejk Tabor in dunkler Nacht, durch die sein Gesang erscholl:
»Als wir nach Jaroměř zogen,
glaubt nur nicht, es sei erlogen . . .«
Und der Teufel weiß, wie es geschah, daß der brave Soldat Schwejk statt nach Süden gegen Budweis ununterbrochen geradewegs gegen Westen marschierte.
Er schritt, in seinen Militärmantel gehüllt, im Frost über die verschneite Landstraße, wie der Letzte von Napoleons Garde, als sie von Moskau zurückkehrte, nur mit dem Unterschied, daß er lustig sang:
»Ich ging fröhlich vor die Stadt,
in die grünen Wälder.«
Und in den verschneiten Wäldern, in der nächtlichen Stille erscholl brausend das Echo, daß in den Dörfern die Hunde zu bellen begannen.
Als ihn das Singen nicht mehr freute, setzte sich Schwejk auf einen Schotterhaufen und zündete sich die Pfeife an; und als er nicht mehr müde war, zog er weiter, neuen Abenteuern, der Budweiser Anabasis entgegen.