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Zehntes Kapitel

Diese Überfahrt auf der »Scotia« von New York nach Liverpool war eine gottgesegnete Atempause. Ich kam an Bord mit zerrütteten Nerven, von Gewissensbissen zerquält, durch Erinnerungen an einen unwiederbringlichen Verlust, den Verlust von Freundschaft und Liebe, gemartert. Es war mir, als ob ich mit den Wurzeln herausgerissen worden wäre und dem Elend und dem Tod preisgegeben. Sobald ich jedoch an Bord kam und wir das Land hinter uns ließen, begann die göttliche Heilkraft der Natur zu wirken. Es lag etwas Beruhigendes in der verhaltenen Art der englischen Offiziere, ich las Ruhe und Sympathie aus der Höflichkeit und dem Entgegenkommen der Stewards heraus, eine stille Zufriedenheit mit dem Leben klang in allen diesen Menschen und wirkte auf mich wie ein Besänftigungsmittel. Ich selbst sprach sehr wenig, aber ich hörte den Gesprächen der anderen zu, denn dies half mir meinen eigenen traurigen und bitteren Gedanken zu entfliehen und gab mir die Ruhe wieder.

Am ersten Tage ließ sich jeder wiegen, und auch ich wurde von den anderen zur Wage geschleppt. In Chicago wog ich ungefähr hundertundsechzig Pfund, jetzt stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich weniger als hundertfünfzig wog. Ich hatte in drei Tagen zehn Pfund verloren und hatte doch gegessen und getrunken wie gewöhnlich. Ich begann mir dessen bewußt zu werden, wie furchtbar die Erregung gewesen war.

Ich habe in den ersten Tagen an Bord nicht schlafen können, die Seeluft regte mich auf. In jeder Stunde wuchs auch meine Angst um Lingg. Die Überzeugung, daß ich Elsie nie wiedersehen würde, war wie ein physischer Schmerz, ein unheilbares Leid. Ich mußte immerzu an sie denken, ich fragte mich, was mit ihr wohl geschehen sein mochte, wie meine unerwartete und unerklärliche Abwesenheit auf sie gewirkt hatte. Meine Gedanken liefen immer in demselben Geleise von der Gefahr, in der Lingg schwebte, bis zu Elsies Leid, sie liefen im Kreise bei Tag und bei Nacht, wie ein wildes Tier im Käfig, bis mein armer Kopf zu schmerzen begann.

Eines Morgens sagte mir der Steward, ich sähe schlecht aus, und als ich ihm gestand, daß ich nicht schlafen konnte, gab er mir den Rat, mich an den Doktor zu wenden und ihn um ein Schlafmittel zu bitten. Ich begab mich daher auf die Suche nach dem Doktor und fand einen reizenden Menschen, einen kleinen Schotten namens Philip, dunkel und gut aussehend, sympathisch und klug, der mehr als ein Meister in seinem Berufe war. Ein Arzt beginnt mit dem Studium der Krankheiten und endet mit dem Studium seiner Patienten. Dr. Edward Philip hatte jedoch beim zweiten angefangen, obwohl er noch unter dreißig war. Er sagte mir, daß man meine Schlaflosigkeit leicht beheben könnte, und gab mir eine kleine Dosis Chloral.

Es kam mir plötzlich ein Gedanke, und ich fragte ihn, ob ich nicht eine Dosis Morphium haben könnte.

»Ich habe keinen Grund, es Ihnen zu verweigern,« sagte er, »aber Morphium hat seine Folgen«, und er zeigte mir ein kleines Fläschchen mit winzigen Morphiumtabletten.

Ich hatte an diesem Abend nichts weiter erwidert, aber ich merkte mir die Tatsache und beschloß, mich mit dem Doktor anzufreunden. Im Augenblick gab ich mich mit meiner Dosis Chloral zufrieden. Philip hatte mir gesagt, daß viel Bewegung für mich gut wäre, und so ging ich den lieben langen Tag auf Deck spazieren, und um elf Uhr war ich in meiner Kabine, und legte mich zu Bett. Ich trank eine Tasse Schokolade, nahm dann das Chloral, und als der Schlaf nicht kommen wollte, zwang ich mich, an meine Nothelfer, die beiden Kinder des Schaffners, Joon und Jooly, zu denken, an seinen großen Vaterstolz, und auf diese Weise döste ich langsam ein.

Als ich aufwachte, stand der Steward an meiner Seite.

»Sieben Uhr, mein Herr, Sie sagten mir, ich sollte Sie um sieben wecken.«

Ich fühlte mich wie neugeboren. Was für ein gottgesegnetes Geschenk der Schlaf ist! Ich stand auf und zog mich an, und von diesem Augenblick an begann meine Genesung.

Täglich pflegte ich den Doktor aufzusuchen und mit ihm zu sprechen, und geraume Zeit vor dem Ende unserer Fahrt gelang es mir, ihm die kleine Flasche mit Morphiumtabletten abzukaufen, von denen ich die eine Hälfte in einer Glasdose in meiner Hosentasche behielt und die zweite in einer kleinen Flasche in der Westentasche trug, so daß ich sie im Falle der Verhaftung sofort nehmen konnte. Ich hatte beschlossen, mich nicht lebend verhaften zu lassen, aber so seltsam es scheinen mag, ich hatte durchaus keine Angst davor. Das Leben bot mir so wenig – das Leben ohne Elsie und Lingg war eine dürre und öde Wüste –, daß ich mich nicht darum sorgte, ob es bald zu Ende ging, solange es nicht in öffentlicher Schmach auf dem Galgen sein Ende nahm. Das Gefühl, daß ich ein sicheres Mittel zur Flucht in meinen Händen hatte, gab meinen überreizten Nerven die Ruhe wieder. Im Laufe der nächsten Tage, während wir in dem klaren Sonnenlicht und der bewegten Luft mitten auf dem Ozean schaukelten, begann ich mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Tag für Tag wurde ich kräftiger, und allzu schnell sichteten wir Land. An einem schönen Maimorgen fuhren wir gegen elf Uhr den Mersey entlang in Liverpool ein. Ich war von Dr. Philip in ein ruhiges zweitklassiges Hotel gewiesen worden, und nachdem ich ihm für seine Güte gedankt hatte, ging ich ans Land. Ich hatte mich an Bord ordentlich rasieren lassen und hatte nicht die geringste Furcht, erkannt zu werden.

Ich war niemals vorher in England gewesen; die Häuser schienen mir zahllos und winzig klein. Die Lokomotiven und die Eisenbahnwagen wirkten gegenüber den Fünfzigtonnen-Güterwagen der amerikanischen Eisenbahnen wie aus der Spielzeugschachtel genommen. In Liverpool kam mir Hamburg in den Sinn, dem es in mancher Hinsicht ähnlich ist; die Engländer selbst erinnerten mich an die Deutschen und an meine Kindheit. Sie waren schlanker als meine Landsleute, etwas größer, besser aussehend, wie mir schien, besser gekleidet und bewegten sich mit größerer Sicherheit. Überall sah man einen größeren Reichtum. Diese kleine Insel war zweifellos das Zentrum eines Weltreiches.

Als ich nach dem Abendbrot in mein Hotel zurückging, nahm ich eine Abendzeitung in die Hand, und als erstes fiel mir ein Bericht aus Chicago in die Augen mit folgender Überschrift:

 

»Die Verhaftung des Anarchistenführers.«

 

Mein Herz stand still! War es Lingg? Jedes Wort des Telegramms prägte sich mit photographischer Genauigkeit in mein Hirn. Die Einzelheiten waren spärlich. Es wurden keine Namen erwähnt, aber der dürre Bericht jagte mir Angst ein. Ich wollte mehr wissen, aber ich konnte nichts weiter erfahren. Die Nacht verging in einem Wirbel erregter Gedanken. Am nächsten Morgen brachten die Zeitungen weitere Einzelheiten, aber noch immer keine Namen. Und doch schienen die Menschen in Chicago auf eine dumpfe, instinktive Weise zu fühlen, daß endlich der Polizei ein lohnender Fang gelungen war. Ich war sicher, daß es Lingg sein mußte. Die Reporter schilderten ihn als eine wilde Bestie. Wie waren sie auf diese Idee gekommen? Ich zerquälte mein Hirn. Ich las aus jeder Zeile Widerwillen und Angst heraus. Der Verhaftete hatte auf die Reporter einen außerordentlichen Eindruck gemacht, das war ohne weiteres ersichtlich. Ich konnte keinen Schlaf finden.

Ich hatte bereits in Liverpool eine Stelle entdeckt, wo alle amerikanischen Zeitungen vorhanden waren, und ging täglich hin. Eine Woche nach meiner Ankunft bekam ich die ersten Chicagoer Zeitungen. Als ich sie aufschlug, sprang mir die Überschrift entgegen: »Die Verhaftung von Louis Lingg.« Mein Atem stockte. Ich war bald imstande, mir die ganze Geschichte zu vergegenwärtigen, und ich begann die Ausdrücke der Reporter: »der waghalsige Verbreiter des Terrors, der Bombenhersteller, die wilde Bestie Lingg« zu verstehen.

Der Ober-Polizeikommissar, ein Mann namens Hermann Schüttler, verfügte nicht nur über großen Mut, sondern auch über gewaltige Körperkräfte; er hatte einst in Chicago einen Raufbold mit einem Faustschlag getötet. Als die Informationen über Lingg und seinen Aufenthalt das Polizeipräsidium erreicht hatten, wurde Schüttler angewiesen, ihn zu verhaften. Schüttler wählte sich einen Offizier namens Löwenstein zur Begleitung, und die beiden suchten die Wohnung der Frau Klein auf. Sie fanden jedoch nichts Verdächtiges und gingen wieder fort. Aber nachdem sie eine Weile miteinander beraten hatten, beschlossen sie, zurückzukehren und das ganze Haus zu durchsuchen. Während Löwenstein den vorderen Hauseingang bewachte, trat Schüttler in das Hinterzimmer ein. Dort fand er einen glattrasierten Mann vor, während Lingg nach allen Beschreibungen einen Backenbart tragen sollte. Schüttler trat jedoch an den Mann heran und fragte nach seinem Namen. In demselben Augenblick zog Lingg (ich zitiere den Polizeibericht) einen 44-Kaliber-Revolver hervor, den er in der Hosentasche verborgen hielt, und mit einem Blick wie ein Tiger legte er auf den Beamten an. Schüttler sah die Bewegung, und schnell wie ein Blitz sprang er auf Lingg zu und ergriff die Waffe.

Schüttler hielt sich für den stärksten Mann in Chicago, aber er mußte den Zeitungsreportern zugeben, daß er nie einen so furchtbaren Kampf zu bestehen hatte wie damals mit Lingg.

Er erzählte, daß Lingg ihn erwürgt hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, Linggs Daumen mit den Zähnen zu erfassen und ihn fast abzubeißen. Lingg entwand ihm den Daumen, aber gleichzeitig gelang es auch Schüttler, sich frei zu machen und nach Hilfe zu schreien. Wieder fielen die beiden übereinander her. Schüttler hielt den Lauf des Revolvers von seinem Körper ab, während Lingg ihn würgte und zur Tür schleppte. In diesem Augenblick stürzte Löwenstein in das Zimmer. Die beiden waren so ineinander verflochten, und ihre Bewegungen waren so schnell, daß er eine Weile lang nicht eingreifen konnte. Dann kam jedoch eine Gelegenheit, und er schlug mit einem Totschläger auf Linggs Kopf ein. Während Lingg bewußtlos zusammenbrach, legten sie ihm Handschellen an und nahmen ihm den Revolver ab. Sobald er wieder zu Sinnen kam, brachten sie ihn ins Polizeigewahrsam.

Seltsamerweise wußte jeder, daß die Verhaftung von Bedeutung war. Lingg hatte kein Wort gesprochen. Aber der Kampf, den er gekämpft hatte, machte einen großen Eindruck auf alle, und die bloße Gegenwart des Mannes hatte etwas so Gewaltiges, daß jeder von ihm als von dem »Führer der Terroristen« sprach.

Als ich über die ganze Geschichte nachdachte, mußte ich mich immerzu fragen, auf welche Weise Linggs Name bekannt geworden war. Auf einmal schoß es mir durch den Kopf, daß man ihn verraten haben müßte, daß Raben ihn denunziert hatte. Ich fühlte es bis in die Fingerspitzen – dieser Schuft! – Ich litt furchtbar in dieser Nacht, ich wütete gegen mich selbst, daß ich mich überhaupt je mit Raben eingelassen hatte. Es war eine Nacht der Gewissensqualen und Selbstvorwürfe.

Am nächsten Tage ging ich auf das Postamt und fand einen Brief für Willie Roberts vor. Er war von Ida. Der Brief war mit Absicht unklar gehalten, aber für mich war er verständlich genug. Ida erzählte, daß ihr Jack erkrankt sei, gefährlich krank. Sie sei in großer Sorge, hoffe jedoch auf Besserung. Er ließe mir sagen, ich möchte mein Versprechen nicht vergessen, er wünschte mich daran zu erinnern, daß kranke Menschen oft Bemerkenswertes leisten. Ida berichtete weiter, daß sie jeden Tag ins Spital ginge, dort sei ihr ganzes Leben, und es höre außerhalb der Spitalmauern für sie auf.

Damit endete der persönliche Teil des Briefes. Sie erzählte mir außerdem, daß sie einen langen Besuch einer jungen Dame erhalten habe, die ein furchtbarer Hitzkopf sei, voll unendlicher Liebe für Herrn Will. Das Mädel wisse genau, warum Will von ihr weggelaufen, sie verzeihe ihm und würde zu ihm kommen, sobald er nach ihr verlangte.

»Soweit ich Liebe überhaupt beurteilen kann, so ist dies das echte Gefühl.« Die Mutter des Mädchens sei jedoch der Ansicht, daß Will ein Tunichtgut wäre, was nur zeigt, wie wenig sie ihn zu kennen scheint. Ida hatte versprochen, jede Nachricht zu übermitteln, die Will übersenden würde. Jack fügte noch hinzu, daß R. aus Kerioth stamme.

Dies war der Hauptinhalt des Briefes. Ich sollte das Versprechen halten, mich nicht fangen zu lassen und irgendeine große Tat von Lingg erwarten. Meine Vermutung, daß Raben der Verräter war, erwies sich als richtig. Zuerst zerbrach ich mir den Kopf über den Satz, »R. stamme aus Kerioth«, bis ich darauf kam, daß Judas aus Kerioth stammte. Elsie hatte mir verziehen und würde zu mir kommen, sobald ich nach ihr verlangte. Ich konnte nichts anderes antworten, als nur, daß ich das meinen Freunden gegebene Versprechen halten würde und meine Geliebte bitten müßte, mich zu vergessen. Ich konnte es kaum über mich bringen, dies niederzuschreiben, und war nachher froh, daß Elsie meinen Entschluß nicht als endgültig betrachtete. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß ich meine Antwort auf eine so harmlose Weise abfaßte, daß sie keinen Verdacht erregen konnte, selbst wenn sie in die Hände von Bonfield oder Schüttler fallen sollte.

Je mehr ich über Idas Brief nachdachte, um so mehr wunderte ich mich über Linggs Worte, daß selbst Gefangene »bemerkenswerte Taten vollbringen können«. Sicher war er im Gefängnis machtlos, um Gutes oder Böses zu tun, denn warum hätte er sonst so verzweifelt um die Freiheit gekämpft? Selbst ich hatte keine Ahnung von seinem Weitblick und seinem Mute.

Meine eigene Rolle schien mir vollkommen unwürdig. Ich wollte zurückgehen und mich selbst anzeigen, aber ich hatte Lingg mein Versprechen gegeben, er hatte es mir nochmals im Zuge abgenommen, und Ida hatte mich wieder daran erinnert. Ich wollte nach London gehen, um zu sehen, ob ich nicht die englische Presse etwas beeinflussen könnte, denn die englischen Zeitungen druckten offensichtlich die amerikanischen Berichte ab, wiederholten die sensationellen Bezeichnungen der westlichen Reporter, mit dem einzigen Unterschied, daß sie den Schilderungen weniger Platz einräumten, weil das Interesse in England geringer war.

Eine Sache wurde mir aus den Chicagoer Zeitungen klar, und zwar daß die ganze amerikanische Bevölkerung durch die Haymarket-Bombe vor Angst um den Verstand gebracht wurde. Jeden Tag fand die Chicagoer Polizei eine neue Bombe. Ich dachte schon, daß sie eine besondere Fabrik eingerichtet hätten, bis ich im New Yorker »Leader« las, daß dasselbe Stück einer Gasröhre schon bei sieben verschiedenen Gelegenheiten als neue Bombe gedient hatte. Hauptmann Bonfield und seine Helfer waren sehr aktiv. Sie hatten eine tüchtige Razzia veranstaltet. In zehn Tagen hatten sie über zehntausend unschuldige Menschen, fast alles Ausländer, unter irgendeinem Vorwande verhaftet, jedoch, mit Ausnahme von Lingg, keinen einzigen Anarchisten. An jedem Tage fanden hunderte gesetzwidrige Verhaftungen statt. An jedem Tage wurden hundert Unschuldige ohne den Schatten eines Beweises ins Gefängnis geworfen. Der Polizist, der die größte Zahl von Menschen anzeigen und verhaften konnte, wurde am schnellsten befördert. Die ganze Stadt war durch die Furcht zu einer wahnwitzigen Wut aufgestachelt.

Ich ging an demselben Tage nach London und nahm mir in Soho zwei Zimmer. Ein ruhiges Wohn- und Schlafzimmer kosteten mich fünfzehn Shilling in der Woche, mein Frühstück, aus einer Tasse Tee und einem Brötchen bestehend, drei Shilling sechs Pence. Auf diese Weise konnte ich ein bis zwei Jahre durchhalten, selbst wenn mir meine schriftstellerische Arbeit nichts einbringen sollte.

Es war gut, daß ich mich nicht zu sehr auf meine Feder verließ. Ich schrieb einen Artikel mit der Überschrift »Die Herrschaft des Terrors in Chicago«, ungefähr eine Spalte lang, und ging damit auf die Londoner Redaktionen. Aber es ist mir nicht gelungen, einen Redakteur anzutreffen. Keiner hatte feste Arbeitsstunden, oder, was noch wahrscheinlicher ist, keiner wollte einen Ausländer ohne Empfehlungsschreiben sehen. Es ist schwerer, in London mit einem englischen Chefredakteur zu sprechen, als in Amerika mit dem Staatssekretär oder dem Präsidenten selbst.

Nachdem ich von diesen vergeblichen Besuchen genug hatte, fertigte ich den Artikel in einigen Abschriften an und sandte ihn an fünf oder sechs Zeitungen. Ich bekam keine Antwort. Ich nahm an, daß der Artikel zu sehr beschreibender Natur war, und so verfaßte ich einen zweiten, der mehr Tatsachen und kleine Schilderungen der betreffenden Menschen, wie Spieß, Fielden und Engel, enthielt. Ich hoffte, nach Annahme des Artikels eine Skizze über Lingg schreiben zu können. Aber ich brauchte mir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Keine einzige Zeitung hatte meinen Artikel veröffentlicht, keine einzige hatte es für nötig befunden, ihn mir zurückzusenden. Ich begann einzusehen, daß das, was ich für Stumpfsinn der englischen Blätter hielt, eine Art von geistigem Zwielicht, den Augen der Leser angepaßt, sei.

Aber man kann in London alles finden, jede Stufe der Intelligenz und des Talentes. Ich ging eines Tages in eine Versammlung der »Social Democratic Federation« und fand dort ähnliche Typen wie jenseits des Ozeans. Keiner der Redner schien mir dort über den Durchschnitt herauszuragen. Da war ein magerer Mann mit scharf geschnittenen Zügen namens Champion, der, wie man mir sagte, früher Offizier war und jetzt wilden, kommunistischen Stoff, den er nicht verstand, verzapfte. Da war ein anderer namens Hyndman, ein dicker behäbiger, jüdisch aussehender Mann, der viel gelesen hatte und ausgezeichnet sprach, obwohl er vielleicht bis zu dem Kern der Sache nicht durchgedrungen war. Er war jedoch voll Ernst und Ehrlichkeit, hatte ein vollkommenes Verständnis für den organisierten sozialen Schwindel, und das heißt schon viel. Ein anderer Mann machte auf mich einen tiefen und guten Eindruck. Er war etwas unter Mittelgröße, breitschultrig gebaut, mit einem rundlichen Kopf, einer breiten Stirn, gut geschnittenen Zügen und wunderschönen blauen Augen. Es war der Dichter William Morris, und ich hörte ihm mit großem Interesse zu, obwohl seine Ideale mir eher mittelalterlich als modern erschienen. Er war trotzdem eine bezaubernde Persönlichkeit ohne Affektation und Pose. Er erinnerte mich an Engel und Fielden. In ihrer wesentlichen Güte und Liebenswürdigkeit waren sich diese drei Menschen sehr ähnlich.

Bei einer dieser Versammlungen der »Social Democratic Federation« hörte ich von »Reynolds' Newspapers« und sandte dem Herausgeber Abschriften meiner beiden Artikel ein. Er lehnte die »Herrschaft des Terrors in Chicago« ab, nahm jedoch den anderen Artikel, in dem ich Spieß, Fielden und Engel schilderte. Er änderte einige Ausdrücke, schnitt hier und da etwas aus, so daß mein Artikel an eine Aquarellskizze erinnerte, die mit einem nassen Schwamm bearbeitet worden war.

Ich sollte über England nicht schlecht sprechen; denn ich fand dort die Ruhe und Zuflucht, als ich in bitterster Not war. Aber es wurde mir klar, daß England heute noch wie zu Heines Zeiten der verbohrteste Anhänger der bestehenden Tatsachen auf der ganzen Welt sei. Der Individualismus geht dort noch weiter als in Amerika, und in den Überbleibseln der feudalen Aristokratie versteinern sich die auffallenden Ungleichheiten des Besitzes und der Vorrechte. Die Armut wird als ein Verbrechen behandelt, die Armenhäuser degradieren die Menschen, indem sie von ihnen nutzlose Arbeit verlangen und eine unerhört schlechte Verpflegung gewähren. Tausende von Menschen werden in jedem Jahr ins Gefängnis geschickt, weil sie nicht imstande sind, kleine Geldstrafen zu zahlen, tausend andere werden um ihrer Schulden willen verhaftet – das letzte Überbleibsel der persönlichen Sklaverei in Europa. Die Bankrottgesetze sind so barbarisch wie zu Zeiten der Inquisition. Die englischen Richter haben durch ihre wilden Strafen für geringe Übergriffe am Besitz eine Klasse gewohnheitsmäßiger Verbrecher geschaffen, die durch den Hunger und die Peitschenstrafen der Gefängnisse bis zur Brutalität verhärtet sind. Man hat jetzt vorgeschlagen, diese gefolterten Unglückseligen lebenslänglich ins Gefängnis zu sperren. Die Tiere werden in England besser behandelt als in jedem andern Lande der Welt, mit den Armen geht man wie mit Pferden in Neapel oder Hunden in Konstantinopel um.

Als ich den Engländer besser kennenlernte, wuchs auch meine Sympathie für ihn, er ist ja im Grunde ein gutmütiger Mensch, der sich das größte Feigenblatt angeschafft hatte, das er finden konnte; aber mit der Zeit hat sich dieses Feigenblatt verschoben und wird jetzt kühn auf der verkehrten Seite getragen.

Ich habe den Monat Juni in London verbracht, und es gelang mir, zwei oder drei Artikel in den fortschrittlicheren Zeitungen anzubringen. Sie wurden mir ziemlich gut bezahlt, und ich lebte so billig, daß ich nicht gezwungen war, meine Ersparnisse anzugreifen. An jedem Posttag las ich die Chicagoer Zeitungen, und jedesmal wunderte ich mich über die blödsinnigen Stümpereien der Chicagoer Polizei und über die seltsame Wirkung, die ihre eigene Feigheit auf die amerikanische Bevölkerung ausübte. Die Polizei betätigte sich in der Hauptsache dadurch, daß sie alle Ausländer verhaftete, deren sie habhaft werden konnte; bis Mitte Juni hatte sie etwa zwölf- bis fünfzehntausend unschuldige Männer und Frauen ins Gefängnis gebracht und fuhr immer noch fort, täglich Bomben, Gewehre und anarchistische Vereine zu entdecken.

Als der Staatsanwalt jedoch versuchte, eine zusammenhängende Anklage auszuarbeiten, stellte er bald fest, daß fast alle diese Verhaftungen willkürlich und albern waren. Die Verhafteten mußten trotz Proteste der Polizei tatsächlich zu Tausenden entlassen werden. Man hatte nicht einen Schatten des Beweises gegen sie. Die Anklage mußte sich daher auf die Menschen beschränken, die mit den beiden fortschrittlicheren Zeitungen und ihren Freunden in Verbindung standen, und mußte versuchen, daraus ihr Beweismaterial zu entnehmen. Spieß und Schwab wurden unter Anklage gestellt; Fischer und Fielden auf Grund irgendwelcher Reden, die sie gehalten hatten, Lingg als Begründer des Lehr- und Wehr-Vereins und der arme Engel infolge seines häufigen Besuches der Versammlungen und seiner Bewunderung für Spieß. Parsons wurde ebenfalls angeklagt, aber im Augenblick konnte man seiner nicht habhaft werden.

Die Haltung der Angeklagten stand in grellem Kontrast zu dieser ganzen Feigheit und Dummheit. Kein einziger unter ihnen wurde zum Kronzeugen der Anklage oder versuchte, die Schuld auf den andern zu schieben und seine Ansichten zu verleugnen. Und zum Schluß kam der dramatische Höhepunkt dieser ruhigen, von den andern kaum begriffenen Überlegenheit der Gefangenen. Die Polizei war nicht imstande, Parsons zu finden. Aber plötzlich erschien ein Brief Parsons' in der Zeitung, in dem er erklärte, daß er unschuldig sei und sich selbst stellen würde, damit auch gegen ihn verhandelt werden könne. Und eines Tages nahm er ruhig den Zug nach Chicago und erschien zur allgemeinen Verwunderung auf einer Polizeistation.

Diese Tat Parsons', die nach London telegraphisch gemeldet und in einigen Londoner Zeitungen ausführlicher behandelt wurde, zeitigte die verschiedenartigsten Ergebnisse. In erster Linie erweckte sie eine gewisse Sympathie für ihn und seine Mitangeklagten. Eine Anzahl Amerikaner begann zu zweifeln, ob ein Mann, der wirklich schuldig wäre, sich selbst stellen würde, und wenn Parsons unschuldig war, konnte auch keiner der acht Angeklagten verurteilt werden. Und doch ist die Bombe geworfen worden, und jemand mußte dafür bestraft werden. Die zweite Wirkung der Parsonsschen Handlungsweise hatte unmittelbar mit mir zu tun. Sie würde die Polizei dazu zwingen, nach dem tatsächlichen Attentäter zu suchen. Er war es sicher nicht, denn sonst würde er nicht den Kopf in den Rachen des Löwen stecken. Und es brachte die weitere Konsequenz mit sich, daß der Betreffende, der Lingg denunzierte, hier wieder in Aktion treten mußte. Wenn Raben wirklich der Denunziant war, so würde er mich jetzt sicher der Polizei anzeigen, und mein Fernbleiben müßte den Verdacht bestätigen.

Zwei Tage nach der dramatischen Selbstauslieferung von Parsons erschien der Bericht, der Attentäter sei ein deutscher Schriftsteller namens Rudolf Schnaubelt, der nach Deutschland geflüchtet wäre und jetzt dort, hauptsächlich in Bayern, von der deutschen Polizei gesucht würde. Raben war der Denunziant, jetzt hatte ich keinen Zweifel mehr. Aber glücklicherweise wußte er nichts Genaues und hatte keinen Beweis für seine Verdächtigungen. Ich schrieb sofort an Ida, sagte ihr, daß ich mich ganz wohl fühlte und nach Chicago zurückkehren möchte. Ich würde sofort kommen, wenn ich irgendwie nützlich sein könnte. Ich bat sie, mich Jacks Meinung wissen zu lassen, und zeichnete als ihr sehr ergebener »Will«.

Zehn Tage später bekam ich einen Brief von Ida, der anscheinend zu jener Zeit geschrieben war, als Parsons sich gestellt hatte und mein Name der Polizei bekannt geworden war. In diesem Brief bat sie mich, London nicht zu verlassen. Jack ginge es etwas besser, er würde nach der Ansicht der Ärzte genesen, aber in jedem Falle hoffte er, daß ich mich in meiner eigenen Heimat niederlassen würde. Ida fügte hinzu, daß sie häufig meine kleine Freundin sähe, die mir tausend liebevolle Grüße sende.

Ich habe diesen Brief nicht beantwortet, ich konnte Elsie nichts anderes sagen, als daß sie mich so schnell wie möglich vergessen sollte. Die mir vorgezeichnete Handlungsweise wurde bei weiterem Überlegen nicht angenehmer. Ich fühlte, daß ich in Chicago sein mußte, um ein volles Geständnis abzulegen und die Unschuldigen zu befreien. Aber ich war durch mein Versprechen gebunden und durch das Gefühl gehemmt, daß Lingg es für richtig hielt, auf der Erfüllung meines Versprechens zu bestehen. Außerdem konnte mein Geständnis Lingg nicht befreien, selbst wenn ich die ganze Schuld auf mich nehmen würde, denn die letzten Chicagoer Nachrichten stellten ausdrücklich fest, daß bei Lingg Explosivstoffe gefunden wurden sowie chemische Bücher, in denen eine neue Formel eines äußerst starken Sprengmittels in seiner eigenen Handschrift eingetragen war. Es schien, als ob allmählich selbst die irregeführte Öffentlichkeit und die Zeitungen zu der Erkenntnis gelangten, daß Lingg wirklich das Sturmzentrum bildete. Ich möchte hier eine ungefähr zutreffende Beschreibung Linggs anführen. Sie stammt aus der Feder eines amerikanischen Augenzeugen, und ich setze sie hierher, um meinen Lesern zu zeigen, wie Lingg auf die besseren Berichterstatter wirkte.

»Die seltsamste Gestalt unter den Angeklagten, der seltsamste Mensch, der mir je begegnet ist, und der am wenigsten menschliche, ist Louis Lingg. Er ist ein moderner Berserker, ohne jede Rücksicht auf die Folgen seines Tuns, auf die Wirkung auf sein eigenes Leben, von einer verhaltenen Rachewut gegen die ganze soziale Ordnung getrieben. Seine ungeheure, physische Kraft kommt kaum zum Vorschein, wenn er nicht in Bewegung ist. Er ist etwas unter Mittelgröße Es ist merkwürdig, wie selbst sorgfältige Beobachter sich in bedeutenden Punkten irren können. Der Schreiber dieser Skizze erklärt, daß Lingg etwas unter Mittelgröße sei, in Wahrheit war Lingg etwas über Mittelgröße, ungefähr fünf Fuß acht ohne Schuhe gemessen. Schaak, der Polizeihauptmann, hat später angegeben, daß Ling »groß« war., gedrungen, mit lohfarbenem Haar. In seinem Gesicht mit den festen Zügen brennen die ungewöhnlichsten Augen, die ich je in einem Menschengesicht sah, stahlgraue, ungeheuer durchdringende Augen, in deren Tiefen ein kaltes, haßerfülltes Feuer glimmt. Seine Hände sind klein und zart, sein Kopf groß und sehr gut geformt, sein Gesicht verrät gute Erziehung und Kultur. Den überwältigendsten Eindruck macht er, wenn er in dem Gefängnisgang auf und ab geht, wie ich ihn oft gesehen habe; denn sein elastischer, gleitender und merkwürdig lautloser Schritt sowie das Spiel der Muskeln um seine Schultern hat etwas Unnormales, Katzenartiges an sich, ein Eindruck, der noch durch die Löwenmähne verstärkt wurde, die er trug, als man ihn verhaftete, während er jetzt, als ich ihn sah, kahl rasiert war. Alles in allem ist er für einen mittelgroßen Menschen die furchtbarste Gestalt, die mir je begegnet ist. Auf alle Fragen oder Bemerkungen pflegt er mit einem verwirrenden, starren Blick zu antworten, und ich glaube, daß die Menschen, die ihn beobachten, meistens ein Gefühl der Erleichterung haben, daß er sich jenseits des Stahlgitters befindet ...«


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