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Erstes Kapitel

 

Des rechten Weges bewußt, laß deine Seele dich führen,
Niemals befürchte du, daß Wahrheit nicht könne erlösen.

 

Mein Name ist Rudolf Schnaubelt. Ich warf die Bombe, die im Jahre 1886 in Chicago acht Polizisten getötet und sechzig verwundet hat. Jetzt liege ich hier in Reichholz in Bayern unter falschem Namen, todkrank an Schwindsucht und habe endlich den Frieden gefunden.

Ich wollte jedoch nicht über mich selbst schreiben: ich bin erledigt. Ich bin in dem letzten Winter zu Tode erfroren, und es wurde immer schlimmer in diesen verhaßten breiten, weißen Straßen in München, die von der Sonne geglüht und von der Eisluft der Alpen gekühlt werden. Die Natur oder die Menschen werden bald nach Belieben mit meinen sterblichen Überresten schalten.

Eines muß ich jedoch noch tun, bevor es zu Ende geht, weil ich es versprochen habe. Ich muß die Geschichte des Mannes erzählen, der ganz Amerika bleiche Furcht einjagte, die Geschichte des, meiner Ansicht nach, größten Mannes aller Zeiten. Er war ein geborener Rebell, Mörder und Märtyrer. Wenn es mir gelingt, ein richtiges Bild von Louis Lingg, dem Chicagoer Anarchisten, zu übermitteln, ein Bild seiner äußeren Erscheinung, seiner Seele und seines gewaltigen Lebensziels, so werde ich mehr für die Menschheit getan haben als damals, da ich die Bombe warf.

Wie soll ich die Geschichte erzählen? Ist es möglich, einen großen Mann der Tat in Worte einzufangen; seine kühle Berechnung der Umwelt, sein unbeirrbares Urteilsvermögen und seine raubtierartige Sprungkraft zu schildern? Es ist wohl am besten, wenn ich von Anfang an beginne und die Geschichte ganz einfach und wahrheitsgemäß erzähle. »Die Wahrheit«, sagte Lingg zu mir einmal, »ist sozusagen das Gerippe aller großen Kunstwerke.« Außerdem ist das Gedächtnis selbst ein Künstler. Die Geschehnisse liegen schon Jahre zurück, und mit der Zeit vergißt man das Nebensächliche und erinnert sich nur an das Wesentliche.

Es sollte für mich leicht genug sein, das Bild dieses einen Mannes zu malen. Ich meine nicht, daß ich ein großer Schriftsteller bin, aber ich habe viele große Schriftsteller gelesen und weiß, wie sie einen Menschen schildern, und meine Unzulänglichkeit wird durch das beste Modell, das je einem Schriftsteller zur Verfügung stand, mehr als ausgeglichen. Mein Gott! wenn er jetzt hier hereinkäme, mich mit seinen unvergeßlichen Augen anschauen und seine Hände ausstrecken würde, könnte ich mich von meinem Krankenbett erheben und wieder ganz gesund werden; ich könnte den Husten und den Schweiß und die tödliche Schwäche abschütteln, ich könnte alles abschütteln! Er hatte genug Vitalität, um die Toten zum Leben zu erwecken, genug Leidenschaft für Hunderte von Männern ...

Ich habe soviel von ihm gelernt, soviel; mehr noch, so seltsam es klingt, seit ich ihn verlor, als in der Zeit unseres Zusammenseins. In diesen letzten einsamen Monaten habe ich viel gelesen, viel gedacht. Und mitten im Lesen kamen mir seine Äußerungen ins Gedächtnis zurück, und alles wurde plötzlich hell und verständlich. Ich habe mich oft gewundert, warum ich diesen oder jenen Satz im Augenblick, als er ihn aussprach, nicht so zu würdigen wußte. Aber das Gedächtnis schloß alle seine Äußerungen ein, und als die Zeit reif war oder, besser gesagt, als ich ihnen entgegenreifte, rief ich sie mir in die Erinnerung zurück und wurde mir ihrer Bedeutung bewußt. Er ist der Ursprung meines ganzen Wachstums.

Das schlimmste ist, daß ich zuerst über mich selbst und meine Jugendzeit sprechen muß, was sicher nicht interessant sein wird; aber ich kann es nicht vermeiden, denn schließlich bin ich der Spiegel, in dem der Leser Lingg sehen muß, und ich möchte ihm die Gewißheit geben, daß der Spiegel blank und sauber ist und die Wahrheit weder verzerrt noch trübt.

Ich bin in der Nähe von München in einem kleinen Dorf, Lindau, geboren. Mein Vater war Oberförster. Meine Mutter ist früh gestorben. Ich bin den ziemlich gesunden herben Sitten der deutschen Gebirgswelt gemäß erzogen worden. Um 6 Uhr früh ging ich in die Dorfschule. Weil ich besser gekleidet war als die anderen Jungen, weil ich hie und da über einige Pfennige verfügte, dünkte ich mich besser als meine Mitschüler. Der Lehrer hat mich auch nie geschlagen oder gescholten. Ich muß ein furchtbarer kleiner Snob gewesen sein. Ich erinnere mich, daß ich meinen Vornamen Rudolf sehr gern hatte. Es gab ja sogar Prinzen desselben Namens; aber den Namen Schnaubelt haßte ich, er schien mir gewöhnlich und gemein.

Als ich ungefähr 12 oder 13 Jahre alt war, hatte ich alles gelernt, was ich in der Dorfschule lernen konnte. Mein Vater wollte mich nach München ins Gymnasium schicken, obwohl er mit dem Gelde geizte. Wenn er gerade nicht trank oder nicht arbeitete, pflegte er mir den Geldwert der Bildung zu predigen, und ich glaubte ihm ganz gern. Er hat mir nie viel Gefühl gezeigt, und es tat mir nicht leid, in die weite Welt zu gehen und meine Flügel auf einer längeren Strecke zu versuchen.

Um diese Zeit wurde ich mir zum erstenmal der Schönheit der Natur bewußt. Unser Bergtal stufte sich südlich gegen das flache Land ab, und man konnte über die weite Ebene, die in verschiedenen Farben der Saaten schimmerte, nach München hinüberblicken. Eines Abends fiel es mir wie Schuppen von den Augen; ich sah das Tannengebirge und die neblig blaue Ebene und den goldenen Glast der untergehenden Sonne und starrte es wie ein Wunder an.

Wie kam es, daß ich noch nie vorher diese Schönheit gesehen hatte?

Ich kam also aufs Gymnasium. Ich glaube, daß ich pflichttreu und lerneifrig war: wir Deutschen haben diese Lammstugenden im Blute. Aber beim Lesen der lateinischen und griechischen Schriftsteller stieß ich auf Gedanken und Denker, und schließlich rüttelte in mir Heine den Zweifel an die Märchenwelt meiner Kindheit wach. Heine war mein erster Lehrer, und ich habe von ihm mehr gelernt als in der Schule. Er war es, der vor mir die Türen der modernen Welt aufstieß. Ich beendete das Gymnasium mit ungefähr 18 Jahren und verließ es, wie Bismarck behauptet, es verlassen zu haben: als Freidenker und Republikaner.

In den Ferien pflegte ich nach Lindau zu gehen, aber mein Vater machte mir das Leben immer schwerer. Er war den ganzen Tag an der Arbeit. Er hat wirklich viel gearbeitet, das muß man ihm lassen. Aber er ließ zu Hause das Mädchen zurück, das ihm die Wirtschaft führte und sich dann allerlei herausnahm. Das arme Mädchen hatte wohl jede Berechtigung dazu, aber ich mochte es nun einmal nicht, und sein Benehmen fiel mir bei meiner damaligen snobistischen Einstellung auf die Nerven. Wenn ich mit Susel eine Auseinandersetzung hatte, kam es sicher nachher zu einem Streit mit meinem Vater, der seine Worte nicht auf die Wagschale zu legen pflegte, hauptsächlich, wenn er getrunken hatte.

Ich schien ihn sehr zu reizen; intellektuell standen wir an zwei verschiedenen Polen. Selbst wenn er log oder betrog, blieb er ein devoter Lutheraner, und seine Unterwürfigkeit vor den Höherstehenden wurde nur von der Schroffheit, mit der er seine Untergebenen behandelte, übertroffen. Seine Gläubigkeit und Untertänigkeit wirkten so abstoßend auf meine neue menschliche Würde, wie seine Grausamkeit gegenüber seinen Untergebenen oder seine viehische Trunkenheit.

Einige traurige Monate vergingen, und ich wußte nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war sehr stolz, hielt viel von mir selbst und meinen kleinlichen, in der Schule erworbenen Kenntnissen; aber ich wußte nicht, welchen Weg ich im Leben einschlagen, welchem Berufe ich mich widmen sollte. Außerdem schob sich das militärische Dienstjahr zwischen die Wahl meiner künftigen Beschäftigung, und der bloße Gedanke an diese Sklaverei war mir unsagbar verhaßt. Ich haßte die Uniform, diese Livree des Mörders; ich haßte die Disziplin, die einen Mann in eine Maschine verwandelt; ich haßte die Anordnungen, denen ich mich zu fügen hatte, selbst wenn sie widersinnig waren; ich haßte diese ganze wahnwitzige Unvernunft, dieses üble, seelenwürgende System. Warum sollte ich, ein Deutscher, gegen Franzosen, Russen oder Engländer kämpfen? Ich war gerne bereit, mich und mein Land zu verteidigen, wenn wir angegriffen wurden; ich hatte genug Vertrauen in den menschlichen Mut, um zu glauben, daß ein Milizheer, wie es die Schweiz besitzt, vollkommen für diesen Zweck genügen würde. Aber ich liebte die Franzosen, wie mein Lehrer Heine sie liebte; ein großes Kulturvolk – Vorkämpfer der Zivilisation; ich liebte auch die Russen, ein intelligentes, sympathisches, gutmütiges Volk; und ich bewunderte die Abenteuerlust der Engländer. Die Rassenunterschiede waren in meinen Augen so ergötzlich, wie die Gattungsunterschiede bei den Blumen. Krieg und Titel gehören einer dunklen Vergangenheit und den Kinderjahren der Menschheit an; sollen wir Menschen uns nie als Brüder umfassen? Wir Sterblichen, dachte ich, sollten darin geschult werden, Krankheiten und Tod zu bekämpfen und nicht einer den andern; wir sollten verpflichtet werden, die Natur zu erobern und ihre Gesetze zu beherrschen; das wäre der neue Krieg, in dem Weisheit und Mut durch die Hebung der Menschheit auf eine höhere Stufe belohnt würden.

Ähnliche Gedanken erhellten das Dunkel, in dem ich lebte; aber die Schatten waren lastend und schwer, ich war mit meiner Umgebung zerfallen; ich haßte die sinnlosen Konventionen des Lebens, seine sogenannte aristokratische Organisation; außerdem hatte mein Vater keine Lust mehr, mich länger zu erhalten; ich war ihm eine Last; und in diesem Zustand einer unerträglichen Abhängigkeit und Unruhe fiel mir Amerika ein. Immer stärker wurde in mir der Wunsch, Geld zu bekommen, um auszuwandern; das neue Land schien mich zu rufen. Ich wollte Schriftsteller oder Lehrer werden, ich wollte die Welt sehen, neue Erfahrungen sammeln; ich durstete nach Freiheit, Liebe, Ehre, nach allem, was junge Menschen dunkel ersehnen; mein Blut war in Gärung.

Es kam zu einem wüsten Streit mit meinem Vater, in dem er mir sagte, daß er in meinem Alter sich bereits sein Leben selbst verdient hätte, worauf ich endgültig meinen Entschluß faßte. Ein Satz von Hermann Grimm, der damals in meinem Ohr tönte, bestärkte mich in meinem Vorhaben:

»Ein über alles sich erstreckendes Verlangen nach Gleichheit vor Gott und vor dem Gesetze bestimmt allein die Geschichte unserer Rasse.«

Das war, was ich wollte oder glaubte zu wollen – Gleichheit.

Der Leser wird, fürchte ich, einwenden, daß dieser Satz nicht viel Bedeutendes enthält. Ich erwähne ihn nur, weil er in jenem Augenblick eine außergewöhnliche Wirkung auf mich ausübte. Es geschah, meines Wissens nach, zum ersten Male, daß ein tiefschürfender Denker den Wunsch nach Gleichheit, als die Leitidee, als die hauptsächliche Triebkraft der modernen Politik anerkannte.

Einige Tage nach unserem Streit sagte ich meinem Vater, daß ich nach Amerika auswandern wolle und fragte ihn, ob er mir fünfhundert Mark geben könne, damit ich nach New York gelange. Ich nannte die Summe von fünfhundert Mark, weil er sie mir für mein erstes Universitätsjahr versprochen hatte. Ich sagte ihm, daß ich sie als ein Darlehen und nicht als ein Geschenk betrachtete, und schließlich bekam ich das Geld, weil Susel meine Bitte unterstützte – eine Güte, die ich nicht erwartet hatte und die ich beschämt und dankbar annahm. Aber Susel wehrte den Dank ab; sie sagte, sie wollte mich nur loswerden, denn ich sei ja bloß eine Last für meinen Vater.

Ich reiste vierter Klasse nach Hamburg, und in drei Tagen war ich auf hoher See. Ich war der einzige gebildete Zwischendeck-Passagier. Ich hielt mich zurück und benutzte die Zeit, um Englisch zu lernen. Ich habe trotzdem zwei Menschen kennengelernt. Einer der Mitreisenden hieß Ludwig Henschel und ging als Kellner nach Amerika. Er hatte einige Jahre in England gearbeitet und hielt Amerika für ein mit Milch und Honig fließendes Land. Er prahlte gern und versorgte mich mit guten Ratschlägen; dabei war er ein wenig stolz auf die Bekanntschaft mit mir und meine Bildung, und ich litt ihn um mich hauptsächlich, weil seine Haltung meiner kleinlichen Eitelkeit schmeichelte.

Es war noch ein Norddeutscher da, namens Raben, der Journalist werden wollte, obwohl er mehr Eitelkeit als Bildung besaß und seine Kenntnisse mit der Laterne zu suchen waren. Er war klein und dürr, mit ausgelaugtem, sandfarbenem Haar, grauen Augen und weißen Augenwimpern. Er hatte eine nervöse abgerissene Art des Sprechens; aber er hielt den Blick aus, und obwohl mich mein Instinkt vor ihm warnte, wußte ich so wenig vom Leben, daß ich glaubte, ihm Unrecht zu tun, weil ich in meiner Abneigung seinen unentwegten Blick als den Beweis einer schamlosen Unehrlichkeit empfand. Hätte ich ihn damals so erkannt, wie er sich später entpuppte, ich hätte wahrhaftig – aber leider, auch Judas lief nicht gebrandmarkt herum. Ich glaube, daß auch Raben mich nicht mochte. Zuerst versuchte er, mir zu schmeicheln, aber als er bei einer Auseinandersetzung ein lateinisches Zitat fehlerhaft anwandte und merkte, daß ich den Fehler entdeckt hatte, zog er sich von mir zurück und wollte mir auch Henschel abspenstig machen; aber Ludwig wußte vom Leben mehr als von Büchern und sagte mir, er würde nie einem Mann oder einer Frau mit hellen Augenwimpern trauen. Wie kindisch wir Männer sind!

Eine andere Bekanntschaft, die ich auf dem Schiff machte, war mit einem jungen Juden aus Lemberg, Isaak Glückstein, der keinen Pfennig besaß und nur wenige Brocken Englisch aufgeschnappt hatte, dessen Selbstbewußtsein jedoch an sich kein unerheblicher Besitz war. »In fünf Jahren werde ich reich sein«, wiederholte er unaufhörlich – in fünf Jahren! Er sah nie ein Buch an, aber versuchte immer mit dem oder jenem Englisch zu sprechen, und am Schlusse unserer Reise verstand er besser Englisch als ich, obwohl er es überhaupt nicht lesen konnte, während ich ohne Schwierigkeiten las ... Als wir uns auf dem Kai trennten, verschwand er aus meinem Leben; aber ich weiß, daß er jetzt der berühmte Bankier in Newport ist und einen unermeßlichen Reichtum besitzt. Er hatte nur einen Ehrgeiz und ging in Scheuklappen auf sein Ziel los; das Streben war bei ihm Beweis seiner Fähigkeiten.

Wir erreichten Sandy Hook am späten Abend und fuhren am nächsten Morgen in New York ein. Alles war voller Hast und Aufregung. Der fröhliche Lärm und Betrieb riefen in mir ein Gefühl großer Einsamkeit hervor. Als wir ans Land gingen, machte ich mich zusammen mit Henschel, der sich sehr über meine Begleitung freute, auf die Wohnungssuche. Dank seiner Beherrschung der englischen Sprache und des Freimaurertums seines Gewerbes gelang es uns bald, ein Zimmer mit Verpflegung in einer Nebenstraße im Osten der Stadt zu finden. Am nächsten Tag gingen Henschel und ich auf die Arbeitsuche. Ich habe damals nicht gedacht, daß ich da unbekümmert in ein unvorstellbares Elend hineinspazierte. Wenn ich jetzt versuche, mir die Leiden jener Zeit in Erinnerung zu rufen, so geschieht es nur aus dem Grunde, weil meine furchtbaren Erfahrungen etwas Licht auf die spätere tragische Entwicklung werfen. Nie ist einer fröhlicher oder mit besseren Vorsätzen auf die Arbeitsuche gegangen. Ich hatte beschlossen, so schwer zu arbeiten, wie nur möglich; ich nahm mir vor, jeder Arbeit, die mir zugewiesen werden sollte, meine ganzen Kräfte zu opfern und sie so auszuführen, daß sie keiner, der nach mir kam, besser machen könnte. Ich hatte diesen Entschluß in meiner Schulzeit erprobt, und er hat sich immer als erfolgreich erwiesen. Ich hatte im Gymnasium, selbst in der Prima, den Sieg davongetragen. Warum sollte mir nicht derselbe Entschluß in dem größeren Wettstreit des Lebens Erfolg bringen? Welch ein Narr war ich damals!

An diesem ersten Morgen war ich schon um fünf Uhr wach und wiederholte mir immer wieder beim Anziehen die englischen Redewendungen, die ich am Tage nötig haben würde, bis sie mir alle geläufig waren, und als ich um sechs Uhr auf die Straße kam, war ich voll knabenhaften Übermutes und eifrig dem Kampf entgegengespannt. Dieser Maimorgen hatte die ganze Schönheit und Frische der Jugend; die Luft war warm, dabei leicht und unbeschwert. Ich verliebte mich in die breiten sonnigen Straßen. Die Menschen schritten rasch an mir vorbei, die Wagen sausten schnell über das Pflaster, alles war voller Leben und Fröhlichkeit, ich fühlte mich seltsam erregt und beschwingt.

Ich ging zuerst in ein bekanntes amerikanisches Zeitungsbureau und fragte nach dem Redakteur. Nachdem ich eine Zeitlang gewartet hatte, wurde mir erklärt, daß der Redakteur nicht anwesend sei.

»Wann wird er wieder zurück sein?« fragte ich.

»Heut' nacht glaube ich,« erwiderte der Portier, »gegen elf Uhr«, und sein Blick maß mich von Scheitel bis zur Sohle. »Wenn Sie einen Brief für ihn haben, können Sie ihn zurücklassen.«

»Ich habe keinen Brief,« bekannte ich beschämt.

»Oh shucks Shucks: Papperlapapp.!« rief er voll Verachtung aus. Was sollte denn »shucks« heißen? Ich fragte mich vergeblich. Trotz der wiederholten Bemühungen konnte ich von diesem Zerberus keine weitere Informationen erreichen. Schließlich, meiner Belästigung überdrüssig, schlug er mir das Fenster vor der Nase zu und schrie:

»Geh, laß dich ausstopfen, Dutchy Dutch: Holländer. So werden alle Fremden germanischer Herkunft in Amerika spöttisch genannt.

Der Mann ärgerte mich. Warum hatte er soviel Freude an seiner Grobheit? Es schmeichelte seiner Eitelkeit, glaube ich, einen anderen Menschen mit Verachtung behandeln zu können.

Ich war über diesen ersten Mißerfolg etwas verstimmt, und als ich wieder auf die Straße kam, schien mir die Sonne heißer als zuvor, aber ich ging trotzdem in die Redaktion einer deutschen Zeitung, von der ich gehört hatte, und verlangte wieder nach dem Redakteur. Der Türhüter war zweifellos ein Deutscher, und ich sprach ihn auch deutsch an. Er antwortete mir mit einem unverkennbaren, starken süddeutschen Akzent.

»Können Sie nicht amerikanisch sprechen?«

»Ja«, sagte ich und wiederholte meine Frage vorsichtig auf Englisch.

»Nein, er ist nicht da«, war die Antwort, »und auch wenn er kommt, wird er Sie nicht sehen wollen.« Der Ton war noch schlimmer als die Worte.

Ich habe an jenem ersten Morgen einige Male eine ähnliche Abfuhr erlitten, und um die Mittagszeit war mein ganzer Mut oder meine Unverfrorenheit fast vollkommen erschöpft. Nirgends auch die leiseste Sympathie, nirgends auch die kleinste Hilfsbereitschaft; auf allen Seiten Verachtung für meine Ansprüche, Freude über mein Unglück.

Ich ging in meine Pension viel müder zurück, als wenn ich drei Tage gearbeitet hätte. Das Mittagessen brachte mich wieder auf die Beine. Mein Entschluß wurde mir wieder gegenwärtig, und trotz der Versuchung, dazubleiben und mich mit den anderen Pensionären zu unterhalten, zog ich mich in mein Zimmer zurück und begann zu lernen. Henschel war noch nicht zum Mittagessen zurückgekehrt, ich hoffte daher, daß er schon Arbeit gefunden hatte. Jedenfalls war es nun meine Pflicht, Englisch so schnell wie möglich zu lernen, und so setzte ich mich auch gleich hin in der schwülen Hitze und lernte auswendig mit einer zähen Verbissenheit bis sechs Uhr und ging dann hinunter zum Tee. Unsere deutschen Schulen sind vielleicht nicht sehr gut, aber sie bringen einem wenigstens bei, wie man Sprachen zu lernen hat.

Nach dem Abendessen ging ich wieder auf mein Zimmer zurück, in dem noch die Hitze wie im Ofen brütete, und lernte in Hemdsärmeln am offenen Fenster bis ungefähr um Mitternacht, als Henschel mit der Nachricht hineinstürzte, daß er in einem großen Restaurant Arbeit bekommen habe, wo sich ihm herrliche Aussichten böten. Ich neidete ihm nicht sein Glück, aber der Kontrast schien meine Verlassenheit noch mehr zu betonen. Ich erzählte ihm, wie man mich empfangen hatte. Er hatte keinen Ratschlag für mich, keine Hoffnung; er war durch sein eigenes Glück wie berauscht. Er hatte zehn Dollar Trinkgelder bekommen, es ging alles in die gemeinsame Kasse, und die Kellner und Oberkellner verteilten es Ende der Woche in einem bestimmten Verhältnis untereinander. Er rechnete, daß er sicherlich 40 bis 50 Dollar wöchentlich verdienen würde. Der Gedanke, daß ich nach sieben Jahren des Studiums nichts verdienen konnte, war nicht angenehm.

Als er mich verließ, ging ich zu Bett; aber ich warf mich hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Es wäre wohl für mich besser gewesen, wenn ich ein Gewerbe oder ein Handwerk gelernt hätte, anstatt mir eine Bildung anzueignen, nach der kein Mensch zu fragen schien. Ich habe später herausgefunden, daß, wenn ich Maurer, Tischler, Klempner oder Maler gewesen wäre, ich ebenso schnell wie Henschel Arbeit gefunden hätte. Der gebildete Mann ohne Geld und Beruf gilt nicht viel in Amerika.

Am nächsten Tag stand ich auf und ging wieder auf die Arbeitsuche mit ebensowenig Erfolg, und diese Jagd dauerte sechs oder sieben Tage, bis meine erste Woche zu Ende ging und ich die Pension für die folgende Woche – fünf Dollar – aus meinem armseligen Besitz von 45 Dollar bezahlen mußte. Noch acht Wochen, sagte ich mir, und was dann? Die Angst überkam mich, eine demütigende Angst nagte an meiner Selbstachtung.

Die zweite Woche verging wie die erste. Gegen Ende der Woche hatte jedoch Henschel Urlaub und nahm mich am Sonntagmorgen auf die Dampferfahrt nach Jersey City mit; wir sprachen lange miteinander. Ich erzählte ihm ausführlich, wie ich mich vergeblich bemüht hatte, Arbeit zu bekommen. Er versprach mir, Augen und Ohren offen zu halten, und sobald ihm ein Schriftsteller oder ein Redakteur in den Weg käme, wollte er sich für mich verwenden. Mit diesem kleinen Brocken des Trostes mußte ich mich begnügen, aber die Ausfahrt und die Ruhe flößten mir neuen Mut ein, und als wir zurückkamen, sagte ich Henschel, daß, nachdem ich alle Zeitungsbureaus bereits abgeklappert hatte, ich am nächsten Tage versuchen wollte, an der Hochbahn, der Straßenbahn oder in einem deutschen Hause, wo Englisch gesprochen wurde, Arbeit zu bekommen. Eine oder zwei Wochen vergingen. Ich war in Hunderten von Bureaus und stieß überall auf Ablehnung, und zwar meistens auf eine Absage schroffster Art. Ich hatte in jedem Straßenbahnbureau, in jedem Eisenbahndepot vorgesprochen – vergeblich. Und jetzt hatte ich nur noch dreißig Dollar in der Tasche. Die Angst vor der Zukunft begann sich in eine bittere Wut zu verwandeln und steckte mein Blut an. Seltsamerweise kam mir oft ein Gespräch in Erinnerung, das ich mit Glückstein auf dem Schiff geführt hatte. Ich hatte ihn eines Morgens gefragt, wie er es anstellen wolle, um reich zu werden. »Ich will in ein großes Bureau gehen«, sagte er.

»Aber wie – wo?« fragte ich.

»Ich will herumgehen und fragen«, antwortete er. »Es gibt sicher irgendein Bureau in New York, das mich so dringend braucht, wie ich es brauche, und ich werde es schon finden.«

Diese Äußerung blieb mir im Gedächtnis haften und bestärkte mich in dem Beschluß, um jeden Preis durchzuhalten.

Ich stellte eine Tatsache fest, die sich schwer erklären läßt. Ich hatte in diesen drei oder vier Wochen, in denen ich in New York Arbeit suchte, mehr Englisch gelernt als in den Monaten oder eigentlich Jahren meines Sprachstudiums. Die Eindrücke schienen sich in dem Maße, in dem die ängstliche Spannung wuchs, tiefer im Gedächtnis einzuprägen. Am Schlusse des ersten Monates sprach ich ganz fließend Englisch, obwohl zweifellos mit einem deutschen Akzent. Ich hatte bereits eine Anzahl Romane von Thackeray und anderen gelesen und ein halbes Dutzend der Shakespeare-Dramen.

Woche nach Woche verging; meine Dollarnoten nahmen ab; schließlich war ich zu Ende mit meinem armseligen Kapital, und die Arbeit war ferner denn je. Ich werde nie in der Lage sein, einen Begriff von den Leiden jener Zeit, von der Enttäuschung und dem nackten Elend zu geben. Zum Glück für meinen Verstand erfüllten mich die Demütigungen mit Wut, und diese Wut und Furcht gärte in mir zu Bitterkeit und erzeugte haßerfüllte Gedanken. Als ich reiche Leute sah, die in ein Restaurant hineingingen oder im Zentral-Park herumfuhren, bekam ich Mordgedanken. Sie verschwendeten in einer Minute soviel, wie ich für eine Woche Arbeit verlangte. Am meisten verbitterte mich der Gedanke, daß keiner mich oder meine Arbeit brauchte. »Selbst die Pferde sind beschäftigt«, sagte ich mir – »und Tausende von Männern, die bessere Arbeitstiere sind als die Pferde, werden nicht verwendet. Welche Verschwendung!« Eine Überzeugung schlug Wurzeln in mir; es war etwas faul in der Gesellschaft, die gute Köpfe und willige Hände ohne Arbeit ließ.

Ich entschloß mich, eine silberne Uhr zu versetzen, die mein Vater mir beim Abschied gab, und mit dem Geld, das ich für die Uhr bekam, zahlte ich die Pension für die Woche. Die Woche verging, ich hatte noch immer keine Arbeit und hatte nichts zu versetzen. Ich wußte aus früheren Gesprächen mit dem Pensionsinhaber, daß man auf Kredit nicht rechnen durfte. »Zahlen oder das Zimmer räumen«, war seine ständige Redensart. Zahlen! Würde er Blut nehmen?

Ich war verzweifelt. Haß und Wut kochten in mir. Ich war auf alles gefaßt. Auf diese Weise, sagte ich mir, erzeugt die Gesellschaft Verbrecher. Aber ich wußte nicht mal, wie man es anstellt um ein Verbrechen zu begehen; und als Henschel nach Hause kam, fragte ich ihn, ob ich eine Arbeit als Kellner bekommen könnte.

»Aber Sie sind ja kein Kellner!«

»Kann denn nicht jeder Kellner werden?« fragte ich verblüfft.

»Ach nein«, erwiderte er ganz empört. »Wenn Sie einen Tisch von sechs Personen zu bedienen haben, von denen jeder eine verschiedene Suppe bestellt und drei einen Fisch, drei wieder einen anderen usw., würden Sie sich nicht erinnern können, was bestellt worden ist, und könnten die Bestellung in der Küche nicht ausrichten. Glauben Sie mir, man braucht sehr viel Praxis und ein gutes Gedächtnis, um gut zu bedienen. Man braucht viel Verstand, um Kellner zu sein. Glauben Sie, daß Sie imstande wären, sechs Teller voll Suppe auf einem Tablett über dem Kopf zu balancieren, während andere Kellner dagegenrennen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten?« Die Behauptung war unwiderlegbar. »Man braucht viel Verstand, um Kellner zu sein.«

»Aber könnte ich nicht Hilfskellner werden?« fragte ich weiter.

»Dann würden Sie nur sieben oder acht Dollar in der Woche bekommen,« antwortete er, »und selbst ein Hilfskellner kennt in der Regel die Arbeit, obwohl er vielleicht nicht Amerikanisch sprechen kann.«

Die Wolke der Hoffnungslosigkeit verdichtete sich; jeder Weg schien mir versperrt, und doch mußte ich etwas tun. Ich hatte kein Geld, nicht einen Dollar. Was blieb mir übrig? Ich mußte von Henschel borgen. Mein Gesicht brannte. Ich hatte ihn immer, trotzdem er ein guter Kerl war, als niedriger stehend betrachtet, und jetzt – und doch mußte es geschehen. Es blieb kein anderer Weg. Es war mir unsagbar peinlich, es zu tun. Unwillkürlich trug ich Henschel die Überlegenheit seiner Lage nach, als ob er für meine Demütigung verantwortlich wäre. Was für Bestien wir Menschen sind! Ich bat ihn nur um fünf Dollar, um gerade meine Wochenpension zahlen zu können. Er lieh sie mir bereitwillig genug, aber ich fühlte, daß ihm meine Bitte mißfiel. Es mag sein, daß es meine gewöhnliche Empfindsamkeit war, aber mich überlief heiß die Scham, als ich sein Geld nehmen mußte. Ich beschloß, am nächsten Tag Arbeit zu bekommen, Arbeit jeder Art, selbst wenn ich auf die Straße gehen sollte, um sie zu suchen. Ich schlief kaum eine Stunde in dieser langen schwülen Nacht; die Wut riß mich immer wieder empor, ich stand auf und raste in meinem Zimmer auf und ab wie ein wildes Tier.

Am Morgen zog ich meinen schlechtesten Anzug an, ging in die Docks hinunter und fragte nach Arbeit. Seltsamerweise fiel mein Akzent nicht auf, und was noch viel seltsamer ist, hier fand ich etwas von der Sympathie und Güte, nach der ich vorher vergeblich gesucht hatte. Die derben Arbeiter in den Docks – Irländer, Norweger oder Farbige – waren bereit, mir zu helfen, soweit sie konnten. Sie zeigten mir, wohin ich mich wenden sollte, um Arbeit zu finden; schilderten mir den Unternehmer und berieten mich über die Zeit und die beste Art und Weise, an ihn heranzugehen. Ich fand überall menschliche Sympathie – aber tagelang keine Arbeit. Wie tief war ich gesunken! In dieser Woche lernte ich genug, um zu wissen, daß ich meinen Sonntagsanzug verpfänden konnte. Ich bekam fünfzehn Dollar dafür, zahlte meine Rechnung, zahlte meine Schuld an Henschel und ging in ein Unterkunftsheim für Arbeiter, wo ich eine Pension für drei Dollar die Woche fand. Henschel bat mich, dazubleiben, und wollte mir helfen, aber mein Stolz vertrug seine Wohltätigkeit nicht. So gab ich ihm nur meine Adresse, im Falle er etwas Passendes für mich finden sollte, und dann stieg ich hinunter – auf das niedrigste Niveau eines anständigen Arbeitslebens.

Das Unterkunftsheim schien mir zunächst ein höchst übler Ort. Es war eine niedrige Mietskaserne, deren einzelne Zimmer an ausländische Arbeiter vermietet wurden. Man konnte die Mahlzeiten dort bekommen oder sich das Essen selbst im Zimmer kochen, wie es einem paßte. Das Speisezimmer konnte ungefähr dreißig Menschen fassen, aber nach dem Abendbrot, das von 7 bis 9 Uhr dauerte, saßen dort ungefähr sechzig Menschen, die rauchten und sich in zwölf verschiedenen Sprachen bis zehn oder elf Uhr nachts unterhielten. Meistenteils waren es Tagelöhner, ungewaschen, schmierig, ungewandt, aber sie zeigten mir, wie man gelegentlich leichte Arbeit in den Docks, Bureaus und Restaurants bekommen kann – die tausendfältigen Gelegenheitsarbeiten einer Großstadt. Hier lebte ich monatelang, vielleicht drei Tage auf der Suche nach einer Arbeit verbringend, die nur einige Stunden dauerte, bis ich dann wieder eine Arbeit fand, die mich drei oder vier Tage beschäftigte.

Zuerst litt ich unerträglich unter der Scham und dem Gefühl eines unverdienten Abstiegs. Wie konnte ich so tief sinken? Irgendwie mußte die Schuld an mir selbst liegen. Der verwundete Stolz zerfranste meine Nerven und vertiefte die Unbehaglichkeit meiner Umgebung. Dann kam eine Zeit, in der ich mein Schicksal gelassen nahm und stumm alles über mich ergehen ließ. Gewöhnlich verdiente ich genug in jeder Woche, um mich anderthalb oder zwei Wochen zu erhalten. Aber in der Mitte des Winters hatte ich drei oder vier Strähnen von Mißgeschick und mußte selbst das Unterkunftsheim verlassen, um mir in Hunger und hoffnungslosem Elend ein Bett für die Nacht zu suchen.

Es ist viel schwieriger, mitten im Winter eine Beschäftigung zu finden als zu jeder anderen Jahreszeit. Es scheint, als ob die Natur selbst dem Menschen zu Hilfe käme, um die Armen zu erdrücken und zu vernichten. Man wird annehmen, daß dies nur auf bestimmte Berufe zutrifft; aber wenn man sich die Statistik der Arbeitslosen ansieht, wird man finden, daß die Zahlen ihren Höhepunkt in der Mitte des Winters erreichen. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches erlebt wie die Kälte in New York, wie die furchtbaren Windstürme, die klaren Nächte, als das Thermometer 4 oder 5 Grad Fahrenheit unter Null fiel und die Kälte einen mit hundert Eisdolchen zu durchbohren schien – das Leben bedrohte einen überall durch Mensch und Natur, brutaler und gemeiner denn je.

Meine Jugend stand mir zur Seite, mein Stolz und außerdem das Fehlen von Lastern, die Geld kosten, sonst wäre ich in diesem bitteren Fegefeuer zugrunde gegangen. Mehr als einmal wanderte ich die ganze Nacht durch die Straßen, benommen, abgestumpft durch Kälte und Hunger; mehr als einmal rief mich das Mitleid irgendeiner Frau oder eines Arbeiters zum Leben und zur Hoffnung zurück. Es sind wirklich nur die Armen, die den Armen helfen. Ich war bis in die tiefsten Tiefen herabgestiegen und brachte diese einzige Erkenntnis mit. Man lernt nicht viel in der Hölle mit Ausnahme von Haß, und der arbeitslose Ausländer in New York geht durch die schlimmste Hölle auf Erden durch. Aber selbst diese Hölle von Kälte, Dunkel, Einsamkeit und Elend war hie und da von Strahlen des menschlichen Mitgefühls und der reinen Güte erhellt. Ich erinnere mich noch ganz genau jedes einzelnen Falles. So oft ich auf die tiefste Stufe hinabsank, hielt ich mich auf dem Damm der Battery auf. Das wirbelnde Wasser schien mich anzuziehen und mein Leid mit seinem endlosen Klang einzulullen. Hier schritt ich stundenlang auf und ab, schwang die Arme, um mich warm zu halten, und war froh, daß die atemraubende Kälte mich zwang, herumzurennen; denn die Gedanken werden nicht so bitter, wenn man sich lebhaft bewegt, als wenn man stillsitzt. Eines Tages jedoch war ich so übermüdet, daß ich auf einer Bank sitzenblieb. Ich muß geschlafen haben, denn ich wurde von einem irischen Polizisten aufgeweckt: »Steh mal auf, rühr' dich mal, du kannst hier nicht schlafen.«

Ich stand auf, konnte mich jedoch kaum bewegen, ich war so benommen von der Kälte und so verschlafen.

»Geh man, geh«, sagte der Polizist und schob mich fort.

»Wie unterstehen Sie sich, den Mann zu schubsen«, schrie eine heisere Weiberstimme. »Er tut ja der Bank gar nichts.«

Es war eine der Prostituierten, die irische Betsy genannt, die diesen Teil der Battery als ihr Eigentum betrachtete und immer bereit war, um ihn zu kämpfen, obwohl sein Wert sehr gering sein mußte.

Der Polizist verbat sich ihre Einmischung und machte infolgedessen die Bekanntschaft mit Betsys scharfer Zunge. Sobald ich sprechen konnte, bat ich sie, meinetwegen nicht zu streiten, ich wollte ja weggehen und machte mich auch auf den Weg. Betsy folgte mir, überholte mich nach einer Weile und schob mir einen Dollar in die Hand.

»Ich kann das Geld nicht nehmen«, sagte ich, und gab ihr die Dollarnote zurück.

»Und warum nicht?« fragte sie aufbrausend, »du brauchst es mehr als ich, und wenn ich es einmal brauche, werde ich dich danach fragen; ich leih' es dir nur, zum Teufel noch mal.«

Arme, liebe Betsy! Sie besaß das Genie der Güte, und später, als es mir besser ging, lud ich sie, so oft ich konnte, zum Abendessen ein und erfuhr ihre ganze traurige Geschichte. Die Liebe war ihre ganze Sünde, nur die Liebe, und wie andere großzügige Fehler brachte sie ihr zwar Strafe und Mißachtung der anderen ein, hielt sie jedoch von Selbstverachtung frei. Betsy war in ihren eigenen Augen ein unschuldiges Opfer des Lebens, und wahrscheinlich hatte sie recht, denn sie erhielt sich die Güte ihres Herzens unversehrt.

Eine andere Szene: Ich verbrachte drei oder vier Nächte auf einer Stelle, wo ich für zehn Cents ein Bett bekam, und als ich eines Morgens gegen fünfeinhalb Uhr zitternd in die Kälte hinaustaumelte, fragte mich plötzlich der harte Yankee, dem die Unterkunftsstätte gehörte:

»Haben Sie gefrühstückt?«

»Was geht Sie das an?«

»Nicht viel, aber mein Kaffee ist heiß, und wenn Sie eine Tasse haben wollen, sind Sie willkommen.«

Der Ton war derb, aber der Blick, mit dem er seine Worte begleitete, ließ das Eis um mein Herz schmelzen, und ich folgte ihm in seine kleine Kammer. Er goß den Kaffee ein, stellte eine dampfende Tasse, etwas Speck und Brot vor mich hin, und in zehn Minuten war ich wieder ein Mensch mit Mut im Herzen, Hoffnung und Energie.

»Geben Sie auf diese Weise oft Frühstück?« fragte ich lächelnd. »Manchmal«, war seine Antwort Ich dankte ihm für seine Güte und wollte gerade weggehen, als er hinzufügte, ohne mich anzusehen:

»Wenn Sie bis heute nacht keine Arbeit haben, können Sie herkommen und umsonst schlafen.« Ich sah ihn erstaunt an, und er fuhr fort, als ob er eine Schwäche entschuldigen wollte: »Wenn ein Mann bei einem solchen Wetter vor sechs Uhr aufsteht und in die Kälte hinausgeht, will er wirklich arbeiten, und wenn einer arbeiten will, wird er schon früher oder später etwas finden. Ich helfe einem Menschen gern«, fügte er nachdrücklich hinzu.

In einigen Wochen habe ich Jack Ramsden gründlich kennengelernt; er war derb und schweigsam wie seine heimatlichen Berge von Maine, aber er hatte ein gutes Herz.

Wie ich in diesen sieben Monaten des schrecklichen Winters gelebt habe, kann ich kaum erzählen; aber ich quälte mich durch, und als der Frühling kam, hatte ich sogar einige Dollar erspart und ging in mein altes Unterkunftsheim zurück, wo ich für drei Dollar die Woche Pension bekam und mich wieder waschen und anständig anziehen konnte. Es erschien mir wie ein luxuriöses Hotel. Dieser Winter hatte mich viel gelehrt, und zwar dies in erster Linie: So unglücklich auch ein Mensch sein mag, gibt es andere, denen es noch schlechter geht und die noch unglücklicher sind. Das Elend der Menschheit ist unendlich wie das Meer. Daraus schöpft man Mitgefühl und Mut. Ich glaube, daß im großen ganzen die Erfahrungen mir mehr Gutes als Schlechtes getan haben, obwohl ich zu jener Zeit das Gefühl hatte, daß sie nur einfach meinen Geist verrohten, wie sie die Haut an meinen Händen aufrissen, und daß sie mich in jeder Hinsicht derb und rauh machten. Ich sehe es jetzt ein, daß alles, was ich bin oder war, ich in jenem Winter wurde. Im Guten und im Schlechten werde ich die Narben dieses Kampfes und dieser Leiden bis zu meinem Tode tragen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß alles Leiden, das ich erlitt, sich in Mitleid mit den Menschen verwandelte; aber es blieb noch ein ungelöster Rest von Bitterkeit in mir zurück.

Eine andere Szene aus jener Zeit, und ich komme zu dem Abschnitt meines Lebens, in dem ich wieder aus dem Abgrund in die Luft und das Sonnenlicht emporkam. Eines Abends erwähnte ein Engländer im Speisesaal, daß man beim Bau der Brooklynbrücke Arbeit finden kann. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich suchte noch immer nach einer ständigen Beschäftigung, obwohl ich kaum darauf zu hoffen wagte, aber er fuhr fort: »Sie brauchen Arbeitskräfte und zahlen ganz gut; fünf Dollar täglich.«

»Ist es eine Dauerarbeit?« fragte ich zitternd.

»Die Arbeit ja,« antwortete er und warf mir einen prüfenden Blick zu, »aber nur wenige können es in der komprimierten Luft aushalten.« Er selbst hatte es vergeblich versucht. Aber das schreckte mich nicht ab. Ich erfuhr, an wen ich mich zu wenden hatte, und am nächsten Morgen vor sechs Uhr wurde ich schon angenommen. Ich konnte mich kaum vor Freude fassen. Endlich hatte ich Arbeit gefunden, aber die Worte des Engländers vom Vorabend tönten mir in den Ohren: »Nur wenige können eine Schicht arbeiten, und nach drei Monaten ist jeder erledigt.« Eine jubelnde Freude ergriff mich; wenn es andere aushielten, werde ich es auch können.

Ich nehme an, daß jeder weiß, wie eine Arbeit in den Senkkammern im Flußbett fünfzig Fuß unter Wasser aussieht. Die Senkkammer an sich ist ein gewaltiges glockenförmiges Eisengebilde. Oben befindet sich eine Abteilung, die sogenannte Materialkammer, durch die das gebaggerte Material auf die Oberfläche befördert wird. Auf der anderen Seite der Senkkammer ist eine andere Abteilung, ein sogenanntes Luftventil. Die Senkkammer selbst wird mit komprimierter Luft gefüllt, um das Wasser fernzuhalten, das sie sonst im Augenblick erfüllen würde. Die Männer, die in der Senkkammer arbeiten sollen, werden zuerst in das Luftventil gebracht, wo sie »komprimiert« werden, bevor sie an die Arbeit gehen, und wieder »dekomprimiert« nach beendeter Schicht.

Ich wurde schon vorher auf die Gefühle vorbereitet, die man dabei empfindet, aber als ich mit den anderen Arbeitern in das Luftventil hineinkam, als die Tür sich hinter uns schloß, ein kleiner Lufthahn nach dem anderen aufgedreht wurde und die komprimierte Luft aus der Senkkammer hineinzuströmen begann, mußte ich aufschreien, denn ein so stechender Schmerz bohrte in meinen Ohren. Das Trommelfell wird dabei oft gewaltsam eingedrückt und zerrissen, manche werden nicht nur taub, sondern bekommen auch furchtbare Schmerzen in den Ohren und im Kopf. Ich fand bald heraus, daß die einzige Möglichkeit, den Luftdruck im Ohr auszuhalten, war, die Luft einzuschlucken und sie in die eustachischen Trommeln im Mittelohr einzuzwingen, damit dieser Luftraum auf der inneren Seite des Trommelfells den schmerzhaften Druck auf das Trommelfell mildere. Während der »Kompression« saugt das Blut die Gase aus der Luft ein, bis die Spannung der Gase im Blut der Spannung der komprimierten Luft gleicht; sobald dieses Gleichgewicht erreicht worden ist, kann man stundenlang in den Senkkammern ohne ernsthaftes Unbehagen arbeiten.

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis wir »komprimiert« waren, und diese erste halbe Stunde war sehr schwer zu ertragen. Als der Luftdruck in den Ventilen den Druck in der Senkkammer erreicht hatte, öffnete sich die Tür aus der Senkkammer von selbst, und wir stiegen die Leiter bis zum Flußbett hinunter und begannen unsere Arbeit. Wir schaufelten die Erde heraus und schafften sie mit dem Aufzug in die Materialkammer. Die Arbeit an sich schien nicht übermäßig schwer, es wurde einem sehr heiß dabei, aber da man fast nackt arbeitete, machte das nicht viel aus. Ich war eigentlich angenehm überrascht. Der Lärm war furchtbar; jedesmal, wenn ich mich bückte, schien es mir, als ob mein Kopf auseinanderplatzen würde. Aber ich sagte mir, daß zwei Stunden bald vorübergehen würden, und daß fünf Dollar für zwei Schichten eine gute Bezahlung wären; in fünfzehn Tagen würde ich das Geld erspart haben, mit dem ich nach New York kam, und dann könnte ich weiter sehen. Und so arbeitete ich weiter, und setzte mich über die Ohrenschmerzen, das Schwindelgefühl, die höllische Hitze und die sich schnell einstellende Müdigkeit hinweg.

Schließlich wurde die Schicht beendet, und wir kamen in Schweiß gebadet in das Luftventil zurück, um uns der Dekompression zu unterziehen. Wir schlossen die Tür. Die Lufthähne wurden angedreht, die komprimierte Luft begann herauszuströmen, und wir fingen zu zittern an, denn die gewöhnliche Luft schien so naß und kalt. Es war, als ob man einen Strom von Eiswasser in ein heißes Bad hineingelassen hätte. Bei unserem Eintritt hatte ich gemerkt, daß sich die anderen Arbeiter hastig anzogen. Jetzt wußte ich, warum. Ich warf, so schnell es nur ging, mein Hemd und meinen Anzug über, aber die Luft wurde immer kälter und feuchter, und ich fühlte mich schwach, schwindlig und krank. Ich glaube, daß die Gase aus dem Blut verschwanden, sobald die Spannung nachließ. Eine Stunde später waren wir dekomprimiert, und wir kamen zitternd, frierend in den feuchten gelben Nebel hinaus.

Man stelle sich das vor: Wir hatten zwei Stunden in einer hohen Temperatur gearbeitet, und nach der Arbeit wurden wir durch die Stunde der Dekompression im kalten und feuchten Dunst durchgequält, wobei selbst der Blutdruck in unseren Adern fortwährend abnahm. Mit der Kompression und Dekompression hatte die Zweistundenschicht ungefähr vier Stunden gedauert, so daß zwei Schichten täglich eine beträchtliche Tagesarbeit wurden – und was für eine Arbeit! Die meisten Arbeiter tranken heißen Alkohol, sobald sie herauskamen, und noch einige Gläser, bevor sie nach Hause gingen. Ich trank heißen Kakao und war sehr froh, daß ich mich damit begnügt hatte. Es brachte mich so schnell auf die Beine wie der Schnaps und nahm mir das furchtbare Gefühl der Kälte und Depression. Werde ich diese Arbeit aushalten können? Ich konnte nur die Zähne zusammenbeißen und sehen, wie die Arbeit auf die Dauer auf mich wirken würde.

Ich aß etwas und legte mich in die Sonne, bis ich wieder warm wurde und mich kräftiger fühlte. Aber ich hatte noch immer die Schmerzen in den Ohren und im Kopf und war benommen, als wir wieder an die Arbeit zurückgingen.

Die Nachmittagsschicht schien endlos und unerträglich. Die Kompression war nicht mehr so schlimm. Ich hatte gelernt, wie man es machen soll, um etwas Luft in die Ohren als Mittel gegen den Luftdruck zu bekommen, aber so oft ich vergaß, die Luft einzuatmen, zahlte ich sofort mit einem Anfall furchtbarer Ohrenschmerzen. Auch die Arbeit in der Senkkammer war nicht unerträglich. Das Arbeitstempo war nicht schlimm und die Hitze ganz angenehm. Aber die Dekompression war entsetzlich. Ich zitterte wie eine Ratte, als ich herauskam, und meine Zähne schlugen aufeinander. Ich schnappte nach Luft, konnte nicht sprechen, und ich ließ mich leicht überreden, einen heißen Grog zu trinken, wie es die anderen taten. Aber ich beschloß, mich an das Trinken nicht zu gewöhnen. Ich wollte am nächsten Tag dickes wollenes Unterzeug mitbringen – alles was ich hatte. Ich ging erschöpft nach Hause mit einem solchen Schmerz im Kopf und in den Ohren, daß ich kaum essen konnte und keinen Schlaf fand.

Die Angst vor der Arbeitslosigkeit trieb mich am nächsten und übernächsten Tag heraus. Ich weiß nicht mehr, was in diesen Tagen vorging, aber ich wurde durch den Anblick eines riesigen Schweizer Arbeiters aufgerüttelt, der eines Morgens hinfiel und dalag, als ob er in seine Arme und Beine Knoten binden wollte. Ich vergaß für einen Augenblick meine eigenen Schmerzen, und die Denkfähigkeit stellte sich wieder ein. Ich habe nie etwas Furchtbareres gesehen als diese armselige, verkrampfte Gestalt des bewußtlosen Riesen. Bevor wir ihn auf die Schlammkarre heben konnten, um ihn nach dem Spital zu schaffen, war er in Blut gebadet und lag wie tot da. »Was hat er denn?« schrie ich. »Den Krampf«, sagte einer und zuckte die Achseln.

Wir kamen gerade aus dem Luftventil in den Raum, in dem wir unsere Kleider und unser Essen aufbewahrten, und ich begann die anderen über den »Krampf« auszufragen. Es scheint, daß man nicht mehr als zwei oder drei Monate arbeiten konnte, ohne diese Krämpfe zu bekommen. Der Anfall dauerte ungefähr vierzehn Tage, und man kam nie ganz zu sich.

»Wird man denn von den Unternehmern für die vierzehn Tage bezahlt?« fragte ich.

»Jawoll«, schrie ein Arbeiter voll Wut. »Sie bringen uns in einem Hotel in der Fifth Avenue unter und zahlen uns für unsere Ruhezeit.«

»Man kann also nur drei Monate arbeiten?« fragte ich.

»Ich habe länger gearbeitet,« sagte ein anderer Mann, »aber man muß achtgeben und darf nicht trinken. Ich bin außerdem sehr mager, und da kann man es besser aushalten, als wenn man eine Anlage zum Dicksein hat wie Sie.«

»Man könnte uns ja die Arbeit erleichtern«, sagte ein dritter. »Sie wissen sehr gut, daß, wenn sie uns zehntausend Fuß frischer Luft in der Stunde in diese verdammten Senkkammern hineinließen, wir es ganz gut aushalten könnten Der Arbeiter hatte vollkommen recht. Die Erkrankungen der in den Senkkammern beschäftigten Arbeiter, die früher, als man 1 500 Kubikfuß Luft pro Stunde einpumpte, ungefähr 80 % in jedem Vierteljahr betrugen, sind jetzt auf 8 % gefallen, seitdem man die Menge der frischen Luft auf 10 000 Kubikfuß pro Stunde erhöht hat.. Aber sie geben uns nur armselige tausend Fuß. Sie kaufen nicht Menschenarbeit zu fünf Dollar pro Tag, sondern Menschenleben, die verdammten Hunde!«

Es fiel mir auf, daß meine Genossen finster und mürrisch wie Sträflinge herumliefen. Es kam kaum vor, daß einer mit seinem Kameraden sprach. Schweigend machten wir uns an die Arbeit, schweigend ging die Arbeit vor sich, und sobald wir in Gottes Luft und Licht herauskamen, schlug jeder schweigend den Heimweg ein. Die Wolke hüllte auch mich ein. Ich war nicht mehr so sicher, wie ich es zuerst gewesen bin, daß ich dem gemeinsamen Los entgehen könnte. So kräftig ich mich auch fühlte, war ich doch sicherlich weniger widerstandsfähig als der junge Schweizer, den ich noch zu sehen glaubte, wie er sich auf dem Boden wie eine getretene Schlange krümmte. Ich verscheuchte jedoch alle Gedanken und ging an meine Arbeit, als ob nichts geschehen wäre.

Ich hatte ungefähr vierzehn Tage in der komprimierten Luft gearbeitet, als ich ein furchtbares Beispiel des Leichtsinns eines Arbeiters zu sehen bekam. Ein junger Amerikaner hatte mit uns zwei oder drei Tage gearbeitet. An diesem Nachmittag wollte er schnell weggehen, ohne die Prozedur der Dekompression durchzumachen, um, wie er sagte, eine Verabredung mit seiner Braut einzuhalten, und so setzte er sich oben auf den Schlammaufzug und gelangte durch die Materialkammer in ungefähr fünf Minuten ins Freie. Als wir ungefähr eine Stunde später, nachdem wir durch das Luftventil gegangen waren, hinauskamen, fanden wir ihn auf dem Boden im Wartezimmer liegend, mit einem Arzt an seiner Seite. Er war bewußtlos, atmete laut und mühsam mit umgestülpten, schaumbedeckten Lippen. Er starb einige Minuten später. Es war entsetzlich, und doch schien es mir nicht so furchtbar wie die »Krämpfe«. Schließlich wußte er es, oder hätte es wissen sollen, daß er sich der Gefahr aussetzte, und der Tod war meiner Ansicht nach der furchtbaren physischen Folter vorzuziehen. Aber trotzdem verleideten mir diese beiden Unfälle die Arbeit, und ich beschloß, wenn es ging, Ende dieses Monats aufzuhören, und das tat ich auch.

Vor Ende des Monats begann ich mich schwach und krank zu fühlen, ich schlief schlecht und unruhig und war fast nie schmerzfrei. Ich hielt es trotzdem einen Monat aus, und nachdem ich hundertvierzig Dollar erspart hatte, gönnte ich mir zwei Wochen Erholung.

Ich verbrachte jeden Nachmittag, an dem es sich ermöglichen ließ, mit Henschel. Er hatte gewöhnlich drei oder vier Stunden frei, wir gingen dann nach Jersey City oder nach Hoboken, um zu baden, oder fuhren nach Long Island hinaus, um uns im Freien zu sonnen. Nach diesen vierzehn Tagen war ich wieder ganz hergestellt, aber ich litt noch immer an Kopf- und Ohrenschmerzen, die mich gelegentlich an die Brooklyn-Brücke erinnerten. Ich ging nicht mehr an diese Arbeit zurück. Ich hatte schon mein Teil der Unterwasserarbeit geleistet, ich wollte mich nicht wieder der Gefahr aussetzen. Selbst die Ingenieure, von denen man keine schwere körperliche Arbeit verlangte und die vierhundert Dollar im Monat für die bloße Leitung der Arbeit verdienten, konnten es nicht länger in dieser Luft als zwei Stunden täglich aushalten. Die Arbeiter, denen man zwei Schichten täglich zumutete, hatten die schwerste Arbeit zu leisten – die schwerste Arbeit, die doppelte Arbeitszeit und die kleinste Entlohnung. Mit der ganzen Elastizität der Jugend hatte ich mich schnell getröstet. Schließlich hatte ich doch einiges geleistet und etwas verdient, und nach der vierzehntägigen Erholung war ich wieder auf den Beinen, eifrig wie vorher nach Arbeitsmöglichkeiten spähend, aber seltsam weich durch den vierzehntägigen Müßiggang gestimmt.

Einige Tage später hörte ich von einer anderen, besseren Arbeit diesmal, die zwar auch schwer und nicht auf die Dauer bestimmt war. Ich dachte mir, es könnte trotzdem ein guter Anfang werden, und eilte hin. In der Nähe der Docks rissen sie eine Straße auf, um neue Gasröhren zu legen, und die Arbeit wurde von einem irischen Unternehmer geleitet. Er sah mich prüfend an.

»Sie haben wohl in Ihrem Leben nicht viel gearbeitet?«

»Nicht in der letzten Zeit,« sagte ich, »aber ich werde mich jetzt wieder an die Arbeit machen, und in einer Woche kann ich soviel arbeiten wie jeder andere.«

»Wollen Sie jetzt gleich anfangen?« fragte er mich, »Sie machen dann 'ne Halbtagsarbeit, und dann können wir miteinander reden.«

Es war ungefähr neun Uhr morgens. Ich wußte, daß er mich betrog, aber ich erwiderte: »Selbstverständlich«, und in meinem Herzen blühte die Hoffnung auf. In zehn Minuten hatte ich eine Spitzhacke in der Hand und machte mich an die Arbeit. Gott, welche Freude – endlich einmal stete Arbeit in freier Luft. Wieder einmal war ich Mensch und hatte einen Platz in der Welt. Aber die Freude dauerte nicht lange. Es war Anfang Juli, und es herrschte eine fürchterliche Hitze. Ich glaube, daß ich mich allzu scharf ins Zeug gelegt hatte, denn nach einer halben Stunde war ich in Schweiß gebadet, mein Anzug war zum Auswringen naß, und meine Hände waren aufgesprungen; in der vierzehntägigen Ruhe waren sie weich geworden. Einer der Arbeiter, ein älterer Mann, anscheinend Irländer, nahm es auf sich, mir einen guten Rat zu erteilen; er sah mich mit schlauen grauen Augen an und sagte:

»Sie brauchen nicht die Hacke so zu schwingen, als ob Sie sich bis nach Australien durchschlagen wollten. Nur sachte, junger Mann, lassen Sie uns auch etwas Arbeit für morgen zurück.«

Die anderen lachten. Ich fand den Rat ausgezeichnet und guckte es meinen Kameraden ab, wie geschickt sie mit ihrer Kraft sparten. Als ich nach dem Mittagessen an die Arbeit zurückging, war mein Rücken wie gebrochen, aber ich hielt es bis zum Abend aus und holte mir ein mäßiges Lob vom Bauleiter.

»In der ersten Woche werde ich Ihnen zwei Dollar täglich geben,« brummte er, »mehr sind Sie nicht wert mit solchen Händen.«

Ich konnte nicht handeln, ich hatte keinen Mut.

»Na schön«, sagte ich mürrisch.

»Sie müssen um sechs Uhr pünktlich da sein«, fuhr er fort. »Wenn Sie fünf Minuten zu spät kommen, wird Ihnen der halbe Tag abgezogen. Denken Sie dran.«

Ich nickte, und er ging seines Weges.

Als ich nach Hause kam, war ich sehr müde, aber innerlich sehr froh. Ich hatte das befriedigende Gefühl, daß ich mir meinen Lebensunterhalt für den Tag und noch etwas drüber mit Hacke und Schaufel verdient hatte, und es war sicherlich genug Arbeit dieser Art in Amerika vorhanden. In der Jugend ist man ein unverbesserlicher Optimist und findet es schwer, sich mit Bitterkeit vollzusaugen. Es ist viel leichter, zu hoffen als zu hassen. Ich berechnete, daß mich eine Woche Arbeit drei oder vier Wochen erhalten könnte, und in dieser Tatsache allein lag eine Welt von Befriedigung.

Ich leistete mir ein großartiges Abendessen, trank unzählige Tassen eines sogenannten Kaffees, und dann ging ich zu Bett und schlief fest von sieben bis fünf Uhr am nächsten Morgen. Ich fühlte mich sehr wohl beim Aufwachen, war jedoch vollkommen steif. Dies würde sich bald geben, sagte ich mir, aber das schlimmste war der furchtbare Zustand meiner Hände. Es hatten sich überall Schwielen gebildet, die hier und da aufgebrochen waren, und es tat furchtbar weh, wenn ich etwas anfaßte. Unter gräßlichen Schmerzen ging an diesem Tag die Arbeit vor sich, meine Hände waren aufgerissen und blutig. Aber um die Mittagszeit goß mir der alte Irländer Whisky über die Hände, worauf die Wunden trockneten. Es war, als ob er mir flüssiges Feuer über die Handflächen gegossen hätte, und sie brannten den ganzen Tag. In den nächsten drei oder vier Tagen litt ich furchtbar bei der Arbeit, meine Hände schienen schlimmer zu werden; aber als sie so wund waren, daß ich das Werkzeug, sooft es ging, wechseln mußte, begannen sie zu heilen, und gegen Ende der Woche konnte ich meine Tagesarbeit ohne nennenswerten Schmerz oder Müdigkeit leisten.

Die Arbeit dauerte drei Wochen, und als sie zu Ende war, gab mir der Unternehmer seine Adresse in Brooklyn und sagte mir, daß ich immer Beschäftigung bei ihm finden könnte. Ich war der einzige Arbeiter, den er auf diese Weise auszeichnete. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, und bedankte mich bei ihm. Immerhin, sagte ich mir, als ich nach Hause ging, lohnt es sich, etwas mehr als die anderen zu leisten, man bekommt dann leichter wieder Arbeit.

Meine neue Beschäftigung war Straßenbau, bei dem ungefähr hundert Arbeiter angestellt waren. Nach einigen Wochen sagte plötzlich der Unternehmer zu mir:

»Sie sollten sich was schämen, so zu schuften, wo Sie ein gebildeter Mensch sind! Warum verschaffen Sie sich nicht einen Untervertrag?«

»Wie soll ich denn solch einen Untervertrag bekommen?« fragte ich.

»Ich werde Ihnen einen geben«, sagte er. »Sehen Sie, ich bekomme fünf Dollar für ein Yard dieses Weges. Wenn Sie fünfzig oder hundert Yard nehmen wollen, gebe ich sie Ihnen zu vier Dollar pro Yard; man muß doch auch etwas daran verdienen,« fügte er schlau hinzu, »und Sie werden ja viel herausschlagen.«

Ich erinnere mich, daß ich ihm sehr dankbar war, so dankbar, als ob er aus reiner Güte handelte, was sicherlich nicht der Fall war.

»Aber wie soll ich die Leute bezahlen?« fragte ich.

»Das ist Ihre Sache«, erwiderte er gleichgültig. Ich zögerte eine kleine Weile, aber am nächsten Tag nahm ich einen Vertrag auf hundert Yard und ging auf die Suche nach Arbeitern. So seltsam es klingt, es war schwer, Arbeiter zu finden. Ich konnte nur Gelegenheitsarbeiter auftreiben – die heute arbeiteten und morgen verschwanden, und die alles eher als arbeitsfreudig waren. Ich versuchte ihre Faulheit durch eigene Überstunden gutzumachen. Gegen Ende der Woche gelang es mir, fünf oder sechs ziemlich gute Arbeiter zu finden. Nachdem die ersten fünfzig Yard fertiggestellt waren, berechnete ich mit Erstaunen meinen Gewinn. Ich mußte ungefähr hundert Dollar den Arbeitern bezahlen, und hundert Dollar blieben für mich selbst übrig.

Selbstverständlich wollte ich soviel von dieser Arbeit haben, wie ich nur bekommen konnte, und der Unternehmer überließ mir noch zweihundert Yard mehr. Aber jetzt hatte ich Pech. Es war gegen Ende Oktober, es hatte viel geregnet, dann fror es, und der Schnee fiel. Es stellte sich heraus, daß ich entweder die Arbeiter antreiben, die Arbeit verpfuschen oder mich mit wenig oder überhaupt mit gar keinem Verdienst begnügen mußte. An diesen zweihundert Yards hatte ich kaum soviel verdient wie an den ersten fünfzig. Trotzdem hatte mir die Arbeit eines Monats hundert Dollar reinen Gewinn eingebracht, und damit gab ich mich zufrieden.

Eines Tages, als ich mit dem alten Irländer sprach, mit dem ich zuerst zusammen gearbeitet hatte und der jetzt für mich tätig war, erwähnte ich zufällig, daß ich Geld verlieren würde, wenn der Frost einträte.

»Was sagen Sie da?« sagte er mißtrauisch.

»Es kostet mich jetzt vier Dollar pro Yard«, erklärte ich kläglich.

»Und Sie bekommen sechs oder sieben«, erwiderte er höhnisch.

»Vier«, verbesserte ich.

»Dann hat man Sie reingelegt,« schloß er, »der Alte bekommt acht.«

Ich dachte, daß er so einfach vor sich hinrede, und schenkte ihm weiter keine Aufmerksamkeit. Ich versuchte trotzdem einen etwas besseren Vertrag zu bekommen, was mir aber vollkommen mißlang. Er gab nicht mehr als vier Dollar pro Yard. Man konnt's nehmen oder bleiben lassen.

Ich nahm wieder zweihundert Yard zu diesem Preis, aber jetzt hatte sich das Glück gegen mich verschworen. Es fror den ganzen Dezember und Januar hindurch, die Erde war hart vereist, und als wir an einem Tag die Straße aufrissen, um am nächsten die Pflastersteine zu legen, mußten wir die Arbeit von neuem beginnen. Gegen Ende des Monats hatte ich fünfzig Dollar verloren, obwohl ich sechzehn Stunden täglich gearbeitet hatte. Ich sprach mit dem Unternehmer, erklärte ihm, daß dieser Preis unmöglich sei, aber er wollte mir nicht einen Cent mehr bewilligen und schwor bei allen Heiligen, daß er selbst nur fünf Dollar bekäme und es sich nicht leisten könne, mir mehr zu geben. »Man muß schon alles in allem nehmen, die fetten und die mageren Bissen«, sagte er.

Jetzt, wo ich genau wußte, was die Arbeit kostete, glaubte ich ihm nicht, nahm mir einen Tag frei und ging mit dem alten Irländer, um herauszufinden, ob er die Wahrheit gesprochen hatte. Einige Lagen Schnaps in einer irischen Kneipe, ein Gespräch mit einem Hauptmann des Tammanyringes, und ich hatte schnell herausgefunden, daß der Unternehmer den Vertrag zu zehn Dollar pro Yard bekommen hatte. Zehn, obwohl es mit Gewinn für fünf gemacht werden könnte. Ich hab' jedoch noch mehr erfahren. Mein Unternehmer hatte noch obendrein eine Eingabe gemacht und infolge des schlechten Wetters um eine Erhöhung des Preises gebeten, und es wurden ihm auch wirklich drei Dollar pro Yard mehr für die Arbeit, die ich in den letzten zwei Monaten geleistet hatte, zugebilligt. Ich verstand, auf welche Weise man reich wurde. Hier war ein ungebildeter Irländer, der zehntausend Dollar jährlich bei den städtischen Arbeiten verdiente. Er mußte zwar den Beamten des Tammanyringes Bestechungsgelder geben, aber er pflegte, wie man mir sagte, derart zu jammern und zu klagen, wie schlecht es ihm ginge, daß er nie mehr als fünfhundert Dollar für Schmiergelder jährlich ausgab.

Dies alles hatte ich an dem einen Morgen herausbekommen. Ich dankte dem alten irischen Arbeiter, lud ihn zum Essen ein, ging dann zu Henschel und verbrachte mit ihm den Nachmittag. Es traf sich gut. Er hatte den Herausgeber des »Vorwärts«, der sozialistischen Zeitung in New York, kennengelernt und sagte mir, ich könnte hingehen und mit Doktor Goldschmidt sprechen.

Ich war gerade in der richtigen Laune. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, für diesen irischen Schwindler zu arbeiten, ich konnte mich auch nicht entschließen, dem Rat des alten Irländers zu folgen, der mir sagte:

»Jetzt, wo Sie die Wahrheit wissen, müssen Sie dieses alte Biest, diesen Schwindler, zwingen, Ihnen sieben Dollar pro Yard zu geben. Sie können ihm drohen, es in die Zeitungen zu bringen. Dann wird er es mit der Angst bekommen.«

Ich wollte nicht dem Unternehmer Angst einjagen und wollte mich auch nicht an seinen Diebstählen beteiligen. Ich wollte ihn einfach loswerden und die ganze schmierige Geschichte vergessen. Immerhin hatte ich zweihundert bis dreihundert Dollar verdient, und meine Erfahrungen drängten danach, gestaltet und in die Öffentlichkeit gebracht zu werden.

Ich ging mit Henschel, um Dr. Goldschmidt zu besuchen, den ich sehr nett fand. Er war ein Jude mit wirklicher Bildung und einer gewissen Gutmütigkeit, die mir gefiel. Er fragte mich, worüber ich schreiben möchte. Ich sagte ihm, ich könnte meine Erfahrungen als Arbeitsloser oder als Tagelöhner mit Hacke und Schaufel schildern oder auch über den Sozialismus von Plato schreiben. Ich hatte dieses Thema im Sinn, als ich vor einigen Monaten die Zeitungsbureaus abgeklappert hatte. Jetzt klang Plato und seine Republik fast lächerlich in meinen Ohren. Mir gingen ganz andere Gedanken im Kopfe herum. Goldschmidt war anscheinend derselben Meinung, denn er lachte, als ich Plato erwähnte, und als er zu lachen begann, wurde es mir plötzlich klar, daß ich einen weiten Weg in diesem Jahr in New York zurückgelegt hatte. Ich wurde mir auf einmal dessen bewußt, daß meine Erfahrungen einen Mann aus mir gemacht hatten, daß diese zwölf oder fünfzehn Monate einer vergeblichen Arbeitssuche mich zu einem Weltverbesserer, wenn nicht zu einem Rebellen gestempelt hatten.

»Lassen Sie mich über meine Erfahrungen schreiben«, sagte ich schließlich zu Goldschmidt. »Die Hacke und die Schaufel sind letzten Endes ebenso interessant wie Schwert und Panzer, und die alten Ritter, die mit dem Drachen kämpften, hatten es nicht mit so grauenhaften Dingen wie die komprimierte Luft zu tun.«

»Komprimierte Luft?« warf er ein, »was meinen Sie? Erzählen Sie bitte.«

Er hatte sicherlich den journalistischen Instinkt für das Neue und Sensationelle, und so erzählte ich ihm meine Geschichte; aber ich konnte nicht bloß von meiner Arbeit in den Senkkammern berichten, ich erzählte ihm fast alles, was ich dort erlebt hatte, und was das allerschlimmste war: ich brachte in meiner gründlichen deutschen Art zuerst die Moral und dann die Tatsachen. Ich sagte ihm, daß die manuelle Arbeit in dem amerikanischen Klima so schwer und erschöpfend sei, daß sie einen in ein seelenloses Tier verwandele. Man ist am Abend zu müde, um zu denken oder sich für die Vorgänge in der Welt zu interessieren. Es kommt kaum vor, daß ein Arbeiter die Abendzeitung liest. Die Sonntagszeitung ist seine einzige geistige Nahrung. An den Wochentagen arbeitet er, ißt und schläft. Die Arbeitsbedingungen in den Vereinigten Staaten erzeugen ein zum Umsturze bereites Proletariat. Jeder Mensch braucht irgendeine Erholung im Leben, einige Stunden Ruhe und Freude. Aber der Arbeiter hat keine Zeit zur Erholung, er gönnt sich nicht einen Tag Urlaub, denn er könnte seine Arbeit verlieren und vielleicht dann mehr freie Zeit haben, als ihm lieb wäre.

Meine Ansichten schienen den Doktor zu interessieren, aber meine Erfahrungen in den Senkkammern waren ausschlaggebend.

»Schreiben Sie über diese ganze Zeit der Arbeitslosigkeit,« sagte er, »und schließen Sie mit ihren Erfahrungen in den Senkkammern. Ich weiß einiges über diese Arbeit. Die Unternehmer werden sechzig Millionen Dollar dafür bekommen, und meiner Ansicht nach wird es sie nicht mehr als zwanzig kosten. Aber ich will noch mal nachsehen und werde Ihre Geschichte mit einigen Zahlen und Tatsachen belegen.«

»Aber wie kann man denn zweihundert Prozent bei einem Kontrakt verdienen?« fragte ich und vergaß im Augenblick meinen irischen Unternehmer, der mindestens den doppelten Profit und vielleicht noch mehr herauszulügen versuchte.

»Man kann es sicherlich,« erwiderte Goldschmidt, »es gibt wenige oder überhaupt keine Konkurrenten bei den großen Unternehmungen; die zwei oder drei Menschen, die bereit und in der Lage sind, es zu übernehmen, können den Mund weit aufreißen.«

Langsam dämmerte es mir auf, daß unser ganzes Konkurrenzsystem ein organisierter Schwindel sei.

Ich ging weg und beschloß, eine Reihe von Artikeln zu schreiben. Während ich mit Goldschmidt sprach, hatte ich es mir vorgenommen, nicht mehr zum Straßenbau zurückzukehren, es war sinnlos, uninteressant, abstumpfend, und die Korruption war mir unsagbar zuwider. Eine Stunde Unterhaltung mit einem gebildeten Menschen hat mich für immer davon abgebracht. Es war mir verhaßt, den verlogenen Unternehmer wiederzusehen. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, ich sehnte mich danach, zu meinen Büchern zurückzukehren, sehnte mich nach reinen Anzügen und den Gewohnheiten eines geistigen Lebens.

Ich nahm mir Zimmer in der Stadt auf der Ostseite, sehr einfache Zimmer, die mich mit Frühstück und Tee ungefähr zehn Dollar wöchentlich kosteten, und fing an, zu schreiben. Ich mußte jedoch bald feststellen, daß die Arbeit mit Hacke und Schaufel in Kälte und Unwetter mir die Arbeit mit der Feder fast unmöglich gemacht hatte. Mein Gehirn war müde, die Worte stellten sich nur langsam ein, und ich wurde sehr bald schläfrig. Das Denken ist auch eine Funktion, die der Übung braucht, sonst wird es mühselig. Aber in ein oder zwei Wochen schrieb ich schon geläufiger, und in einem Monat hatte ich eine Reihe deutscher Artikel geschrieben, die meine Erfahrungen als Neuling schilderten, und schickte sie an Goldschmidt ab. Sie gefielen ihm ausgezeichnet, und er zahlte mir hundert Dollar. Als ich seinen Brief bekommen hatte, fühlte ich, daß ich mich durchzusetzen begann und schließlich die richtige Arbeit gefunden hatte. Die Artikel schlugen auf eine sensationelle Weise ein, und ich bekam noch zweihundert Dollar mehr, als sie in Buchform veröffentlicht wurden. In den nächsten drei oder vier Monaten war es für mich ein leichtes, in New York herumzugehen und die Augen offen zu halten, um ein Thema für zwei oder drei Artikel in der Woche zu bekommen. Ich verdiente zwar nicht viel damit, aber nach meinen Erfahrungen waren zwanzig bis fünfundzwanzig Dollar in der Woche mehr als genug für meine Bedürfnisse.

Ich hatte außerdem das Gefühl, daß mir die Lösung des Problems gelungen war. Ich konnte mir immer den Lebensunterhalt auf die eine oder andere Weise, mit Hacke und Schaufel, wenn nicht mit der Feder, verdienen. Soweit wenigstens war ich Herr meines Schicksals.

Eines Tages, als ich in das Bureau des »Vorwärts« ging, lief ich Raben in die Arme. Wir zogen uns sofort in ein in der Nähe gelegenes deutsches Restaurant zurück, bestellten ein deutsches Mittagessen und tranken einige Seidel Bier. Er hatte, seit wir uns getrennt hatten, immer Arbeit gefunden, aber keine gutbezahlte. Er erzählte mir, daß er nach Chicago gehen möchte wo die Bezahlung besser wäre, aber er habe ein fabelhaftes Mädel, von dem er sich nicht trennen könne. Er erzählte mir von ihr mit Begeisterung, und mir fiel zum erstenmal auf, wie sinnlich und dick seine Lippen waren.

Während wir sprachen, kam mir auch der Gedanke, nach dem Westen zu gehen, um mich auf einem neue Boden zu versuchen. Diese verfluchten Monate, in denen ich vergeblich Arbeit suchte, ließen in mir einen Widerwillen gegen New York zurück. Ein Rest von Verbitterung und Verstimmung blieb in meiner Seele haften.

»Ich möchte gern nach Chicago gehen,« sagte ich zu Raben. »Könnten Sie mir eine Empfehlung an jemanden geben?«

»Sicherlich,« sagte er, »an August Spieß, den Inhaber und Herausgeber der Arbeiterzeitung. Es ist ein erstklassiger Kerl. Er wird Sie sicher nehmen. Ihr Süddeutschen hängt ja wie Kletten zusammen.« Am selben Abend suchte ich Dr. Goldschmidt auf und fragte ihn, ob ich ihm jede Woche einen Brief aus Chicago über die dortigen Arbeitsverhältnisse schicken könnte, und er verabredete mit mir, daß er jede Woche einen Brief – zehn Dollar pro Artikel – nehmen würde. Es müßten aber gute zwei Spalten sein – zwei- oder dreitausend Worte für zehn Dollar. Das Honorar war nicht hoch, aber es war wenigstens etwas, um mich vor dem Elend zu schützen, und das war die Hauptsache. Am Morgen packte ich meinen kleinen Koffer und fuhr nach Chicago.


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