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Siebentes Kapitel

Diese Vorfälle in den Streikversammlungen und die Erlebnisse, die mit Lingg zusammenhingen, hatten mich nicht nur von Elsie entfernt und mich daran gehindert, viel Zeit mit ihr zu verbringen, sondern hatten mich ihr auch in gewisser Hinsicht entfremdet. Wir hatten uns zwei- oder dreimal wöchentlich getroffen, aber ich war immer mit den Arbeiterkämpfen beschäftigt, von den Gefühlen und Überlegungen erfüllt, die dieser wilde Kampf in mir wachrüttelte, und durch die Forderungen abgelenkt, die die Ereignisse an meine Zeit und meine Gedanken stellten. Bevor dieser Zeitraum zu Ende ging, bemerkte ich, daß meine Stellung zu Elsie sich gebessert hatte. Je mehr ich mich von ihr zu entfernen schien, ihr weniger versklavt wurde, desto gütiger und weniger herrschsüchtig zeigte sie sich. Sobald ich dies merkte, mischte sich ein wenig Verachtung in meine Liebe zu ihr. War sie wirklich wie alle anderen Frauen, von denen ich gelesen hatte, daß sie sich entzogen, wenn man sich um sie bemühte, und einem nachrannten, wenn man sich nicht um sie kümmerte? Dies war sicher nicht der Fall, überlegte ich mir; sie war ja für mich das Teuerste auf Erden. Aber ich kann nicht leugnen, daß sie mich am meisten anzog, wenn sie herrschsüchtig und anspruchsvoll war. Wir gaben uns beide darin nichts nach, mußte ich widerstrebend feststellen. Die menschliche Natur ist bei Mann oder Frau nicht sehr verschieden.

Aber die Tatsache, daß die Selbstsicherheit, Selbstbeherrschung mich in Elsies Augen hoben und meinen Einfluß ungeheuer stärkten, war vielleicht der wirkliche Gewinn in den gelegentlichen Zusammenkünften dieser letzten Wochen. Das letztemal, als ich sie sah, wurde sie rot vor Freude über unsere Begegnung, und als wir uns trennten, küßte und klammerte sie sich an mich, als ob sie mir ihre Leidenschaft beweisen wollte.

»Wirst du morgen kommen? Komm doch bitte!« sagte sie.

Der Geist des Widerspruches reizte mich, und ich antwortete mit lässiger Höflichkeit:

»Ich werde Sonnabend kommen und dich zu einem Spaziergang abholen – wenn es nur irgendwie geht«, fügte ich hinzu.

»Ich werde auf dich warten«, erwiderte sie schnell.

Dieser Sonnabendnachmittag war sonnig und heiß, und unsere Schritte richteten sich wie selbstverständlich dem Seeufer zu, denn der Asphalt war aufgeweicht und roch atembeklemmend. Man bemühte sich, diesen glühenden Lichtbündeln zu entgehen, die vom Pflaster und den Gebäuden zurückgeworfen wurden. Sie blendeten unerträglich. Ich wunderte mich nicht, daß Elsie die Lippen mißmutig kräuselte und sagte:

»Das Gehen ist mir verhaßt. Heute ist ein Tag für eine Spazierfahrt.«

Ich hatte eigentlich die Absicht, in den Park zu gehen und mich auf den Rasen zu legen. Aber in dem Augenblick, in dem sie dies sagte, dachte ich an die Bootfahrt und hatte nun eine neue Idee.

»Ich weiß etwas Besseres als eine Spazierfahrt«, sagte ich.

»Was denn?« fragte sie mit funkelnden Augen.

»Das wirst du in der nächsten Viertelstunde sehen«, erwiderte ich, und wir schritten auf das Bootshaus zu, während sie über die Ereignisse der letzten vierzehn Tage plauderte. Sie freute sich, weil ihr Unternehmer mit ihrer Arbeit anscheinend sehr zufrieden war und ihr eine Gehaltserhöhung versprochen hatte. Ich erinnere mich, daß ich ein wenig eifersüchtig wurde – von einer unbestimmten Eifersucht ergriffen –, obwohl ich mich um ihretwillen freute, daß ihre Stellung sich gebessert hatte. Diese unwürdige Regung gab sich jedoch bald, denn ihre aufreizende Schönheit verbreitete eine warme Zärtlichkeit um sich, die mein Herz mit Freude durchflutete und alle Gedanken an eine Rivalität verbannte.

In einigen Minuten kamen wir an den Landungssteg, und bevor noch der Yankee Zeit hatte, eine Frage an mich zu richten, schrie Elsie in Erregung auf:

»Das ist ja ganz entzückend. Eine Fahrt auf dem kühlen Wasser ist wirklich das Allerschönste.«

»Wir wollen ein breites, sicheres Boot haben«, sagte ich, und der Yankee wies auf ein Boot hin.

»Es läßt sich etwas schwer rudern, wenn Sie weit fahren wollen,« bemerkte er, »obwohl es auf dem Wasser bei weitem nicht so heiß ist wie auf dem Lande. Aber das Boot ist ganz fest und sicher.«

Ich hatte nicht die Absicht, so weit zu rudern, wie wir es damals mit Lingg getan hatten, und so nahm ich das Boot, das er uns empfahl, und nachdem ich Elsie an das Steuer gesetzt und ihr gezeigt hatte, wie man die Steuerleine handhaben mußte, ruderte ich ungefähr eine halbe Stunde in den See hinaus, stand dann auf und legte mich zu ihren Füßen. Sie sah mich mit einem etwas scheuen Blick, mit dem Ausdruck großer Liebe in den Augen an, die kaum wagten, meinem Blick zu begegnen.

»Ist es nicht seltsam,« sagte sie zu mir, »vor einem Monat nahm ich mir immer wieder vor, dich nicht mehr zu sehen; ich wiederholte es mir und dir, daß ich es nicht mehr tun wolle. Wenn ich allein war, habe ich mir immer wieder gesagt: Wir sollten uns eigentlich nicht mehr sehen, es ist nicht richtig, und ich werde es nicht wieder tun. Aber damals bedeutete dies ›es ist nicht richtig‹ wohl ›es liegt mir nicht sehr viel daran‹, denn jetzt, wo du ein- oder zweimal nicht gekommen bist, hast du mir sehr, sehr gefehlt. Werde jetzt nicht eingebildet, sonst sage ich dir nichts mehr.«

Nach diesem Geständnis legte ich natürlich den Arm um ihre Hüften und blickte zu ihr auf. Ihre Augen mieden noch meinen Blick. Ich glaube, daß Elsie mich zuerst gern gemocht hat, daß ihre Liebe jedoch erst allmählich wuchs, und jetzt war sie ebenso verliebt wie ich, verliebt und verloren in dem verklärenden Glanz.

»Wir sind hier ganz allein, Bub, nicht wahr?« fuhr sie fort, »wir sind hier viel einsamer als in einem Zimmer oder irgendwo; nur wir beide zwischen Himmel und Wasser?«

Ich nickte zustimmend, und sie kehrte zu dem Ausgangspunkt unsres Gesprächs zurück.

»Ich wollte nicht, daß wir uns wieder treffen, weil ich dachte, mir selbst liegt nicht viel daran, während es dir sehr viel bedeutet, und heute scheint es mir, als ob mir immer mehr daran liegen würde. Während ich früher immer nach Gründen gegen dich suchte, so suche ich jetzt nach Gründen, die für dich sprechen. Ist es nicht seltsam?« Und ihre göttlichen Augen schlugen sich für einen Augenblick scheu und groß auf. Ich hob den Kopf empor, und ihre Lippen fielen auf meinen Mund herab. Ihre Hingabe war von wunderbarer Zärtlichkeit.

»Liebe erzeugt Liebe, Elsie,« sagte ich, »es ist das Gesetz der Resonanz.«

»Übrigens«, sagte sie in ihrem schnellen Stimmungsumschwung, »hast du dich sehr verändert. Als wir uns zuerst trafen, warst du so furchtbar deutsch. Du sprachst ein sehr komisches Amerikanisch und hattest noch allerlei deutsche Angewohnheiten. Und heute sprichst du Amerikanisch so gut wie ich. Du warst etwas weich damals und sehr sentimental, jetzt bist du stärker und entschlossener.

Du bist auch sehr gebildet, nicht wahr, du bist viel gebildeter als unsere Jünglinge. Du müßtest weiter an dir arbeiten.«

Sie war ganz eifrig und erregt; auf einmal nahmen ihre Gedanken eine neue Wendung, und ihre Mundwinkel senkten sich schmerzvoll herab.

»Aber wenn du noch weiter studierst, wird es zehn oder zwölf Jahre dauern, und wie werde ich in zehn Jahren aussehn? Ich werde eine alte Hexe sein, stell dir vor: neunundzwanzig! Und wenn ich dich jetzt heiraten würde, könntest du nie ans Ziel kommen. Du würdest durch meine Schuld immer arm bleiben. Davor habe ich eine solche Angst! Nein, das darfst du nicht tun, Bub, bitte, hör auf, sonst werde ich böse,« unterbrach sie sich, denn ich bedeckte ihren Arm mit kleinen, langsamen Küssen, die rote Male wie Rosenblätter auf der köstlichen Haut zurückließen; aber als sie meinen flehenden Blick sah, beugte sie sich herab und küßte mich so, wie nur sie allein küssen konnte.

Dann begannen wir von diesem und jenem zu sprechen, schmiedeten Zukunftspläne, die uns zusammenbringen würden. Sonst war ich es, der die Luftschlösser baute; aber in letzter Zeit hatte auch Elsie begonnen, ihre Schlösser oder, besser gesagt, gemütliche kleine Häuser zu bauen, die der Erfüllung näher als meine Schlösser zu sein schienen und sicher viel reizvoller waren. Aber jetzt sprach ich mit einer gewissen Sicherheit von einer festen Stellung an einer amerikanischen Zeitung, denn Wilson, der Herausgeber der »Post«, war gern bereit, mich in seinen Redaktionsstab aufzunehmen, und ich hätte dann mit einem Verdienst von mindestens achtzig Dollar monatlich zu rechnen, was für uns beide ausreichend gewesen wäre. Aber sie schüttelte ihr vernünftiges Köpfchen, bis ich sie von ihrem Sitz in meine Arme herunterzog, und so saßen wir da, hielten uns umschlungen, und unsere Lippen ruhten aufeinander. Nach einer Weile entwand sie sich wieder meinen Armen.

»Nein, wir sollten uns nicht mehr sehen,« sagte sie, »wir sollten nicht mehr zusammenkommen. Du lachst, du schlimmer Bub, weil ich es schon so oft gesagt habe. Aber diesmal glaube ich es wirklich. Wenn ich es früher sagte, so lag mir nichts daran. Aber jetzt ist es ganz anders. Ja, ich weiß ... Bei jedem Zusammentreffen wächst dein Verlangen, und je stärker du nach mir verlangst, desto schwerer wird es für mich, mich zu wehren und mich zu versagen. Jedesmal lockt mich mehr die Lust der Hingabe, und ich habe Angst vor mir selbst. Wenn wir uns weiter sehen und uns so küssen, werde ich eines Tages nachgeben, so ist eben die weibliche Natur, und dann werde ich dich und mich hassen. Ich glaube, ich würde mir das Leben nehmen. Ich hasse es, so Stück für Stück aus lauter Schwäche nachzugeben und zu etwas gebracht zu werden, was ich nicht tun wollte. Es hat etwas furchtbar Demütigendes.«

Ich ließ sie ruhig reden und küßte und streichelte sie weiter. Etwas von Linggs Zielsicherheit war auf mich übergesprungen. Die Sprache ist oft ein Schleier der Seele, und meine Geduld und mein zähes Verlangen brachten uns näher, als es Worte gekonnt hätten. Von Tag zu Tag wurde ich sicherer und überlegener, und Elsie wurde immer weicher und wehrloser, kam der vollkommenen Hingabe immer näher.

Ich küßte sie daher wortlos weiter, bis sie sich mir plötzlich entzog, das Köpfchen zurückwarf und einen tiefen Atemzug tat.

»Du schlimmer Bub, du, warum quälst du mich so?«

»Ach, dir liegt ja nicht viel an mir,« sagte ich und schaute in ihre Augen mit einem stummen Flehen, »da kannst du auch nicht von Qual sprechen. Dir liegt nicht genug an mir, um selbst ein klein bißchen nachzugeben.«

»Mehr als du glaubst«, sagte sie und gab sich mir für einen Moment in ihrem Blick. Aber dann stand sie sofort mit stolzer Entschiedenheit auf, glättete ihren Rock, verzog das Gesicht, als sie sah, wie der dünne Musselin zerdrückt war, und setzte sich wieder an das Steuer zurück.

Ich ließ sie gewähren. Welches Recht hatte ich denn, sie durch meine Zärtlichkeiten in Versuchung zu führen, welches Recht? Jederzeit konnte Lingg mich rufen, und ich war sicher, daß ich seinem Rufe folgen würde, und jede Hoffnung auf Liebe und ein glückliches Zusammenleben mit Elsie versank in einem schwarzen Abgrund der Angst. Ich nahm es mir vor, mich zurückzuhalten, und tat es auch bei jeder Gelegenheit, obwohl es mich Blut kostete.

Ich hatte bereits bemerkt, daß alle Zärtlichkeiten, so unschuldig sie meistens waren, einen dauernden Fortschritt bildeten. Sie hatte mir einmal gestattet, einen Blick auf die Schlankheit ihrer Glieder zu werfen, sie konnte es mir nicht das nächste Mal verwehren. Es wurde ihr wirklich immer schwerer, mir etwas zu verweigern, denn auch in ihr war die Liebe mit ihrem übermächtigen Verlangen. Trotz meines Entschlusses, nicht weiterzugehen und sie auf keinerlei Weise zu kompromittieren, schienen wir uns auf einer schiefen Ebene zu befinden. Jede kleinste Bewegung ließ uns tiefer hinabgleiten, und es war unmöglich, umzukehren. Ich weiß nicht, ob Elsie sich dessen so bewußt war wie ich. Manchmal möchte ich glauben, daß sie mit noch größerer Klarheit wußte, wohin der Weg führte.

Aber an jenem Tage, wie ich mich noch mit Freude erinnere, hatte ich mich im Zaume und gab nicht dem unaufhörlich quälenden Verlangen nach. Wenn Elsie mich für meine Selbstbeherrschung durch erhöhte Zärtlichkeit belohnt hätte, würde ich vielleicht auf dem schwierigen Wege durchgehalten haben. Aber sie tat es nicht. Sie dachte anscheinend, daß ich ihr ihren Entschluß übelgenommen hatte, und quittierte daher meine unliebsame Kälte mit Verstimmung, und dies konnte ich einfach nicht aushalten, und so küßte ich sie, bis sie ihre gute Laune zurückgewann, und dankte Gott, daß die Aprilsonne ihren kurzen Tageslauf bald beendet hatte und uns zwang, ans Ufer zurückzurudern.

Auf dem Heimwege bereute Elsie ihre Kälte und war ganz bezaubernd zu mir. Als wir uns zum Abschied küßten, versprach ich ihr, sie wie gewöhnlich zu sehen und ihr mehr Zeit zu widmen, als ich es in den letzten Tagen getan hatte. Es schien, als ob meine guten Vorsätze einer schweren Prüfung unterworfen werden sollten.

Als ich allein war und Zeit für kühle Überlegungen hatte, setzte ich mich ernsthaft mit mir selbst auseinander. Gott weiß, daß ich nicht der Frau weh tun wollte, die ich liebte, und doch brachte uns jedes Zusammensein näher bis zu dem Augenblick, wo es keinen Rückzug mehr gab, wo der letzte Schleier von selbst fallen und das Unvermeidliche geschehen würde. Alle meine mißglückten Versuche, der Strömung, die wie eine Sturzwelle über uns hinwegtanzte, zu widerstehen, zeigten nur, wie stark, wie unwiderstehlich diese Strömung war. Schließlich gelangte ich zu einem Entschlusse, und am nächsten Sonnabendabend schrieb ich ihr, daß wir uns am nächsten Sonntag nicht sehen könnten: »Wir müssen vernünftig sein.« Bevor ich am nächsten Morgen das Haus verließ, bekam ich einige rührende Zeilen, in denen sie mich bat, sie im Laufe des Tages zu besuchen. Wenn ich zu tun hätte, sollte ich zum Abendbrot kommen oder sogar nach dem Abendbrot, nur um ihr »gute Nacht« zu sagen. Die Freude auf mein Kommen würde ihr den Tag erhellen, die Stunden dehnten sich lang und trostlos aus, wenn ich wegbliebe ...

Ich gab selbstverständlich nach. Ich schickte sofort die Rückantwort, daß ich die Arbeit aufschieben würde, und lud sie und ihre Mutter zu einer Spazierfahrt und einem Mittagessen ein.

Ich hatte an ihre Mutter als an einen Schutz gedacht. Und sie stand auch wirklich wie ein Schutzwall zwischen uns. Aber ich glaube, daß das Zusammensein und die vollkommene Unverfänglichkeit der Situation Elsie verlockten, ihre Liebe mir noch offener zu zeigen, als sie es getan hätte, wenn wir allein gewesen wären. Den ganzen Tag hindurch war sie unbeschreiblich reizvoll – herausfordernd, trotzig, herrschsüchtig wie immer, mit einer Unterströmung von rührender Weichheit und Hingabe. Die Gegensätze in ihr, diese schnellen Übergänge, waren bezaubernd.

Ich führte sie in ein kleines deutsches Restaurant, in dem ich einmal mit Lingg war, und der ganze Raum wurde durch ihre Gegenwart aufgehellt. Sie kostete alle deutschen Gerichte, geriet in Entzücken über das Sauerkraut, wollte wissen, wie es gemacht wurde, fragte nach dem Kochrezept, schmeichelte dem deutschen Kellner, der über sein ganzes bleiches Gesicht errötete, bis sein strohfarbenes Haar fast in Brand geriet.

Nach dem Frühstück machten wir einen Spaziergang, trafen auf eine schattenspendende Baumgruppe, setzten uns hin und plauderten. Ich konnte nicht der Versuchung widerstehen, Elsie zu berühren, und bei jedem Kontakt rannen mir Schauer den Rücken herunter. Von Zeit zu Zeit streifte mich Elsie, und als es zum zweiten- oder drittenmal geschah, merkte ich, daß sie es absichtlich tat. Dieser Gedanke war wie ein Rausch.

Wir fuhren am Seeufer entlang zurück. Die untergehende Sonne schoß im Westen lange rubinrote Pfeile fächerartig über den Himmel. Die Farben spiegelten sich im Wasser in dunkler, purpurner Pracht. Ich werde diese Fahrt nie vergessen. Wir hatten eine Decke über unsere Knie ausgebreitet. Ich saß Elsie gegenüber, und selbstverständlich begegneten sich unsre Füße und hielten einander umklammert. Der Friede und die Stille des sterbenden Tages hüllten uns ein. Es war der glücklichste Tag meines Lebens, denn er klang auch harmonisch aus. Frau Lehmann bestand darauf, daß ich zum Abendbrot bliebe, und wir aßen alle zusammen in der Pension. Nach dem Abendbrot setzte Elsie ihren Hut auf, wir gingen spazieren, und dann brachte ich sie wieder nach Hause zurück. Inzwischen waren die Sterne zum Vorschein gekommen, und ein kleiner silberner Mond, ein Kindermond, schien über dem See. Als wir uns an der Haustür »gute Nacht« sagten, schlangen sich ihre Arme wie selbstverständlich um meinen Nacken, und unsere Lippen klammerten sich aneinander fest. Als ich ihre Hingabe fühlte, zog ich sie, überwältigt von meinem Verlangen, in den dunklen Hausflur hinein. »Ich liebe dich,« sagte ich, »mein Einziges, ich liebe dich«, und fühlte, wie meine Sinne schwanden.

»Mein Bub«, seufzte sie, und ihr schlanker, warmer Leib gab meinem Verlangen nach.

Aber der Ort war unmöglich. Einige Minuten später hörten wir Schritte auf der Treppe und auch Schritte vor dem Hause. Ich konnte sie nur mit einem langen, leidenschaftlichen Kusse an mich ziehen und sie wieder loslassen, als einer der Pensionäre hineinkam und uns im Hausflur entdeckte. Elsie begrüßte ihn mit selbstverständlicher Höflichkeit und vollkommen unbekümmert. Ich gab mir auch die Mühe, harmlos auszusehen, aber meine Pulse hämmerten mit tausend Schlägen, das Blut stürmte durch meine Adern, und meine eigene Stimme klang mir seltsam rauh in den Ohren. Und doch ist mir die gestohlene Süße dieser Augenblicke unvergeßlich, sie ist wie Honig in meiner Erinnerung. Sooft ich daran denke, glaube ich, die Ekstase des Lebens an der Quelle selbst gekostet zu haben, wie ich sie nie vorher durchkostet hatte.

Es war der schönste Tag meines Lebens, sagte ich mir, als ich in meine Wohnung zurückging, und dieser Gedanke war näher der Wahrheit, als ich es mir damals vorgestellt hatte. Der schönste Tag! Ich sehe sie noch, wie sie in der geöffneten Tür stand – das empörte Gesichtchen und die großen Augen mit den aufgebogenen Wimpern. Und ich höre die kühlen Worte, mit denen sie den unbequemen Kerl abwies ...

Wie fern und wie schön scheint mir jetzt diese Stunde ...


All die Geschehnisse des Spätfrühlings dieses Jahres sind in meiner Erinnerung in ein goldenes Licht gebadet. Sie haben die flüchtige Lieblichkeit der Aprilsonne. Das Wetter trug noch zu der Täuschung bei. Es gab lange Regentage zu Anfang des Monats. Jetzt bekamen wir eine Art von Hochsommer mitten im Frühling. Der furchtbare, harte Winter schien ganz aus der Erinnerung verschwunden zu sein, und die ganze Stadt atmete Lebenslust aus. Man unternahm Ausflüge nach allen Richtungen, eine Zeitlang starb das Grollen des Bürgerkrieges ab und wurde vom Kinderlachen übertönt. Mein neuer Entschluß, mich von Elsie zurückzuziehen, brachte mich immer mehr mit Lingg und Ida zusammen. Da auch meine Arbeit in der »Post« immer wichtiger wurde, mußte ich häufiger Lingg um Rat fragen. Ich konnte nur selten von seinen Ansichten Gebrauch machen. Sie waren weder volkstümlich noch allgemeinverständlich. Aber er zwang mich immer zum Denken; und während er früher mich nur stillschweigend ansah und mit den Achseln zuckte, wenn er nicht mit mir einverstanden war, gab er sich jetzt die Mühe, mir die Schritte auf dem Wege zu zeigen, auf dem man zu neuen Gedanken gelangt.

Ich begann mir jetzt auch der unendlichen Güte seiner Natur bewußt zu werden. Trotz seiner kalten und etwas formellen Art war er besonders rücksichtsvoll und mitfühlend bei jeder Art von Schwäche. Ida litt unter oft wiederkehrenden starken, nervösen Kopfschmerzen. Während sie krank lag, ging Lingg im Zimmer mit katzenartigen, lautlosen Schritten, brachte ihr Eau de Cologne, zog die Vorhänge zu, um das Sonnenlicht abzublenden, wechselte die heißen Kissen – war unermüdlich, ruhig, hilfsbereit. Sobald die Krise vergangen war, schlug er irgendeinen Ausflug vor: man fuhr ungefähr vierzig Meilen mit der Bahn und verbrachte dann einen ganzen Tag im Walde, den man durchstreifte und wo man in weltverlorenen Farmhäusern zu essen bekam.

Ich erinnere mich an einen Ausflug, der in diese Zeit fiel. Nachdem Idas Kopfschmerz vergangen war, geriet sie in eine ausgezeichnete Stimmung, und wir verbrachten den ganzen Morgen damit, Blumen zu pflücken, die sie zu Sträußen band. Um ein Uhr aßen wir in der Farm von Öseler, und gegen drei Uhr gingen wir wieder in den Wald wie in eine Kirche zurück. Unser Zug ging erst um sieben Uhr, und Herr Öseler hatte versprochen, uns mit seinem Wagen abzuholen, so daß wir noch vor der Abreise Tee trinken konnten. Zuerst lagen wir müßig und lachend herum, weil uns die Lust fehlte, in dieser Hitze etwas zu unternehmen. Aber als der Sonnenball am Himmel herabglitt und die Luft kühler wurde, kam auch eine ernsthaftere Stimmung über uns.

Seit langem wollte ich schon wissen, warum Lingg sich einen Anarchisten nannte, was er darunter verstand, und wie er seinen Standpunkt verteidigte. In diesem Sinne begann ich ihn auch auszufragen. Ich fand ihn in einer mitteilsamen Stimmung, und er trug an jenem Tage seltsamerweise eine idealistische Begeisterung zur Schau, die seiner Natur fremd zu sein schien, und die man nach einer oberflächlichen Bekanntschaft ihm nie zugetraut hätte.

»Der Anarchismus ist ein Ideal«, sagte er. »Wie alle Ideale ist er selbstverständlich voll von praktischen Fehlern und hat doch einen gewissen Zauber. Wir wollen über uns selbst herrschen und weder andere beherrschen noch von ihnen beherrscht werden; das ist der Anfang. Wir gehen von dem Gemeinplatz aus, daß kein Mensch das Recht hat, über einen andern zu urteilen. Es ist wohl das blödsinnigste Schauspiel, selbst auf unsrer komischen Erde, wenn ein Richter über seine Mitbrüder ein Urteil fällt. Um überhaupt über einen Menschen urteilen zu können, muß man ihn nicht nur sehr genau kennen, sondern ihn lieben, ihn so sehen, wie er sich selbst sieht; während eure Richter nichts über ihn wissen und an Stelle eines verständnisvollen Mitgefühls die Unkenntnis und die juristische Formel setzen. Und dann diese gemeinen, seelenmordenden Strafen des Gefängnisses! – Schlechtes Essen, gezwungene Untätigkeit oder ungeeignete Arbeit und ein Abschließen in der Einsamkeit statt eines wohltuenden Zusammenseins ...

Wenn man selbst annimmt, daß es Menschen gibt, die an unheilbaren moralischen Fehlern leiden – wenn es welche gibt, dann können es nur sehr wenige sein –, aber selbst angenommen, daß solche Menschen existieren, warum soll man sie strafen? Wenn sie unheilbare, physische Leiden haben, wie z. B. Elefantiasis, werden sie in herrlich ausgestatteten Spitälern untergebracht, bekommen das beste Essen, gute Luft, erheiternde Bücher und regelmäßige Bewegung. Wir umgeben sie auch mit reizenden Krankenschwestern und guten Ärzten. Warum sollten wir nicht unsere moralisch leidenden Patienten so gut behandeln, wie wir es mit den Idioten tun. Seitdem Christus mit seiner Seele voll Mitleid auf die Erde kam, wurden wir uns auf eine dumpfe, vage Weise bewußt, daß diese verkrüppelten oder erkrankten Menschen die Sündenböcke der Menschheit sind; ›sie sind um unsrer Missetat willen zerschlagen, ... und durch ihre Wunden sind wir geheilet!‹

Man sollte sowohl Spitäler wie Gefängnisse aufheben und sie durch den Schinder ersetzen. Es gibt Stimmen, die es vom Standpunkt einer halb verstandenen Wissenschaft fordern. Oder man sollte wenigstens unsre moralisch Aussätzigen so gut behandeln wie unsre Krüppel und unsre Idioten. Sobald die Menschheit das eigene Interesse versteht, wird sie auch die Gefängnisse und die Richter aufheben, die für die Seele giftiger sind als jede Art des Verbrechens ...

Ich sehe tausend Fragen auf deinen Lippen«, fuhr er lachend fort. »Du mußt sie allein lösen, lieber Rudolf, es wird dir sehr guttun. Stell nur mir nicht diese Fragen! Jeder von uns muß sich das Reich selbst bilden, das Reich des Menschen auf Erden. Der eine wird es zum Märchenland machen, der andere zu einem romantischen Schloß mit wehrhaften Türmen, von Wiesen mit blühenden Lilien und Narzissen umgeben. Ich möchte eine moderne Großstadt haben mit Laboratorien an jeder Straßenecke, Theatern, Ateliers und Tanzsälen an Stelle von Kneipen und Bars. Und manchmal schweben mir zeltartige Häuser nach japanischer Art vor, die zusammengelegt, transportiert und in einer Nacht wieder aufgebaut werden können; ›denn wir haben hier keine bleibende Stätte‹, und die Sehnsucht nach der Abwechslung – dem Luftwechsel, dem Szenenwechsel – liegt mir im Blute. Aber warum sollten wir nicht beides haben: die bleibende Arbeitsstadt und die flüchtigen Zelte der Freude? ...

Es gab zwei wunderbare Ideen in einem Zeitalter, das wir dummerweise das ›finstere Mittelalter‹ nennen; die Idee des Fegefeuers, die tausendmal geeigneter für die Menschheit ist als Himmel oder Hölle, und die Idee des ritterlichen Dienstes. Stell' dir das vor: ein Adliger sandte seinen Sohn als Pagen in das Haus irgendeines berühmten Ritters, damit er Mut, Höflichkeit und Rücksichtnahme auf die andern, hauptsächlich auf den Schwachen und Leidenden, lerne. Es war nichts Knechtisches in einem solchen Dienste, nur die edelste menschliche Ehrfurcht – das ist das anarchistische Ideal des Dienstes, des freiwilligen und unbezahlten ...«

Und er brach ab, herzlich lachend über mein sichtliches Erstaunen. Er ließ sich so vollkommen gehen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte: er zitierte selbst Gedichte mit großem Entzücken – einige parodistische Zeilen, die er in einer Zeitung gelesen hatte, und die sich auf irgendeinen Chicagoer Millionär bezogen.

Sie gönnen die grünen Matten uns nicht,
Die Haselnüsse sie raffen,
Sie pfänden sogar die Vergißmeinnicht,
Die nur für die Liebe geschaffen.

Er brach in ein knabenhaftes Gelächter aus, aber bald ergriff ihn wieder eine ernsthaftere Stimmung.

»Jeder wahre Fortschritt«, sagte er, »kommt von der Begabung des Einzelnen. Aber meiner Ansicht nach ist ein gewisser Grad von Sozialismus nötig, um den Menschen größere Freiheit zu verschaffen. Ich träume davon, daß bei vollkommener Freiheit und einem stärkeren Individualismus ein staatliches, industrielles Heer entsteht, eine uniformierte, von Offizieren geführte Armee, die man zum Wege- und Brückenbau verwendet, zur Errichtung von Kapitolen, Stadthallen, Volksparken und anderen für das Allgemeinwohl bestimmten Gebäuden. Diese Armee sollte sich aus Arbeitslosen rekrutieren. Wenn man die richtigen Offiziere wählt, wird der selbst gering bezahlte Dienst im Staatsheere eine ebensolche Ehre bedeuten, wie es jetzt bei unserer Armeeuniform der Fall ist. Vergiß nicht, daß unsere Träume, wenn sie nur schön genug sind, sich verwirklichen müssen, die Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen.

Es gibt drei Offenbarungen des Göttlichen im Menschen,« fuhr er fort, als ob er mit sich selbst spräche, »die Schönheit in Knaben und Mädchen, die körperliche Schönheit und Anmut der Jugend, die wir verbergen und prostituieren, und die wir in Tänzen und öffentlichen Spielen zur Schau tragen und bewundern sollten, denn Schönheit an sich vermenschlicht und veredelt. Die zweite Offenbarung ist das Genie in Männern und Frauen, das meistenteils in einem gemeinen Konflikt mit dem Durchschnitt verschwendet und verzettelt wird, ein Genie, das sorgfältig beobachtet und gepflegt werden sollte, um als das seltenste und köstlichste Gut der Menschheit zugeführt zu werden. Und dann kommen die Millionen der Arbeitsmüden und Enterbten – jeder einzelne mit einem Funken des Göttlichen und einem Recht durch menschliches Mitleid auf ein menschliches Leben. Wir brauchen keinen Gott als Erlöser der Menschen,« rief er, »aber einen Erlöser Gottes, einen Erlöser des Göttlichen im Menschen.« Und er brach wieder plötzlich mit einem unerforschlichen Lächeln in den Augen ab. Er war sicherlich einer der interessantesten Redner, und ich stellte bald fest, daß er als Tatmensch noch größer war. Jener Tag war der letzte der gemeinsamen Freude und Glückseligkeit. Eine Stunde später kam der Farmer und holte uns ab, und Ida lächelte, als wir alle drei Hand in Hand, blumenbekränzt, in das Fuhrwerk einstiegen.


Mein Entschluß, mich im Zusammensein mit Elsie nicht gehen zu lassen und sie nicht mehr in Versuchung zu führen, hielt zwei oder drei Wochen an, und dann brach er wieder zusammen, brach vollkommener zusammen denn je. Ich hatte sie zum Abendessen eingeladen, und sie zog ein tief ausgeschnittenes Kleid an. Der Tag war sehr warm, und die Nacht war schwül und atemraubend. Wir aßen zusammen in einem abgeschlossenen Zimmer eines deutschen Restaurants, und später saßen wir da, oder, besser gesagt, sie saß auf meinen Knien in meine Arme geschmiegt, und ich begann ihre wunderbaren, nackten Schultern zu küssen, die blumenhaften, kühlen und duftenden Schultern.

Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Ich hatte den ganzen Tag sehr schwer gearbeitet, hatte eine Reihe guter Artikel geschrieben, hatte etwas mehr Geld verdient und sah die Möglichkeit, noch mehr zu verdienen, vor mir. Ich war erregt, glücklich und daher vielleicht ein wenig gedankenlos und etwas herrischer als sonst. Der Erfolg macht einen leicht herrschsüchtig, und so nahm ich Elsie in meine Arme und begann sie zu küssen und zu streicheln, von einem Durst nach ihr gequält, der sich nicht beschreiben läßt. Der erste Kuß war die intensivste Sensation, meine Sinne schwanden, und als sie sich mir entzog, war ich wie wahnwitzig. Aber sie stand auf, stand eine Weile still, und dann drehte sie sich zu mir um.

»Du weißt nicht, wie du mich quälst«, rief sie aus, und dann nach einer Pause, »ich wollte, ich wäre sehr schön.«

»Warum sagst du das?« fragte ich. »Du bist schön, und du weißt es ja.«

»Ach nein, das bin ich nicht,« erwiderte sie, »ich bin eben hübsch, manchmal sehr hübsch, wenn ich meinen guten Tag habe. Aber ich bin nicht schön, nicht außergewöhnlich schön. Ich bin nicht groß genug,« fuhr sie versonnen fort, »eben nur Mittelgröße.«

(»Sogar zwei Zoll darunter«, dachte ich mit einem Lächeln, denn ihre Abwehr hatte in mir eine Art von Geschlechtsantagonismus erweckt.)

»Und manchmal sehe ich fast unscheinbar aus.«

Sie sprach mit großer Leidenschaft. »Wenn ich schön wäre, würde ich sagen: ja, nimm mich. Ja, ich würde es tun, denn dann könnte ich trotz alledem mich irgendwie im Leben durchschlagen, aber so, wie ich nun mal bin, habe ich Angst. Ich könnte nicht durchkommen, wenn etwas geschehen würde; und es würde meiner Mutter das Herz brechen. Du darfst mich nicht in Versuchung führen.« Und ihre Augen ruhten beschwörend auf mir.

Ich zog sie wieder mit jähem Griff in meine Arme, trotz ihrer seelenenthüllenden Offenheit und küßte sie – wie ein Durstender, der in langen Zügen trinkt. Für einen Augenblick gab sie nach, und dann entwand sie sich mir wieder und antwortete hastig auf meine Frage, als ob sie sich auf sich selbst nicht mehr verlassen könnte.

»Ich muß jetzt gehen, ich muß nach Hause.«

»Nein, nein,« rief ich, »da du mich nicht liebst, dann kann es dich ja nicht stören, und es ist auch zu früh, um schon nach Hause zu gehen. Ich würde mir den ganzen Abend Vorwürfe machen.«

»Ich sollte nach Hause gehen«, wiederholte sie.

»Es gibt ja keine Gefahr für dich,« antwortete ich verstimmt, »du hast dich ja so vollkommen in der Gewalt.«

»Ach wie blind und schlecht du bist,« rief sie aus, »ich möchte genau so weit gehen wie du, warum zwingst du mich, dir so etwas zu sagen? Es ist wahr, ja, ich zittere jetzt von Kopf bis Fuß. Fühl doch, faß mich an.«

Und sie kam näher zu mir, schmiegte sich an mich und wand die Arme um meinen Hals.

»Mach' es mir nicht zu schwer, Bub,« und sie preßte ihre Lippen auf die meinen.

Damals hätte ich sie fast genommen; wenn nicht dieser letzte Appell gewesen wäre, hätte ich es sicher getan. Aber dieser Appell erinnerte mich plötzlich an den furchtbaren Rand des Abgrundes, an dem ich stand, und ich wurde eiskalt bis in die Knochen. Nein, ich hatte kein Recht dazu. Ich nahm mir vor, mich zu beherrschen, ich schlang meine Arme um sie, bog ihren Kopf zurück und küßte ihren Hals.

»Mein Geliebtes,« rief ich, »ich will's dir nicht schwer machen, wir wollen es uns beide leicht machen, nicht wahr, so leicht wie möglich?«

Wieder suchten ihre Lippen meinen Mund mit einem leisen, zufriedenen Seufzer. Von der Zeit an war, glaube ich, ihr Widerstand vollständig gebrochen, und ich hätte sie gewinnen können, wenn ich gewollt hätte, aber ich hatte keinen Mut. Meine ganze Rücksichtnahme, meine Bewunderung für ihre Schönheit, ihre Ehrlichkeit und ihren aufreizenden Zauber kam immer wieder und half mir, mich im Zaum zu halten. Ich wollte nicht nachgeben, um so weniger, da keine Schranken mehr zwischen uns waren. Denn seit jenem Tage, als sie sah, daß ich mich selbst zurückzuhalten versuchte, wehrte sie mir nicht mehr und gab meinem Verlangen nach. Ich hätte sie jetzt zu allem bringen können. Und diese Möglichkeit, die Macht, die ich fühlte, hielt mich besser zurück als alles andere. Ich kämpfte gegen mich selbst und jedesmal, wenn ich den Sieg errungen hatte, wurde Elsie weicher und süßer und machte den nächsten Sieg über mich selbst schwerer und leichter zugleich. Ich kann das komplizierte Gewebe meines Gefühls nicht erklären, ich vermag es nicht zu schildern, wie meine Rücksichtnahme über meine Leidenschaft siegte. Aber die Leidenschaft war immer da und lauerte auf eine Gelegenheit. Seit jener Nacht hielt ich sie jedoch an der Kehle gepackt, obwohl sie sich schlangengleich um meinen Leib wand und beinah über mich gesiegt hätte ...


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