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Als Peter am nächsten Morgen aufstand, schnitt er der verflossenen Nacht ein Gesicht und schalt: »So eine abgefeimte Betrügerin, wie du, o Nacht, findet sich nicht bald wieder! La nuit porte conseil! Danke! Welchen Rat hast du mir gebracht? Ich bin genau so klug als wie du mich gefunden hast: soll ich gehen und es ihr sagen oder nicht? Schnöde Ratgeberin!«
Während er diese Worte sprach, stand er vor dem Spiegel und bürstete sein Haar, und an dem Bild, das ihm entgegensah, fiel ihm etwas unliebsam auf.
»Jedenfalls gehe ich heute vormittag nach Spiaggia und lasse mir das Haar schneiden.«
Diesem Vorsatz entsprechend, fuhr er um zehn Uhr mit dem Omnibus nach Spiaggia. Als sein Haar geschnitten war, begab er sich ins »Hotel de Russie« und frühstückte im Garten. Nach beendigter Mahlzeit ging er in die Kasinoanlagen, wo er sich unter die buntscheckige internationale Badegesellschaft mischte, die auf der Seeterrasse auf und ab wogte und den Klängen der Kurkapelle lauschte. ... Und hier sah er sich plötzlich Mrs. O'Donavan Florence gegenüber.
Nachdem die beiden die üblichen Begrüßungen ausgetauscht und festgestellt hatten, daß es heute schönes Wetter sei, fragte die Dame: »Soll ich Ihnen etwas anvertrauen?«
»Bitte!«
»Kann ich Ihnen aber auch unbedingt vertrauen?«
»Versuchen Sie's einmal!«
»Also, wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: ich brannte die ganze Zeit darauf, einen Tisch zu nehmen und mir Kaffee zu bestellen, aber da ich keinen Herrn zu meinem Schutz bei der Hand hatte, habe ich es nicht gewagt!«
» Je vous en prie!« rief Peter, führte sie galant an einen der runden Marmortische und bestellte » Due caffè!« bei der in Nationaltracht gekleideten Kellnerin.
»Sachte, sachte!« unterbrach ihn Mrs. O'Donavan Florence. »Für mich keinen Tropfen Kaffee! Einen Orangensorbett, wenn ich bitten darf! Wenn ich Kaffee sagte, so war dies nur eine Redewendung, eine allgemeine Bezeichnung für Erfrischungen leichterer Art.«
Peter lachte und änderte seine Bestellung demgemäß ab.
»Sehen Sie da drunten die drei herzigen Kinder, die unter der Obhut ihrer Erzieherin im Schatten der Wellingtonia spielen?« fragte die Dame.
»Meinen Sie das kleine Mädchen in Weiß und die beiden Jungen?«
»Ganz recht! Und das ganze Häufchen gehört mir.«
»Wirklich?« erwiderte Peter in dem hinlänglich bekannten Ton von tiefem, anteilsvollem Interesse, das wir zu heucheln pflegen, sobald Eltern von ihren Kindern zu sprechen anfangen.
»Mein Wort darauf!« erwiderte sie ihm. »Aber ich habe das nur erwähnt, um Ihnen zu zeigen, daß ich doch nicht so ganz schutzlos bin – nicht um zu prahlen. Denken Sie nur, in unsrem Gasthof wohnt ein Amerikaner, der behauptet, die Wellingtonia müßte eigentlich Washingtonia heißen, und mit tränenden Augen diese englische Anmaßung beklagt. Da der Mann anständig aussieht und erwachsene Töchter besitzt, bin ich geneigt zu glauben, daß er recht hat.«
»Sehr wahrscheinlich!« meinte Peter. »Jedenfalls ist es ein amerikanischer Baum – oder nicht?«
»Mag dem so sein oder nicht,« sagte sie; »das eine jedenfalls ist unleugbare Tatsache: ihr Engländer seid die kaltblütigsten Geschöpfe südlich vom Polarkreis!«
»O – wirklich!« erwiderte er.
»Ja, das seid ihr,« erwiderte sie mit wehmütigem Bedauern.
»Nun,« überlegte er, »die Temperatur unsres Blutes ist insofern nicht von Belang, als wir, wie allgemein bekannt, sehr warmherzig sind.«
»Ach, seid ihr das wirklich?« rief sie aus. »Aber nichts für ungut! Dann ist dies eine sehr geheime Art von Allgemeinbekanntsein und eine gewaltig kühle Sorte von Wärme.«
Peter lachte.
»Jawohl, lachen Sie nur! Ihr seid ja eitel Berechnung und Überlegung! Ihr seid die Sklaven eurer Vernunft! Ihr seid lediglich Verstandesmenschen! Der Kopf regiert euch, nicht das Herz! Ihr unterscheidet euch kaum von einer Rechenmaschine. Haben Sie zum Beispiel jemals Himmel und Erde aufs Spiel gesetzt, um einer plötzlichen, unüberlegten Gefühlsbewegung zu gehorchen?«
»Nicht oft, glaube ich.«
»Und nun sitzen Sie da wie ein Erzbild und geben dies zu, ohne mit einer Wimper zu zucken,« sagte sie vorwurfsvoll.
»Gewiß, ich muß doch meinem Charakter als Engländer Ehre machen, und als solchem geziemt es mir ja, eingebildet und selbstbewußt zu sein.«
»Da haben Sie ganz recht,« stimmte die Dame zu. »Ich möchte nur wissen,« fuhr sie nach kurzem Zögern fort, »ob Sie jemand geradeswegs in den Erdboden hineinschlagen würden, der es wagen wollte, Ihnen einen wohlgemeinten, aber unverlangten Rat zu erteilen?«
»Ich würde gelassen wie ein Erzbild dasitzen und den guten Rat über mich ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Nun also,« sagte sie, sich zu ihm vorneigend, »warum nehmen Sie nicht Ihr Herz in beide Hände und halten um sie an?«
Sprachlos starrte Peter ihr ins Gesicht.
»Lassen Sie sich von mir raten,« fuhr sie fort, »tun Sie's!«
»Was soll ich tun? Ich verstehe Sie nicht.«
»Um ihre Hand anhalten, natürlich,« gab sie freundlich zurück, und ehe er Zeit fand, eine Antwort zu stammeln, rief sie: » Touché! Sie sind rot geworden! Ein errötendes Erzbild! Der liebt nicht, der seine Liebe nicht zeigt! Aber alles, was recht ist! Sie zeigen die Ihre jedem, der Augen hat zu sehen. Ihre Augen verraten Sie bei jedem Blick, den Sie auf sie werfen. Noch nicht zwei Minuten hatte ich Sie beobachtet, als ich so genau unterrichtet war, als wenn Sie mir Ihr Geheimnis anvertraut hätten. Aber was in aller Welt hält Sie zurück? Sie können doch nicht erwarten, daß sie Ihnen einen Antrag macht? So, und nun schelten Sie mich eine naseweise Irländerin, wenn Sie wollen, – aber warum werfen Sie sich ihr nicht einfach zu Füßen und erklären ihr Ihre Liebe wie ein Mann?«
»Wie kann ich das denn?« fragte Peter, ohne den geringsten Versuch zu einer Verschleierung der Wahrheit zu machen. Nein, die »Naseweisheit« der Irländerin war ihm sogar sehr willkommen.
»Wer kann Sie davon abhalten?« fragte sie wieder.
»Alles!«
»Alles heißt nichts. Was?«
»Verehrteste Frau, sie ist entsetzlich reich – das ist schon ein Punkt.«
»Gehen Sie zum Kuckuck!« rief die gute Dame hitzig. »Was hat das Geld mit der Liebe eines Mannes zu schaffen? Aber da haben wir's ja! Das ist echt englisch, das ist schon wieder eure fischblütige Berechnung! Ihr legt eure natürlichen Impulse an die Kette wie reißende Tiere! Ihr Geld hat Sie doch nicht unempfindlich gemacht gegen ihre Reize. Warum sollte es Sie nun daran verhindern, ihr Ihre Liebe zu gestehen?«
»In der Gesellschaft ist eine gewisse Neigung vorhanden, den armen Mann, der sich um die Hand einer reichen Frau bewirbt, als Glücksjäger zu betrachten.«
»Ich pfeife auf die Gesellschaft!« rief sie. »Die einzige Ansicht, die für Sie in Betracht kommen darf, ist die des Weibes, das Sie lieben. Auch ich war eine Erbin, und als Teddy O'Donavan um mich anhielt, war meines Wissens das einzige Besitztum, das er sein nannte, ein Korkzieher. Was liegt an ihrem Geld?«
Peter lachte.
»Manche Männer rauchen gerne zum Kaffee,« sagte sie, »und ich bewillige Ihnen eine Zigarette; die wird Ihnen Gemütsruhe geben, und deren scheinen Sie zu bedürfen, wenn Sie solchen Unsinn über ihr Geld reden. Übrigens kann ich Ihnen versichern, daß ihr künftiger Gatte wenig Genuß davon haben wird, selbst wenn er ein Mitgiftjäger sein sollte, denn sie verausgabt fast alles für Wohltätigkeit und braucht für sich selbst höchstens zweitausend Pfund jährlich.«
»Wirklich?« sagte Peter, etwas erleichtert aufatmend.
»Ja, auf zweitausend jährlich können Sie sie schätzen, und so viel haben Sie ja wohl auch selbst. Damit wäre der Vermögensunterschied also ziemlich ausgeglichen.«
»Unglücklicherweise sind aber auch noch andre Verschiedenheiten vorhanden,« seufzte Peter.
»Welche?«
»Zum Beispiel ihr Rang!«
Seine ungestüme Beraterin winkte verächtlich mit der Hand.
»Ihr Rang, sagen Sie? Was hat der Rang mit der Liebe zu tun? Weib ist Weib, ob es Herzogin oder Milchmagd ist. Eine Frau von Herz und Geist wird selbst einen Bankbeamten heiraten, wenn sie ihn liebt. Mann ist Mann. Nicht so viel sollten Sie sich um ihren Rang kümmern!«
Das »so viel« wurde durch ein leichtes Schnippen von Mrs. O'Donavans Fingern veranschaulicht.
»Ich nehme an, Sie wissen, daß ich Protestant bin,« fuhr Peter fort.
»Sind Sie das wirklich, Sie armes, in der Nacht der Finsternis irrendes Menschenkind? Na, dem ist leicht abgeholfen! Gehen Sie hin und lassen Sie sich taufen.«
Dabei winkte sie mit der Hand nach der Stadt, als sollte dort die kleine Feierlichkeit sofort vorgenommen werden.
Wieder mußte Peter lachen.
»Ich fürchte, das ist leichter gesagt als getan.«
»Kinderleicht ist es!« rief sie. »Sie brauchen nur stillzuhalten und sich bespritzen zu lassen. Der Geistliche macht die Sache ganz allein. Sie werden doch nicht behaupten wollen,« fuhr sie mit überzeugender Inkonsequenz lebhaft fort, »daß Sie sich durch die Liebe zu einer Frau davon abhalten lassen wollen, den wahren Glauben zu bekennen!«
»Ach, wenn ich nur überzeugt wäre, daß es der wahre ist!« seufzte er, noch immer lachend.
»Wer heißt Sie daran zweifeln? Und übrigens, was kommt darauf an, ob Sie davon überzeugt sind oder nicht? Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich als Schulkind keineswegs von der Richtigkeit der Lehrsätze des Euklid überzeugt war, aber ich habe sie um der guten Noten willen, die sie mir einbrachten, wohlgemut anerkannt, und die ewigen Wahrheiten der Mathematik wurden durch meine Zweifelsucht nicht erschüttert.«
»Ihre Beweisführung ist glatt,« sagte Peter lachend. »Aber das Schlimmste ist, daß sie mich doch nicht nehmen würde, auch wenn ich zehnmal Katholik würde. Also wozu?«
»Erst fragen, dann wissen! Und selbst wenn Sie sich das erste Mal einen Korb holten, wäre dies noch lange kein Grund, zu verzweifeln. Mein eigener Mann hat dreimal angefragt, und dreimal habe ich nein gesagt. Aber dann hat er angefangen, Verse zu schmieden, und als ich merkte, daß ich diesem Unheil auf keine andre Weise Einhalt gebieten konnte, habe ich ihn eben geheiratet. Also im schlimmsten Fall können Sie immer noch auf das Versemachen zurückgreifen,« schloß die Dame aufstehend. »Jetzt muß ich Sie leider Ihrem Schicksal überlassen und in mein Hotel zurückkehren, um einen großen Gerichtstag abzuhalten. Es scheint nämlich, daß meine unschuldigen Lämmer es mit vereinten Kräften zu stande gebracht haben, die elektrische Leitung in meinem Zimmer zu ruinieren. Deshalb müssen sie um drei Uhr zur instruction criminelle vor mir erscheinen. Merken Sie sich, was ich Ihnen gesagt habe, und – wohl bekomm's! Dies ist einer Mutter letzte Bitte! Ist es mir nicht gelungen, Sie zu einem Entschluß zu bestimmen, so behaupten Sie wenigstens nie, daß ich Sie nicht ein wenig ermutigt hätte. Lassen Sie sich's gesagt sein und versuchen Sie, ob Sie nicht durch tüchtiges Blasen die glimmenden Kohlen der Ermutigung zu einem lodernden Feuer des Entschlusses anfachen können.«
Peter wanderte am See auf und ab, auf und ab. Die Ermutigung war schon gut, aber ... »Soll ich – soll ich nicht? Soll ich – soll ich nicht? Soll ich – soll ich nicht?« Die ewige Frage, mit ihrem ewigen Tick-tack, Tick-tack ging immer weiter. Er starrte ins Leere und suchte zu einem Entschluß zu kommen.
»Ich fürchte, es fehlt meinem Charakter an Entschlossenheit,« sagte er endlich mit bedauerndem Erstaunen.
Plötzlich stampfte er mit dem Fuß auf, und der männlichere Teil seines Selbst erklärte: »Vorwärts! Diesem Schwanken muß ein Ende gemacht werden! Ich will!« Dabei atmete er tief auf und ballte die Faust.
Sofort verließ er das Kasino und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Ventirose – jetzt hatte er nicht mehr Zeit, den Omnibus abzuwarten, der erst um vier Uhr abfuhr.
Er ging rasch, und schon nach einer Stunde stand er vor dem großen vergoldeten Parktor. Schon legte er die Hand an den Klingelgriff, da fiel ihm etwas ein, an was er bisher noch gar nicht gedacht hatte.
»Halt,« flüsterte ihm eines der kleinen Teufelchen ins Ohr, von denen die uns umgebende Luft erfüllt ist, »halt, du bist ja erst gestern hier gewesen! Es muß also auffallen, wenn du heute ohne irgend einen Vorwand schon wieder kommst. Gesetzt nun den Fall, sie begrüße dich mit einem kalten, verwunderten Blick – was dann, mein Lieber? Daß du in diesem Fall mit der wahren Erklärung nicht herausrücken kannst, springt ja in die Augen. Aber wenn sie dich mit einem kalten, verwunderten Blick begrüßt, dann hast du deine Antwort vorweg und weißt, daß nichts zu hoffen ist, und die Zeit für leidenschaftliche Erklärungen verschiebt sich von selbst. Aber dann –? Wie willst du deinen Besuch begründen? Wie wirst du dich verhalten?«
»Hm,« stimmte Peter dem kleinen Teufelchen zu, »da ist was dran!«
»Sogar sehr viel ist dran,« fuhr dieses fort, »du mußt einen Vorwand haben. Eine wahre Begründung hat ja viel für sich, aber unter Umständen ist, wenn's drauf und dran kommt, ein plausibler Vorwand etwas ganz Unentbehrliches.«
»Hm,« machte Peter.
Aber wenn es Teufelchen gibt, gibt es auch gute kleine Geister, und ein solcher lenkte in diesem Moment Peters Blick auf einen glänzenden Gegenstand, der dicht am Straßenrand im Gras lag. Er bückte sich und hob ihn auf.
»Des Kardinals Schnupftabaksdose!« rief er laut.
Der Kardinal hatte seine Tabaksdose verloren. Der Vorwand für den Besuch war gefunden, und Peter zog die Klingel.