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Ob die Serapionssitzungen regelmäßig beibehalten wurden, läßt sich nicht ermitteln. Tatsache ist jedenfalls, das zum mindesten zu Hoffmanns Geburtstag alle Freunde, auch die neu hinzugewonnenen, die sonst wenig in den Kreis der bieder heiteren Serapionsbrüder vom Schlage der Hitzig oder Contessa, wie zum Beispiel der geniale Schauspieler Ludwig Devrient, sich bei Hoffmann zusammenfanden und mit einem köstlichen Tropfen bewirtet wurden. So vielfach Hoffmann gerade jetzt in seiner Schriftstellerei als Serapionsbruder vor die Öffentlichkeit trat, so wenig füllte ihn in der Wirklichkeit dieser Freundeskreis aus. Eine andere Gemeinschaft fesselte ihn mehr und mehr: die berühmte Tafelrunde bei Lutter & Wegner, deren hervorragendste Mitglieder Hoffmann und Devrient waren. Die übrigen Genossen setzten sich größtenteils aus alten ehemaligen Offizieren zusammen, die nach dem Friedensschluß verabschiedet waren. Bunte, vom Schicksal mitgenommene Männer waren darunter, Spielnaturen und Abenteurer. Ein Kreis, zu jedem mutwilligen Streich aufgelegt.
Unter diesen Männern verbrachte Hoffmann Jahre hindurch seine Nächte. Vor allem aber war es natürlich der geniale Ludwig Devrient, der ihn anzog und dessen Verkehr ihm allein angemessen schien, zum großen Schmerz des soliden Hitzig, der sich immer wieder bemühte, Hoffmann auf den Kreis der Serapionsbrüder zu beschränken. Aber es war natürlich nicht allein das von allem Bürgerlichen losgelöste Leben, das Hoffmann mit Devrient verband, es war auch gemeinsames künstlerisches Streben und Arbeiten, das beide Freunde durchglühte. Die »Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors« sind die Frucht dieser künstlerischen Gemeinsamkeit. Ein großer Teil dieses, alle möglichen Theaterverhältnisse betreffenden Buches handelt von Devrient, den wir in dem »kleinen Garrick« zu erkennen haben, über den sich die beiden Schauspieldirektoren: »Der Graue« (in diesen Partien Graf Brühl, der Intendant der Berliner Königlichen Theater) und »Der Braune« (Hoffmann selbst) unterhalten. Devrient oder der »kleine Garrik« wird nun keineswegs durchweg enthusiastisch gelobt. Hoffmann sah, wie sein Freund sein Talent an unbedeutenden Aufgaben verzetteln mußte, an den sogenannten Rollenstücken, in denen der gleiche Schauspieler immer in andern Verkleidungen aufzutreten hat. Devrients Hang zum Virtuosischen des Schauspielerberufs ließ ihn oft die großen Aufgaben der Gestaltung aus dem Auge verlieren. Hier setzt Hoffmann mit seinen Warnungen ein.
Wie stark Hoffmanns Interesse an dem Theater geblieben war, kommt in diesen Unterhaltungen der beiden Theaterdirektoren so recht zum Ausdruck. Der ehemalige Regisseur und Maschinist Holbeins ergreift hier das Wort, um sich über Berliner Theaterverhältnisse auszusprechen.
Der Graue: ... So z. B. ist mir der Schauspieler zugetan mit Leib und Seele, der Charakterrollen in solch hohem Grade vortrefflich spielt, daß er es verdient, der Liebling des Publikums in dem höheren Sinn, wie Sie es vorhin aufstellten, zu werden. Es ist ihm ernst um die Kunst, und daher rührt der unverdrossene Fleiß, mit dem er die Rollen nicht sowohl einstudiert, als in sein Innerstes aufnimmt. Doch nie ist ihm das gänzliche Gelingen der Darstellung in allen Momenten gewiß, da eine unbegreifliche Reizbarkeit, von tiefliegendem unmutigen Mißtrauen erzeugt, ihn im Augenblick außer Fassung bringen kann. Dies Mißtrauen ist gegen andere sowohl als gegen sich selbst gerichtet. Ein unrichtig gebrachtes Schlagwort, das unzeitige Eintreten einer Person, ja das Fallenlassen eines Schwertes, eines Leuchters usw. während des Monologs – vorzüglich leises Sprechen in der Nähe, in dem er gewöhnlich seinen Namen zu hören glaubt, alle mögliche, menschlicher Schwachheit oder dem Zufall zuzuschreibende Ereignisse hält er für boshaft berechnete Störungen seines Spiels, verwirrt sich im Gefühl des beißenden Ärgers und fährt hinterher los, selbst auch auf wohlwollende Freunde. Ebenso kann es ihm mit sich selbst in Fehde setzen, wenn er sich etwa verspricht oder, wenn ihm plötzlich im eignen Spiel etwas ungehörig erscheint ...
... Nicht genug kann ich zum Lobe meines lieben Charaktermannes sagen. Ihm allein verdank' ich es, daß ich, da nun immer Neues und Neues verlangt wird, die nichts bedeutenden Produkte müßiger Köpfe, diese albernen Schubladenstücke, diese zum Überdruß wiederholten Variationen eines und desselben erbärmlichen Themas, diese seichten Übersetzungen fader französischer Machwerke, wie sie jetzt zu Markte getragen werden, dem Publikum wenigstens ohne dringende Gefahr auftischen darf. Denn immer gelingt es meinem kleinen Garrik, zu seiner Rolle sich aus dem lebendigsten Leben eine Figur herauszugreifen und diese mit Wahrheit und Kraft darzustellen, so daß das farblose Bild des Dichters erst durch ihn Farbe und Haltung erhält, und über dieses Bild vergißt man gern die Elendigkeit des ganzen Gemäldes, wiewohl dieses denn doch bald, an innerer Ohmnacht kränkelnd, abstirbt und hinabsinkt in den Orkus.
Der Braune: So wird Ihr kleiner Garrik – ich bediene mich Ihrer eignen Bezeichnung – unaufhörlich in nichts bedeutenden Rollen sich bewegen und sich mühen müssen, bleiche Bilder aufzufrischen?
Der Graue: Allerdings vergeht wohl keine Woche, in der ihm nicht dergleichen Rollen ins Haus fallen.
Der Braune: Und kein Widerspruch? – Er nimmt sie an?
Der Graue: Mit der größten Bereitwilligkeit. Es macht ihm sogar Freude, in die leblose Gestalt des Dichters oder vielmehr des Verfertigers den Prometheusfunken zu werfen, und deshalb lobe ich ihn.
Der Braune: Und deshalb möcht' ich eben ihn tadeln! – überhaupt möcht' ich, ist es wirklich so, Ihrem kleinen Garrik mehr Talent als eigentliches wahrhaftes Genie zutrauen, es müßte ihn denn überschwengliche Gutmütigkeit oder ein kindisches Behagen an den funkelnden Blitzen eines Feuerwerks, das in wenigen Minuten wirkungslos verpufft, dazu verführen, an sein eignes Innere selbstmörderische Hand zu legen ... Ihr Garrik, gewöhnt, ja dazu berufen, statt der gegebenen Rollen immer selbstgeschaffene Figuren darzustellen, muß sich nur an diese halten, ohne jene im mindesten zu beachten. So wird er aber das eigentliche Studieren der Rolle, ist sie auch wirklich bedeutsam, ganz verlernen. Wie ich es überhaupt nicht begreifen kann, auf welche Weise ein vernünftiger Mensch das fade ungewaschene Zeug mancher Schau-, Trauer- und Lustspiele in den Kopf zu bringen vermag, so ist es denn nun klar, daß vorzüglich das strenge Memorieren sehr bald jenem Schauspieler unmöglich und er für Meisterwerke, zumal wenn sie metrisch gefaßt sind, gänzlich unbrauchbar werden wird. So nur an dem Erfolg des Augenblicks hängend, geht Ihnen das Höhere, Dauernde verloren. Hin ist das Talent, das der Schmuck Ihrer Bühne war. –
... Nein! – ich wiederhole es, das wahre Genie werde nie gemißbraucht zu den losen ephemerischen Erscheinungen des Tages, die statt der wahrhaften inneren Erregung nur momentanen Kitzel bezwecken. Dem ernsten tiefen Künstler werde nur das Tiefe, Ernste, Wahre zugemutet, möge es sich gestalten, wie es wolle, selbst als Scherz, den des kecken Geistes Übermut geschaffen ... Sie warfen mir vor, daß ich, die gepriesene Vielseitigkeit mancher Schauspieler anfechtend, die Beispiele heterogener Rollen zu grell wähle. Lassen Sie mich jetzt zwei Rollen nennen, die das schneidendste Widerspiel zu bilden scheinen und die doch mit gleicher Kraft und Wahrheit von einem und demselben wahrhaft genialen Schauspieler dargestellt werden könnten. Ich meine Shakespeares Othello und Molières Geizigen.
Der Graue: Welche Behauptung! – Wie reimt sich das zu den Prinzipien, die Sie vorhin aufstellten! – Doch nein! – Ich fühle dunkel, daß Sie recht haben könnten, und bitte mich ganz aufzuklären.
Der Braune: In beiden, in Othello und dem Geizigen, steigert sich eine Leidenschaft aus dem Innersten heraus bis zur furchtbarsten Höhe. Der eine vollführt die gräßlichste Tat, der andere tritt im tiefsten gehässigsten Argwohn gegen das ganze menschliche Geschlecht, das er verschworen gegen sich wähnt, die heiligsten Verhältnisse, wie sie Natur und bürgerliches Verhältnis bilden, mit Füßen. Nur die individuelle Gestaltung der Leidenschaft jedes bewirkt die Verschiedenheit ihres Erscheinens und entscheidet über das Tragische und Komische. Liebe und Ehre begeistern den großherzigen Mohren, nur die wahnsinnige Lust am schnöden Golde beseelt den Geizigen. Beide, in ihrem Innersten angegriffen, in ihrem eigentlichsten Wesen, Leben und Heil gekränkt, brechen los in toller Wut, und in dieser, dem höchsten Moment ihrer Erscheinung, treffen die Strahlen, wie sie aus ihrem Innern in verschiedener Brechung hervorströmten, dort tragisches Staunen, hier lachenden Spott in der Brust des Zuschauers entzündend, in einem Fokus zusammen. Wen erfaßt nicht tiefes Entfetzen bei Othellos furchtbaren Worten: »Tu aus das Licht!« – wen wird aber mitten im Lachen nicht auch tiefes Grauen anwandeln, wenn der Geizige in heilloser Raserei seinen eignen Arm erfaßt, wähnend, den Dieb festzupacken, der ihm die Kassette stahl, wenn er in voller Verzweiflung selbst unter den Zuschauern den Verräter sucht! – So ist wohl Molières Geiziger ein wahrhaft komischer Charakter, von dem uns der gehaltlose, ganz in die Gemeinheit gezogene Kammerrat Fegesack kein Bild gibt, so wie die Art, wie dieser von einem nicht längst verstorbenen großen Schauspieler (Iffland!) dargestellt wurde, eine der seltsamsten Verirrungen war, die es wohl geben mag. – Lassen Sie mich eines Shakespeareschen Charakters gedenken, in dem das Tragische und Komische, vollkommen zusammenströmend, das Entsetzliche erzeugt. Ich meine den Shylock. – Es ist soviel über diese schwürigste aller schwürigsten Rollen, die auf solche Elemente gestützt sind, gesagt worden, daß meine Bemerkungen viel zu spät kommen würden. Aber Sie gestehen mir ein, daß diese Rolle recht eigentlich in meine Theorie von tief komischen Rollen paßt und wohl nur von einem solchen Schauspieler, der in der Tat vielseitig ist, wie ich nämlich Viel- oder Doppelseitigkeit verstanden haben will, wahr und kräftig dargestellt werden könnte.
Der Graue: Gerade diese Rolle, welche Sie gewiß mit Recht in die Kategorie der allerschwürigsten stellen, spielt mein kleiner Garrik so ganz vortrefflich, daß schwer zu befriedigende Kenner ihm nie den vollsten Beifall versagen. Im Grunde genommen ist dieser Shylock ein jüdischer Heros, denn der im tiefen Innern glühende Haß gegen das Christentum wird pathetisch, indem er jede andere Leidenschaft wegzehrt und die fürchterliche Rache erzeugt, der der Jude Geld und Gut, die Tochter opfert. Sein Untergang ist echt tragisch und wohl grauenvoller als der Untergang manches Helden oder Tyrannen. Was ist der Giftbecher oder der Dolchstoß gegen die Vernichtung der bürgerlichem Existenz, die über den Juden verhängt wird und die wie ein langsam tötendes Gift sein inneres Mark aufzehrt. Wenn mein Garrik die Worte spricht: »Mir ist nicht wohl« usw., so gleitet es gewiß jedem Zuschauer, dessen Gemütsart nicht gar zu robust und undurchdringlich ist, eiskalt durch alle Glieder.
Der Braune: Wie geht es mit den Szenen, wenn der Jude in heller Verzweiflung um seine Tochter und um seine Dukaten schreit und dann, wenn ihn Antonios Unglück, das seine Brust labt, verkündet wird und er dazwischen immer Nachrichten von der Jessika hören muß, die ihm die Brust durchschneiden?
Der Graue: Ha, ich verstehe Sie! – Gerade in diesen Szenen ist es wohl am schwersten, auf dem schillernden Hintergründe die Figur rein kräftig zu erhalten. Der Zuschauer soll lachen über den Juden, ohne daß dieser im mindesten lächerlich wird. Gerade in diesen Szenen übertrifft mein Garrik einen großen Schauspieler (Iffland!), den ich einst diese Rolle spielen sah, und der ins gemeine Jüdeln fiel, dadurch aber das Hochpoetische der Rolle gänzlich zerriß ...
(Aus den »Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors«.)
Man sieht, wie Hoffmann in den Kampf, die deutsche Bühne für Shakespeare zu erobern, auch hier eingreift. Der Shylock war eine der Hauptrollen Devrients. Um seine Erscheinung als Shylock gruppierte Hoffmann auch die Begebenheiten seines Großstadtmärchens »Die Brautwahl«. Diesem Märchen lag allerdings noch eine besondere Episode zugrunde. Der biedere Berliner Holzschneider Professor Gubitz berichtet in seinen »Erlebnissen«, wie er einst von dem Breslauer Regisseur Nagel und dem Schauspieler Stein in die ihm widerwärtige Weinstube von Lutter & Wegner hineingelockt wurde, zum jubelnden Gaudium des ganzen Zechkreises, der dort versammelt war. Inmitten des schwirrenden Lärms hätte schweigsam und wie tiefsinnig vor sich hinschauend Devrient gesessen, der damals gerade oft den Shylock spielte. Die berüchtigte Tafelrunde trieb allerhand Allotria mit dem ehrsamen Professor, so daß er sich in jener Nacht seinen tiefen Widerwillen gegen den Champagner holte. Diese Szene, der Hoffmann beiwohnte, gab ihm den Stoff zu dem Anfang der »Brautwahl«. Wie Gubitz, wird hier der biedere Tusmann in eine verdächtige Weinstube hineingelockt, und in den »schnöden Revenants« Leonhard und Manasse haben wir Hoffmann und Devrient-Shylock wiederzuerkennen. Bekanntlich entnimmt auch der Schluß des Märchens das Motiv von den drei Kästchen dem »Kaufmann von Venedig«.
In der Nacht des Herbst-Äquinoktiums kehrte der Geheime Kanzleisekretär Tusmann aus dem Kaffeehause, wo er regelmäßig jeden Abend ein paar Stunden zuzubringen pflegte, nach seiner Wohnung zurück, die in der Spandauer Straße gelegen. In allem, was er tat, war der Geheime Kanzleisekretär pünktlich und genau. Er hatte sich daran gewöhnt gerade während es auf den Türmen der Marien- und Nikolaikirche 11 Uhr schlug, mit dem Rock- und Stiefelausziehen fertig zu werden, so daß er in die geräumigen Pantoffeln gefahren, mit dem letzten dröhnenden Glockenschlage sich die Nachtmütze über die Ohren zog.
Um das heute nicht zu versäumen, da die Uhren sich schon zum Elfschlagen anschickten, wollte er eben mit einem raschen Schritt (beinahe war es ein behender Sprung zu nennen) aus der Königstraße in die Spandauer-Straße hineinbiegen als ein seltsames Klopfen, das sich dicht neben ihm hören ließ ihn an den Boden festwurzelte.
Unten an dem Turm des alten Rathauses wurde er in dem hellen Schimmer der Reverberen eine lange hagere, in einen dunkeln Mantel gehüllte Gestalt gewahr, die an die verschlossene Ladentüre des Kaufmanns Warnatz, der dort bekanntlich seine Eisenwaren feil hält, stark und stärker pochte, zurücktrat, tief seufzte, hinaufblickte nach den verfallenen Fenstern des Turms.
»Mein bester Herr,« wandte sich der Geheime Kanzleisekretär gutmütig zu dem Mann, »mein bester Herr, Sie irren sich, dort oben in dem Turm wohnt keine menschliche Seele, ja, nehme ich wenige Ratten und Mäuse und ein paar kleine Eulen aus, kein lebendiges Wesen. Wollen Sie von dem Herrn Warnatz einiges Vortreffliche in Eisen oder Stahl erstehen, so müssen Sie sich morgen wieder herbemühen.«
»Verehrter Herr Tusmann« – »Geheimer Kanzleisekretär seit mehreren Jahren«, – fiel Tusmann dem Fremden unwillkürlich ins Wort, unerachtet er etwas verdutzt darüber war, von dem Fremden gekannt zu sein. Der achtete darauf aber gar nicht im mindesten, sondern begann von neuem: »Verehrter Herr Tusmann, Sie belieben sich in meinem Benehmen hier ganz und gar zu irren. Weder der Eisen- noch der Stahlwaren bin ich bedürftig, habe es auch gar nicht mit dem Herrn Warnatz zu tun. Es ist heute das Herbst-Äquinoktium, und da will ich die Braut schauen. Sie hat schon mein sehnsüchtiges Pochen, meine Liebesseufzer vernommen und wird gleich oben am Fenster erscheinen.«
Der dumpfe Ton, in dem der Mann diese Worte sprach, hatte etwas seltsam Feierliches, ja Gespenstisches, so daß es dem Geheimen Kanzleisekretär eiskalt durch alle Glieder rieselte. Der erste Schlag der elften Stunde dröhnte von dem Marienkirchturm herab, in dem Augenblicke klirrte und rauschte es an dem verfallenen Fenster des Rathausturms, und eine weibliche Gestalt wurde sichtbar. Sowie der volle Laternenglanz ihr ins Antlitz fiel, wimmerte Tusmann ganz kläglich: »O du gerechter Gott im Himmel, o all ihr himmlischen Heerscharen, was ist denn das?«
Mit dem letzten Schlage und also im selbigen Augenblick, wo Tusmann, wie sonst, die Schlafmütze aufzusetzen gedachte, war auch die Gestalt verschwunden.
Es war, als hätt' die verwunderliche Erscheinung den Geheimen Kanzleisekretär ganz außer sich selbst gebracht. Er seufzte, stöhnt«, starrte hinauf nach dem Fenster, lispelte in sich hinein: Tusmann – Tusmann, Geheimer Kanzleisekretär! – besinne dich doch nur! werde nicht verrückt, mein Herz! – Laß dich vom Teufel nicht blenden, gute Seele! –
»Sie scheinen,« begann der Fremde, »von dem, was Sie sahen, sehr ergriffen worden zu sein, bester Herr Tusmann? – Ich habe bloß die Braut schauen wollen, und Ihnen selbst, Verehrter, muß dabei noch anderes aufgegangen fein.«
»Bitte, bitte,« wimmerte Tusmann »wollen Sie mir nicht meinen schlichten Titel vergönnen, ich bin Geheimer Kanzleisekretär und zwar in diesem Augenblick ein höchst alterierter, ja wie ganz von Sinnen gekommener. Bitte ergebenst, mein wertester Herr, gebe ich Ihnen selbst nicht den gebührenden Rang, so geschieht das lediglich aus völliger Unbekanntschaft mit Ihrer werten Person; aber ich will Sie Herr Geheimer Rat nennen, denn deren gibt es in unserem lieben Berlin so gar absonderlich viele, daß man mit diesem würdigen Titel selten irrt. Bitte also, Herr Geheimer Rat mögen es mir nicht länger verhehlen, was für eine Braut Sie hier zu der unheimlichen Stunde zu schauen gedachten!«
»Sie sind,« sprach der Fremde mit erhöhter Stimme, »Sie sind ein besonderer Mann mit Ihren Titeln, mit Ihrem Rang. Ist man dann Geheimer Rat, wenn man sich auf manches Geheimnis versteht und auch wohl nebenher guten Rat zu erteilen vermag, so kann ich wohl billigen Fugs mich so nennen. Mich nimmt es wunder, daß ein so in alten Schriften und seltenen Manuskripten belesener Mann wie Sie, wertester Herr Geheimer Kanzleisekretär, es nicht weiß, daß wenn ein Kundiger – verstehen Sie wohl! – ein Kundiger, zur elften Stunde in der Nacht des Äquinoktiums hier unten an die Türe oder auch nur an die Mauer des Turms klopft, ihm oben am Fenster dasjenige Mädchen erscheint, das bis zum Frühlings-Äquinoktium die glücklichste Braut Berlins wird.«
»Herr Geheimer Rat,« rief Tusmann, wie plötzlich begeistert von Freude und Entzücken, »verehrungswürdigster Herr Geheimer Rat, sollte das wirklich der Fall sein?«
»Es ist nicht anders,« erwiderte der Fremde, »aber was stehen wir hier länger auf der Straße. Sie haben Ihre Schlafstunde bereits versäumt, wir wollen uns stracks in das neue Weinstübchen auf dem Alexanderplatz begeben. Es ist nur darum, daß Sie mehr von mir über die Braut erfahren, wenn Sie wollen, und wieder in die Gemütsruhe kommen, aus der Sie, selbst weiß ich nicht recht warum, ganz und gar herausgebracht zu sein scheinen.« –
Der Geheime Kanzleisekretär war ein höchst mäßiger Mann. Seine einzige Erholung bestand, wie schon erwähnt wurde, darin, daß er jeden Abend ein paar Stunden in einem Kaffeehause zubrachte und politische Blätter, Flugschriften durchlaufend, ja auch in mitgebrachten Büchern emsig lesend, ein Glas gutes Bier genoß. Wein trank er beinahe gar nicht, nur Sonntags nach der Predigt pflegte er in einem Weinkeller ein Gläschen Malaga mit etwas Zwieback zu sich zu nehmen. Des Nachts zu schwärmen, war ihm sonst ein Greuel; unbegreiflich schien es daher, daß er sich ohne Widerstand, ja auch ohne nur ein einziges Wort zu sagen, von dem Fremden fortziehen ließ, der mit starken, durch die Nacht dröhnenden Schritten forteilte nach dem Alexanderplatz.
Als sie in die Weinstube eintraten, saß nur noch ein einziger Mann einsam an einem Tisch und hatte ein großes Glas mit Rheinwein gefüllt vor sich stehen. Die tief eingefurchten Züge seines Antlitzes zeugten von sehr hohem Alter. Sein Blick war scharf und stechend, und nur der stattliche Bart verriet den Juden, der alter Sitte und Gewohnheit treu geblieben. Dabei war er sehr altfränkisch, ungefähr wie man sich ums Jahr Eintausendsiebenhundertundzwanzig bis dreißig trug, gekleidet, und daher mocht' es wohl kommen, daß er aus längst vergangener Zeit zurückgekehrt schien.
Noch seltsamer aber war wohl der Fremde anzuschauen, auf den Tusmann getroffen.
Ein großer, hagerer, dabei kräftiger, in Gliedern und Muskeln stark gebauter Mann, scheinbar in den fünfziger Jahren. Sein Antlitz mochte sonst für schön gegolten haben, noch blitzten die Augen unter den schwarzen, buschigen Augenbrauen mit jugendlichem Feuer hervor – eine freie offene Stirn – eine stark gebogene Adlernase – ein sein geschlitzter Mund – ein gewölbtes Kinn – das alles hätte den Mann vor hundert andern eben nicht ausgezeichnet; während aber Rock und Unterkleid nach Art der neuesten Zeit zugeschnitten waren, gehörten Kragen, Mantel und Barett dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts an; vorzüglich aber mocht' es wohl der eigene, wie aus tiefer schauerlicher Nacht hinausstrahlende Blick des Fremden, der dumpfe Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen, das durchaus gegen jede Form der jetzigen Zeit grell abstach, vorzüglich mochte es das alles sein, was in seiner Nähe jedem ein seltsames, beinahe unheimliches Gefühl einflößen mußte.
Der Fremde nickte dem Alten, der am Tische saß, zu wie einem alten Bekannten.
»Seh ich Euch einmal wieder nach langer Zeit,« rief er, »seid Ihr noch immer wohlauf?«
»Wie Ihr mich findet,« erwiderte der Alte mürrisch, »wohl und gesund und noch zur rechten Zeit auf den Beinen und munter und tätig, wenn es darauf ankommt!«
»Das fragt sich, das fragt sich«, rief der Fremde laut lachend und bestellte bei dem aufwartenden Burschen eine Flasche des ältesten Franzweins, der im Keller vorhanden.
»Mein bester, verehrungswürdigster Herr Geheimer Rat!« – begann Tusmann deprezierend.
Aber der Fremde fiel ihm schnell in die Rede: »Lassen wir doch jetzt alle Titel, bester Herr Tusmann. Ich bin weder Geheimer Rat noch Geheimer Kanzleisekretär, sondern nichts mehr und nichts weniger als ein Künstler, der in edlen Metallen und köstlichem Gestein arbeitet, und heiße mit Namen Leonhard.«
»Also ein Goldschmied, ein Juwelier«, murmelte Tusmann vor sich hin. Er besann sich nun auch, daß er bei dem ersten Anblick des Fremden in der erleuchteten Weinstube es wohl hätte einsehen müssen, wie der Fremde unmöglich ein ordentlicher Geheimer Rat sein könne, da er in altdeutschem Mantel, Kragen und Barett angetan, wie solches bei Geheimen Räten nicht üblich.
Beide, Leonhard und Tusmann, setzten sich nun hin zu dem Alten, der sie mit einem grinsenden Lächeln begrüßte.
Nachdem Tusmann auf vieles Nötigen Leonhards ein paar Gläser des gehaltigen Weins getrunken, trat Röte auf seine blassen Wangen; vor sich hinblickend, den Wein gemütlich einschlürfend, lächelte und schmunzelte er überaus freundlich, als gingen die angenehmsten Bilder in seinem Innern auf.
»Und nun,« begann Leonhard, »und nun sagen Sie mir unverhohlen, bester Herr Tusmann, warum Sie sogar besonders sich gebärdeten, als die Braut im Fenster des Turms erschien, und was jetzt so ganz und gar Ihr Inneres erfüllt? Wir sind, Sie mögen das nun glauben oder nicht, alte Freunde und Bekannte, und vor diesem guten Mann brauchen Sie sich wohl gar nicht zu genieren.«
»O Gott,« erwiderte der Geheime Kanzleisekretär, »o Gott, mein verehrtester Herr Professor – lassen Sie mich Ihnen diesen Titel geben; denn da Sie, wie ich überzeugt bin, ein sehr wackrer Künstler sind, könnten Sie mit Fug und Recht Professor bei der Akademie der Künste sein – Also! mein verehrtester Herr Professor – vermag ich denn zu schweigen? Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über! – Erfahren Sie es! – Ich gehe, wie man sprüchwörtlich zu sagen pflegt, auf Freiers Füßen und gedenke zum Frühlings-Äquinoktium ein glückliches Bräutlein heimzuführen. Konnt' es denn nun wohl fehlen, daß es mir durch alle Adern fuhr, als Sie, verehrtester Herr Professor, beliebten, mir eine glückliche Braut zu zeigen?«
»Was,« unterbrach der Alte den Geheimen Kanzleisekretär mit kreischender, krächzender Stimme, »was? – Sie wollen heiraten? Sie sind ja viel zu alt dazu und häßlich wie ein Pavian.«
Tusmann erschrak über die entsetzliche Grobheit des jüdischen Alten so sehr, daß er kein Wort herauszubringen vermochte.
»Nehmen Sie«, sprach Leonhard, »dem Alten da das harte Worte nicht übel, lieber Herr Tusmann, er meint es nicht so böse als es wohl den Anschein haben möchte. Aufrichtig gesagt muß ich aber auch selbst gestehen, wie es mich bedünken will, daß Sie etwas spät sich zur Heirat entschlossen haben, da Sie mir beinahe ein Fünfziger zu sein scheinen.«
»Auf den 9. Oktober, am Tage des heiligen Dionysius, erreiche ich mein achtundvierzigstes Jahr«, fiel Tusmann etwas empfindlich ein. »Dem sei, wie ihm wolle,« fuhr Leonhard fort, »es ist auch nicht das Aller allein, das Ihnen entgegensteht. Sie haben bisher ein einfaches, einsames Junggesellenleben geführt, Sie kennen das weibliche Geschlecht nicht, Sie werden sich nicht zu raten, nicht zu helfen wissen.«
»Was raten, was helfen,« unterbrach Tusmann den Goldschmied, »ei, bester Herr Professor, Sie müssen mich für ungemein leichtsinnig und unverständig halten, wenn Sie glauben, daß ich blindlings ohne Rat und Überlegung zu handeln imstande wäre. Jeden Schritt, den ich tue, erwäge und bedenke ich weislich, und als ich mich in der Tat von dem Liebespfeil des losen Gottes, den die Alten Cupido nannten, getroffen fühlte, sollte da nicht all mein Dichten und Trachten dahin gegangen sein, mich für diesen Zustand gehörig auszubilden? – Wird jemand, der ein schweres Examen zu überstehen gedenkt, nicht emsig alle Wissenschaften studieren, aus denen er befragt werden soll? – Nun, Verehrtester Herr Professor, meine Heirat ist ein Examen, zu dem ich mich gehörig vorbereite und wohl zu bestehen glaube. Sehen Sie, bester Mann, dieses kleine Buch, das ich, seit ich mich zu lieben und zu heiraten entschlossen, beständig bei mir trage und unaufhörlich studiere, sehen Sie es an und überzeugen Sie sich, daß ich die Sache gründlich und gescheut beginne und keineswegs als ein Unerfahrener erscheinen werde, unerachtet mir, wie ich gestehen will das ganze weibliche Geschlecht bis dato fremd geblieben.«
Mit diesen Worten hatte der Geheime Kanzleisekretär ein kleines in Pergament gebundenes Buch aus der Tasche gezogen und den Titel aufgeschlagen, welcher folgendermaßen lautete:
»Kurzer Entwurff der politischen Klugheit, sich selbst und andere in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen; Allen Menschen, die sich klug zu seyn dünken, oder noch klug werden wollen, zu höchst nöthiger Bedürfniß und ungemeinen Nutzen, aus dem Lateinischen des Herrn Thomasii übersetzt. Nebst einem ausführlichen Register. Frankfurt und Leipzig. In Verlag Johann Großens Erben. 1710.«
»Bemerken Sie,« sprach Tusmann mit süßem Lächeln, »bemerken Sie, wie der würdige Autor im siebenten Kapitel, das lediglich vom Heiraten und von der Klugheit eines Hausvaters handelt, § 6 ausdrücklich sagt:
»Zum wenigsten soll man damit nicht eilen. Wer bei vollkommenem männlichen Alter heiratet, wird so viel klüger, weil er so viel weiser wird. Frühzeitige Heiraten machen unverschämt oder arglistige Leute, und werffen sowohl des Leibes, als des Gemüths Kräffte übern Haufen. Das männliche Alter ist zwar nicht ein Anfang der Jugend, dieselbe aber soll nicht eher als mit demselben zugleich sich enden.«
Und dann, was die Wahl des Gegenstandes betrifft, den man zu lieben und zu heiraten gesonnen, so sagt der vortreffliche Thomasius § 9:
»Die Mittelstraße ist die sicherste, man nehme keine allzu Schöne, noch Häßliche, keine sehr Reiche noch sehr Arme, keine Vornehmere noch Geringere, sondern die mit uns gleichen Standes ist, und so wird auch bey den meisten übrigen Eigenschafften die Mittelstraße zu treffen das Beste seyn.«
Dem bin ich nun auch gefolgt und habe bei der anmutigen Person, die ich erwählet, nach dem Rat, den Herr Thomasius im § 17 erteilet, nicht nur einmal Konversation gepflegt, weil man durch Verstellung der Fehler und Annehmung von allerhand Scheintugenden leicht hintergangen werden kann, sondern zum öfteren, da es denn unmöglich ist, sich gänzlich in die Länge zu bergen.«
»Aber,« sprach der Goldschmied, »aber mein werter Herr Tusmann, eben dieser Umgang, oder wie Sie es zu nennen belieben, diese Konversation mit den Weibern scheint mir, soll man nicht getäuscht werden auf schnöde Weise, langer Erfahrung und Übung zu bedürfen.«
»Auch hierin«, erwiderte Tusmann, »steht der große Thomasius zur Seite, indem er sattsam lehrt, wie eine vernünftige angenehme Konversation einzurichten und wie vorzüglich, konversiert man mit Frauenzimmern, dabei einiger Scherz auf liebliche Art einzumischen. Aber Scherzreden, sagt mein Autor im fünften Kapitel, soll man sich bedienen wie ein Koch des Salzes, ja selbst der spitzigen Redensarten wie eines Gewehrs, nicht andere damit anzutasten, sondern zu unserer Beschützung, ebenmäßig als ein Igel seine Stacheln zu brauchen pflegt.
Und soll man dabei als ein kluger Mann auf die Gebärden fast noch mehr, als auf die Worte regardieren, indem öfters das, was einer in Diskursen verbirget, durch Gebärden hervorbricht, und die Worte gemeiniglich nicht soviel als die übrige Aufführung zu Erweckung von Freund- und Feindschaft vermögen.«
»Ich merk' es schon«, nahm der Goldschmied das Wort, »man kommt Ihnen auf keine Weise bei, Sie sind gegen alles gewappnet und gerüstet. Wetten will ich daher auch, daß Sie durch Ihr Betragen die Liebe der von Ihnen erkorenen Dame ganz und gar gewonnen.«
»Ich befleißige mich«, sprach Tusmann, »nach Thomasii Rat einer ehrerbietigen und freundlichen Gefälligkeit, denn diese ist sowohl das natürliche Merkmal der Liebe, als der natürliche Zug zur Erweckung der Gegenliebe, gleichwie das Hojanen oder Gähnen eine ganze Gesellschaft zur Nachahmung antreibt. Doch gehe ich in der allzu großen Ehrerbietung nicht zu weit, denn ich bedenke wohl, daß, wie Thomasius lehrt, die Weiber weder gute noch böse Engel, sondern bloße Menschen und zwar, den Leibes- und Gemütskräften nach, schwächere Kreaturen sind als wir, welches der Unterschied des Geschlechts sattsam anzeigt.«
»Ein schwarzes Jahr«, rief der Alte ergrimmt, »komme über Euch, daß Ihr läppisches Zeug schwatzt ohne Aufhören und mir die gute Stunde verderbt, in der ich hier mich zu erlaben gedachte nach vollbrachtem großen Werk!« ...
... Der Geheime Kanzleisekretär schien dagegen nicht sonderlich auf des Goldschmieds Worte zu achten. Er war über die Maßen freundlich und in dem Augenblick von ganz andern Gedanken und Bildern erfüllt. Als nämlich der Goldschmied geendet, fragte er schmunzelnd mit süß lispelnder Stimme: »Aber sagen Sie mir nur, mein allerwertester hochverehrtester Herr Professor, war denn das wirklich die Demoiselle Albertine Voßwinkel, die aus dem verfallenen Fenster des Rathausturmes mit ihren schönen Augen auf uns herniederblickte?«
»Was,« fuhr ihn der Goldschmied wild an, »was haben Sie mit der Albertine Voßwinkel?«
»Nun,« erwiderte Tusmann kleinlaut, »nun, du mein lieber Himmel, das ist ja eben diejenige holde Dame, die ich zu lieben und zu heiraten unternommen.«
»Herr,« rief nun der Goldschmied, blutrot im ganzen Gesicht und glühenden Zorn in den feuersprühenden Augen, »Herr, ich glaube, Sie sind vom Teufel besessen oder total wahnsinnig? Sie wollen die schöne blutjunge Albertine Voßwinkel heiraten? Sie alter abgelebter armseliger Pedant? Sie, der Sie mit all Ihrer Schulgelehrsamkeit, mitsamt Ihrer aus dem Thomasius geschöpften politischen Klugheit nicht drei Schritt über Ihre eigene Nase wegsehen können? – Solche Gedanken lassen Sie sich nur vergehen, sonst könnte Ihnen noch in dieser Aquinoktial-Nacht das Genick gebrochen werden.«
Der Geheime Kanzleisekretär war sonst ein sanfter friedfertiger, ja furchtsamer Mann, der niemanden, wurde er auch angegriffen, ein hartes Wort sagen konnte. Zu schnöde waren aber wohl des Goldschmieds Worte, und kam noch hinzu, daß Tusmann mehr starken Wein, als er gewohnt getrunken hatte, so konnt' es nicht fehlen, daß er, wie sonst niemals, zornig auffuhr und mit gellender Stimme rief: »Ich weiß gar nicht, wie Sie mir vorkommen, mein unbekannter Herr Goldschmied, was Sie berechtigt mir so zu begegnen? – Ich glaube gar, Sie wollen mich äffen durch allerhand kindische Künste und vermessen sich, die Demoiselle Albertine Voßwinkel selbst lieben zu wollen und haben die Dame porträtiert auf Glas und mir mittelst einer Laterna magica, die Sie unter dem Mantel verborgen, das angenehme Bildnis gezeigt am Rathausturm! – 0 mein Herr, auch ich verstehe mich auf solche Dinge, und Sie verfehlen den Weg, wenn Sie glauben, mich durch Ihre Künste, durch Ihre groben Redensarten einzuschüchtern!« –
»Nehmen Sie sich in acht,« sprach nun der Goldschmied gelassen und sonderbar lächelnd, »nehmen Sie sich in acht, Tusmann, Sie haben es hier mit kuriosen Leuten zu tun.«
Aber in dem Augenblick grinste statt des Goldschmiedes ein abscheuliches Fuchsgesicht den Geheimen Kanzleisekretär an, der von dem tiefsten Entsetzen erfaßt, zurücksank in den Sessel.
Der Alte schien sich über des Goldschmiedes Verwandlung weiter gar nicht zu verwundern, vielmehr hatte er auf einmal sein mürrisches Wesen ganz verloren und rief lachend: »Sehen Sie doch, welch hübscher Spaß; – aber das sind brotlose Künste, da weiß ich Besseres und vermag Dinge, die dir stets zu hoch geblieben sind, Leonhard.«
»Laß doch sehen,« sprach der Goldschmied, der nun wieder sein menschliches Gesicht angenommen, sich ruhig an den Tisch setzend, »laß doch sehen, was du kannst.«
Der Alte holte einen großen schwarzen Rettich aus der Tasche, putzte und schälte ihn mit einem kleinen Messer, das er ebenfalls hervorgezogen, sauber ab, zerschnitt ihn in dünne Scheiben und legte diese auf den Tisch.
Aber sowie er mit geballter Faust auf eine Rettigscheibe schlug, sprang ein schön ausgeprägtes flimmerndes Goldstück hervor, das er faßte und dem Goldschmied zuwarf. Doch, sowie dieser das Goldstück auffing, zerstäubte es in tausend knisternde Funken. Das schien den Alten zu ärgern, immer rascher und stärker prägte er die Rettigscheiben aus, immer prasselnder zersprangen sie in des Goldschmieds Hand.
Der Geheime Kanzleisekretär war ganz außer sich, betäubt von Entsetzen und Angst; endlich raffte er sich mit Gewalt auf aus der Ohmnacht, der er nahe war, und sprach mit bebender Stimme: »Da will ich mich doch den hochzuverehrenden Herren lieber ganz gehorsamst empfehlen«; sprang alsbald, nachdem er Hut und Stock ergriffen, schnell zur Türe hinaus.
Auf der Straße hörte er, wie die beiden Unheimlichen hinter ihm her eine gellende Lache aufschlugen, vor der ihm das Blut in den Adern gefror.
(Aus »Die Brautwahl«.)
Im weiteren Verlauf dieses Märchens stellt es sich heraus, daß der Zauberer Leonhard den komischen Geheimen Kanzleisekretär Tusmann von seinem Heiratsplan abbringen wollte, weil sein junger Freund, der Maler Edmund Lehsen, sich in Albertine Voßwinkel verliebt und Leonhard ihm zur Erlangung der Braut seine Unterstützung zugesagt hatte. Auch dieser Fabel lag eine wirkliche Begebenheit zugrunde. Nur wenig hat Hoffmann in der Person des jungen Lehsen seinen jungen Freund, den Maler Wilhelm Hensel verhüllt, der seit einiger Zeit schwärmerisch zu ihm als seinem Meister aufsah, während Hoffmann sich zu dem jungen Mann offenbar recht skeptisch verhielt. Wir lassen die Partie des Märchens folgen, in der Lehsen mit Leonhard zusammentrifft. Sie ist offenbar fast genau der Wirklichkeit entnommen. Auch das Bild Lehsens, das Leonhard hier tadelt, ist wirklich von Hensel gemalt und auf der Berliner Kunstausstellung ausgestellt worden, wo es das Befremden der Kenner und Kunstfreunde erregt hatte. Hoffmann nahm an den künstlerischen Ereignissen der Residenz das regste Interesse. Wiederholt haben Bilder dieser Ausstellungen ihn zur dichterischen Produktion angeregt. Die Art, wie Leonhard hier dem Jüngling begegnet, ist ungeheuer bezeichnend für den Verkehr Hoffmanns mit jungen Leuten, die zu ihm als Meister aufsahen. Er förderte sie, aber in einer mürrischen Weise, hinter der sich eine tiefe Zuneigung zu künstlerisch enthusiasmierten jungen Menschen verbarg. Auch die Liebe Lehsens zu einer jungen Berlinerin scheint in einer Neigung Wilhelm Hensels ihr Vorbild zu haben. Wie Lehsen ging auch Hensel, das Herz voll Liebe, nach Italien und heiratete nach seiner Rückkehr zwar nicht seine Albertine Voßwinkel oder wie die Dame seines Herzens geheißen haben mag, sondern – Fanny Mendelssohn.
Auf weniger verfängliche Weise als der Geheime Kanzleisekretär Tusmann hatte der junge Maler Edmund Lehsen die Bekanntschaft des alten wunderlichen Goldschmieds Leonhard gemacht.
Edmund entwarf gerade an einer einsamen Stelle des Tiergartens eine schöne Baumgruppe nach der Natur, als Leonhard zu ihm trat und ohne Umstände ihm über die Schulter ins Blatt hineinsah. Edmund ließ sich gar nicht stören, sondern zeichnete emsig fort, bis der Goldschmied rief: »Das ist ja eine ganz sonderbare Zeichnung, lieber Mann, das werden ja am Ende keine Bäume, das wird ja ganz etwas anderes.«
»Merken Sie etwas, mein Herr?« sprach Edmund mit leuchtenden Blicken. »Nun«, fuhr der Goldschmied fort, »ich meine, aus den dicken Blättern da kuckten allerlei Gestalten heraus im buntesten Wechsel, bald Genien, bald seltsame Tiere, bald Jungfrauen, bald Blumen. Und doch sollte das Ganze wohl nur sich zu jener Baumgruppe uns gegenüber gestalten, durch die die Strahlen der Abendsonne so lieblich funkeln.«
»Ei, mein Herr«, rief Edmund, »Sie haben entweder einen gar tiefen Sinn, ein durchschauendes Auge für dergleichen, oder ich war in diesen Augenblicken glücklicher im Darstellen meiner innersten Empfindung, als jemals. Ist es Ihnen nicht auch so, wenn Sie sich in der Natur ganz Ihrem sehnsüchtigen Gefühl überlassen, als schauten durch die Bäume, durch das Gebüsch allerlei wunderbare Gestalten Sie mit holden Augen an? – Das war es, was ich in dieser Zeitung recht versinnlichen wollte, und ich merke, es ist mir gelungen.«
»Ich verstehe,« sprach Leonhard etwas kalt und trocken, »Sie wollten frei von allem eigentlichen Studium sich Rast geben und in einem anmutigen Spiel Ihrer Fantasie sich erheitern und erkräftigen.«
»Keineswegs, mein Herr!« erwiderte Edmund, »gerade diese Art, nach der Natur zu zeichnen, halte ich für mein bestes, nutzvollstes Studieren. Aus solchen Studien trag ich das wahrhaft Poetische, Fantastische in die Landschaft. Dichter muß der Landschaftsmaler ebensogut sein als der Geschichtsmaler, fönst bleibt er ewig ein Stümper.«
»Hilf Himmel,« rief Leonhard, »auch Sie, lieber Edmund Lehsen« –
»Wie,« unterbrach Edmund den Goldschmied, »wie, Sie kennen mich, mein Herr!«
»Warum«, erwiderte Leonhard, »soll ich Sie denn nicht kennen? – Ich machte Ihre erste werte Bekanntschaft in einem Augenblick, auf den Sie sich wahrscheinlich nicht sehr deutlich besinnen werden, nämlich, als Sie soeben geboren waren. Für die wenige Welterfahrung, die Sie damals besitzen konnten, hatten Sie sich überaus sittig und klug betragen, Ihrer Frau Mama ungemein wenig Mühe gemacht und sogleich ein sehr wohlklingendes Freudengeschrei erhoben, auch heftig ans Tageslicht verlangt, das man Ihnen nach meinem Rat nicht verweigern durfte, da nach dem Ausspruch der neuesten Ärzte dieses den neugeborenen Kindern nicht nur keineswegs schadet, sondern vielmehr wohltätig auf ihren Verstand, auf ihre physischen Kräfte überhaupt wirkt. Ihr Herr Papa war auch dermaßen fröhlich, daß er auf einem Beine im Zimmer herumhopste und aus der Zauberflöte sang: »Bei Männern, welche Liebe fühlen« usw. Nachher gab er mir Ihre werte kleine Person in die Hände und bat mich, Ihr Horoskop zu stellen, welches ich auch tat. Dann kam ich noch öfters in Ihres Vaters Haus, und Sie verschmähten nicht, manche Tüte Rosinen und Mandeln aufzunaschen, die ich Ihnen mitbrachte. Nachher ging ich auf Reisen, Sie mochten damals sechs oder acht Jahre alt sein. Dann kam ich hierher nach Berlin, sah Sie und vernahm mit Vergnügen, daß Ihr Herr Vater Sie aus Münckeberg hierher geschickt, um die edle Malerkunst zu studieren, für welches Studium in Müncheberg eben nicht sonderlicher Fond vorhanden an Bildern, Marmorn, Bronzen, Gemmen und ander« bedeutenden Kunstschätzen. Ihre gute Vaterstadt kann sich darin nicht mit Rom, Florenz oder Dresden messen, wie vielleicht künftig Berlin, wenn funkelnagelneue Antiken aus der Tiber gefischt und hierher transportiert werden.« –
»Mein Gott,« sprach Edmund, »jetzt gehen mir alle Erinnerungen aus meiner frühesten Jugend lebhaft auf. Sind sie nicht Herr Leonhard?«
»Allerdings«, erwiderte der Goldschmied »heiße ich Leonhard und nicht anders, indessen möcht' es mich doch wundern, wenn Sie sich aus so früher Zeit meiner noch erinnern sollten.«
»Und doch«, fuhr Edmund fort, »ist es der Fall ... Aber noch mehr sind es die Erzählungen meines Vaters von Ihnen, die Ihr Andenken in meiner Seele frisch erhalten haben ... Mein Vater hat es mir oft wiederholt, Ihr Ausspruch sei gewesen, es würde was Großes aus mir werden, entweder ein großer Künstler oder ein großer Narr. – Wenigstens hab' ich es aber diesem Ausspruch zu verdanken, daß mein Vater meiner Neigung zur Kunst freien Lauf ließ, und glauben Sie nicht, daß Ihr Horoskop zutreffen wird?«
»O ganz gewiß,« erwiderte der Goldschmied sehr kalt und gelassen, »es ist gar nicht daran zu zweifeln, denn Sie sind eben jetzt auf dem schönsten Wege, ein großer Narr zu werden.«
»Wie, mein Herr,« rief Edmund betroffen, »wie mein Herr, Sie scheuen sich nicht, mir ein Sottise ins Gesicht zu sagen? Sie –«
»Still,« fiel ihm der Goldschmied ins Wort, »still, das ist keine Sottise, das ist die alte deutsch« ehrliche Biederkeit, die aus mir spricht, und die Sie vertragen müssen, da Sie mit einem altdeutschen Rock angetan sind und sich die Haare nicht verschneiden. Das Wort Sottise sollten Sie gar nicht kennen, viel weniger brauchen. Sie laufen Gefahr, von irgendeinem Professor der Turnkunst (Das Ganze eine Anspielung auf Professor Jahns altdeutschelndes Wesen!) zu Boden geturnt zu werden, vernimmt er solches aus Ihrem Munde. – Doch den Beweis meines Ausspruchs! – Sie haben Recht, jeder Maler, sei er Landschafter oder Historiker, muß zugleich ein Dichter sein, denn Gemälde sind Gerichte, mit dem Pinsel ausgeführt; aber nennen Sie das dichten, wenn Bäume mit ihrem Laube, Stamm und ihren Wurzeln zugleich aussehen sollen, wie Menschen, Tiergestalten, ja wenn selbst Figuren zusammengestellt sind, nicht nur eine bestimmte Handlung, sondern nur eine außerhalb des Bildes liegende fantastische Idee auszudrücken? Da kommen wir in die Allegorie hinein, den ärmlichsten unkünstlerischsten Teil der Malerei. Hüten Sie sich vor dem Nebeln und Schwebeln! – Sie verfertigen bisweilen miserable Sonette, und gefallen sich darin, seltsame Arabesken und Grotesken zusammenzustoppeln, und schwatzen von Ahnung und Sehnsucht und Lebenstiefe, die in den abgeschmacktesten Zerrbildern liegen soll.« –
»In der Tat,« brach Edmund im höchsten Unwillen los, »in der Tat, mein Herr! Ihr Horoskop bewährt sich in diesem Augenblick, denn ich bin wirklich ein großer ausgemachter Narr, der ich hier stehe und mir von einem Mann, dem es an allem poetischen Sinn gebricht, Grobheiten ins Gesicht sagen lasse. – Gott befohlen.« – Und damit rannte der Jüngling spornstreichs durch das Gebüsch von dannen.
Edmund hielt den Genius, der nach seiner Meinung ihm inwohnte, so hoch in Ehren, daß er selbst gar nicht begriff, wie er mit diesem überirdischen Insassen so ruhig auf Erden unter seinesgleichen wandeln könne, und nicht vielmehr in den hohen Lüften schwebe. Schon darum mochte der Goldschmied recht haben mit seinem schlimmen Horoskop. Edmund arbeitete an einem großen Bilde, das der Triumph der Kunst sein sollte. Als es endlich vollendet, war es jedoch dermaßen mißraten, daß es auf der Ausstellung bei den Kennern Lachen, bei den Meistern aber Unwillen erregte. Dieser böse Umstand aber erzeugte in dem Innern des Jünglings einen harten Kampf, in dem aber das bessere Prinzip siegte. Er sah es nämlich ein, daß er sich wohl auf falschem Wege befunden, und gedachte des alten Goldschmieds und seiner Warnung ...
(Aus »Die Brautwahl«.)
Also
ziehe o Bester! Stiefeln an und eile
zu Deinem treuen Geheimen Archivarus Lindhorst