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Die fünf Erzählungen des Pankraz


Der Liebesbriefsteller

Bis in die oberste Klasse des Gymnasiums war der Sohn eines beliebten Krämers im Städtchen mein Gefährte gewesen. Ein derber, handfesten Vergnügungen zustrebender Bursch, schwerfällig für alles Wissen, doch gewandt für Handel und Wandel, stumpf gegenüber allem Geistigen, aber schlau für jeden greifbaren Vorteil. Der Alte hatte sich in den Kopf gesetzt, einen studierten Kaufmann aus ihm zu machen. Ein Schlaganfall indes drohte mit Lähmung und zwang ihn, den Sohn früher, als er gerechnet hatte, ins Geschäft zu nehmen. Und der war froh darum, hantierte erfolgreich im Laden, und während wir auf der Schulbank die Welt noch durch einen Schleier schauten und vor einem lachenden Mädchen scheuten, wie ein Gaul vor einem Dromedar, und hinten und vorn ausschlugen und heimlich doch das süßeste Zuckerzeugs bei einer solchen Mitmenschin ahnten, franste unser Genosse von ehedem schon seinen sprossenden Schnurrbart nach links und rechts auf, scherzte mit jedem Fräulein, das sich im Laden zu tun machte, und saß in der Kirche bei den gesetzten, bodenständigen Bürgern, mit denen er über die Läufte sprach. Für uns, die wir noch im Zwischenreich hausten, war er freigebig mit überlegen-wohlwollenden Blicken und einem leisen Mitleid, das wir ihm, unhöflich, wie wir es in diesen Flegeljahren waren, mit einem weniger leisen Hohn vergalten, der indes seine geruhsame Seele nicht anfocht.

Es gab in jenen Tagen ein stattliches Fräulein im Städtchen, das in meinem Alter stand und bisweilen meine um ein Jahr ältere Schwester besuchte. Auf breiten Schultern trug's einen runden, flachsblonden Kopf, hatte lustige Augen, die vergnüglich unter vorfallendem Stirnhaar hervorlachten, sprach mit einer tiefen, derben Stimme und kaute gern zu allen Tageszeiten an einem guten Bissen herum. Mit meiner Schwester hatte Emma im Winter Tanzen gelernt, und die Mädchen übten im jungen Jahr fröhlich ihre Kunst zu Hause, und als ich einmal zu einer solchen Probe ins Wohnzimmer geriet, geschah's, daß mich die Freundin als Partner gelten ließ und mit mir, der ich steif wie ein Stock stand, einen Ländler wagte, wobei sie mich kräftig in die Arme nahm. Derart war sie das erste fremde Mädchen, das ich umfassen durfte und dessen Busen ich an meiner Brust fühlte. In ihrer ganzen Stattlichkeit geriet so Emma in meine Träume, und was ich ihr darin sagte, hätte für die anspruchsvollste Liebste ausreichen mögen. Und mit der Nacht hatten diese Träume nicht einmal genug; mit offenen Augen lief ich umher und sah immer wieder das Mädchen, wie ich es nach jenem Tänzlein geschaut, dem sich die schweren Zöpfe gelöst hatten und dem ich helfen mußte, den Schmuck wieder um den Kopf zu legen und festzustecken. Die Hände hatte Emma erhoben und nestelte die Fülle lachend wieder zurecht, und ihr Hals trug als eine elfenbeinerne Säule die helle Krone, und ihre Brust straffte sich vom starken jungen Leben.

Um jene Zeit begab es sich, daß mich der frühere Mitschüler Karl, der Spezereihändler, beim Vorübergehen anrief, und als ich verdutzt zögerte, unter den Arm und hinter den Ladentisch nahm, wo er in einem Winkel eine versteckte Tischplatte auszog und für den verblüfften Genossen überwundener Tage einen Teller mit etlichen Brötchen und einer schmackhaft duftenden Wurst richtete. Er gedenke oft und immer wieder seiner Schulfreunde, so arg ihn die auch verkennen, und wenn er nicht gar so viel zu tun hätte, möchte er noch manchmal mit im Schwanenholz sitzen, einer Wirtschaft vor dem Tor, wo wir an den Samstagen heimlich das erste Bier trinken lernten. Doch mit der frohen Jugend sei's leider vorbei, der Ernst des Lebens fordere sein Recht und fordere auch – das sei jedoch noch Geheimnis und auf Ehr und Gewissen zu wahren –, daß er sich bald eine ansehnliche Frau zutue, die danach geraten sei, ihm auch im Handel helfen zu können. Die wohl dazu Berufene sei ihm sicher, daran zweifle er nicht; aber er müsse doch, wie das Brauch sei, der Erkorenen in einem zärtlichen Brieflein gestehn, wie es ihm ums Herz sei. Einen Geschäftsbrief wisse er zu schreiben, auch etwa von Mund zu Mund zu beteuern, was einem Liebenden obliege; aber wenn sein zärtliches Geständnis den Weg vom Herzen übers Papier nehmen solle, dann lahme er kläglich. Dagegen habe ich, so schmeichelte er mir, von jeher alle papiernen Hindernisse leicht genommen und wisse, wo das Rößlein zu spornen sei, damit es als erstes durchs Ziel gehe. Und er wolle es mir herzlich vergelten, wenn ich ihm bei dem so wichtigen ersten Sturmlauf beistehe. Ich habe sicherlich auch eine heimliche Flamme, und die mög ich mir lichterloh vorstellen, weil es für ein Herz nichts Verlockenderes gebe als ins prasselnde Feuer zu gehn. Einmal darin, werde ich auch die stärkste Feste zu stürmen wissen.

Ich hatte die Backen zu voll gehabt, um dem Versucher widerstehn zu mögen, und als mir gar noch ein süßes, rotschillerndes Schnäpschen gespendet worden, da war meine Zuversicht stark, und ich gelobte, einen Brief an mein Schätzlein aufzusetzen – das heiße, meinte ich mit herausfordernder Vorsicht beschwichtigend: so, wie ich mir eins und meines denke, wenn ich's einmal so weit gebracht habe wie er, der ehemalige Schulgefährte. Und da auch in dem trotz aller Krämerweisheit doch noch die knabenhafte Lust steckte, ein Außergewöhnliches auch außergewöhnlich, als Abenteuer, zu erleben, so verabredeten wir, uns am Sonntag nach der Kirche auf dem Judenkirchhofe zu treffen, der vor dem Tor, inmitten weit wogenden Kornes, als eine wuchernde Wildnis lag und von einem verfallenen Tor behütet war mit verblaßtem goldenem Stern, unter dem hindurch wohl einmal ein heimliches Liebespaar eine blühende Einsamkeit suchte.

Das jüngste Grab auf dieser Stätte war das einer Genossin unserer Jahre, des einzigen Mädchens, das mit uns die Lateinschule besucht hatte. Eine Verfolgung irgendwo in Rußland hatte sie, die Überlebenden, zu Verwandten getrieben gehabt, den Großvater und seine Enkelin. Und während deren Sippe seit langem im Städtchen ansässig war und ihrer niemand besonders achtete, blieben diese Flüchtlinge vom Aberglauben umwittert. Der Alte ging im langen Rock einher, graue Haare fielen ihm auf die Schultern, und von dem, was er vor sich hinsprach, verstanden wir nichts. Lea, die Enkelin, die mit uns auf derselben Schulbank saß, war uns doch weit voraus, und durch Hinhorchen bei Erwachsenen hatten wir allmählich erfahren, daß eine tiefe Narbe quer über die Stirn von dem schrecklichen Schlag eines Kosaken stammte, als sich die junge Judenschöne des Untiers erwehren mußte.

Ein Jahr lang hatte sie mit uns gearbeitet, gewandt und geschickt, fleißig und unermüdlich, als ein roher Bursche das Mädchen eines Abends auf dem Heimwege belästigte. Und die Jüdin, die sich so frei und sicher in der neuen Heimat geglaubt, sah mehr in der Belästigung als die Gebärde eines Trunkenen; sie war ein umstelltes Wild, für das es kein Entrinnen mehr aus dem Netze gab, nirgends und nirgendwo, und in der Angst ihres Herzens legte sie sich hin und starb.

Der Tod machte uns das Mädchen noch fremder. Und da es an einem Samstage, seinem Sabbat, gestorben war, so umschlichen wir scheu das Sterbehaus, in dem von bösen Legenden genährten Glauben, der Sarg eines an einem solchen Tage Verstorbenen müsse nach dem Brauche der Juden die Treppe hinuntergeworfen werden. Laute Klagen vernahmen wir und sahen weinende Weiber und dann den Alten, der eine Hand im Bart hatte und mit der anderen eine Faust in die Ferne warf und wieder zusammenfiel und Gebete murmelte und Flüche kreischte. Als es aber zum Begräbnisse ging, war doch unsere Klasse vollzählig hinter dem nackten schwarzen Sarge, und vorauf gingen die Trommler, Pfeifer und Bläser unserer Schule und spielten »Ich hatt einen Kameraden«, und nach einem alten Brauche gaben wir der mitten im Schuljahr verstorbenen Genossin drei Salven ins Grab.

»Lea Lilienbronn« stand auf einem schlichten Stein, der oben eine kleine Urne trug. Die war von einem warmen Regen her noch halb gefüllt. Ein Buchfink im Hochzeitssamt tauchte immer wieder darein, daß die Tropfen funkelnd über ihn hinstäubten, und flog dann hoch in eine Pappel, an der die Luft leise hinabrieselte, und jauchzte sein Lied gleich einem frohen Herold, der allem Tode zu solcher Stunde Krieg ansagt. Und dann war die Stille des jungen Sommers um den Gottesacker. Das Korn duftete aus allen Weiten herüber, durch dunkelgrüne Schatten leuchteten Mohn und Zyanen, von Rosen waren alle Büsche schwer, und eine Flut von duftigen Flocken rieselte mit jedem Atem des Windes über Stein und Gräber dahin. Und mir war, ich vernehm in dieser Einsamkeit die dunkel tönende Stimme Leas, wie sie aus den Propheten und Psalmen vorzulesen verstanden hatte, daß wir alle, Lehrer und Schüler, bang und doch begierig diesem Kriegs- und Kampfgedröhn der Seele lauschten. Aber was aus dem Grab erwachte, das waren Worte, süß und zärtlich, leis und leidenschaftlich – wie sie Knabenahnung aufrühren.

Ein Mückenschwarm stand wie ein flackerndes Räuchlein über einem Grabstein, die Luft war von Blütenblättern und zarten Fäden voll und leuchtete und funkelte, und Lerchen hingen hoch im Blau, als ich las, was ich zu Papier gebracht. Es war ein närrisches Gestammel, und über dem Lesen geschah mir, daß ich vergaß, im Gedanken an Emma so geseufzt zu haben, und dafür die verstorbene Lea vor mir sah, wie sie mir einmal mit großen glänzenden Augen und einem von leiser Üppigkeit blühenden Munde gelächelt hatte, als ich an einem Schulkränzchen zur Schlußfeier ihr Partner gewesen war, der sie öffentlich zum Vortragstische zu geleiten gehabt hatte.

»Du süße Geliebte!« las ich und lehnte wider einen Strauch stark duftenden Jasmins, indes mein Zuhörer, der junge Krämer, auf einem verschleppten Stein hockte, die Beine mit den Händen umspannt und den Kopf dazwischengesteckt hielt. »Du süße Geliebte! Die Sterne, die begehrt man nicht. Aber Du wandelst auf dieser Erde, und da soll sich finden, was sich sucht, da gehört eins zum anderen. Mein Herz ist hinter Dir her, wie hinter einem Paradiesvogel, und will Dich fangen und in ein rotgefüttertes Körblein mit Marzipan stecken, wo mit goldenen Buchstaben das Sprüchlein auf dem Deckel drauf stehl: ›Gott behüt es allezeit, was ich lieb in Ewigkeit.‹

Ja, ich lieb Dich inniglich,
Und von Herzen bitt ich Dich,
Ach, bewahr Dich treu für mich!«

»Ungenannt, doch wohlbekannt! Karl Küchlin!« schrie mein Freund sturmfroh. »So unterschreib ich's und du sollst der erste sein, der's erfährt, wenn sie ja sagt! Hat sie erst einmal so ein süßes Brieflein gekostet, dann möcht sie von dem Honig gleich ein ganzes Fäßlein schlecken. Heut noch wird das Fliegenpapier ausgelegt!«

Diese Zuversicht des Liebhabers, obwohl sie so grob einherschnaubte, tat mir doch wohl, insofern sie meinen Glauben an ein Vermögen kräftigte, für mich selber zu guter Stunde zu gebrauchen. Als wir wieder draußen vor dem Judenkirchhof waren, da war Lea tief in ihrem Grabe und dafür die stattliche Emma in meinem Herzen. Und nach dem Erfolge, wie ihn der Freund für sich voraussah, wollte ich dann mein Brieflein auch für mich benützen und ein solches Schriftstück meiner Angebeteten zustecken.

Es war um die Mitte der Woche, als ich meiner Neugier nicht länger widerstand und mir im Laden des Freundes zu tun zu machen suchte. Der gebärdete sich indes, als müß er seine Kundschaft – etliche lachlustige Mägde – für Zeit und Ewigkeit beieinanderhalten; so überschüttete er sie mit artigen Reden. Und als wir endlich doch allein waren, da meinte er mit jener unleidlichen Überlegenheit, die er den früheren Mitschülern gegenüber herauskehrte und nur bei der Bitte um meine Dienste verhalten hatte, er hab es sich überlegt gehabt und den Brief nicht gebraucht. Und es sei auch, meinte er selbstbewußt lächelnd, ohne diese Epistel gegangen und vielleicht noch besser so.

Dann gib das Brieflein zurück. Ich will es selber gebrauchen!« fuhr ich heraus, aufgebracht, wie nur einer sein kann, dessen erstes schriftstellerisches Erzeugnis geringschätzig in den Papierkorb gewischt wird.

»Du?« schrie der glückliche Liebhaber. »Du bist wohl verrückt! Mädchen zeigen einander gern solche Briefe. Und wenn dann zwei den gleichen … Was meinst du wohl …«

»Den gleichen?« forschte ich. »Du hast ihn doch nicht abgeschickt?«

»Abgeschickt, abgeschickt …« knurrte der in die Enge Geratene. »Sie hat ihn bei mir liegen sehn und gelesen. Es fällt dir doch nicht schwer, einen anderen abzufassen – wenn du wirklich glaubst, ein Mädchen könne etwas Rechtes mit einem Gymnasiasten anfangen!«

»Einem Gymnasiasten, der dir den Werbebrief aufsetzen muß!« höhnte ich. »Meinetwegen sollen sich jetzt ein halbes Dutzend daran freuen!« prahlhanste ich herausfordernd und ging davon, als könn ich, eine neue Art von Hexenmeister, aus jeder Westentasche ein Mädchen auf die Beine stellen.

Beim Buchbinder suchte ich mir ein Böglein mit schönen blauen Vergißmeinnicht umrandet hervor und klaubte aus den Vorräten seines Ladens einen geringelten Federhalter und eine Stahlfeder mit vergoldeter Spitze heraus, um sie zu ewigem Andenken zu bewahren, nachdem ich meinen Brief damit geschrieben. Und während ich mit dem Zirkel den Rand abmaß und mit einem zarten Bleistrich die Grenze zeichnete, wo die Buchstaben ihren Aufmarsch zum Liebessturme beginnen durften, vernahm ich im Garten unter mir Mädchenlachen und die Stimmen meiner Schwester und ihrer Freundin Emma. Und diese Emma hatte ein Brieflein in der Hand, und beide Mädchen beugten sich darüber, nachdem sie voll lustiger Heimlichkeit hinter sich geschaut, daß ihnen niemand nahe sei. Dann buchstabierte meine Schwester: »Die Sterne, die begehrt man nicht. Aber Du wandelst auf dieser Erde, und da soll sich finden, was sich sucht, da gehört eins zum anderen …«

Emma hatte den Brief verschämt zurückgezogen, und meine Schwester mußte sie mit Bitten und Versprechungen bestürmen, damit sie doch den schönen Schluß zu lesen bekomme, und schließlich mußte sie gar drohen, daß es mit der Freundschaft für heut und allezeit aus sei, ewig aus, wenn sie ihr nicht vertraue und das Geheimnis ganz offenbare. So las meine Schwester weiter: »Mein Herz ist hinter Dir her, wie hinter einem Paradiesvogel, und will Dich fangen und in ein rotgefüttertes Körblein mit Marzipan stecken, wo mit goldenen Buchstaben das Sprüchlein auf dem Deckel drauf steht: ›Gott behüt es allezeit, was ich lieb in Ewigkeit.‹

Ja, ich lieb Dich inniglich,
Und von Herzen bitt ich Dich,
Ach, bewahr Dich treu für mich!«

»Unterschrift!« krähte meine Schwester, da Emma ihr den Brief wiederum zu entwinden drohte. »Ungenannt, doch wohlbekannt, Karl Küchlin … Ungenannt, doch wohlbekannt, ungenannt, doch wohlbekannt,« lachte die Leserin ausgelassen, »ungenannt, doch wohlbekannt, Karl Küchlin, Karl …«

»Schweig,« drohte Emma, »wenn dich jemand hörte!« Scheu sah sie auf, und ich starrte ihr, ohne daß sie mich nahe ahnte, gerade in das glühende Gesicht.

»Ist der Brief nicht schön?« forschte Emma ein wenig verletzt. »Karl ist doch nicht viel älter als dein Bruder – aber schon ein Mann mit eigenem Geschäft, der eine Frau ernähren kann!«

»Und sieben Kinder!« lachte meine Schwester. »Und Karl heißt er schon – kurz Karl – ungenannt, doch wohlbekannt … Man darf also Glück wünschen?«

»Man darf!« bestätigte Emma kühl.

»Dann allerdings, dann …« lenkte meine Schwester verlegen ein, und plötzlich fiel sie der Freundin um den Hals, und beide Mädchen weinten, eng umschlungen, als sollten sie geradeswegs zum Galgen geschleppt werden.

Ich hatte mein Urteil vernommen. Mein Brief hatte gesiegt, mein Gefühl. Ich wollte es hinausschrein: »Emma, ich habe dir geschrieben, ich, ich, und mir gebührt die Antwort, mir!« Aber ich hatte mein Urteil vernommen: »Nicht viel älter als dein Bruder und schon ein aufrechter Mann mit eigenem Geschäft …« Ich schwieg und saß noch lange so und horchte und wußte nicht worauf.

Der Dämmer fiel, und aus den Schatten lächelte Lea, die Augen voll Tränen. Um meine Kerze gingen die Nachtfalter, indes ich auf das Böglein mit den Vergißmeinnicht steife gezirkelte Buchstaben setzte: »Süße Geliebte, mein Herz ist in Not; Du aber, Du schweigst und bist tot, tot, tot!«

Es ward eine lustige Verlobung gefeiert, und da Emma ihre Freundin bei dem Feste haben wollte, so ward auch ich mit der Schwester eingeladen. Und ich aß und trank mit dem gesegneten Vermögen eines wachsenden Bürschleins und tat noch ein übriges, und dann gebärdete ich mich plötzlich unternehmend und geheimnisvoll, ließ die Gesellschaft in der Laube lachen und war von ungefähr draußen auf der Landstraße im Mondenschein.

Der Buchs duftete herb, das Korn leuchtete silbern, und über das Grab Leas warf der Stein einen langen Schatten. Und ich suchte zu lesen: »Lea Lilienbronn, Lea …« Und dann schluchzte ich auf, als müß ich mich selber zu dem toten Mädchen betten, wissen, daß ich gestorben sei, und doch das süße lockende Leben da draußen vernehmen.

 

Die Traumdeuterin

In meinem Heimatstädtchen betrieb noch mancher Bürger, der Überlieferung getreu und in der Erinnerung an eine vergangene Blüte, eine kleine Schafzucht. An der Mauer draußen wohnte ein Hirt aus alter Sippe, der die einzelnen Stallschaften zu einer Herde sammelte und damit im Vorfrühling auszog, um seine Nächte bis hoch in den Herbst hinein draußen auf der Weide in seinem Karren zu verbringen, indes drei wetterfeste Hunde den Pferch bewachten. Während der Morgenwind von den Hügeln her durch die Gassen duftete, stand er zur Ausfahrt gerüstet im glänzend blauen leinenen Hirtenkittel, lang und hager, Kopf und Bart rotblond und weich, als sei nie ein Schermesser darüber gegangen, auf dem Markt und sang durch das Städtlein:

»Wolle, Werg und Seide:
Schäflein auf die Heide –
Wer da keine Weide hat,
Bleibt ein armer Nimmersatt –
Schäflein, schoh …«

»Schäflein, schoh!« schrien wir Buben ihm nach, indes die Bürger die Schafe herausließen, die Hunde sie zusammentrieben und so eine stattliche Herde zum Tor auszog, in den jungen Frühling hinein.

Der Schäfer hatte noch das Versonnene und Verträumte seines Geschlechts, und man munkelte, er habe Gesichte, und wann einer im Städtchen sterbe, so ahne er dessen Tod voraus. Und er sehe, wann er sich mitternachts rücklings vor das Haus stelle und hinter sich blicke, das ganze Leichenbegängnis, wie es sich bald darauf zum Friedhof begeben werde. Dieser Sonderling hatte ein strohblondes Weiblein aus einer Moor- und Heidelandschaft gefreit, wo ein armes Volk Buchweizen baute und mit dem Binden von Ginsterreisig zu Besen, die es auf den Jahrmärkten verkaufte, zu einigen baren Batzen kam. Das hatte von solchem Handel die Lust zu vörteln heimgebracht und geschäftelte gerne und suchte auch von dem Glauben an fremde Kräfte ihres Mannes Nutzen zu ziehen, obwohl er selber das nicht leiden mochte. Aber war er ausgezogen mit seiner Herde, dann schlug sie in ihrem Häuslein hinter der Stadtmauer eine Ecke ab, die sie mit rotem und blauem Tuch und Goldborten verkleidete und mit bunten Bildlein standhafter Märtyrinnen schmückte. Und dort legte sie die Karten und deutete nach einem abgegriffenen Buche die Träume, und es gab keine Herzensgeschichte im Städtchen und weit bei den Bauern im Umkreise, um die sie nicht wußte. So machte sie mehr Geld als manche Großbäuerin mit den Eiern, trug es emsig auf die Bank und liebte es, das Sparbuch neben das Traumbuch zu legen, wann sie ihre Kunst üben konnte. Ein Töchterlein war dem Schäfer und seinem Weibe geboren worden, und das hatte die versonnene Art des Vaters und ging allezeit in einem goldenen Wölklein einher, so flimmerte und leuchtete sein weiches Haar. Da wir noch miteinander auf die Volksschule gingen, hatte ich einmal hineingegriffen und, als das Mädchen ergeben lächelte, erst recht grob daran gezerrt, und da waren ihm die Tränen in die Augen geschossen, indes noch das Lächeln um den Mund irrte. Das hatte ich nicht vergessen können, und wenn ich Sabine sah, redete ich mir noch lange nachher einen Groll wider sie ein, um mich so gegen die aufsteigende Scham wehren zu können.

Ich war im Sommerurlaub zu Hause, und mit mir war ein Vetter, ein junger Schulmeister, heimgekommen, um seine erste Stelle als Hilfslehrer anzutreten. Der paffte auf einer langen Pfeife herum und mühte sich, nach der Weisheit, die er mit auf den Lebens- und Lehrweg bekommen hatte, die äußere Ansicht der Welt eifrig blankzuputzen und freigebig zu verkünden, was sein und was nicht sein dürfe. Um jene Zeit ward im Städtchen erzählt, daß die Schäferin auch ihr Töchterlein zum Traumdeuten angelehrt habe, und das könne besonderbar wahrsagen. Da war vor Jahren ein Schlosser durchgebrannt und hatte Frau und Kinder sitzenlassen. Und dieser Frau, die im Traume Störche gesehen, wie sie sich auf ihr Haus niederließen, habe Binchen das gedeutet, sie werde Nachricht von ihrem verschollenen Manne bekommen. Das sei eingetroffen. Der Schlosser sei in Amerika gestorben, habe sich der Verlassenen erinnert und ihnen ein artig Erbe zugewandt.

Mein Vetter, der Schulmeister, verabscheute aus der strotzenden Fülle seines Wissens heraus solchen Aberglauben und wollte nicht begreifen, daß nicht von Amts wegen diesem Unfug an die Wurzel gegangen werde. Die Behörde indes mochte wohl meinen, daß es schließlich doch ein Recht jedes Menschen sei, nicht nur zu glauben, was andere für zulässig erachten, sondern darüber hinaus noch etliches nach seinem Belieben – wenn es gleich dem dritten aberwitzig erscheine. Man könne den Leuten nicht das Recht zu träumen bestreiten, warum solle man da das Auslegen verbieten, hatte ein alter Arzt den Vetter spöttisch gefragt, als der beim Schoppen für die so notwendige Aufklärung Lanzen brach. Der hatte etliches über das Gesetz der Trägheit verlauten lassen, das von Anbeginn der Welt an verhängnisvoll gewaltet habe; aber er lasse sich, was ihn angehe, von dem Staub und Moder, der hier so dick in der Luft herumfliege, nicht zudecken. Und mich mahnte er, zu gemeinsamem Kampf für den Fortschritt mit ihm zusammenzustehen, um so mehr, als wir im Städtchen die gebildete Jugend darstellen und Bildung verpflichte. Auf Wahrsagerei stehe Strafe. Ein bestimmter Fall, um die Schwerfälligen, Bequemen und Beharrlichen, die ewig Trägen aufzurütteln, lasse sich unschwer dadurch schaffen, daß wir einen Traum ersinnen, diesen angeblichen Traum deuten lassen und uns über diese Deutung dann öffentlich und vor Gericht lustig machen. So werde diesen friedlich-schiedlichen Pfahlbürgern einmal vor Augen geführt, wessen sie sich in ihrem faulen Geschehenlassen mitschuldig gemacht, und eine andere Jugend werde heranwachsen, sei der Bann einmal gebrochen. Derart kaute er mir seinen Aufkläricht vor, und ich ließ mich endlich auch, müd und mürbe geklopft von diesem Besserungsdreschflegel, bereden, an einem Abend die Schäferin aufzusuchen und sie aus ihren Karten einen ersonnenen Traum deuten zu lassen.

Meine Gedanken waren so bei Sabine, und es begab sich, daß ich das Mädchen in einem Laden, wo ich ein Paket Tabak einhandelte, sah, wie es sich für den Vater draußen eine Rolle Knaster einpacken ließ. Die alte Lust bedrängte mich, dem feinen schlanken Ding wieder einmal in das goldene Haar zu fahren. Und just in der Nacht vor dem Tage, den der Vetter erkoren hatte, um den Schlag zu tun und den erdichteten Traum deuten zu lassen, hatte ich wirklich einen Traum, und darin sah ich Binchen, und es war mir anders ums Herz, als ich mir einzureden versucht hatte.

In einer Wiese stand ich, und das hohe Gras war blau von Vergißmeinnicht, und ein Bach floß hindurch, und zwei Falter mit schillernden Augen auf den Flügeln standen in der silbernen Luft über dem Wasser. Und dann kam durch das Gras drüben ein Schimmel mit schwarzglänzendem Zaumzeug und einem rosenfarbenen Maul, und der trug Binchen, und das hatte das Haar zu einem zieren Krönlein geflochten, und des Mädchens Augen strahlten mir zu, zwei Sterne am hellen Tag. Schon stand der Schimmel am Ufer drüben und schnaubte zu mir herüber, und ich suchte in allen Taschen nach einem Zückerlein, ihn zu locken, und wußte kein Wort für meines Herzens Verlangen, daß die kleine Königin den Zelter spornen möchte, das Wasser zu durchwaten. Sehnsüchtig wollte ich da selber den ersten Tritt tun, den Bach zu furten, als ein Schatten fiel, und darin verblaßte die Erscheinung, und zuletzt standen nur noch die Augen des Mädchens in dem trüben Grau, und auch der letzte Glanz verglomm traurig, und die Wiese um mich her war vergangen, und ich erwachte von meinem Seufzer, und es war Tag.

An der Stadtmauer entlang lief ein schöner Ringweg mit alten Bäumen, und den ging ich heute, wie ein Gaul im Göpel. In der Nähe des Häusleins, wo ich Sabine wußte, duckte ich mich scheu hinter einem Stamm und sah das Mädchen, das als geschätzte Putzmacherin galt, beim offenen Fenster über seiner Arbeit. Einmal hatte es einen weißen Spitzenhut, den es mit roten Mohnglocken umwand, dann einen von goldbraunem Stroh, den es mit großen Maiensternen zierte, und wieder ein hellglänzendes Geflecht, das es aus einem Schleier von Rosen hervorschimmern ließ. Und bisweilen stand es auf und probte den Hut vor einem großen Spiegel, jenseits vom Fenster, und dann sah das Mädchen mich, den heimlichen Beobachter, aus dem Glase als ein anderes an und bestürmte mein Herz so in vielfältiger Gestalt. Gen Abend kam der Vetter, und da ich scheu vermied, mich dem zu offenbaren, ließ ich mich verbissen bereit finden mitzutun. Wir sollten beide, das war sein Plan, mit demselben Traume kommen und einer nach dem andern erzählen, ohne voneinander zu wissen, daß wir ein Kalb mit sechs Beinen und einem Drachenmaul gesehen hätten, und das hätte den Rachen aufgerissen und nach den Sternen geschnappt, und ein Blutregen sei niedergegangen, und Bach und Strom seien rot geflossen. Das, so meinte der Vetter, werde die Schäfersche als Krieg deuten, der vom Frieden geboren über das Land kommen werde. Und vernehme sie gar von zweien denselben Traum, so werde sie sich selber verschwatzen und mit ihrer Wissenschaft herumfahren bei Nachbarn und Bekannten und Unruh über die Gemüter bringen. Dann habe die Behörde Zeugen genug für groben Unfug und sei gezwungen, einzuschreiten.

Das Haus des Schäfers hatte einen schönen messingenen Türklopfer, den Kopf eines Wichtleins mit langem Barte, und als er niederfiel, ward eine blaßblaue Scheibe von einem Lichtlein hell, und Sabinens Gesicht stand wie ein zartes Bild in dem Glase. Und dann öffnete sich die Scheibe, und ich sah dem Mädchen dicht in die Augen, und ich merkte, daß es mich kannte. Ich habe ein Anliegen, würgte ich hervor. Und da ich stand und schwieg, schloß das Mädchen die Tür auf und leuchtete mir in jenes Zimmer, wo ich es bei der Arbeit belauert. Die Mutter sollte ich sprechen, knurrte ich. Die sei bei Nachbarn. Doch wenn ich warten wolle … belehrte mich das Mädchen freundlich und ein wenig verlegen. Dabei machte es sich an dem Kerzlein in seinem Laternchen zu schaffen und stieß es um. Und als wir beide danach greifen wollten, war es schon erloschen, und ich hielt Binchens Hand und ließ die nicht. Und dann war es, als stehe mein Herz wider mich auf und rede seine eigene Sprache. Aus dem Dämmer leuchteten mir des Mädchens Augen zu, als wollten sie mich mit warmem Glanz einhüllen und von der ganzen andern Welt so abscheiden.

Und von dieser holden Sphäre umwoben, erzählte ich dem Kinde von jenem Traum, der mir wirklich geschenkt worden war, und bat um dessen Deutung.

»Ich habe dich gern gehabt, seitdem du mir einmal ins Haar gefahren, und hab viel an dich denken müssen, oft, immer, und so bin ich dir endlich im Traume nahegekommen,« gestand es da aus dem Dämmer heraus. »Aber jetzt ist's an der Zeit, daß du ein Zückerlein einsteckst, wenn du auf dein Mädchen aus bist, damit du den Schimmel über den Bach bringst!«

Ich hörte Binchen leise lachen, und dann hielten wir uns in den Armen, und als ich den süßen Mund küßte, merkte ich, daß dem Mädchen die Augen voll Wasser standen.

Zarte Wölklein glitten gleich Schleiern über die Sterne dahin, als ich auf dem Ringwege wieder die Stadt umging, dem Nachtwind lauschte, der in den Wipfeln sang, und endlich heimkehrte. Auf dem Markte saßen in der Vorlaube zum Schwanen noch etliche Zecher, und als auch mich nach einem Schoppen gelüstete, in der Freude an meiner heimlichen Krönung durch ein liebendes Mädchen, fand ich den Vetter, paffend von Tabak und großen Worten, inmitten eines Kranzes von bildungstragenden Bürgern. Was ich für eine Deutung des Traumes bekommen habe, fragte er mich. Vergebens habe er eine Stunde auf mich gewartet, sei dann hinausgegangen und habe die Alte gerade auf dem Heimweg abgefangen. Und da habe er's für besser gefunden, ihr nicht ins Haus zu folgen, sondern draußen mit ihr herumzuwandeln und sie nach der Deutung seines Traumes zu fragen. Sie habe sich in alle vier Winde verneigt, etwas Kabbalistisches dahergemurmelt und dann verlangt, daß er die größte Silbermünze, die er bei sich trage, auf den nächsten Kreuzweg lege. Und als er seinen Taler dort abgelagert, habe sie sich gebückt und von vier Seiten her Staub daraufgeblasen und das Silberstück dann aufgenommen und sei hinter ihn getreten und habe ihm über die Schulter geschaut. Und geweissagt habe dann das Frauenzimmer, daß ihm schier unheimlich geworden sei, obwohl das, was das Weib deutete, doch nur ein ersonnener Traum gewesen. Einen ganzen Heerbann habe es über seine Schulter weg geschaut, wilde Gesellen in fremder Tracht, Rosse mit abgesäbelten Köpfen in der Mähne, gelbe Kerle mit schiefen Augen, krummem Messer im Gürtel, Troßwagen voll wirrer Haufen Beute. Und mit Rauch und Feuer sei der Zug dahingefahren, eine wüste Wolke von Blut und Verderben.

Mir, meinte der Vetter, habe wohl die Junge den Traum gedeutet. So gründlich kaum, und mein größtes Silberstück sei wohl auch nicht daraufgegangen.

Ich sei zufrieden, lehnte ich die Neugier des Vetters ab. Mich würd's schließlich auch nicht anfechten …

Anfechten oder nicht, ein Unfug sei's und bleib's, polterte der Vetter. Es sei Pflicht eines aufgeklärten Menschen, Front gegen jeden Aberglauben zu machen, auch damit dessen stillschweigende Duldung gestört werde. Was mir einfalle, im letzten Augenblicke, beim entscheidenden Sturm auf den Feind, fahnenflüchtig werden zu wollen? Mit diesem schön geschwungenen Satz hatte er sich dem Zeitungsdrucker des Städtchens genaht, und ich vernahm nicht mehr, was er redete, da es mir die ziehenden Wölklein wieder angetan hatten und mein Herz die schöne Einsamkeit der Nacht aufs neue verlangte, allein zu sein mit dem Atem des Mädchens, wie er mich noch warm und süß umduftete.

Es war am Nachmittag, und ich saß in meiner Kammer und zeichnete an einem Mädchenkopfe, den das Haar gleich einem Krönlein zierte, und hatte ihm noch Myrten und Rosen aufgesteckt. Schwalben warfen sich jauchzend in die Bläue, fielen nieder und waren aufs neue steil emporgeschnellt. Eine Röte stieg tief in der Ferne auf, und über ihr ward der Himmel von einem zarten Grün. Der Wind, der durch das Städtchen strich, war verschlafen und schwer von dem Dufte reifenden Kornes. Und ich wartete des Dämmers und der Nacht.

So vernahm ich den Vetter, der nach mir fragte. Und als ich hinuntergehen wollte, trat er mir schon mit einem druckfeuchten Zeitungsblatt entgegen. »Der Anfang ist gemacht!« frohlockte er, und dann deutete er auf eine Spalte: »Hier!« und las: »Bei allen Fortschritten, die wir hervorragenden Männern unserer Zeit verdanken, bleibt es doch eine betrübende Erscheinung, daß der alte Aberglaube nicht auszurotten ist. Und leider müssen wir da auch auf eine wunde Stelle in unserer Stadt einmal den Finger legen, der längst mit allen Mitteln, mit Eisen und Feuer sollte zu Leibe gegangen werden. Es handelt sich da um die Eiterbeule der Wahrsagerei und Kartenlegekunst, wie sie sich im Schutz und Schirm unserer Mauern, von Mutter und Tochter betrieben, ungestört breitmachen darf. Zwei junge, fortschrittlich gesinnte Leute, Söhne unserer Stadt und gewillt, ihr jetzt und allezeit Ehre zu bereiten, haben es sich nicht nehmen lassen, dieser Tage die beiden Pythien mit einem und demselben Traume aufs Eis zu locken. Die Deutung fiel so lächerlich aus, wie sie es gedacht hatten. Vivant sequentes

»Ist das Blatt schon vertragen?« schrie ich den Vetter an und wollte an ihm vorbeistürmen, um das Unheil noch zu bannen.

»Die es angeht, die werdens jetzt haben,« lachte der.

»Ich habe keinen erdichteten Traum deuten lassen!« schrie ich wütend. »Das ist ein greuliches Geschmier, was du da losgelassen hast. Ich verlange eine Erklärung vom Drucker, daß ich nichts damit zu tun gehabt habe!«

»Hast du mir nicht spätabends erklärt, als ich dich fragte, du seiest zufrieden mit der Deutung? In Gegenwart des Druckers? Was meinst du, was der von deiner Feigheit denken müßt?« höhnte der Vetter. »Erst so tun, als ob, und wenn's zum Klappen kommt …«

»Hinaus, du vermaledeiter Fortschrittsaff!« brüllte ich sinnlos. Der Vetter hatte sich vielsagend auf die Stirne gestupft und war verschwunden. Draußen schrieen übermütig die Schwalben, kam der Abend rot und golden über die Dächer, klirrte leicht die Kette an einer Speicherwinde, war eine leise Musik in Höfen und Gärten. Und mir war wind und weh, und ich schloß das Fenster, als sei ich so von all dem Leben und seinen Leiden und Schmerzen geschieden, die meiner da draußen warten mußten, wenn ich nur den ersten Schritt tat.

Die Dunkelheit war über den Gassen, als ich mich zum Hause des Schäfers stahl. Verborgen hinter den alten Wallbäumen, vernahm ich die Stimme der Alten, die geräuschvoll im Hause herumfuhr. Und für einen Augenblick war Binchen in einem Fenster, beugte sich vor, als suche sie jemanden, und schon wollte ich vorstürzen und sie rufen, als sie wieder in den Schatten schwand und der Laden sich über ihr schloß, wie der Deckel eines Sarges.

Der Mond war hervorgekommen. Silbernes Zwielicht spielte auf der schmalen Vortreppe, und dann stand der Schäfer unter der Tür seines Hauses und wartete, daß Binchen vor ihm hinaustrat auf die Straße. Und selbander bogen sie ins freie Feld ein, auf eine Landstraße, indes die Mutter hinter ihnen herzeterte. An einem Meilenstein sah sich der Schäfer um, hob seinen Stab mit dem Wurfeisen und schleuderte dem Weib wortlos eine Scholle Erde zu, so, wie er gewohnt war ein Schaf seiner Herde zurechtzuweisen. Und die hockte am Wegbord nieder und heulte in ihre Schürze.

Durch eine Feldbreite zog sich über einem Bächlein ein Wall mit Silberweiden dahin. Dem schlich ich nach und sah hernieder auf die Straße, wo der Schäfer und Binchen schweigsam des Weges schritten. Ein Wölklein wanderte mit ihnen, glitt dahin durch die dunkle Bläue, als müss' es über ihnen sein, wie ein Weggenosse, und glomm golden unter dem Glanze des Mondes. Und das sah ich noch, als das Mädchen und sein Gebieter hinter einer Wegsenkung verschwunden waren. Und ich sehnte mich hinweg von der Erde, hoch, so hoch und frei wie Wolke und Wind, und meine Seele hatte keine Flügel.

 

Ein Spiel

Nach einer Krankheit mit Frösten und Fiebern hatte ich in einem schönen Sommer ein kleines Bad in einer lieblichen Landschaft aufsuchen müssen, wo der Wein die Hügel hinaufkletterte und Laubwald den Bachläufen nach in das Tal herabdrängte. Meine Sinne waren begehrlich geworden nach der langen Dämmerung, die das Leiden über sie gebreitet gehabt hatte. Durstig trank ich den Duft der Rosen in diesen Tagen; ein Auferstandener, drängte ich mit jedem neuen Morgen der Sonne zu, selig, zu empfinden, daß ich noch lebte.

Es begab sich, als ich nach einer Streife unter einer Weide rastete und eine Forelle bespähte, wie sie in einem schwarzbeschatteten Bache lauerte und bisweilen in die Strömung schoß, die, von roten Wolken beglänzt, golden dahinging, daß jenseits von einem Waldwege her eine tiefe Frauenstimme laut wurde. Und ich vernahm eine sehnsüchtige Weise:

»Daß du wieder, wieder nahst,
Und mein Liebster ist so weit –
Bleibe fern, o Nacht, du sahst
Einmal meine Seligkeit.«

Eine weißgewandete Schöne stand an dem Bache, wo eine Untiefe mit Steinen überbrückt war, damit er trockenen Fußes gefurtet werden konnte. Ich sah, wie sie einige zögernde Schritte tat, innehielt und unruhig auf das Wasser schaute, das zu ihren Füßen dahinglitt und in der Abendsonne flimmerte. Und plötzlich tat sie einen Schrei und streckte, schwindlig geworden, die Arme aus, nach mir, ohne es zu wissen, und im selben Augenblick sah sie mich, der ich aufgesprungen war und ihr zurief: »Ruhig, ich helfe Ihnen!«

Ich war hinzugeeilt, hatte die Schwankende gepackt und trug sie an mein Ufer, wo ein breiter flacher Stein aus Huflattich und Knabenkraut aufragte. Dort ließ ich sie nieder, zog meinen Rucksack heran und bot ihr, indem ich mich neben sie setzte, zur Erholung von dem Schrecken von meinem Mundvorrat. Und so tranken wir aus einem Becherlein, und ich vermeinte, den roten Wein durch den weißen Hals der Schönen schimmern zu sehn. Ihr rotgoldenes Haar war in der Sonne ein Nest von Funken, das Gesicht hatte die zartesten Farben, und die großen blauen Augen waren so dunkel und tief wie der Himmel in einer Frühlingsnacht.

Eine Bachstelze wippte über das Wasser; ein Eisvogel zeigte seine blauen Flügel und war wieder im Gesträuch verschwunden. Amseln lockten sich, und darüber erzählte mir die Fremde, daß sie einen langen Winter voll Schmerzen hinter sich habe und sich erholen müsse. Ich sah sie von der Seite an, die schlank und stattlich neben mir saß und mir rechtschaffen schwer geworden war. Sie mußte wohl meinen Blick gefühlt haben, denn sie lächelte schwermütig. Ein Herzleiden habe sie beunruhigt, und noch jetzt müsse sie Sorge tragen. Ich erfuhr dann, daß sie Annaliese Hauser heiße und nahe bei der Kirche, beim Meßmer, einem eisgrauen Sonderling, ein Zimmer habe, das auf den Gottesacker, einen schönen blumenreichen Dorffriedhof, gehe. Und dort sehe sie den Alten, wie er jeden Morgen grabe und schaufle. Es sterben halt keine Leute in der Gemeinde, hab er erzählt, und so grabe er, damit er nicht aus der Übung komme und seine tägliche Leibesbewegung habe, an seinem eigenen Grabe herum; das müsse er, wolle er nicht von der Gesundheit kommen.

Das müssen wir wohl alle, an unserm eigenen Grabe graben, meinte Annaliese mit dem schwermütigen Lächeln um den blühenden Mund, damit wir nicht träge und lahm werden.

Schatten schlichen durch den Wald, während das Abendgold noch im Moose hing, das über schmalen Weglein wucherte. Ich geleitete meine Bekanntschaft ins Dorf, zu ihrer Wohnstätte, und ging auf den nahen Friedhof, den ich bisher noch nicht betreten hatte. Eine winklige und windschiefe Mauer aus Feldsteinen umschloß ihn. In die Fugen waren Samen von Winden, Stiefmütterchen, Tausendschön, Vergißmeinnicht, Jelängerjelieber und Mohn gewandert, und so war die Mauer ein blühender, bunter Wall, in dem noch verspätete Bienlein glommen und Dämmerfalter rasteten. Und während ich langsam unter dieser duftenden Wildnis einherging, vernahm ich ein weinendes Mädchen, und dann sah ich es, wie es leidenschaftlich einen Burschen zurückstieß und in ein offenes Grab sprang. »Lorchen, ich hol den Großvater!« bat und drängte der Mann und hielt eine Schaufel mit dem Stiel ins Grab, damit sich die Hinabgesprungene daran halten möge. »Geh, geh,« zürnte die, »ich will dich nimmer sehn, und müßt ich mich gleich zudecken lassen!« »Es kommt wer Fremdes!« mahnte der Bursche, der mich bemerkt hatte, wie ich an der Mauer stehengeblieben war.

Ich beeilte mich, seine Wahrnehmung durch ein Husten zu bekräftigen, und dann sah ich, wie er mit beiden Händen den Schaufelstiel gepackt hielt und wie das Mädchen daran flink aus dem Grabe herauskletterte. Am Rande der Gruft blieb es stehn und schaute sich, während es sich das Haar zurechtstrich, verlegen nach mir um.

Ein junges geschmeidiges Ding war es, dessen dunkle Augen mich so fanden, mit Flechten, die an den Seiten zu zwei dicken Schnecken gewunden waren und das Gesicht aus dem schwarzen Rahmen schneeig hervorschimmern ließen.

Ich hörte die Auferstandene lachen, während sie sich von dem Burschen hinwegführen ließ, und tat einen Blick in das Grab, das die Trauernde fröhlicher verlassen als sie es eingenommen. Es war nur wenig ausgehoben. Ein weiß und rotfarbiger Maßstab stand an einer Wand eingetrieben, und mir kam der Gedanke, das müsse das Grab des Totengräbers selber sein, an dem er Tag für Tag herumschaufele, um nicht von der Übung und von der Gesundheit zu kommen, und das er wohl Abend für Abend wieder zuschlug.

An der Quelle, wo die Kurgäste vor dem Mittagessen ihren Sauerbrunnen trinken mußten und an schönen Nachmittagen eine kleine Kapelle musizierte, fand ich am nächsten Morgen Annaliese, und da sie allein war, nahte ich ihr und freute mich, daß sie mich aufnahm wie einen vertrauten Bekannten. Als ich ihr von dem Grab und dem Mädchen erzählte, da erfuhr ich, es sei wirklich das Grab des Meßmers gewesen. Das Mädchen sei die einzige Enkelin des Alten, die ihm den Haushalt versehe, ob ihrer eigenartigen Schönheit in allen Dörfern in der Runde bekannt, ein eigenwilliges Ding. Zum Glück habe es einem rechten Burschen, einem jungen tüchtigen Gärtner sein Herz geschenkt; aber es quäle ihn bis aufs Blut. Gegen jedermann sei der freundlich und dienstfertig. Seine Lore aber habe eine ausnehmende Freude daran, zu zeigen, daß er ihr Schäflein sei, und wenn der Bursch seinem Wesen getreu ein anderes Frauenzimmer so artig anschaue, wie er jedem Menschen begegne, sei Feuer im Dach. Annaliese selbst werfe sie böse Blicke zu, wenn der Liebhaber, wie das oft geschehe, ins Haus komme und die Zimmermieterin sich nur zufällig zeige. Vielleicht, scherzte meine Begleiterin, könnte ich mich verdient machen, sie, Annaliese, zu einem Spaziergang abholen und dabei, wenn sich die Lore im Hause sehn lasse, der im Vorübergehen ein paar gute Augen schenken, damit der Gärtner ein Recht gewinne, sie unmutig anzulassen.

»Ich werde mit Ihnen gerne heute und alle Tage umherwandern, doch die guten Augen werde ich dann auch für niemand anders als für Sie haben!« gestand ich Annaliese kühn und forderte ihren Blick für eine Antwort. Aber der wich mir aus, und ihre Rechte zitterte leise auf dem Griff des blauen Sonnenschirms. Dennoch: es kamen etliche Wochen, da wir Tag für Tag beisammen waren und in Wiese, Wald und Weinberg rasteten. Besorgt um die Schöne an meiner Seite, war ich wohl von einer ungeahnten Rücksichtnahme; denn ich begegnete manchem dankenden Blick. Gleichwohl hatte ich dann meist das Gefühl, als gleiten solche Blicke über mich weg in die Ferne und suchen jemand, ihm zuzunicken in einem Einverständnisse, an dem ich nicht teilhabe.

Es war an einem schönen warmen Abend, daß an der Quelle ein Feuerwerk spielen sollte, und wir waren eins geworden, daß ich Annaliese zu diesem Schaustück an ihrer Wohnung abholen möge. Das Häuslein des Meßmers hatte eine zweigeteilte Tür, und mir öffnete die Liebste des Gärtners und schloß hinter mir den untern Flügel, während sie sich hinauslehnte, auf die Gasse schaute und dann mit einem plötzlichen Lachen zurückfuhr, auf mich zu.

»Bleiben Sie!« bat das Mädchen, und dann lag es mir im Arm und bedrängte mich mit der Wärme seines jungen Körpers. »Bleiben Sie – ich muß meinem phlegmatischen Liebsten bange machen – sonst weiß er bald nicht mehr, was er hat!« Und während ich für einen Augenblick willenlos dastand, erschien in der Tür das Gesicht des Gärtners, erstarrte über dem Anblick und war, ein dunkler, unheimlicher Schatten, verschwunden.

Ich hatte das Mädchen zurückgestoßen und verhielt eine Zurechtweisung, da ich Annaliesens Schritt auf der Treppe über mir vernahm. Ihr Antlitz leuchtete still und gütig neben mir auf. Doch Bestürzung störte diese schöne Ruhe, als ich ungestüm ihren Arm ergriff und hinausdrängte, indes uns Lore bleich und mit funkelnden Augen nachsah. Auf dem Wege zum Brunnen erzählte ich der Freundin mein Abenteuer, um über das Gehaben des Mädchens entrüstet zu schelten.

»Abscheulich!« flüsterte Annaliese. Sie hatte mit einer heftigen Bewegung den Weg zwischen uns gelassen, war stehengeblieben und sah mich mit schimmernden Augen an. »Abscheulich – so denken Sie! Und es ist Ihr Recht. Man soll nicht mit Gefühlen spielen …«

Annaliese war in Tränen ausgebrochen. Doch als ich verstört nahen wollte, wehrte sie mit aufgehobenen Händen. »Bleiben Sie – lassen Sie mich … Mir ist heute nicht wohl – ich will heimgehn. So lassen Sie mich doch!« eiferte sie, als ich mich mit ihr umwandte. Und bestürzt ließ ich ihr den Willen, die mich so seltsam launisch, ganz gegen ihre Art, behandelte, und ging dem Brunnen zu. Dort stiegen die ersten Raketen auf, eine Sonne drehte sich an einem Baum und übergoß mit einer Garbe roter, blauer und grüner Funken eine neugierige Menge. Mit blassem Gesicht stand der Gärtner darunter, und ich drängte mich an ihn heran, um die Hand auf seine Schulter zu legen und ihn mir Blicken zu bitten, mit mir abseits zu gehn. Er zeigte kein Erstaunen, sondern folgte mir ruhig. »Ihre Liebste,« erklärte ich ihm, »hat sich da einen schlechten Scherz gestattet. Um Sie eifersüchtig zu machen, ist sie mir um den Hals gefallen.« Der Gärtner musterte mich, als geh ihn das alles nichts an. »Sie hat Sie kommen sehn, und um Sie ein wenig aus Ihrer Ruhe zu bringen, erlaubte sie sich Freiheiten, wozu ich ihr nie Anlaß gegeben. Nie!«

»Um so schlimmer!« seufzte der Gärtner. »Was würde sie sich erst alles erlauben, gäb's Anlaß dazu! Nein, es ist aus!«

Vergebens suchte ich den Mann umzustimmen. Sein verstörtes Gesicht ging mir noch im Traume nach, als trage ich, der ich von dem losen Mädchen für ein böses Spiel mißbraucht worden, Schuld an seinen Schmerzen.

Annaliese wich mir aus, und voll Zorn und Trauer über diese Laune einer Frau, der mein Herz, ich fühlte es, gar nahe gewesen war, hatte ich meine Sachen zur Heimreise gepackt. Der letzte Abend war gekommen; ich saß am Fenster und schaute die leichten Nebel über den Hügeln und in silberschimmerndem Flaum die goldenen Sterne. Da vernahm ich einen unruhigen Schritt im Garten unter mir, und im Lichte des jungen Mondes stand Annaliese und winkte. »Kommen Sie, kommen Sie!« drängte die Teure. »Mir schwant ein Unheil,« seufzte Sie, als ich vor ihr stand, und zog mich am Arme mit sich fort. »Der Gärtner hat seiner Liebsten abgesagt, und nachdem sie vergebens versucht, ihn wiederzugewinnen, tut die so seltsam, daß mir angst und bange wird. Ich möge ihn wissen lassen, daß sie sich ins Grab lege, und wenn er sie noch zu rechter Zeit herausholen wolle, müss' er sich sputen. Und ich weiß nicht, wo ich ihn finden soll.«

»So wollen wir zunächst das Mädchen suchen!« riet ich. »Das ist wohl dort, wo ich's schon einmal gefunden, und treibt sein ärgerlich Spiel aufs neue.«

»Wenn's nur beim Spiel geblieben ist!« ängstigte sich Annaliese. Und so eilten wir, von unheimlichen Ahnungen getrieben, dem Friedhöfe zu. Ich sprang über Hügel und Kreuze weg und suchte das Grab, woran der Meßmer in Mußestunden zu arbeiten liebte. Schatten hausten in der Höhle; durch leise bewegtes Gezweig rieselte ein blasses Licht in das Dunkel und verging dort in zarten Flocken. Ich glaubte eine knieende Gestalt auf dem Grunde zu erkennen, sprang hinunter und scheuchte ein weißes Kätzchen auf, das mit glühenden Augen und gesträubtem Schwanz an einer Wand herausfuhr und oben klagend das Grab umstrich.

Zagend tastete ich vor mich hin und fühlte ein kaltes Gesicht. Und im selben Augenblicke vermochte ich zu schaun: das Mädchen hatte sich einen Strick um den Hals geschlungen, ihn irgendwo an einen Strauch geknüpft, war so ins Grab geglitten und hatte dadurch die Schlinge fest zugeschnürt. Ich wußte kaum, was geschehen war, als ich auch schon mein Messer gezogen und die straffgespannte Schnur durchschnitten hatte. Der Körper knickte schwer zusammen; ich hielt ihn mit der Linken und versuchte mit der Rechten, den Hals von der drosselnden Schlinge frei zu machen. Darüber vernahm ich Annaliese, wie sie nahte, und rief ihr zu: »Holen Sie einen Arzt – schnell, schnell!« Ein verhaltener Schrei war ihre Antwort, und dann war ich wieder allein mit dem Mädchen im Grabe. Ich schauderte, und doch durfte ich meine Last nicht fahren lassen. Zitternd und doch voll Ingrimm packte ich den Körper mit beiden Armen. So hob und stieß ich ihn zum Rande des Grabes, so lang, bis er endlich von seiner Drohung ließ, immer wieder über mich herzustürzen. Und als ich herausgekrochen war aus der Höhle und das Mädchen weggezogen hatte, so daß es sicher lag, mit dem Kopf auf dem niedrigen Hügel über einem vergessenen Kindergrab, konnte ich nicht anders und schrie über den Kirchhof weg, vom Grauen geschüttelt vor dieser schrecklichen Einsamkeit mit der Toten über der Erde.

Ich hörte Schritte und sah einen Mann über die Leblose gebeugt, indes ihr der Gärtner mit einer gräßlichen Neugierde ein Laternchen ins Gesicht hielt. Und dann hatte der Bursch diese Laterne genommen, und unter einem schauerlichen Lachen hämmerte er damit auf einen Grabstein los, bis ihn etliche Fäuste zurückrissen.

Annaliese war in ein trostloses Weinen verfallen, und als ich sie in ihre Wohnung beim Meßmer bringen wollte, schreckte sie angstvoll zurück: »Dort? Nie wieder!« So begleitete ich sie zum Gasthof, um dann meine Kammer aufzusuchen, zerschlagen und von dem einzigen Verlangen bedrängt, nichts zu wissen, zu schlafen, neuem Tage zu.

Frühe hatte mich die Unruhe aufgetrieben, und schon erwartete mich Annaliese. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen hatten den Glanz von Tränen, und ihre Stimme klang verschleiert. »Sie hat sich lebend ins Grab gelegt und ist darin gestorben – ich habe so getan und bin daran auferstanden! Ich bin verheiratet, an einen Hilfsarzt, und bin im Trotz auf und davon gegangen, da ich mich von meinem Mann vernachlässigt glaubte, der doch nur seine Pflicht an den Kranken und Leidenden getreu erfüllte. Sie, als Sie mich mit so zarter Sorgfalt umgaben, haben all die unvergessenen Erinnerungen an jene Stunden in mir aufgerichtet, da mein Mann in schönen freien Tagen um mich warb. An ihn hab ich immer gedacht, zu ihm kehr ich heute noch zurück …«

Ich mußte meine Bewegung schlecht gemeistert haben, denn Annaliese sah mich mit schwimmenden Augen an. »Tat ich Ihnen weh …«

»Für mich liegen Sie im Grab!« wehrte ich rauh.

»Nein, nicht so!« bat Annaliese. »Das Beste, was uns bleibt, sind teure Tote. Denken Sie meiner so!«

Sie war mir nahe, und ihre Augen leuchteten. Und dann spürte ich ihre Lippen, wie ein Blütenblatt, sanft und kühl. Und ich sah ihr Gesicht, dem meinen zugewandt, und sah es nah und sah es ferner. Und dann waren die Augen, diese holden Sterne, vergangen in Duft und Dämmer, und ich war allein und hütete ein Grab.

 

Siebenschönchen

Ich war in jungen Jahren ein leidenschaftlicher Tänzer, und so scheu ich war, auf dem Tanzboden schrak ich nicht vor dem schönsten und stolzesten Fräulein zurück. Immerhin geschah es mir öfters, daß mich so ein gutes Kind mahnen mußte, wir gerieten aus der Ordnung, wenn ich nicht fester zufasse, und aufmunternd die Hand auf meiner Schulter vorrücken ließ und, wenn auch das nur vorübergehend half, schließlich selber die Führung übernahm und mich anschaulich und nachdrücklich wissen ließ, was für eine ansehnliche Jungfrau sich mir da anvertraut hatte.

Von meiner Heimat aus hatte man einen Blick auf blaue Hügel, hinter denen weißschimmernde Berge in die Wolken stiegen. Und in jener Landschaft hauste ein Völklein, dem man nachsagte, daß kein Handwerker so zu Ehren und Ansehen bei ihm komme wie der Schuster. Schon die Schuhe, die ihm die Patin in die Wiege lege, schleife dort jedes Jüngferlein im Tanze ab, und sei ein Weiblein so zu Jahren gekommen, um's nur noch im Sarge wohlzufinden, dann müsse man auch darauf achten, daß es nicht mit neuen Sohlen hineingerate – sonst stehe es aus dem Grabe auf und tanze um Mitternacht und Mitternacht, bis das letzte Leder von den Strümpfen gegangen. Fromm und gläubig, wie das Völklein war, hielt es nach dem tanzgesegneten Winter in der Fastenzeit die Beine im Zaum, um aber mit Ostern bis in den jungen Sommer hinein jeden Sonntag bei Flöte und Fiedel aufs neue ausgiebig zu sorgen, daß kein Kummerfett seine schlanke Geschmeidigkeit vergewaltigte.

Ich hatte Frühjahrsferien zu Hause verlebt, und sie waren dem Ende nahe, als ich an einem milden Sonntagabend über den Hügeln, die aus weichen Schleiern klar und nahe aufstiegen, ein schönes Sternbild sah. Und das dünkte mich über einem Tälchen zu stehn, wo ich einmal auf der Heimkehr von einer Bergwanderung gerastet und alle Müdigkeit im Tanze mit den schlanken Schönen der Hirten und Bergbauern abgetan hatte. Aus der Ferne her glaubte ich wieder die Musik zu vernehmen, die mich damals gelockt, und jung, wie ich war, zauderte ich nicht lange und vertraute mich der arg pustenden und rumpelnden Zweigbahn an, die jener Landschaft nahe landete. Und dann stieg ich in der jungen Nacht, die milchig leuchtete und voll war vom Dufte der wachen Erde, hinan, indes Hundegebell von den Höhen her mich mahnte, etwaiger Schelmengelüste beizeiten zu entraten, denn die Schönen des Ländchens hätten ihren Eigner und seien wohlbehütet und bewacht.

Ein Pfad senkte sich zu einer Talmulde, und von einem niedrigen, breitgeduckten Hause, das in einem roten, rußigen Lichte wie in einer schwelenden Wolke stand, tönte vernehmlich jene Tanzmusik herüber, wie ich sie in der Erinnerung vernommen. Für einen tiefen Atemzug rastete ich, und dann war ich mit einigen federnden Schritten in der Schenke.

Die Bauern waren an Bergwanderer gewöhnt, schätzten es, daß durch solche Besucher mancher gute Batzen im Ländlein blieb, waren den Fremden gegenüber höflich und ließen es zu, wenn der eine oder andere sich ihrer Lustbarkeit für ein Stündlein gesellte. Waren sie doch ihrer jungen und alten Weiblein sicher, von denen keins außer Landes mochte und sich jedes der Heimat schon fern glaubte, wann es die Glocken eines andern Kirchturms vernahm als des seiner Gemeinde. So ward ich in dem niedrigen Saal, wo rotleuchtende Öllampen an der balkengetragenen Holzdecke hingen und schier verschüttet zu werden drohten von Wolken und Wolken graublauen Tabakrauches, wenig beachtet. Ein qualmender Alter an einem kleinen Ecktisch rückte artig zur Seite, und ich hatte ein Plätzchen, die Tanzenden zu schauen, untersetzte geschmeidige Bursche mit scharfgeschnittenem Gesicht, Mädchen mit feinen, an Madonnenbilder erinnernden Zügen. In blauer Weste, gelber Hose und blütenweißem Hemde gingen die Mannen, und die Mädchen trugen im zierlich gewellten Haar eine Flügelhaube, hatten am Stirnansatz Korallen und bunte Perlen eingeflochten, mit langen Silberketten, die von den Schultern zu den Lenden rieselten, das Mieder geziert, und in den Ohren funkelten aus Goldfiligran gewirkte Reifen.

Obwohl alles einträchtiglich gesellt schien, spürte, wer beobachtete, doch, daß es Unterschiede gab, Herren und Knechte, und jedes hielt sich zu seinesgleichen. Ein Mädchen nur, dessen Schmuck schwer und kostbar schien und dessen stolzes Gesicht, ein wenig voller als die meist zu einem spitzen Oval neigenden der Landesgenossinnen, von den zartesten Farben leuchtete, wollte nirgendwo recht hingehören. Denn die jungen Hofbauern, denen man anmerkte, daß sie eines Erbes bewußt waren, hielten sich zu andern Schönen, und das Volk der Knechte scheute die hochmütigen Augen, den trotzig geschürzten Mund dieses Gastes. Unter den schwarzen oder dann flachsblonden Mädchen war es das einzige, das ein loses braunes, im Licht golden schimmerndes Gelock trug. Ich ertappte es über einem schwermütigen Blick der großen blaugrauen Augen, der verloren auf mir weilte, und war an der Bank, wo es zwischen einigen erhitzten, heftig atmenden Tänzerinnen saß, und neigte mich ihm zu.

Und dann stand das schöne Kind stattlich und schlank vor mir, und seine Flügelhaube überragte mich, der ich doch nicht gerade zu kurz geraten war. Sein Gesicht war durchflutet von einer weißen Flamme, der Mund blühte weich und voll, die Augen strahlten mir zu wie zwei blaue Sterne. So schwangen wir uns im Reigen, und ich tanzte wie nie in meinem Leben. Fest hielt es mich an sich gepreßt, ich spürte jeden Atem der jungen Brust als eine zärtliche Liebkosung, empfand die Weise des Tanzes wie die holdeste Melodie, die von aller Erdenschwere befreit und doch jede Bewegung unter das schönste Gesetz stellt, lag dem Mädchen im Arm, als sei ich für immer und allezeit eins mit ihm, und fühlte, daß es auch mir so am Herzen ruhte.

Es ging gegen Mitternacht, als ich meine Schöne zu einem Imbiß bat, den ich in einem Nebenzimmer hatte richten lassen. Von dem dunklen Wein trank sie nur ein Schlückchen in einem Glase Wassers und dankte mir mit einem guten Blick, als ich ihr nach der Mahlzeit noch ein Schälchen heißen Kaffees kommen ließ. Und dann gestand sie: »Vielen Dank, daß Sie sich meiner angenommen. Ich tanze zu gerne, und so gerate auch ich dorthin, wo sich die andern freun. Ach, und heute habe ich mich gefreut! Leben Sie wohl!«

»Sie wollen gehen – schon jetzt?«

»Jetzt, da es am schönsten ist!« bestätigte das Mädchen. »Ich habe noch eine gute Stunde Wegs.«

»Und wer bringt Sie heim?« forschte ich.

»Wer mich heimbringt?« Das Mädchen lächelte schwermütig. »Die es wagen möchten, denen laß ich's nicht zu, daß sie mich begleiten.«

»Darf ich …« bat ich.

»Wozu?« wehrte das Mädchen leise und hatte sehnsüchtige Augen, die in einer Ferne irgendwo weilten. Und dann sah es mich an, zärtlich und wieder verloren, und flüsterte, und das klang von süßer Heimlichkeit: »Siebenschönchen nannten sie mich schon, da ich noch ein Kind war. Und ein Jüngferlein bin ich geworden, und sie heißen mich immer noch so, und ist doch keiner auf dieser weiten Welt unter meinem Kammerfenster gewesen, der sagen dürfte, daß er mehr von mir wüßte als diesen Namen. Aber einmal kommt der Frühling! Und ich fürchte, der ist in dieser Nacht im Land und ist mit dir, der du da kommst, ich weiß nicht, woher, und gehen wirst, ich weiß nicht, wohin. – Wozu?«

Das Mädchen hatte den Kopf geneigt, demütig, als warte es auf eine Gnade. Eine Locke war über die Perlenschnur, die das Haar säumte, tief in die Stirn gefallen, und ich hob die leuchtende Flocke und küßte sie. Und dann lag mir das schöne Kind am Herzen, und seine Arme umstrickten mich, als wollt es mich nimmer lassen aus dieser holden Gewalt, und ich trank seine heißen Küsse und seine Tränen und vernahm es, wie es immer wieder staunte: »Wozu …«

Der Mond stand hinter weißen Wölklein, die Erde duftete, ein Bach ging unter Stauden dahin, und ein silberner Nebel war von ihm aufgestiegen und hing in Schleiern an das Gezweig genestelt. Ein Jauchzen kam hinter einem Hügel her, fand irgendwo Antwort, ein Hahn krähte, weckte Gefährten – und wieder war nichts in der Nacht denn unser gedämpfter Tritt auf berasten Wegen.

Ich hielt das Mädchen umfaßt, und es hatte mich zärtlich mit unter sein weißes weiches Tuch genommen, damit ich nicht friere.

Und so erzählte es mir, wie seine Eltern wohlhabend gewesen, durch den Trunk des Vaters aber um Hab und Gut gekommen seien. Der hause jetzt mit Winkeladvokaten und Trödlern, die ihn vollends verderben, und wer auf sich halte, der gehe dem streitsüchtigen Säufer aus dem Wege. Die Mutter habe in jungen Jahren für das schönste Mädchen im Lande gegolten, und heute sei sie ein vergrämtes Weib, das an nichts mehr Freude habe, keinen Schritt vor die Tür tue und Tag für Tag in denselben Lumpen keifend und klagend das Haus durchschlampe.

»Deswegen bin ich einsam,« seufzte das Mädchen. »Und doch,« meinte es und lächelte mir zu, »hat es so sein müssen, damit ich in dieser Nacht hier mit dir wandeln und wissen darf, wie du mich liebhast.«

Wir stiegen einen sanft geneigten Hang hinan, und es schien, als endeten auf der Höhe Weg und Steg, als schieden sich dort Erde und Unendlichkeit.

»Da dünkt einen, als brauche man nur einen Tritt zu tun und man sei weit von der Erde. Aber gerade dort oben schaust du meine Heimat – was davon übriggeblieben …« belehrte mich das Mädchen schwermütig. »Zuvor jedoch laß uns noch eine Weile rasten, und du magst den Kopf in meinen Schoß legen, und ich will mich über dich beugen, daß du nichts schaust, denn nur mich und etwa ein fürwitziges Sternlein, wie es durch mein Haar blinzelt. Nichts anderes.«

Ein schwerer Stein, ein Findling, lag an einem Wiesenbord, und den hatte Siebenschönchen zum Sitz erkoren und mich zu sich niedergezogen. Und ich ruhte in seinem Schoße, des Mädchens Augen über mir, wie sie dunkel und zärtlich in dem Dämmer der vorgefallenen Locken leuchteten, und unsere Lippen blühten immer wieder einander zu, und nichts sah ich als das schöne Gesicht der Geliebten und durch den Schleier ihres Haares ein Stücklein des schimmernden Nachthimmels, und darin tanzte ein goldenes Flöcklein von einem Stern.

Ein Hund war unversehns um uns, hatte sich auf den Weg gelegt und schaute das Mädchen unverwandt an. »J«, Bleß – ich komme …« redete ihm Siebenschönchen zu, war mit einem Seufzer aufgestanden und ging mir voran. Von der Höhe sah man jenseits in einer Mulde ein großes Bauernhaus, schwarz unter seinen Schindeln im Mondlicht, von alten sperrigen Kirschbäumen umstanden und von drei Pappeln überragt. Ein armseliges Lichtlein schimmerte aus einer Kammer, und vor der weißen Wand, die von der Nacht draußen aufgeschichtet stand, schien es trübselig zur Finsternis in dem einsamen Hause zurückzuflüchten. Unter einem Stein pochte eine Quelle, von einer Röhre rieselte Wasser in einen Trog, und wieder und wieder gurgelte mit einem Stoß ein starker Strahl hervor, und ein Gestäube von silbernen Tropfen stand dann für einen Augenblick vor dem Brunnen.

»Hier bin ich zu Hause – wo ich nicht zu Hause bin,« stöhnte das Mädchen. »Die Wiesen sind verpachtet, fremdes Vieh steht in unserem Stall, und nur etliche Kirschbäume hat sich der Vater vorbehalten, damit er noch seinen eigenen Schnaps brennen kann. Und die Mutter hat Tag und Nacht ihren elenden Kaffee im Ofen, den sie auch mit diesem Schnapse süßt, und einer mißgönnt ihn dem andern. Wie Menschen nur so herunterkommen können! Ach – wenn wir mittags beim Essen sitzen und ich schaue so Vater und Mutter, dann ist mir bisweilen, ich sei geboren für dieses Elend und müsse Gott auf den Knien anschrein, mich bald sterben zu lassen – denn wenn Ich am Leben bleibe, wird es nicht lange dauern, und ich werde so sein wie sie.«

»Für solches Elend ist niemand geboren,« tröstete ich. »Dich hält nichts, Mädchen.«

»Ich bin hier geboren,« wehrte es traurig, »und bin hier froh und frei als Kind gegangen, und wenn die Mutter klagt, dann meine ich doch wieder, ich muss sie aufrichten können aus all dem Jammer. Aber lasse ich meinen Arm von ihr, dann sei sie vollends verloren. Gott weiß, warum mir ein Herz gegeben worden. Ach, schau nicht so leidmütig drein!« suchte das Mädchen dann zu scherzen. »Ich bin eine Jammertante und hör die Eulen bei Tage schrein. Ein Mensch kann dem andern nichts Köstlicheres geben als sich selbst. Und du bist mein, und ich bin dein … O!«

Lärmende Stimmen waren auf der Höhe laut geworden, – der Hund war hinaufgefahren, und besorgt hatte Siebenschönchen meine Hand gepackt, mich in einen Futtergang gezogen und die Tür von innen mit einem Holzkeil zugepflöckt. Näher kamen die Nachtschwärmer, ein Trunkener schimpfte wüst, und andere lachten und grölten. Dann ward auf eine verschlossene Lade gehämmert, ein Fenster klirrte, und ein Weib keifte. Schwerfällig tappte sich ein Mann die Hauswand entlang, stemmte sich wider die Tür, hinter der wir im Dunklen standen, lautlos, kaum atmend, fluchte greulich, stapfte weiter, und dann hörte man die wüste Gesellschaft wieder ferner, wie sie johlte:

»Und was eine schöne Ziege ist,
Die will halt ihren Zieger;
Und wer eine schöne Tochter hat,
Bekommt bald einen Schwieger!«

Siebenschönchen hatte die Tür aufgestoßen und lauschte in die Nacht. »Sie gehen alle in den Heustadel und schlafen dort ihren Rausch aus. Und da ist keiner, der nicht mit der Pfeife zwischen den Zähnen herumführe, und doch will's kein Unglück geben und die Herberge samt ihren Gästen niederbrennen, daß man die Asche über den Berg blasen könnt.«

Ich hatte dem Mädchen einen scheuen Blick zugeworfen, und das lächelte traurig. »Ja – so denk ich. Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht anders kann, und ich muß es tragen, wenn du deswegen fremdest. Leb wohl!«

Es hatte mir die Hand gereicht, kühl, wie einem flüchtigen Bekannten. Und zagend hatte ich die ergriffen, bestürzt über die Wandlung, als mir das Mädchen am Halse hing und mich unter Küssen und Tränen bestürmte: »Nimm mich mit – hier sterb ich! Wärest du nicht gekommen in dieser Nacht – ich hätt's vielleicht noch länger getragen und endlich vergessen gelernt, auf den Frühling zu warten. Nimm mich mit! Ich will deine Magd sein, und du kannst mich heißen: Komm! – und ich bin da, und mich heißen: Hinweg! – und ich werd mich in einen Winkel verkriechen und warten, bis wieder Sterne durch die Nacht gehn. Und sie sollen mich nicht umsonst Siebenschönchen geheißen haben – o, keine Kammer soll so dunkel sein, daß sie nicht hell aufleuchtet, wenn ich komme und dich küsse. Nimm mich mit!«

Ich wußte keinen anderen Trost für das Mädchen, als daß ich es zärtlich an mich drückte. Und da ich schwieg, löste es sich aus meinen Armen, strich sich das Haar zurück und lächelte, daß es mir das Herz zerriß. »Ich tu dir weh mit meiner Torheit. Mußt mir nicht gram darum sein. Nein – ich hab's nicht verdient. Du sollst dich nicht schämen müssen, und soll keiner mit den Fingern auf dich deuten und dich um deines Liebchens willen höhnen dürfen. Und wenn ich dich wiedersehe, soll«s sein, wo mich keiner schaut als du allein, und wenn lausend um dich herumstünden und mit dir scherzten und lachten! Wenn ich gestorben bin, du, dann soll's geschehn, daß ich dich noch einmal grüße, ehe ich dort einkehre, wo einem das Gedächtnis verschlossen wird, damit man glücklich sei. Und vielleicht will ich's gar nicht, daß man mir so tut. Wer weiß! Leb wohl!«

Das Mädchen war auf den Weg getreten, und der Hund war vorangesprungen, schaute sich nach ihm um, als es zurückblieb, und duckte sich ins Gras, als er es warten sah. »Leb wohl!«

Ich war auf dem Hügel und tat etliche Schritte den Hang hinunter, sah hinter mich und schaute nichts denn einen lichten Himmel und blassende Sterne. An dem Findling fiel ich nieder, preßte die heiße Stirn wider den kühlen Stein und biß die Zähne aufeinander, um nicht laut hinauszuschrein. Und dann ging ich einsam durch die Nacht, Weg und Steg, wie sie sich wirrten und kreuzten, und kam im Morgengrauen heim und wußte nicht, welche Straße ich gefahren …

Der Sommer ging dem Ende zu, und wieder verlebte ich einige Ferienwochen in der Heimat. Da waren Monate gewesen, in denen die Erinnerung an Siebenschönchen blaß und zart geworden war, und als ich jetzt die blauen Hügel wiederschaute, wollte es mich dünken, daß ich in jener Frühlingsnacht im Traum ein schönes Mädchen geküßt, und es wäre vergebens, wollte ich auf Erden die Stätte suchen, wo ich's geherzt. Ich scheute den Weg dorthin, als führe er an kein Ziel, als atme das Mädchen nicht drüben hinter den Hügeln. Und wenn ich danach frage, werde man mich anstaunen, und eine graue Alte werde mich bescheiden, vor fünfzig und mehr Jahren habe man der Jungfer, wie ich sie suche, das Totenglöcklein geläutet, und habe sie sich heuer im Frühling für eine Nacht gezeigt, so müsse man für eine arme Seele beten, daß sie doch endlich Ruhe im Grabe finde. Meine Sehnsucht aber war wach und wuchs mit jedem Blick zu den Bergen in der Ferne und bedrängte mich, daß ich die seltsame Scheu ablege und mich mit einem Rosenstrauß rüste und ans Fenster eines Kämmerleins poche, wo Siebenschönchen wach liege und meiner warte. Unruhe trieb mich umher; ich ging dem Weine nach, und oft saß ich im Garten eines alten Gasthofes, eines ehemaligen reichen Klosters, das, auf einer Insel gelegen, durch eine leichte Brücke mit der nahen Straße verbunden war. Das Wasser stand blau um das Haus; ein silberner Schimmer war um die Kronen aller Bäume, und von einem feinen feuchten Hauche funkelten tausend und aber lausend Blumen auf sorglich gepflegten Beeten. Und wenn ich so in die Bläue träumte, war mir wohl, auf einem der Wege, die aus duftendem Gebüsch her einen Bronnen mit einer goldschimmernden Nymphe suchten, müsse langsam ein schlankes Mädchen gewandelt kommen, lose gegürtet, wie eine edle Griechenschöne, und eine Locke liege ihm auf der Stirn, und daran merke ich, daß mich Siebenschönchen da grüße.

Es begab sich, daß in diesem Gasthof eine Hochzeit gefeiert wurde, zu der auch ich geladen war. Unsere Landschaft galt für reich an schönen Mädchen, und zu diesem Feste waren nicht die letzten aufgeboten worden. Geschmückt gingen sie einher, lockend und froh, und ein weiches, blondes Geschöpf, dessen Hals, Nacken und Schultern unverhüllt leuchteten, wußte von gemeinsamen Kindheitserinnerungen zu erzählen, und die lachenden blauen Augen funkelten mich übermütig an, als ich mich seiner Tanzkarte versicherte und dort zu meinen Gunsten beschlagnahmte, was nur zu haben war. Und dann spielte die Musik auf, und ich trat mit meiner Partnerin an; und im selben Augenblick überschüttete mich eine Wolke von Traurigkeit und kältete mein Blut, daß ich nicht anders konnte, als gequält aufzustöhnen.

»Was ist Ihnen?« sorgte sich meine erschrockene Tänzerin.

»Ein Herzweh, das vorübergeht,« beruhigte ich das Mädchen. »Sie verzeihen mir, wenn ich für eine Weile das Dunkel suche …«

Ich halte einem Bekannten gewinkt, der sich artig der bestürzten, mit Tränen kämpfenden Schönen annahm, und war hinausgetreten aus dem festlichen Saal in den dämmernden Kreuzgang, der ein Viereck mit üppig blühendem, süß duftendem Oleander umschloß. Da geschah es, daß ein schlankes Mädchen vor mir stand, lose gegürtet, umleuchtet von einem weißen Licht, das von ihm selber ausging. Und was mich mit einem zärtlichen Lächeln und doch mit Augen voll unendlicher Sehnsucht grüßte, das war Siebenschönchen.

»Du!« schrie ich auf, und da war die Erscheinung geschwunden. Eine späte Amsel war aus dem Busch aufgestiegen, rote Flocken stoben auf, und in dem von Mauern und Wänden umschlossenen Geviert verging der gellende Ruf des Vogels gleich einem Notschrei aus einem Verlies. Wie ich war, im Festkleide, suchte ich die Straße, und dann lief ich ins Land hinein, den Hügeln zu. Tief war die Sommernacht; Sterne waren am Firmament, die sich lösten und in dieses dunkle Meer tauchten, und über ihrer goldenen Spur wellte die Finsternis dahin.

Ein Hund klagte, hinter einem Kammerfenster blühten Kerzen in die Nacht, und ich vernahm im Schatten eines Baumes das eintönige Murmeln von Gebeten und das Schluchzen und Wimmern eines. Weibes. Ein steifer, vierschrötiger Gesell, den Kopf vornübergebeugt, kam vom Stall her, sprach verdrossen mit sich selber und machte sich am Brunnen zu tun. Ich nahte mich ihm, schaute in ein verwüstetes graues Gesicht und fragte, ob es ein Leid im Hause gegeben.

»Meine Tochter ist ums Zunachten gestorben,« murrte der Alte. »War stark und stolz wie eine Bergtanne, und ist doch keine zwanzig Jahre alt geworden. Das hat man von den Kindern und gar von einem einzigen! Am letzten Tanz im Frühjahr ist's gewesen, da hat sie sich's geholt – seither ist sie nimmer gewesen, was sie war. Arme Leute sind dazu da, daß sie von Gott und Menschen noch besonders geschlagen werden,« lästerte der Trinker. »Das schönste Mädchen im Land und jetzt so wenig wert wie eine tote Fliege! Wenn der Himmel seinen Zorn ausläßt, ist's an denen, die schon unglücklich genug sind. Ich glaub schon lange nicht mehr, was der Pfarrer dahersalbadert,« höhnte der Alte in jener Sprache, die er sich in der Schenke ruhmrednerisch angewöhnt hatte.

Im Gasthof, wo ich mit Siebenschönchen getanzt, hatte ich Herberge genommen, und dann war ich Zeuge geworden, wie man das tote Mädchen nach altem Brauche im Kirchlein aufbahrte. Im offenen Sarge lag es in seinem Sterbehemd, die Lippen leicht geöffnet, die Augen unter langen Wimpern geschlossen, über der Stirn eine einzelne Locke, prunkvoll gestickte Fahnen standen ihm zu Häupten, Kerzenlicht spendete goldfarbene Schatten und spielte auf einer Decke von weißen Rosen. Von Stunde zu Stunde und so auch die Nacht hindurch lösten sich Verwandte und Bekannte ab, um am Sarge zu wachen und zu beten. Und darüber geschah's, daß ich einmal für eine kurze Weile allein mit der Toten war, und indes eine ersterbende Kerze aufknisterte, eine Gloriole von Gold um das blasse Haupt hing und verging, hatte ich die Locke gehoben und geküßt, wie voreinst. Und dann, als neue Beter nahten, war ich hinausgegangen und hatte im Wirtshause den Vater des Mädchens gefunden, wie er inmitten einiger Bauern saß und den Trachtenschmuck seiner verstorbenen Tochter rühmte, daß er altes Erbteil sei, reich an Gehalt und Gewicht. Und dabei zerrte er mit zitternder Hand die Silberkettlein aus der Rocktasche hervor, und die raschelten und ballten sich auf dem Tisch zu schimmernden Häuflein. »Wer bietet?« forschte der Alte in die Runde. Er habe keine Tochter mehr, daß sie sich damit putze.

Die Bauern hatten gierige Augen und ließen doch alle mit einem Gebot auf sich warten. Und als endlich einer eine bescheidene Summe nannte und sie zauderten, aufzusteigern, trat ich hinzu und bot das Doppelte. Der Schmuck müsse in der Gemeinde bleiben, knurrte der erste Bieter; der sei nicht für fremdes Volk. Doch als die Bauern nickend beistimmten und mich mit scheelen Blicken musterten, war der Alte aufgefahren, hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen und von Wucherern gewütet, wie sie den ins Elend Geratenen bis aufs Blut ausbeuten. Aber einmal sollen sie ihren Meister finden – niemand werde ihn daran hindern, mit seinem Eigentum zu tun, wozu er Lust habe. Und er hatte mir die Silberkettlein, Schnallen und Nadeln zugeschoben, und ich ließ mich von mißgünstigen Augen nicht anfechten, barg den Schmuck in meiner Tasche und zahlte außer dem Kaufpreis noch eine Runde für die Gesellschaft, daß sie auf meine Gesundheit anstoße. Aber die schwieg verstockt und überließ es dem verkommenen Alten, mit dem Wein fertig zu werden.

Der Tag war blau, frühe Zeitlosen standen in einem feuchten Grunde, und ein Falke hing hoch, hoch über dem Kirchlein mit dem Gottesacker, wo man Siebenschönchen in die Erde bettete. An einem Bache rastete ich, lauschte auf das Glöcklein, das dem Mädchen ins Grab läutete, wand mir eins der Kettlein um den Arm und glaubte den Duft des jungen Leibes zu spüren, wie er mir in einer Frühlingsnacht so nahe gewesen. Und dann sah ich durch einen Schleier von Tränen in eine Ferne wett von dieser Erde, und dort ging, leicht und licht gewandet, wie eine edle Griechin, ein schönes schlankes Mädchen und grüßte, und auf feiner Stirn lag eine braune Locke, und damit spielte der Wind und hob sie, daß sie als eine goldene Flocke in der Bläue stand. Und ich schrie: »Siebenschönchen!«, und ein Widerhall war in den Hügeln und verging, und ein Glöcklein schwieg, und mir war, die Stille breche über mich herein und verschütte mich wie ein Grab.

 

Auf anderem Stern

Ich hatte einen Winter in einer großen Stadt verlebt und spürte den ersehnten Frühling nahe und fürchtete mich doch davor, im Gefühle, dann, wann zärtliche Pärlein hinter jeder Hecke aufsprießen, meine Einsamkeit noch ärger leiden zu müssen. ES begab sich an einem Märzabend, da in den Gassen ein lauer Wind sang, Katzen auf den Dächern raulten und ein heimlicher Duft von Veilchen umging, indes Wandervögel durch den Dämmer schwammen, daß im Zwielicht an einer belebten Straßenecke ein Magen langsam an mir vorüberglitt und ich ein Mädchen darin sah, von dem Schein aus einem Schaufenster für etliche Augenblicke hell beleuchtet, mit hochgebundenen, auf Nacken und Schultern frei fallenden dunklen Locken, durch eine vielfache Schnur von Beinsteinperlen gehalten. Aus den großen Augen schimmerte das Weiß wie Perlmutter, der Mund war klein, wie zum Kusse geschürzt, und eine schön geformte Brust hob ein rotes Mieder.

Mit einem Blicke hatte ich das Bild zärtlich umfangen, und in dem Verlangen, es wieder und wieder zu besitzen, strebte ich dem Wagen nach, der in dem eifrigen Getriebe der Straße langsam dahinrollte. Er hielt vor dem Theater, entließ dort seine Insassin, und alsobald war ich ihr auf den Fersen. Ich vernahm, wie sie eine Karte für einen Rang löste, und, als der Nächste nach ihr, gelang es mir auch, an ihrer Seite einen Platz zu bekommen. Man saß dort von einer vorspringenden Galerie beschattet, obwohl man den Ausblick auf die Bühne völlig frei hatte. Und in diesem dämmerigen Winkel mitten in dem festlich erleuchteten Hause konnte ich es immer wieder wagen, meiner Schönen vor dem Aufgehen des Vorhangs mit verlangenden Blicken zu nahn.

Man gab ein Schauspiel von einer lebend zu Grabe Getragenen, die in der Nacht aufersteht, nachdem sie im Sarge zum erstenmal das Geständnis der Neigung des über alles geliebten Gemahls vernommen. Vor der Welt verbirgt sie sich, und auch ihm, dem Gatten, bleibt sie gestorben, bis er, verlassen und verfemt, ihr Grab sucht, in Todesnot das Wunder ihrer Auferstehung vom Himmel fordert und die Lebende findet und gewinnt. In einer holden Ferne gingen die Gestalten, uns nahe in allem Menschlichen und doch nach Zeit und Raum gleichsam auf einen anderen Stern verseht, von dem wir beglückt ahnten, daß dort der Schrei aller Kreatur, ihre höchste Not, ihre tiefste Qual nur ein vorübergehender Ton war, den seligen Ausklang um so heller aufjauchzen zu lassen.

Ein zerrissener roter Himmel stand über einem verwilderten Friedhof, als die Liebende dem Sarg entstieg, den Leichenräuber gesprengt halten. Und die fremde Musik inniger und leidenschaftlicher Verse war ein süßer Strom, der über die Herzen hinging, die nicht wußten, wie ihnen an dieser Stätte geschah, wo ein Dichter ihrer Zeit ihnen von ihrer eigenen verschmähten Kraft zu künden wagte, auf einem schöneren Stern leben zu können. Man sah sein Gesicht, den Mund von einer leisen Verachtung beschattet, die Augen heiß und finster, die Hand an den kurzen grauen Bart, in einer Loge und empfand diesen Anblick mit einem Gefühle der Befremdung und der Ratlosigkeit, da man den Namen des Mannes unter denen der Berühmtheiten von gestern und vorgestern nie vernommen hatte.

»Auferstehn ist Pflicht!« flüsterte meine Nachbarin in einer Pause ein Wort aus dem Schauspiel nach, während der sie den Dichter mit ihren großen Augen, die von verhaltenen Tränen schimmerten und funkelten, unverwandt betrachtete. »Wer wirklich leben will, muß wissen um diese Pflicht. Unser ganzes Handeln soll nichts anderes sein als die Erfüllung dieser Pflicht!« stimmte ich zu. Und so kamen wir uns nah, emporgehoben in eine Welt der Kraft und Schönheit, und eine Vertraulichkeit umfriedete uns, als seien wir aus einer seligen Kindheit her bekannt und hätten uns viel zu erzählen von einsam und sehnsüchtig verlebten Jahren. Doch das Spiel ging zu Ende, und bei dem Fallen des Vorhanges erwachte Olinde, so hatte sie sich genannt, mit einem Seufzer. Eine Fremde war es, die ich zur Auffahrt geleitete, wo sie einen Wagen heranwinkte, mir kühl eine schlanke Hand bot und davonfuhr.

Der Frühling war gekommen, und ich hatte den Abend im Theater und die Nähe jenes Mädchens nicht vergessen können. Und so ging ich an einem blauen Nachmittage durch einen der schönen Stadtgärten, wo Rotdorn und Flieder üppig blühten und Nachtigallen in grünen Schatten sangen, Kinder auf den Wegen spielten und junge Mütter mit versonnenen Augen auf den Bänken saßen. An einem stillen Weiher hatte ein Wirt ein umbuschtes Plätzlein mit etlichen Stühlen und Tischen bestellt, und müde von der Frühlingsfülle, suchte ich mir da als einsamer Gast einen lauschigen Winkel. Und indes ich meine Schokolade löffelte und dem Rauch einer Zigarette nachsah, fiel ein Schatten auf den Weg, und meine schöne Fremde war mit dem bedienenden Mädchen genaht und ließ sich, ohne mich zu bemerken, nieder. Schlug mein Herz zu stark? Sie wandte, als habe sie plötzlich meine Nähe gefühlt, den Kopf und sah mir gerade ins Gesicht. Eine leichte Röte stieg ihr bis zur Stirne, ihre Augen hatten sich weit geöffnet, und dann beschatteten die schweren Lider wieder tief die flammenden Sterne. Ein Lächeln ging um den blühenden Mund, wie von einem Traum, der dem Gesicht eine ungewohnte Zärtlichkeit gab. Und wieder schwand es und ließ eine leise Sehnsucht.

»Sie erinnern sich?« wagte ich sie anzusprechen.

»Ich habe oft an jenen Abend denken müssen. Wer könnte den vergessen!« gestand das Mädchen. »Das von roten Wolken umflogene Grab in der Nacht, Grauen und Greuel, woraus die Liebe einer reinen Frau aufersteht …

Ich geh
Aus Grab zu Grab getrost, mein jung Gemahl,
Und warte dein. Und wann ich aufersteh,
Sind Rosen wach und schwingt der blaue Käfer
Die Fackel trunken überm Junigras
Und fängt der eitle Tau die jungen Sterne,
Golden
Von dem geraubten Glanz zu glühn.
        Bis da-
Hin lebe wohl! wohl! wohl!«

Das Mädchen sprach die Verse leise und doch mit zärtlicher Inbrunst, als sei seine ganze Seele eine sehnsüchtige Musik geworden. Das »da-« stieg langsam zitternd an, hallte nach und verklang. Und als das »hin« tief wieder einsetzte, war es, als habe das Herz eine lange liebeleere Zeit der Einsamkeit in einem kurzen Augenblick mit allen Schmerzen der Trennung von dem Geliebten vorausempfunden gehabt.

»Es kommt in einem Jahrhundert vielleicht einmal vor, daß ein Mensch einige Worte, wie wir sie täglich zu brauchen glauben, so spricht, daß sie, von einem neuen geheimnisvollen Glanze durchleuchtet, anmuten, wie Kunde, von einem, der in dieser vergänglichen Endlichkeit schon Gestade jenseits schaut. So,« erklärte Olinde mit einer leichten Verlegenheit, »müssen Sie mich verstehn und entschuldigen, wenn ich unvermittelt zur Vortragenden geworden bin.«

»Sie sind eine Künstlerin, und Ihr Dichter könnte sich keine bessere Deuterin wünschen,« lobte ich aufrichtig.

Das Mädchen sah mich mit einem langen, prüfenden Blick an. »Ich will Ihnen gestehn,« verriet es mir dann, Ihre Anerkennung freut mich. Aber es ist mein Schmerz, daß ich mit meiner Kunst nichts anzufangen weiß.«

»Gibt es nicht überall Menschen, die sich von Herzen freuen würden, Sie zu vernehmen?« wandte ich ein.

»Vernehmen …« lächelte Olinde traurig. »Und was sind mir diese Menschen! Ich möchte mich freuen, ich möchte sein, was jener Dichter da gestaltet! Nichts anderes als das, was er und nur er gestaltet – seine Schauspielerin!«

»Sie Schauspielerin?« wandte ich betroffen ein. »Als solche kann ich Sie mir nicht denken. Nein!«

»Warum nicht?« forschte Olinde. »Sie haben recht,« stimmte sie mir dann zu, »eine Schauspielerin, wie sie das Theater von heute fordert – nie! Aber kann es nicht ein Theater von morgen geben, eines, in dem eine berufene Künstlerin die kurzen Jahre ihrer Jugend und Kraft und Kunst ausschließlich dem einen und einzigen, ihrem Dichter, schenkt?«

»Und von Stadt zu Stadt ziehen müßte, um immer wieder Publikum zu finden, da doch ein ständiges Theater nicht von einem und demselben Autor leben kann.«

»In einer Großstadt könnte eine solche Künstlerin ihr ständiges Theater haben und von dort aus mit ihrer Truppe auch alljährlich auf die Fahrt gehn. Doch das sind nur Gedanken,« lächelte Olinde. »Ich bin keine Schauspielerin und habe keine Aussicht, es zu werden.«

»Sie wären auch zu schade dafür,« tröstete ich.

»Zu schade? Kann ein Mensch für seinen wirklichen Beruf zu schade sein? Denken Sie so niedrig vom Schauspieler?«

»Niedrig?« verteidigte ich mich. »Ich wage nur zu sagen, daß ihr Beruf sie menschlich nicht erhöht. Vielleicht, daß es anders wäre, wenn es solche geben könnte, die nur das darstellen würden, was ihr eigenstes, geheimstes Wesen verkündete.«

»Ich möchte nichts anderes!« beteuerte Olinde. Sie hatte ihren Strohhut, den sie am Gürtel getragen hatte, wieder aufgesetzt, und von der farbigen Seide der breiten Krempe war ihr Gesicht in rosenfarbene Schatten getaucht. Und mir war, als schau ich am Himmel ein leuchtendes Wölklein, wie es dahingehe und entschwinde. »Bleiben Sie!« rief ich aus diesem Gefühl heraus, als das Mädchen aufgestanden war und sich zum Abschied leicht verneigte. Befremdet schaute mich Olinde an.

»Es ist, weil ich Sie, dank einem günstigen Zufalle, wiedersehe und Ihnen noch so manches zu sagen hätte!« entschuldigte ich mich.

»Und das wäre?« forschte das Mädchen.

»Ich kann das auch auf dem Heimwege, wenn Ihre Zeit kurz ist,« antwortete ich und war aufgestanden und neben sie getreten. Und so gingen wir aus dem Park durch schwüle Gassen dem breiten Strome zu, wo in einem Gasthof an der Schiffbrücke eine kleine Kapelle spielte und geputzte Pärlein sich's auf einer Terrasse wohl sein ließen. Ein Schleppdampfer mit vielen Frachtkähnen verlangte Durchlaß, und so lud ich Olinde ein, da die Brücke ausgefahren werde, dort zu warten. Und während wir bei einem Fruchteis saßen, gestand ich der Schönen, daß ich sie seit jenem Theaterabend immer gesehn habe und der Fügung danke, die mich sie heute habe finden lassen.

»Nicht mich haben Sie gesehn,« wehrte das Mädchen mit einem verträumten Lächeln. »Ein Widerschein eines anderen Lebens war vielleicht damals in meinen Augen – die Macht und Gewalt einer Dichtung hat wohl Ihr Verlangen aufgewühlt, und Sie glaubten die Gestalt, die da ein Dichter geschaffen, in mir zu erkennen, und haben mir zugeschrieben, was ich nicht besitze und nicht geben kann. Und schon deshalb möchte ich Schauspielerin sein: um sein zu dürfen, was ich sein möchte, und doch nicht bin, um Tausenden eine schöne Täuschung bereiten zu können, ohne von einem einzigen deswegen geschmäht zu werden, ohne einem einzigen weh zu tun – nein, um alle durch diese Täuschung die teuerste Wahrheit schauen zu lassen. Ihr Bekenntnis – ich will es Ihnen gestehn – hat jetzt in dieser Stunde meinen Entschluß reif werden lassen: Es gibt nichts mehr, was mich zurückhatten könnte, eine Deuterin meines Dichters zu werden, wenn nicht er selbst!«

Ein Glanz war in dem Gesicht des Mädchens, eine Verklärung, die mich fühlen ließ, daß hier eine Seele ihre heimliche Liebe offenbarte. Und als dann die Lider die strahlenden Augen aufs neue beschatteten, war mir, als verschließe sich diese Seele wieder vor der Welt, und zu dieser fremden Welt gehöre auch ich.

Ich hatte das Mädchen auf die Brücke begleitet und zauderte, da sie wiederum ausgefahren werden sollte, um einen schöngeschmückten Lustdampfer durchzulassen. Olinde aber hatte einen Sprung gewagt und war noch hinübergekommen, dorthin, wo sie ihres Weges weitergehen konnte. Zwischen uns stand schon der tiefe offene Strom, als sie mir noch einmal zulächelte, halb mitleidig, halb übermütig. Und dann war der bunte Dampfer in der Lücke, lachende Menschen unter Fahnen und Wimpeln standen über mir und glitten vorüber, und das Wasser rauschte in den langsam arbeitenden Schaufeln. Im offenen Strome stand wieder das schöne Schiff, indes sich hinter ihm die Brücke schloß. Und vergebens sah ich Olinde nach; die Erinnerung an ihr Lächeln war alles, was ich heimbrachte.

Es waren etliche Jahre vergangen, daß ich an einem Winterabend im Schneetreiben vor dem Theater derselben Stadt stand und eine Aufführung jener Dichtung angekündigt sah, in der ich Olinde so nahe gewesen war. Als Gast war sie genannt, und es gelang mir, indem ich mich vordrängle, wieder dort Platz zu bekommen, wo ich voreinst ihre Stimme vernommen. Und wieder saß ein schönes Mädchen neben mir, das sein Tüchlein hielt und mit heißglänzenden Augen schaute, wie aus Nacht und Grab eine liebende Frau auferstand. Aber ich wagte kein Gespräch und wollte keines. Olinde stand auf der Bühne, und ich vernahm mit einem Herzen voll Sehnsucht aufs neue den süßen Wohllaut jener Verse, die ich wohl als erster aus ihrem Munde vernommen. Der Abschiedsgruß zitterte in den Seelen nach: »Bis dahin lebe wohl, wohl, wohl!«

Die Flocken fielen. Dort, wo die Schauspieler ihren Ausgang hatten, hielt ein Auto und warf seine Lichtbündel auf den Weg. Der Führer hatte den Schlag vor Olinde geöffnet, und dann beobachtete ich sie, die das von Leidenschaft leuchtende Gesicht zurückbog und mit Augen, die wie Sterne strahlten, den Dichter grüßte, der, den Hut in der Stirne, den Kragen aufgeschlagen, ihr nahte. In dem Lichte des Wagens wurden die Flocken golden, die sie umrieselten. Für einen Augenblick standen die beiden da wie fremde Wesen, Bewohner eines anderen Sterns. Ich sah sie noch Hand in Hand, schaute dem Auto nach, das gleich einem Fabeltier mit gleißenden Augen durch das Schneetreiben dahinstob, und sann darüber nach, während es verschwand, ob es Seelen gibt, die nicht altern, sondern, da sie reifen, jünger werden, und ob es solche Jugend war, die den alternden Dichter mit dem schönen, in süßer Fülle blühenden Mädchen so stark und innig verband.


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