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Die fünf Erzählungen des Servaz


Die Fruchtschale

In meiner Jugend war's, daß wir uns, Verwandte und Bekannte, gerne zu fröhlicher Tagung auf einem Landsitze zusammenfanden, der meiner Mutter von einem hagestolzen Onkel hinterlassen worden war. Der Verstorbene hatte eine Liebe für Bilder schöner Frauen gehabt und einen kleinen Saal damit gefüllt, und sein guter Geschmack hatte ihn manchen erlesenen Fund tun lassen. Namen war er nicht nachgegangen, und von den schönsten Bildern, die er gesammelt, kannte man den Meister kaum. Darunter war eins, das ein reizendes, weißgepudertes Dämchen im Reifrock zeigte, wie es tanzbereit aus dem Rahmen einer goldgekrönten Türe trat, den mit Röslein bestickten Reifrock mit einer Hand leicht erhoben hielt und ein fein geformtes Bein in weißseidenem Strumpf und rosenfarbenem, mit Goldschnallen geziertem Schuh zierlich vorstreckte. Das Mieder hatte einen Einsatz von der gleichen Rosenfarbe. Schlank stieg der schimmernde Hals daraus auf, und der Kopf mit dem zarten, kühlen Gesicht lag leicht auf einer Seite, als trete die Schöne vor eine festlich geschmückte Menge und spüre, wie bei ihrem Eintritt alles bewundernd verstumme und schweige und nur sie noch schaue.

Vor diesem Bilde hatte ich schon als Knabe oft gestanden, und als ich heranwuchs, bedrängten Ahnung und Verlangen mein Herz, als dürfe die Zeit nicht so grausam gewesen sein, von all dem schönen Leben nur den farbigen Schatten gelassen zu haben. Und so war dieser bunte Schatten ein Besitz meiner Sehnsucht und meiner Hoffnung geworden. Und ihm hielt ich Treue und war einer heimlichen Liebe froh.

In dem lustigen Kreise von Basen ersten und letzten Grades, die das Landhaus oft sah, war ein ausgelassenes Mädchen, das auch mich nicht schonte, und da ich scheu und ungelenk auswich, war ich bald das Ziel nicht nur seiner Neckerei. Ich müsse wohl eine verschwiegene Liebe haben, spöttelten die Dämchen, und als ich einmal vor einem Kusse bei einem Pfänderspiele vergebens nach der Tür trachtete, gab es ein Geschrei, jetzt müsse ich bekennen oder mir widerfahre das Übel von sämtlichen Mädchen, einem nach dem andern, wie sie heute beisammen seien. Entweder oder. Werde mir die Buße erlassen, so wolle ich ihnen meinen Schatz zeigen, wehrte ich mich verzweifelt und führte die ganze Gesellschaft vor die Schöne im Reifrock.

Die Mädchen hatten das Bild lachend betrachtet und mit Spötteleien nicht gespart, so eine Schöne könne sie neidisch machen, die noch über das Grab hinaus Opfer fordere. »Vielleicht lebt sie noch,« meinte da Lotte, die Ausgelassene, ungewohnt ernst, indes ihre Blicke über mich hinflirrten, um sich bald unter gesenkten Lidern zu verbergen. Denn eine alte Überlieferung wolle wissen, daß eine solche Liebe zu einem blassen Schatten nur dann in einem Herzen aufzuglimmen vermöge, wenn es irgendwo in der Welt noch ein Urbild gebe, jung und schön, von Fleisch und Blut.

»Die Dame müßte sich gut erhalten haben,« spottete ein Bäschen, das sich mit Kunstgeschichte abgab. Denn das Bild sei vor mehr denn anderthalb Jahrhunderten gemalt worden.

»Meinetwegen vor anderthalb Jahrtausenden,« entgegnete Lotte schroff, »wenn nur heute irgendwo ein Mädchen lebt, diesem Bilde da gleich …«

»Warum nicht?« gab die Zweiflerin zu. »Aber das ist – wenn wir uns hier im Kreise umschaun – weit von hier, und wenn unser Freund Verlangen nach einem Küßlein gerade dieser Dame verspürt, muß er sich schon an das leblose Bild dort halten.«

»Ob es leblos bleibt?« fragte Lotte in das Gelächter hinein. »Denn das ist das Schönste an der Überlieferung, wenn sie kündet, wie Neigung die ferne, nur im Bilde geschaute Geliebte beschwören kann.«

»Wie, wie?« wirbelten die Stimmen durcheinander.

»Wann der Mond aufgeht, muß der Liebende mit einem Opfer, Speis und Trank, nahn, einsam, ungestört, und die Türe zum Saal öffnen, wo das Bild hängt. Aber er darf nicht über die Schwelle treten, und dreimal muß er zu dem Bilde hin sprechen:

Noch einmal nah der Erde, holder Geist,
Und künde, daß du mehr als Bild:
Einzig und wirklich seist.

Und dann …«

»Dann?« bestürmten die lachenden Mädchen die durch den ungewohnten Ernst um so spaßhafter erscheinende Prophetin.

»Dann kann's geschehn, daß der Liebhaber sein Küßlein nicht an ein Bild verschwenden muß.«

»Schade, daß wir heute keinen Mondschein haben,« spöttelte die Kunstgeschichtlerin. »Bei gutem Wetter erst in acht Tagen. Bis dahin muß unser Freund noch mit der Leinwand fürliebnehmen.«

»Bis an sein Lebensende – Besseres hat er nicht verdient um uns, der einen Schatten uns vorzieht,« drohte ein anderes Bäslein. »Keiner lasse Gnade vor Recht ergehn, und wer's dennoch tut, der sei zur Strafe gehalten, von diesem Herrn da ein Bild zu bekommen und das und nichts anderes zu Herzen.«

So verging der Tag unter mutwilligem Geplänkel. Die lebhaften Schönen dachten an Lottens Verheißung wohl kaum noch als an einen artigen Scherz, indes ich über den fremden Ernst des Mädchens, sein blasses, erregtes Gesicht und seine flirrenden Blicke immer noch nachgrübelte.

Wieder und wieder suchte ich das Bild in dem Saal. Und wann ich es jetzt schaute, in dem ich, verlangender denn je, ein geheimnisvoll gebanntes Leben ahnte, das auf die Zauberformel zur rechten Stunde warte, um sich als Fleisch und Blut zu offenbaren, war mir, als bestehe irgendeine Verwandtschaft zwischen der gemalten Schönen und Lotten. Und ich hatte Träume, da war das Bild zu einem Mädchen geworden, das wandelte, wo ich ging, und der goldene Rahmen umspannte ein Bildnis Lottens, und die hatte vor hundert und mehr Jahren dazu gesessen und war längst gestorben, und doch hatte ich sie gekannt, gestern noch, so jung, wie ich selber war.

Als der Mond wieder die Nächte füllte, hatte ich eines Abends heimlich eine schöne Kristallschale bereitet mit kleinen spanischen Orangen, die süßwürzig dufteten, braunen Äpfeln mit borstiger, rot durchleuchteter Schale, von aromatischem Fleisch, schlanken Birnen, blauen Pflaumen, herzförmigen Haselnüssen mit einem Kern, der gleich einem Blutströpfchen schimmerte, und Trauben, die sich in ihrer Fülle aneinander gepreßt hatten, daß sie zu kleinen Würfeln geworden waren. Ein Fläschlein roten und eines weißen Weines standen mit zwei bemalten alten Glasbechern auf einer Silberplatte, und die trug den Spruch:

Nimm an, o Schönste, was dein Herz begehrt:
Erst der Empfänger macht die Gabe wert.

Und darüber duftete in einem braunglänzenden Krug ein Strauß gelber Rosen, aus deren Grund rote Flämmlein züngelten. Der Saal mit den Bildern hatte einen kleinen Vorraum und darin eine mit buntbeblümten Kissen belegte Bank, einen Schragentisch und etliche geschnitzte Stabellen. Das Mondlicht floß durch ein Fenster über den Tisch, der meine Gabe trug, zur Schwelle hinunter in den Saal, wo es als ein Schleier lag und sich in einem zitternden Dämmer verlor. Und aus einem Winkel des Vorzimmers her bat ich:

»Noch einmal nah der Erde, holder Geist,
Und künde, daß du mir,
Der Zeit und Raum vergißt vor dir,
Mehr als ein Bild:
Einzig und wirklich seist!«

Ein Seufzer ward wach, und das Herz stieg mir zum Halse. Und dann flackerte das Silberlicht an einer Gestalt auf, die auf der Schwelle stand, das Gewand raffte, den Fuß im goldgezierten Schuh vorstreckte, und das herabgestiegene Bild war.

»Ich bin's,« lispelte eine Stimme, die ich kannte.

»Du, Lotte!« schrie ich auf.

»Still!« bat die Schöne, und mich suchten ein paar feuchte Augen, demütig, voll Hingabe, zärtlich und mit heimlichem Bangen. Da hielt ich die Verwandelte in den Armen, und im Mondlichte dufteten die Rosen in den Wein, und mein Bild war zu lieblichem Leben geworden, und sein Atem war um mich, und wir leerten die Fruchtschale und küßten uns. Darüber gestand Lotte, wie es ihr gelungen sei, unbemerkt zu Besuch zu kommen, indem sie das Zimmermädchen beredet habe, dann und dann gelte es eine Überraschung, es möge sie irgendwo in dem weiten Hause heimlich unterbringen.

Am Tage, nachdem mir Lotte in der Tracht des Bildes ihre Neigung offenbart hatte, erschien sie als Gast auch bei den Eltern und Geschwistern und blieb es für eine Woche, in der es ihr gelang, sich Abend für Abend heimlich zu meiner Schönen aus alter Zeit zu wandeln und in dem verschwiegenen Vorraum zu dem Saale mit den Gemälden eine Stunde des Herzens und Küssens zu feiern. Über Tag zwar mußte ich mich mehr und mehr dagegen wehren, daß mir das Mädchen in der Kleidung unserer Zeit nicht gleichgültig war. Nur wenn Lotte im Reifrock hereinhuschte, das Haar weiß gepudert, die schlanken Knöchel aus den rosenfarbenen Pantoffeln und Goldschließen schimmerten, der Mund im Dämmer aus schneeigem Gesicht blühte, dann war mir, als sei auch eine Seele, die geliebte der gemalten Unbekannten, in meiner Schönen. Ihre Stimme klang anders, ihre Bewegungen waren zierlicher, und alle Ausgelassenheit war einer holden Verschämtheit gewichen, einer Verliebtheit, die nur noch leise Worte kannte, zärtliche Seufzer, und ein Lachen wie von einem fern gurrenden Täublein.

Es begab sich am Ende der Woche, daß ich über Tag Lotte in einer Laube in den Weg lief und daß das Mädchen auf seiner Bank ein weniges zur Seite rückte, um mir ein warmes Plätzchen zu gönnen. Als ich aber, dicht neben ihm, keine Miene machte, die Gelegenheit zu nutzen und es in den Arm zu nehmen, begann es plötzlich, außer sich, zu weinen.

»Ich kann doch nicht mein Leben lang im Reifrock gehn, geputzt und gepudert, damit du mich gern hast!« klagte es.

Mir war, als werfe mir eine Fremde vor, daß ich ihr nicht geneigt sei. Bestürzt, abgestoßen, starrte ich Lotte an und wußte nichts zu erwidern.

»So küß deine Leinwand!« drohte sie aufgebracht, trocknete die von heißen Tropfen brennenden Augen, strich sich das über die Schulter gefallene Haar zurück, zitternd vor Empörung, und ließ mich allein.

Für die Nacht hatte ich wie immer die Fruchtschale gefüllt und harrte zu später Stunde meines heimlichen Besuches. Durch das Fenster flutete ein ungewöhnlicher Glanz, und ein Streifen des Lichtes lag wie ein silberner Teppich über der Schwelle zum Bildersaal. Und dann ging leicht eine Türe, und Lotte war wieder in der Tracht der Unbekannten um mich, zärtlich und voll Hingabe, wie je. Und was noch nicht geschehen war: ich zog das Mädchen, als es sich an den Beeren einer schönen Traube freute, auf den Schoß, trank aus einem Becherlein und hielt der Schönen, wie sie, von meiner Linken gestützt, an meiner Brust lag, das Glas an den Mund. Sie richtete sich auf, nahm ein Schlücklein, sah mir über die Schulter und war mit einem lauten Schrei aufgefahren und hinter den Tisch gewichen, von wo aus sie zitternd, mit fliegender Hand, auf den Mondenschein deutete, wie er in das Bilderzimmer floß. Und dort, wo sich der Schein verlief, vermeinte auch ich die unbekannte Schöne zu schaun, herabgestiegen aus ihrem Rahmen, in allem das Urbild des Gemäldes, und in ihren Augen war Zorn und Groll. Und wieder stieß Lotte einen Schrei aus, wankte und fiel mir ohnmächtig in die Arme.

Das vertraute Zimmermädchen mußte uns neugierig nachgegangen sein; denn eine Tür ward aufgestoßen, und die Magd stürzte bang herein. Es gelang uns, die Verstörte ungesehn auf ihr Zimmer zu bringen, und dort überließ ich sie dem Mädchen. Am Morgen hieß es, Lotte habe eine Nachricht von Hause bekommen, die sie gezwungen habe, schon in aller Frühe abzureisen, und vor Tag kein Aufhebens machen wollen und lasse Lebewohl sagen. Das war alles.

Ihr Abschied rührte mich nicht. Doch eine Ahnung von Unheil, das sie zurückgelassen, überfiel mich, und bange suchte ich den Saal. Und ich sah das Bild im Lichte des Tages: die Scherben der Fruchtschale auf dem Boden und die Leinwand von dem scharfen Kristall grausam zerschnitten und zerstochen. Mir war, ein Lebendiges sei gemordet worden, die Erde um einen lieblichen Besitz beraubt, den sie wider Zeit und Tod zu erhalten getrachtet habe. Und ich weinte, wie man jung um eine verlorene Liebe weinen kann.

Einige Jahre waren vergangen, als ich in einer durch ihre Schönheit ausgezeichneten Großstadt etliche Tage verweilen mußte und von einer Aufführung las, die auf der in der Geschichte des Schauspieles viel genannten Bühne bevorstand. Einige Verse des Dichters waren mitgeteilt, fremd und tief, von einer eigenen Melodie getragen, und sie lockten mich, daß ich mir für den Abend einen Platz sicherte. Von einer Stimme, die mein Herz umschmeichelte, vernahm ich das Süßeste, was eine zu Tode getroffene arme Seele dieser Erde noch gestehen kann. Und mir war, Tage stiegen da vor mir auf, liebe und leide, die ich selber gelebt und gelitten.

Die Schauspielerin, die das Werk so zu deuten verstund, war Lotte.

Ihr Gesicht schien strenger, der Mund herber. Die süße Gewalt unvergänglicher Verse hatte ihr unstetes Herz in eine holde Knechtschaft geschlagen, daß es sich an jenem Abend innig und ergreifend offenbaren mußte. Ich höre sie noch, wie sie von einem Bienlein sprach, das davongeflogen sei, als sie es mit dieser ihrer Hand aus dem Wiesenbach gefischt und an die Sonne gehalten. Und Honig war's und ging davon …

Das ist meine letzte Erinnerung an jenes Mädchen, das ich nur als eine Gestalt aus vergangener Zeit zu lieben vermocht hatte und dem dann diese Tote in den Weg getreten war. Die Toten, so dünkt mich, sind eifersüchtig auf solch einen Besitz: auf ein Gefühl, das ihnen noch vom Gestade des Lebens her gespendet wird. Und sie rächen es, wenn eines, das noch im Lichte wandelt, anders zu sein vorgibt und wie sie tut und sich gebärdet wie Verstorbenes, um geliebt zu werden wie das. Und es ist wohl das Leiden des Schauspielers und sein Verhängnis, einhergehen, nach einem Bilde suchen zu müssen, das geliebt wird, und diesem schönen Schatten für eine kurze Stunde aufs neue Fülle und Gestalt zu geben, Scheingestalt nur, dahin vor der Frühe, und dafür diese Liebe an sich reißen zu wollen, eine Liebe, die doch nur die Toten wirklich besitzen und immer besitzen werden, wann der Mummenschanz des kurzen Festes vorüber.

Wir aber, die wir leben, uns tut es not, um unseres eigenen Besitzes willen geliebt zu werden. Ihn nur können wir hinübernehmen, und nur er vermag aus der Ferne her zu leuchten und irgendwo Sehnsucht zu wecken, daß sie zum Opfer die kristallene Schale fülle.

 

Die Liebesprobe

Ich hatte erleben müssen, daß ich aus einer von Reichtum umsorgten Kindheit über Nacht in Armut gestoßen wurde und wund auf der Walstatt stand, ohne Wehr und Waffe. Aus einer schönen Zeitschrift zeichnete ich die Namen der Geschäfte auf, die dort angezeigt hatten, in dem Traume, daß in der blauen Ferne die Menschen anders seien als in der engen und dunkel gewordenen Heimat, und fragte in romantisch verstiegenen Briefen um einen Posten für einen Gymnasiasten an, der schon diese und jene Berechtigung erworben habe. Kaum einer unterließ, dem Schreiber zu antworten, daß er sehr bedaure, wenn ihm der Betrieb zurzeit nicht erlaube, einen gebildeten jungen Mann meiner Art anzustellen. Diese Höflichkeit, wie sie hinter den Bergen zu wohnen schien, machte mir Mut, in einer zweiten und dritten Zeitschrift die Anzeiger aufzugabeln und auch diesen allen meine Person anzutragen. Und wieder kamen höfliche Antworten und darunter endlich eine aus einer fernen und doch durch vergessene Verwandte, die in der Gegend hausen mußten, der Erinnerung nahen Stadt, die ich, noch der Sohn eines reichen Herrn, zu meinem ersten Semester heimzusuchen gedacht hatte. Die brachte mir ein Goldstück als Reisegeld und die Botschaft, ich möge mich mit meinem Gepäck einfinden, man könne einen fleißigen jungen Mann von guter Schulbildung zur Unterstützung in der Buchhaltung und im Briefverkehr gebrauchen. Mein Vertrag gehe auf drei Jahre: bei freier Wohnung und Kost sei im ersten ein Monatsgehalt von zehn, im zweiten von zwanzig und im dritten von dreißig Silberlingen vorgesehn.

Mit Resten unversteigerten Plunders war noch eine Reisetasche übriggeblieben, worauf eine mit Silberperlen gestickte Schäferin zwei Lämmlein auf saftgrünem Anger weidete und sich von einem zartgrauen Himmelsgrund abhob. Dahinein ging, was ich besaß, ohne daß die Tasche ihre schönen schlanken Linien verloren hätte. Und mit diesen meinen Habseligkeiten zog ich, ein schmales Bürschchen unter einem breitkrempigen Räuberhut, in die Kunststickerei und Fahnenmanufaktur von Meyer Moritz an einem bitterkalten Wintertag ein. Durch einen Laden, einen Packraum und eine Schreibstube ging's in ein Gemach, wo sich ein kurzbeiniger, kurzhalsiger dicker Herr mit dem Anflug eines grauborstigen Schnurrbartes auf einem Schaukelstuhle wiegte und alle die Räume vor mir übersah, während hinten einige Stufen in einen tiefer gelegenen Saal hinabführten, wo Mädchen über der Arbeit saßen, Maschinen schwirrten und Stoffe und Garne glitzerten und schimmerten.

Meyer Moritz landete aus dem Schaukelstuhle, stapfte schwerfällig einige Schritte und schrie in den Arbeitssaal hinunter: »Judith, Judith!« Ein Mädchen, das daran war, Beschläge zu Fahnenstangen zu ordnen, kam langsam heran und begrüßte mich mit einem säuerlichen Lächeln, als der Alte es vorstellte: »Meine schönste Tochter Judith! Sie soll Ihnen Ihr Zimmer zeigen!« Es trug seine Schönheit freilich nicht nach außen zur Schau. Die war bei ihm nach innen geschlagen. Dafür sprachen die gutmütigen Augen im Gesichte mit der plumpen Nase und dem dicken Mund. Aus der Schreibstube führte eine Glastür in den Dämmer eines Treppenhauses. Durch die Scheibe schaute, als Judith sich dorthin wandte, ein zweites Mädchen von feinen Zügen mit einem flammenden Mund in einem blassen Gesicht und leidenschaftlichen dunklen Augen, dem drei lange Locken zu jeder Seite herabfielen. »Meine Schwester Esther!« nannte mir Judith die Gefährtin, als sie mich durch die Tür geschoben hatte. Im Gegensatz zur plumpen Schwester erschien Esther zierlich, und bei einer Bewegung sah ich, daß ihr zwei dicke Zöpfe bis zur Hüfte herabhingen, schwer und so schwarz, daß sie wie Stahl schimmerten. Sie nickte mir zu, und die Locken an der Seite tanzten auf und nieder. »Kommen Sie,« mahnte mich Judith, der ich stand und das hochbusige Mädchen anstarrte, das schmal und schlank in breiten Hüften stand, »Sie werden meine Schwester noch oft genug sehn!«

Wir stiegen eine Treppe hinab, und über uns leuchtete für eine Weile das weiße Gesicht Esthers. Durch einen Hof mit Kisten und Brettern an einer Werkstatt vorbei, wo ein Schreiner hauste, ging's in einen Anbau, der über einen zu einem Obstgarten umgewandelten alten Wallgraben wegschaute. Ein kahles kaltes Zimmer mit einem billigen Eisenbette, einem solchen Waschständer und etlichen Haken in einer Ecke, wartete dort meiner. »Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie's mir!« meinte Judith. »Herrn Meyer Moritz wird's lieb sein, wenn Sie gleich Ihren Dienst antreten; wir haben viel für die Vollendung des Domes zu tun.«

Ich stand, allein gelassen, für eine kurze Weile am Fenster und schaute in den Garten hinunter, wo in struppigen Baumkronen Meislein lustig herumturnten. Und ein Gesicht wollte mir nicht aus den Augen, dessen Mund so süß flammte, ein schönes Mädchenhaupt mit blauschillernden Locken und Zöpfen. Ich ging wieder über den Hof zurück und sah den Schreiner vor seinem Leimofen, wo auf einer Pfanne etliche Wurstscheiben prasselten. Eine Handvoll Späne schob er ins Feuerloch, und der Neid kam mich bei dem leckern Geruche des Frühstücks an, daß ich's nicht wie dieser Handwerker haben konnte, der da frei seine Arbeit verrichtete und sich nach seines Herzens Lust seine Muße dabei gönnte. Denn die Erkenntnis hatte mich jählings überwältigt, daß die Welt hier kaum anders war als in der Heimat, die ich verlassen, daß ich armer Schlucker völlig abhing von dem Belieben eines Menschen, der mich gebrauchen zu können glaubte und den weiter nichts mit mir verband. Das hatten mich die kalten Augen meines Brotherrn gelehrt, die mich kühl und mit der versteckten Verachtung eines Menschen geprüft hatten, für den die Armut des Nächsten eine Schwäche ist, die man zu seinem Vorteil brauchen muß, will man selber oben bleiben. Und ich besaß nichts als ein wenig Schulweisheit, wie sie Hunderten und Tausenden von Brotsuchenden eigen, und kannte keine Handfertigkeit, keine Tätigkeit, wie sie sich an das tägliche Bedürfnis vieler wendet.

Ich bekam einen Platz an dem langen Stehpult, das eine ganze Wand einnahm, in der Ecke zum Packraum. Neben mir stand als Buchhalter ein ehemaliger Student, den eine verwitwete Hebamme der Gottesgelahrtheit entzogen und geheiratet hatte, ihm Söhne zubringend, die älter waren als er. Und hinter mir hockte in einem Verschlag ein vom Schnaps zugrunde gerichteter Lehrer, der zu allen Beleidigungen und Beschimpfungen seines Brotherrn stumpfsinnig lächelte, etliche Stunden im Tage hinter seinen Papierbogen verschnarchte und gegen einen Bettel Tag für Tag nach einem und demselben Muster Empfehlungsbriefe abschrieb. So waren es meist Gescheiterte und Gestrandete, die hier eine armselige Zukunft gefunden hatten, bürgerlich Halbtote und Abgestorbene. In dem Anbau hausten außer mir nur einige junge Leute vom Lager, verlorene Bürschlein, die froh sein mußten, ein Dach über dem Kopfe zu haben, und in ihrer Fron doch lustig und guter Dinge waren. Ein ehemaliger Unteroffizier, entlassen, weil er in der Trunkenheit militärisches Gut veruntreut haben sollte, machte den Trauernden. Er konnte auf einer Kiste sitzen und Balladen von Kindsmörderinnen und dergleichen singen, die kein Ende hatten und nur dadurch zu einem Schlusse gebracht wurden, daß ihm Tränen die Stimme erstickten.

Mir diktierte Meyer Moritz Brief um Brief, die alle unweigerlich begannen: »Antwortlich Ihres Geehrten vom soundsovielten«. Und ich rächte mich dadurch, daß ich für die ins Französische oder Englische zu übertragenden eine neue Form fand, die des unterhaltenden kaufmännischen Briefwechsels, und etwa einem Besteller schrieb: »Der hundertteilige Wärmemesser zeigte heute draußen achtzehn Grad unter Null, als uns Ihr geschätzter Brief im wohlig durchwärmten Hause erreichte und zu unserer äußerlichen Behaglichkeit liebenswürdig die innere spendete …« Und oft war an der Antwort zu merken, daß diese Form nicht einmal übel aufgenommen worden war; denn die also Bedachten gingen meist auf unsere artige Anrede ein und schlugen einen ähnlichen Ton an. Und wenn ich Meyer Moritz, indes er sich auf seinem Schaukelstuhl festhielt und wiegte, so ein Schreiben in der Übertragung vorlas, konnte er wohl plötzlich »Judith, Judith!« schrein, worauf die Tochter gutmütig und verdrießlich heranstapfte, um einen Satz zu vernehmen, der des Alten besonderes Vergnügen geweckt hatte. Für seine eigene Person zwar blieb er bei seinem »Antwortlich Ihres Geehrten …«

Wir, die wir im Hause wohnten, aßen mittags mit der Familie, und Meyer Moritz pflegte jene Überreste von feineren Lebensgewohnheiten, die mir noch anhaften mußten, dadurch zu würdigen, daß er mir einen bescheideneren Appetit zutraute und von den Würstlein, die es etwa gab, das mir zugedachte um einen erklecklichen Happen kürzte. Und ich war in den Jahren, da bei Jungknaben der Magen nicht Grund noch Boden hat. Dafür pflegte jedoch bei einem Ausgange, den der Alte etwa während der Geschäftszeit machte, um seinen auf Spekulation errichteten Neubauten nachzugehn, ein Fingerlein an die Scheibe der Glastür zu pochen, und dahinter sah ich etliche Locken tanzen, und wann ich der Ladung folgte, fand ich Esther mit ihrer Mutter, die durch die Ähnlichkeit mit jener der Tochter an die Schönheit ihrer Jugend erinnerte und, wann sie mich so kommen hieß, eine liebenswürdige Frage in den Augen und ein ermunterndes Lächeln um den Mund hatte. Und dann spendete sie mir, der ich scheu widerstrebte, wohl ein Goldstück: es sei verdient, aber der andern wegen, die dann ungebührlich fordern werden, mög ich's verschweigen. So konnte ich mir, jung und hungrig wie ich war, zu einem zweiten Frühstück ein Wurstbrot, wie die Packer das liebten, leisten und abends ein Krüglein schwarzen Gesundheitsbieres mit ins Bett nehmen. Und ich habe nie wieder Köstlicheres gegessen und getrunken als dieses Stücklein Wurst zum Morgen und dieses Schlücklein Bier zur Nacht.

Der Frühling kam, der Sommer, aber ich sah kaum etwas davon. Denn vor Dämmer ward auch am längsten Tage nicht geschlossen, und wenn ich einmal bei der Helle hinauskam, war ich scheu, wie eine Eule unter Tags, verkniff die Augen vor den bunten Mützen der Studenten, der ich doch auch für ein Studium vorgebildet war, und hastete eilends vor den fröhlichen Mädchen davon, die im Schmucke ihrer Jugend im Lichte wandelten. Und gab's am Sonntag etliche Freistunden, verbrachte ich sie einsam, angewidert vom Gehaben der Gefährten meines Elends, wie sie mit Mädchen, die sich auch ihr Brot verdienen mußten, auszogen, um sich nach ihrer Weise des Lebens zu freun. Meine Gedanken waren um Esther und liebkosten sie. Doch wann ich sie sah, war ich scheu und unbeholfen unter ihren warmen Blicken.

Eine zudringliche Magd war im Hause, ein flachsblondes schlankes Geschöpf mit schönen großen, doch frechen Augen. Das strich mir nach, und so geschah es an einem Sonntagabend, als ich allein auf der Schreibstube hauste und in einem Büchlein vom armen Mann im Toggenburg las, daß mich die Dirne aufspürte, sich herausfordernd neben mich stellte und mir den Platz so einengte, daß ich mir Luft machen mußte und nicht ungern in eine Rauferei mit ihr geriet, wobei sie mich mit aller Kraft ihrer starken Arme an sich preßte und mit heißem Munde zu küssen versuchte. Davor aber scheute ich wieder zurück und umfaßte sie derart, daß sie nach Atem rang und mich losließ und seufzend und lachend für eine Weile Ruhe auf dem Stuhle von Meyer Moritz suchte. Doch sie hatte sich kaum zu schaukeln begonnen, als mit einem Windlicht in der Rechten Esther in der Glastür stand. Ihre Augen flackerten unruhig, und ihr Mund war hochmütig geschürzt und zuckte doch, als sie mich um etliche Formulare bat. Die Magd schlich mit einem spitzbübischen Gesichte davon, und Esther leuchtete mir in das Pult, wo ich die Papiere mit zitternden Händen suchte. Die langen Lider standen tief über den dunklen Sternen, ihr Busen war von Lichtern umspielt, und im Dämmer irrten die Locken über dem weißen Gesicht, als rieseln Bächlein daran auf und nieder.

»Esther,« bat ich leise; »ich habe nichts mit dem Frauenzimmer da!«

Ihre Augen öffneten sich weit und leuchteten. »Sie ist zudringlich. Wer einsam ist, kann sich verirren, sucht er einen Weg zu Menschen seinesgleichen. Sie müssen den einschlagen, wo man Ihrer wartet!«

Ihr Kopf hatte sich gesenkt, die Locken waren vorgefallen, und die Lider deckten wieder die dunklen Sterne. Und da sie keine Antwort vernahm, begann sie zu berichten, daß sie zu der nahen Feier der Domvollendung in der alten Hauptstadt geladen sei. Und sie, als Jüdin, denke im Festzug als Orientalin in der Gruppe der Kreuzfahrer mitzutun. Mit der Mutter habe sie schon beredet, daß auch ich dabei nicht fehlen dürfe und als Edelknabe im selben Verband gehen müsse und ihr so zur Seite bleibe. »Immer!« antwortete mein Herz; doch der Mund schwieg. Indes gaben wohl meine Augen die Zusage. Denn das Mädchen lächelte und bot mir die Hand, und ich lugte ihm nach, wie es das Laternchen schwenkte, da es die Treppe zur Wohnung hinaufstieg und der goldene Dämmer mit ihm ging, als wandle da das Geschöpf eines andern Sternes und mit ihm ein Wölklein seiner schönen Heimat.

Es war ein heller Oktobertag, als wir, von dem Ehepaar Meyer Moritz und der Tochter Judith begleitet, die Reise zur Hauptstadt unternahmen, Esther und ich schon für den Festzug angetan. Das Mädchen trug ein rotes Mützlein, hatte milchweiße Perlenschnüre in die Zöpfe geflochten, die sechs Locken mit Goldgehäng durchwirkt und Münzketten um den Hals geschlungen. Das brokatene Gewand ward von einem roten goldbeschlagenen Gürtel gehalten. Rote Lederstrümpfe schauten darunter hervor; von den Knöcheln klirrten wieder Kettlein von kleinen goldenen Münzen. Ich trug einen blauen, mit silbernen Disteln bestickten Rock mit weißseidenen Spitzenärmeln, braune Beinlinge, einen schön beschlagenen Gürtel mit einer kleinen Tasche, in der ein funkelnder Dolch stak. Dazu ein Kurzschwert an einem Schultergehänge mit kleinen silbernen Kugelschellen. Ein Mützchen von weißem Rauchwerk hatte ebenso einen Kranz von kleinen klingenden Kugeln, während die Schnabelschuhe von Silberschnüren starrten.

Und dann war ich mit dem Mädchen allein in einem farbenfrohen Trubel, während seine Angehörigen einen teuren Balkon in einem Gasthof bezogen hatten. Die Glocken der kirchenreichen Stadt dröhnten, und von dem ehernen Strome dieses Jubels zitterten Gassen und Häuser, Plätze und Türme. Ungezählte Augenpaare grüßten uns, die wir dahinschritten, von Fahnen und Bannern überflogen, im Zuge der Wagen und Reiter, umschmettert von jauchzenden Drommeten.

Der Edelknabe hatte die Türkin an der Hand, und beide gingen in diesem Festgewühl Tausender und Abertausender in der seligsten Einsamkeit. Irgendwo stockte der Zug. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und als ich aufschaute, sah ich einen alten wohlgepflegten Herrn in der ersten Reihe der Neugierigen, den grauen Zylinder im Nacken, eine pralle Tüte in der linken Hand und einen schönen Pfirsich in der rechten. »Willst einen?« forschte er, und ich erkannte einen halbvergessenen Großonkel, einen schrulligen Junggesellen, der als Anwalt ein Vermögen erworben hatte, in überseeischen Ländern herumreiste und alljährlich im Herbst die Stadt seiner Jugend aufsuchte, um dort wieder die Sprache der Obstweiber zu vernehmen, bei deren Vorgängerinnen er in der Knabenzeit gekramt hatte. Eine Prinzessin, so hieß es, sollte ihm, der als junger Verteidiger in dem Archiv eines Schloßes nach Urkunden geforscht hatte, um bestrittene Gerechtsame zu retten, in einem Frühling voll Flieder und Nachtigallen ihre Neigung geschenkt haben und noch irgendwo in einer Anstalt leben, wo sie Tage habe, da sie tobsüchtig am Gitter rüttle und nach dem Liebsten schreie, den man ihr mißgönne.

Er hatte meinen Blick aufgefangen, der zu dem Mädchen an meiner Seite ging, und reichte Esther die Tüte, daß sie sich daraus nehme. Und als sie sich die Frucht schmecken ließ, lud er mich ein, er sei im Holländischen Hof und erwarte mich nach dem Umzuge gern mit meinem Mädchen.

Mit meinem Mädchen! Ob Esther vernommen, daß mir so ihr Besitz zugesprochen worden?

Am Abend saßen wir nicht dort, wo wir die Familie Meyer Moritz hätten finden sollen, sondern, entschuldigt durch den Trubel von Tausenden, im Holländischen Hof. Das Ansehen des Stammgastes, des Großonkels, hatte uns dort einen behaglichen Winkel und ein auserlesenes Mahl gesichert. Der alte Herr war von einer liebenswürdigen Fröhlichkeit und bat sich, als wir gegen Mitternacht in den Zug heimwärts stiegen, von der Orientalin aus dem Fähnlein der Kreuzfahrer ein Küßlein aus, auf daß er sich sein Leben lang dieses schönen Tages erinnere. Das ward ihm nicht versagt, und mir war, als habe durch diese artige Gabe das Mädchen seinen Willen zur Zugehörigkeit zu meiner Sippe dargetan. Hand in Hand gingen wir durch die dunkle Nacht heim und fanden die kurz vorher zurückgekehrte Familie noch geräuschvoll zusammen. Die Mutter bot mir einen Imbiß an, der Alte maß mich mit mißtrauischen Blicken, und Judith wog die Zöpfe der Schwester liebkosend in den Händen und ließ leise die Perlenschnüre klirren.

Es ging gegen Allerheiligen, und der Altweibersommer brachte eine leuchtende Reihe von blauen Tagen. Mit den Astern und Georginen dufteten in allen Gärten noch die Rosen. Und da noch gar oft von dem Festzuge gesprochen ward, überall Bilder auslagen, die davon zeugten, und unter den Geschäften, die für die Lieferung der fremden Trachten, der Banner, Fahnen und Waffen öffentlich belobt wurden, auch Meyer Moritz ehrenvoll genannt war, ließ sich der Alte von Judith bereden, eine kleine Nachfeier zu veranstalten und alle, die aus seiner Stadt mit im Zuge gegangen waren, einzuladen, sich im Festgewand auf seinem Landsitze Zum Morgenstern zu einer guten Unterhaltung einzufinden. Dieser lag eine Viertelmeile von der Stadt weg, schön über dem Strome, hatte nach dem Aussterben einer alten Familie häufig den Besitzer gewechselt und war so Meyer Moritz, der es liebte, in Grund und Boden zu spekulieren, in die Hände gekommen. Einen einsiedlerischen Knecht hatte er aufgetrieben, der die Besitzung billig betreute und seinen Lohn und den Zins durch Gemüse, Obst und Eier sowie durch einen kleinen Milchverkauf aufbrachte.

In der Frühe schon war die Familie hinausgefahren. Mir hatte der Alte Arbeiten zugewiesen, die mich den Morgen über in der Schreibstube halten mußten; wenn es mich dann noch gelüste, möge ich gegen Abend nachkommen. »Ich halte Ihnen etwas Gutes zurück,« hatte Judith mir noch verstohlen zuraunen können; »aber mit dem frühesten Nachmittage müßten Sie draußen sein!« Und dann hatte sie noch, ohne eine Antwort abzuwarten, gefragt: »Würden Sie eine Jüdin heiraten?« und gelacht, als habe sie mein Ja, auch ohne daß es laut werde, und war den anderen nachgeeilt.

Die erste Post brachte mir einen Wertbrief aus der Hauptstadt, und der hätte mir, wäre Judith noch da gewesen, den Mut gegeben, sie vor dem Alten als teure Schwägerin zu grüßen und mit ihr durch das ganze Geschäft zu walzen. Denn der Großonkel schickte mir ein Sparkassenbuch auf meinen Namen über ein ansehnliches Sümmlein und schrieb dazu, das Geld sei für mein Studium. Ein junger Mann, der von aller Welt verlassen sei, gar nichts besitze und den ein so schönes Mädchen liebgewinne, das dazu die Tochter eines reichen Mannes sei und durch seine Abstammung weit mehr Kämpfe für diese seine Liebe zu bestehen haben werde als jedes andere, an dem müsse doch etwas sein. Und so mög ich sorgen, bald an ein Ziel zu kommen und ihn noch erleben zu lassen, daß ich Esther heimführe.

Mit dem neuen Besitze war meine Scheu, meine Bescheidenheit, all die aufgezwungene Demut dahin. Ich schickte einen Ausläufer, mir vom Universitätsreitlehrer einen anständigen Gaul zu besorgen. Und die Genossen meiner armseligen Zeit starrten verblüfft, als ich mich im Gewande des Edelknaben in den Sattel schwang, die Straße auf und ab ritt und dann auf dem schlanken Rappen davonstob.

Ich fand eine fröhliche, bunte Gesellschaft und freute mich an einem zärtlichen Blick, den Esther mir aus der Mitte lustiger junger Leute zuwarf. Meyer Moritz saß mit seiner Frau und zahlreichen Gästen unter schönen Bäumen, die den Hügel krönten. Judith war zum Stall gegangen, wo mir der Knecht den Gaul abnahm, gab einer Magd einen Auftrag und winkte mir dann in eine Laube. »Sie schauen so stolz darein,« forschte sie, »als hätten Sie das große Los gewonnen. Vielleicht gewinnen Sie es heute noch – wenn Sie wollen. Nochmals – antworten Sie mir aufrichtig – würden Sie eine Jüdin heiraten?«

»Antworten Sie aufrichtig,« erwiderte ich, »mag mich eine?«

»Eine?« fragte Judith und lächelte, indes plötzlich Tränen ihren Augen einen sehnsüchtigen Glanz gaben.

Sie war vor die Laube getreten und winkte nach dem Hause hinüber der Magd, die mit einem bunten Körbchen nahte. Und dann deckte sie den Tisch mit einer halben Ente, einem Salat von Kartoffeln, Tomaten und Kräutern und einem Fläschlein duftenden Weines und sah mir zu, wie ich mir alles wohl schmecken ließ.

»Wir haben noch ein Spiel vor, bei dem Sie mittun müssen!« berichtete sie. »Ohne Sie wird es gar nicht gewonnen werden.«

»Ich bin Ihres Vaters letzter Schreiber,« warf ich ein und sagte das wie ein Prinz, der sich darin gefällt, auf einem Bauernhofe die Sense zu schwingen, weil dort eine schöne Magd die Garben bindet. »Heute noch …«

»Und morgen?« meinte Judith und lächelte.

»Morgen?« wiederholte ich und dachte an meinen Reichtum. »Mit dem Abend kommen die Sterne.«

»So lange wollen Sie warten, mein Schwager zu werden?« forschte Judith, wollte lachen und fiel mir weinend in die Arme.

In der Wiese unten am Hügelhange stand die Geliebte inmitten lustig lärmenden Jungvolkes. Und als ich mit Judith nahte, ward verkündet, daß Esther den Weg zur Höhe hinanschreiten werde. Und wer es fertig bringe, ihr bis zum Ziele die Zöpfe nachzutragen, ohne ihr wehe zu tun, der solle dafür erkannt sein, daß er den Sprüngen und Launen eines Mädchens willig zu folgen vermöge, als begehrenswerter Hochzeiter ausgerufen und des zum Zeichen mit einem Kusse von der Königin dieses Spiels und ihren zwei Zeuginnen bedacht werden. Das waren zwei artige Fräulein im rosenbestickten Reifrock, weiß gepudert, in blauseidenen Strümpfen und weit ausgeschnittenen Goldschuhen.

Ein großer blonder Gesell in der Tracht eines fahrenden Scholaren machte den ersten Versuch. Er kam nicht weit; denn Esther tat plötzlich einen schnellen Schritt und griff dann mit einem leisen Schrei nach den gezerrten Zöpfen. Und ebenso ging's unter Gelächter einem Kreuzfahrer, als er über einen Stein stolperte, einem Bußprediger, als er sich zu weit zur Seite geneigt hatte, um mit einer der links und rechts geleitenden Zeuginnen zu scherzen, und gar einem Magister, der nicht schnell genug nachkam, als Esther sich beugte und eine späte Sternblume am Wiesenrande pflückte.

Dann war meine Stunde gekommen. »Wer ist das?« hörte ich hinter mir fragen. In diesen Kreisen von Söhnen und Töchtern reicher Bürger kannte mich keiner. Doch ich wog schon die schweren Zöpfe in den zitternden Händen, straffte mich, vernahm die Kettlein, wie sie in den Locken leise klirrten, die Perlenschnüre in dem geflochtenen Haar, und wandelte, das Herz heiß von der Flamme, die aus Esthers Augen auf mich niedergegangen war, dem langsam und vorsichtig hinansteigenden Mädchen behutsam nach. Ein Wölklein von Altweibersommer kam geflogen, nestelte sich an den Scheitel der Liebsten und schwebte, ein silberner Schleier, über den blauschimmernden Zöpfen. Das Licht floß an uns nieder, ließ alle Farben tief leuchten, die Wiese smaragden funkeln, und seine goldene Flut schien uns zu tragen, daß unser Fuß an keinen Stein stoße. So kamen wir zur Höhe. Schon wollte ich die Hand sinken lassen, als Esther noch einen kurzen Tritt tat und kokett den Kopf zur Seite neigte. Und während sie mir so die Zöpfe entriß, entfuhr ihr ein leiser Schrei. »Verloren!« kreischten die Zeuginnen. »O wie dumm!« seufzte Esther, und die Begleiterinnen sahen sich verlegen lächelnd an, als sie so ihr Geheimnis verraten hatte.

»Gut gemacht, gut gemacht!« jubelte Meyer Moritz seiner Tochter entgegen. »Man muß hübsch unten bleiben, junger Mann, wenn man nicht vom Pferde fallen will!« höhnte er und beleidigte mich mit verächtlichen Blicken.

»Ich bin aus einem Hause, wo man sich's leisten konnte, früh reiten zu lernen,« wehrte ich ihm, »und ich will es nicht vergessen, daß ich's gelernt habe.«

Das junge Volk war gelaufen gekommen, und alle standen sie auf dem Hügel. Und alle sah ich sie mit einem jener Blicke, die für immer und ewig ein Bild in unserm Gedächtnisse aufspeichern. Mich selber sah ich, getrieben von einem Zwange, stärker denn ich, zu beleidigen, wo ich liebte und wußte, daß ich geliebt werde. Blaß stand Esther neben der zitternden Schwester, der verlegenen Mutter, und die Goldmünzen um ihren Hals schütterten von dem ungestümen Atem. »Ich danke Ihnen, Fräulein, daß Sie sich vor mir bewahrt haben!« höhnte ich, sah befremdete Mienen, vermeinte ein verhaltenes Schluchzen zu vernehmen und schaute nicht zurück.

Der Gaul hatte noch den Sattel aufliegen. Ich schwang mich hinein, hörte kaum, wie mir der Knecht für den gespendeten Silbertaler dankte, und ritt davon. Auf meiner Kammer packte ich meine geringen Habseligkeiten in die gestickte Tasche, warf die Tracht des Edelknaben auf das armselige Bett und ging reisefertig auf die Schreibstube. Dort waren die Angestellten und Arbeiterinnen ohne Aufsicht und guter Dinge, und auch die Mägde des Hauses lärmten mit.

Als man mich so sah, reisefertig, war man verdutzt und schwieg neugierig. »Agnes!« rief ich der Magd, die mir gerne hätte gewogen sein wollen. »Von dem ganzen Gelichter hier sind Sie der einzige halbwegs anständige Mensch! Und dafür sollst du zum Abschiede geküßt sein, Mädchen!« Ich hatte sie umfaßt, und sie wehrte nicht, als ich ihren üppigen Mund suchte. Und dann packte ich meine Tasche fester, trat die Tür mit dem Fuße auf und stieg voll Wut und Schmerz die Treppe hinunter auf die Straße.

Als ich am Morgen in der Stadt mit dem Dome erwachte, lag der erste Schnee auf den Dächern. Ich hob ein Sümmlein ab von meinem Geld und bezog eine Hochschule hoch oben am Meer. Und Sommer und Winter sind manche seither gekommen und gegangen, ohne daß ich es vergessen hätte, wie ich hinter dem Mädchen den Hügel anstieg, dessen Zöpfe in den Händen, von Silberfäden überflogen, und die Liebesprobe übel bestand.

 

Schwestern

Schöne Jahre meiner Jugend habe ich auf einem Landsitze verlebt, der, von einer dichten alten Hecke weit umzogen, einen Hügel krönte. Unten am Hange duckte sich ein kleiner Bahnhof, wo die Bauern Obst und Vieh verluden, und jene Züge, die von einem Staat zum andern gingen, zwar nicht hielten, aber doch langsamer fuhren und uns in der Höhe daran erinnerten, daß es draußen eine unruhig treibende und drängende Welt gab, während es in unserer schönen Stille blühte, wuchs und reifte und jede Ernte wieder vielfältige Verheißung für ein neues fruchtbares Jahr war. Jenseits stieg ein Hang sanft empor, um dann jäh zu einer Waldschlucht abzufallen, woher wir im Dämmer Käuzlein und Füchse vernahmen, wo Wildenten, den Hals weit vorgestreckt, zu einer ergiebigen Futterstelle strebten und der Schrei eines Raubvogels an blauen Tagen Antwort suchte.

Auf diesem Bühl hatte ein verwitweter Fabrikherr sein Sommerhaus gebaut, und das bewohnte er mit zwei Töchtern und einer Magd. Er selbst hatte täglich in der Stadt zu tun und brachte, wann er nachmittags heimkehrte, meist Gesellschaft mit, so daß in der guten Jahreszeit das Leben gar fröhlich bei unsern Nachbarn laut wurde. Die Töchter waren Zwillinge, blühende Mädchen, eines braun, lachlustig, übermütig, von einer Stimme, die wie eine Lerche jubelte, eine Meisterin auf dem Klavier, das andere blond, zurückhaltend in Bewegung und Worten und dem Cellospiel ergeben. Und uns drei verbanden die kleinen Freuden des Landlebens: die Bäche durchstreiften wir nach Krebsen und Forellen, fanden die ersten Champignons wie Schneebälle in den smaragdschimmernden Wiesen, suchten die Bauernwirtschaften nach süßem Most ab und schleppten junge Hühner und Enten heim, die wir billig zu kaufen gewähnt hatten. Blumen banden wir bis in den tiefsten Herbst zu prangenden Sträußen, heimsten die ersten Kirschen und die letzten Nüsse ein, und Martha und Maria waren so die Vollendung meiner glückhaften Jugend.

Die lachlustige Martha zog die Gäste an, und da ihre Lustigkeit genügsam war, galt es irgendwo aufzusprießen, so gab es manchen jungen Mann, der da glaubte, sie meine es gerade mit ihm gut. So hatte sie viele Verehrer, und die störten mich, der ich es vorzog, allein mit den beiden Mädchen zu wandern, und für den Kreis, der sich um Martha sammelte, nichts empfand denn Unlust. Eifersucht war es kaum, was mich verdrossen und unwirsch erscheinen ließ, hatte sich das Mädchen den Hof machen lassen, und doch mochte mein Gefühl so erscheinen. Als ich erst dazu kam, gereizt durch die laute Lustigkeit Marthens, einmal abfällig über die Gesellschaft zu reden, mit der sie sich so vergnügt die Zeit vertreibe, da witterte auch das Mädchen das als Quell meines Unmutes und ließ sich verschämt gefallen, daß ich ihm Vorwürfe machte. Und als es eines Abends durch die Wiese zu unserer Hecke heranstieg, wo ein Läublein mit einem Sitze zu einem Auslug in die Ferne eingebaut war, und ich ihm, der ich oben wartete, zu den letzten Tritten die Hand reichte, fiel es mir mit einem Seufzer in die Arme, und wir küßten uns, indes ein grünschimmernder Mond hinter blaudunstigen Wäldern aufging, über der tauigen Wiese der Abendstern stand und im Winkel über uns eine Amsel, die in der Laube ihr Nest gebaut hatte, herniederblinzelte.

Maria wußte bald um unser zärtliches Einverständnis, und es war, als spiegele sie die Gefühle der Schwester, wann sie mich aus ihren leuchtenden Augen mit einer feinen Flut von Glanz und Licht übergoß. Und ich empfand nicht das Verlangen, mit Martha allein zu sein – mir würde Maria gefehlt haben, hätten wir ohne sie einen Weg machen sollen. So blieb es bei unsern gemeinsamen Fahrten durch Wiese und Wald, unsern Abenden unter den Sternen, unsern Dämmerstunden am Klavier.

Es war an einem schwülen Tage, daß wir zum See hinuntergestiegen waren, wo sich eine Halbinsel voll Ried und Schilf, mit einem Dörfchen hinter Wällen, die mit Pflaumenbäumen dicht bestanden waren, vorschob. Über dem weißen Sand stand der See im Widerschein drohender Wolken schwarzblau, und wir wateten in einem Altwasser nach gelben und blauen Lilien herum, wobei uns aber die Mücken bös zerstachen, so daß wir bald hinausschwammen. Wir hatten übermütig geplantscht, und Martha hatte sich zu einer schnaubenden Najade gewandelt, die alles zu überschütten drohte, was in ihre Nähe kam, als sie von einem Augenblick zum andern über Mattigkeit und Frost zu klagen begann. Ich glaubte an einen ihrer Scherze; aber dann sah ich ihr bleiches Gesicht, wie es kleiner geworden erschien und seltsam fremd anmutete, und da überfiel mich die Angst. Das Mädchen zierte sich keinen Augenblick, als ich es drängte, sich meinem Rücken anzuvertraun. So kamen wir ans Land, wo ein Verschlag die Kleider der Badenden bewahrte, und dort mußte Maria die Schwester führen, die ein Frost schüttelte und schüttelte, indes die Schwüle über dem Schilfe lastete, jagende Schwalben an unserm Gesicht vorüberschossen und ein erster Strahl eine Wolke zerriß. Von einem Unterstand jedoch wollte Martha nichts wissen. So stiegen wir, indes Regen um Regen über uns herstürzte, die Blitze über unsern Weg fuhren, Bäche uns entgegenschwollen und Geröll und Geschiebe unsern Schritt beschwerten, bergan. In der Finsternis sahen wir uns, die wir enggedrängt zusammengingen, nur, wann das Feuer einer Wolke herabfuhr, und dann war Marthens Gesicht mir für einen Augenblick wie eine weiße Maske unheimlich nahe.

Ein schlimmes Fieber peinigte das Mädchen wochenlang, und der Arzt wußte keinen Rat, um das Gift, das ein Insekt ihm tückisch eingeimpft, zu überwinden. Es war, als müßte jene Martha, die bisher keine Schmerzen gekannt, für ihre fröhlichen Jahre mit Wucherzinsen nachzahlen. Größer wurden ihre Augen, und ihre Blicke gingen über uns weg, als schaue sie schon ein anderes Reich. Und dann kam ein Morgen, daß Maria mir, der ich gerade in die Laube getreten, wo mir Martha in die Arme gesunken war, mit einem Tüchlein winkte, das sie von den Augen gezogen. Ich fand sie in Tränen: Martha will sterben …

Die junge Sonne war in der Kammer, wo Martha lag und uns verloren anschaute, als wir Hand in Hand vor ihrem Bett in die Knie sanken. Und dann wandte sie langsam den Kopf und schloß die Augen, die so froh die holde Fülle der Erde gespiegelt, für immer. Eine Sense rauschte irgendwo durch das Gras, ein Hund bellte fern, ein Hahn krähte und fand Antwort hinter den Hügeln.

Es war ein schöner blauer Tag im reifen Sommer, da wir Martha ins Grab legten. Alle, die des Mädchens Fröhlichkeit geliebt hatten, waren gekommen, versucht zu glauben, daß es übermütig unter sie treten und triumphieren müsse: Ich habe doch noch den Tod besiegt, freuet euch, Freunde! Aber da war der Sarg, den man noch nicht geschlossen hatte, und sie alle sahen es, das Werk, das der Tod verrichtet. Ein kleines wachsbleiches stilles Gesicht, einen letzten schmalen Schimmer von erloschenen Augen, einen blassen müden Mund, alles der Abwehr voll: Lebt wohl, ich habe nichts mehr mit euch zu tun …

Im weichen Gras am Fuße unseres Hügels, wo der Weg zum Sommerhause vorbeiführte, lag Kranz an Kranz gereiht. Der Totenwagen wartete dort, und die barfüßigen Dorfkinder waren um eine weiße Fahne mit einem schwarzen Kreuze geschart. Der Pfarrer kam mit den Chorknaben – er sprach ein Gebet über dem Sarge, der im Garten niedergestellt war. Und dann öffnete sich noch einmal das Pförtlein vor Martha, und sie ward hinübergetragen zu der letzten Fahrt. In der goldenen Sonne ging der Zug dahin. Blaue Schleier hingen in den Wäldern, in den Wiesen klingelten die Herdenglöcklein, und der Duft reifenden Obstes lag auf unserem Weg. Unter einem jung strebenden kronenstolzen Baume war des Mädchens Grab bereitet, auf dem Gottesacker, der sich, von der Dorfkirche behütet, zu einem Tälchen neigte, wo noch ein Anhänger des Alten den letzten Weinberg pflegte.

Wir hörten das Totenamt in der Kirche, grüßten noch einmal das Grab, wo sich schon ein Hügel wölbte, besprengten ein jeder mit geweihtem Wasser die blumenbedeckte Stätte, und dann ging ich als naher Nachbar mit zur Klage ins Haus der Entschlafenen. Dort hatte Maria einen Tisch zu einem Imbisse hergerichtet, und ich empfand, daß auch aus dem alten ländlichen Brauche eines Totenmahles jene weise Erkenntnis von den Notwendigkeiten des Lebens spricht, wie sie unsern Altvordern eigen war. Die Hinterlassenen müssen so mit den Augen, die nur das Unwiederbringliche noch schauen möchten, um sich blicken und gewahren, daß sie noch verkettet sind mit allen, die da auf der Erde leben, daß der Tag sie fordert, daß ihre Arbeit, ihre Pflicht sie verlangt, daß all das Kleine und insgesamt doch oft so heldenhaft Große nach wie vor erfüllt sein will.

Es war, als fürchte sich Maria vor der Stille, die jäh über sie hereinbrechen mußte, waren die Gäste erst gegangen. Sie hielt sich zusammen, so lang es nur anging, und lächelte und brachte es gar da und dort zu einem Scherze. Doch erstaunte darüber niemand, sie fühlten alle, was das Mädchen bewegte.

Der Sommer ging mit einem Gefolge goldener Tage dahin, der junge Herbst blühte und leuchtete, und seine Abende hängten silberne Schleier über die Wege und brachten frühe Sterne. Eine Wandlung war über Maria gekommen. In die Stadt mochte sie noch nicht, obwohl der Vater drängte, den Sommeraufenthalt zu kürzen. Doch empfand sie die Einsamkeit des Hauses, wo Martha nicht mehr weilte, seine Stille, wie die Nähe eines Grabes. Und sie bewog den alten Herrn, sich Gäste nicht zu versagen und solche wie bisher mit hinauszubringen. Wenn die Lustigkeit auch nicht mehr so laut war, wenn für den Verlust noch ein frisches Grab zeugte, so ließ Maria, die vordem so Stille, Schweigsame, doch keine Schwermut aufkommen. Fröhlich empfing und bewirtete sie, und auch ich, wann ich sie suchte, wann ich allein mit ihr alte Wege ging, fand ein Mädchen, das plauderte und scherzte. Und mit Augen nahte es mir, die kündeten, daß es geneigt war, auch meinem Herzen die Schwester zu ersetzen. So begab es sich, daß Maria mir an einem Abend dort, wo ich auch Martha die Hand gereicht, beim Aufstieg zur Laube in der Hecke, in die Arme fiel und wir uns küßten.

Der ich aber das schöne Mädchen mein nennen durfte – ich empfand eine leise Sehnsucht, es so zu besitzen, wie es gewesen war: still, schweigsam, zurückhaltend, beredt nur durch einen Blick, der aufglänzte, ein Lächeln, das leuchtete. Und gemach, wann Maria mir nahe war, begann ich gequält nach der von ehedem zu suchen, und ich hatte Augenblicke, daß ich erschreckt vor der Fröhlichkeit der Geliebten zurückwich – bald in der Ahnung, sie habe einen Raub an der toten Schwester begangen, bald im Gefühle, nicht Maria weile bei mir, sondern die Gestorbene. Keine Ruhe habe sie im Grabe und sei auferstanden für eine Stunde und locke mich auf ihren Weg, daß ich mich neben sie bette in die kühle Erde. Und wann Maria spürte, daß solche Unruhe über mich kam, suchte sie mich mit den lustigsten Scherzen aufzuheitern, ward ausgelassen, und die wir uns nahe schienen, wurden uns fremd.

So nahte der erste Schnee, und der Alte verlangte, daß Maria endlich den Sommerhaushalt aufgebe und dem in der Stadt vorstehe. Und an einem Morgen, da der Nebel naß in der Wiese stand und die Hecken wie graue Wälle im Dunst vergingen, hatte ich Maria zur nahen Bahn geleitet. Der Zug kam langsam vom See her geklommen. Leute aus dem Dörflein, die ihr Brot in der Stadt hatten, drängten in die Wagen, und noch wartete die Freundin. Da küßte ich sie, die still und schweigsam war. Aus dem Fenster grüßte sie noch einmal zu mir hernieder, ein zärtliches Leuchten in den schwermütigen Augen, ein Lächeln um den Mund, ohne Worte. Und mir war, jene Maria, die voreinst gewesen, sei noch einmal auferstanden, ein schöner Schatten, und vergehe wieder in Nebel und Nacht. Ich hörte den Zug noch, als ich ihn längst nicht mehr sah. Um das Haus ging ich herum, wo die Mädchen gewohnt, wie es verlassen dalag mit geschlossenen Läden. Die Glocke ließ ich spielen, lauschte, wie sie schrillte, ob sie nicht einen beschwingten Fuß wecke, daß er eile und die Freundin mich einlasse. Und wieder tat ich so und wieder, und dann kam eine Angst über mich, ich wecke Gespenster, und scheu schlich ich davon.

Eine Furcht, ich möchte jene stille Maria nicht mehr finden, die mir zum Abschied noch einmal erschienen, bedrängte mich, wann ich mich anschicken wollte, das Mädchen in der nahen Stadt zu besuchen. Und so gingen Wochen hin, und die Sehnsucht quälte mich, daß ich hinauslief, Marthas Grab zu schaun. Und das mehrte nur meine Scheu vor jener Maria, die sich von der Toten die Lust und das helle Lachen für ihr Leben genommen. Sie konnte ich nicht sehen, um so heißer mein Verlangen nach jener war, die so still und schön neben mir hergegangen und der, das wußte ich jetzt, einzig meine Liebe gehört und immer gehört hatte.

Und ich fühlte auch, daß es Mariens Stolz nicht zuließ, zu fragen, weshalb ich sie meide, daß eine Mauer zwischen uns wuchs, nimmer zu durchbrechen. Und als im Vorfrühling die Post einen breiten offenen Brief brachte, von ihrer Hand geschrieben, da wußte ich, was er, schön gedruckt, anzeigte: des Mädchens Verlobung. Der Name des Mannes war mir bekannt, da eines der alten Handelshäuser der Stadt, das überseeische Geschäfte machte, ihn führte.

Von Verwandten im Norden war ich schon lange eingeladen worden, und so überraschte ich die Eltern durch das plötzliche, ungestüme Verlangen nach einer Reise. Und als ich nach einem Vierteljahr heimkehrte, war Maria schon verheiratet und mit ihrem Manne, der irgendwo in den Tropen das alte Haus vertrat, auf der Meerfahrt. Ich vernahm, daß der Alte schlecht spekuliert und verloren und daß ihm die Heirat seiner Tochter wieder über Wasser geholfen habe.

Ein Jahr mochte verflossen sein, als ich ihn einmal, der das Sommerhaus seither nicht mehr bezogen hatte, in der Stadt traf, wo nach altem Brauche seine Geschäftsgenossen eine Börse an einem belebten Platz unter freiem Himmel hielten. Sein Gesicht leuchtete ein wenig vom Weine, den er liebte, während sein gepflegter ausgezogener Schnurrbart weiß flimmerte.

»Wie geht es Ihnen?« forschte er. »Wir haben es bedauert, daß Sie nicht an Mariens Hochzeit sein konnten und sich damals am Meere erholen mußten. Ihr geht es gut – ich habe gerade ihr Bild bekommen – da, schauen Sie!«

Er zog seine Brieftasche hervor und zeigte mir das Bild der Fernen, einer schönen, ernsten Frau. Die Augen hatten die geheimnisvolle Schwermut jener Maria, die ich gekannt hatte, als Martha noch um uns war. Sie war auferstanden, sie, die ich geliebt. Auferstanden aus Tagen, da sie meinem Herzen die Nächste gewesen, ohne daß ich darum wußte. Und als ich dem Alten das Bild zurückgab, da war mir, ein schöner Schatten wandle zwischen Gräbern dahin, schaue noch einmal auf und grüße, lächelnd und doch voll Trauer, und die Sonne sinke und mein Herz schlage einsam in die Nacht.

 

Mummenschanz

In einer kleinen Stadt war's, die eine alte Universität unterhielt, daß ich in eine Landsmannschaft geriet, wo sich die wildeste Jugend austobte. Kaum ein schöner Tag verging, daß wir nicht auf irgendein Dörflein hinauszogen, um in einem Wirtsgarten zu zechen, und manche Sommernacht sah uns heimkehren, wann schon die Hähne den Morgen ausriefen und das nahende Licht des neuen Tages die Wege silberte.

Ein Dörflein gab's, das wir auch dann aufsuchten, wenn die Ungunst der Jahreszeit andere Gäste fernhielt. Dort lockte eine Landbrauerei mit einem alten heimeligen Gasthof, wo jede Jahreszeit ein besonderes Bräu brachte und eine derbe Kochkunst überreich für alle Bedürfnisse unseres opferwilligen Magens sorgte. Eine Tochter war im Hause, die der Küche vorstand, ein langragendes flachsblondes Mädchen, das wir nicht höher ehren konnten, als wenn wir uns zu einem Schlachtfeste einluden und für billiges Geld einpackten, als müßten wir uns für etliche Wochen im voraus versehn. Unser aller Verehrung war mit der Schönen, und, soweit es bei lockeren Gesellen möglich war, behandelten wir die stattliche Frieda als Dame. Eine Neigung hatte das Fräulein: es las gern rührselige Geschichten. Und da wir selber noch in dem Alter waren, wo einem bei allem Übermut die Tränen so locker sitzen, daß man sie über Sentimentalitäten verschwenden mag, so fühlten wir mit unserer Gastgeberin und stöberten an altem und neuem Geschreibsel, die Augen zu nässen, zusammen, was in den staubigsten Winkeln moderte, und unsere Betriebsamkeit hätte ein Kollegium von Bücherläusen neidisch machen können.

In der Fastnachtszeit war's, daß wir wieder einmal ein Schlachtfest überwunden hatten und gerüstet waren, ein neues zu bestehn. Und zum Zeichen des Dankes für alle Guttaten, die ihre Kunst uns unermüdlich spendete, planten wir, unserer Gönnerin Frieda zum Namenstag ein Geschenk zu machen, das ihren romantisch phantastischen Neigungen schmeichle. Wobei wir auf den Gedanken verfielen, die schöne Frieda sei schließlich auch ein Mädchen in jenem Alter, da das Herz nach einem aufrichtigen Liebhaber verlange. Und alle unter uns, die bereit seien, nach bestem Wissen und Gewissen ein solches Amt auszuüben, mögen sich vereinigen und das Los ziehen. Und wen's treffe, den wolle man in ein buntes, der Fastnacht angepaßtes Gewand stecken und, so gewandelt, in eine sorglich ausgepolsterte Schachtel packen mit einem Herzchen und der Inschrift auf dem Deckel: »Vivat Frieda!« und dem Mädchen dieses Geschenk ins Kämmerlein stellen.

Wir glaubten uns alle zu einer solchen Sendung berufen, und so zogen wir denn, die ganze Bruderschaft miteinander, das Los. Und das Glück wollte mir wohl: ich machte den Treffer und zog von zwölf von einem Weihnachtsbaum übriggebliebenen Kerzlein das längste, ein blaßblaues mit goldenen Blümlein. Das geschah, während wir gedrängt in der Kneipe unserer Landsmannschaft zusammenhockten, einem schmalen, dunklen Raum, wo wir notdürftig Platz hatten und bei Tage eine Lampe brennen mußten. Da sie von dem Wirtsgesinde schlecht geputzt wurde, ereignete es sich in diesem Augenblick, daß sie sich, was ihr bisweilen in den Sinn kam, stürmisch gebärdete und mit einem Puff einen Satz zur Decke machte, wieder in ihren Ring zurückfuhr, über diesen Sprüngen verlosch und nur noch durch Qualm und Gestank kündete, wo sie zu suchen war. Und als sie wieder glomm und glostete, ward ich als Sieger erkannt und ungesäumt zu einem Maskenverleiher geschleppt, daß er mir das Maß zu einer Pagentracht nehme: schwarzseidenen Kniehosen, grünem Schoßrock mit weißem Mieder, wozu dann noch blaue Strümpfe mit Schnallenschuhen, ein schwarzes Samtbarett, Spitzenhemd und ein Zierdegen kamen.

Also ward ich eingekleidet und gestriegelt und geschniegelt in eine starke, gut gefütterte Schachtel gelegt, auf deren Deckel in einem rotwandigen Herzen in Goldschrift zu lesen war: Vivat Frieda! Rundherum waren silberglänzende Ösen, wie zum Zierat eingeschlagen, wodurch ausreichend Luft hereinkam. Zwei Dienstmannen waren aufgeboten worden, und die warteten schmunzelnd, bis ich mir es in der Schachtel bequem gemacht hatte, um sie sorglich aufzupacken und auf einen Wagen zu tragen. Das letzte, was ich sah, war das Gesicht eines langen Genossen, eines schwerblütigen und schweigsamen Gesellen, der verschmitzt auf mich herablächelte und tiefsinnig meinte: »Überrasche, wenn du überrascht sein willst!« Dann spürte ich, daß ich mit dem Wagen davonrollte und das Geräusch der Stadt um mich herumbrandete und wieder seltsam fern von mir verging. Und dann waren die Stimmen der Dienstmänner mir wieder nah, in Finsternis ging's hinein, wieder stahl sich Licht in mein Verlies, und ich vernahm, während ich fühlte, daß die Schachtel niedergesetzt worden war, wie eine helle, klare Mädchenstimme erstaunt fragte: »Für mich soll das sein?«

Ein Gespräch entfernte sich, und ich lüftete leicht den Deckel, der innen von etlichen Häkchen gehalten ward. Und dann war ich mit einem Satz aus der Schachtel; die Stimme, die ich vernommen, war mir fremd, und ich wußte, daß mir die Landsmannschaft einen Streich gespielt und mich bei einer Unbekannten hatte absetzen lassen. Die Kammer, die ich jetzt schaute, konnte niemals der Frieda vom Dorfgasthaus eigen sein. Eine schöne Lampe stand etwas erhöht neben einer Nähmaschine, eine Insel in einer wahren Flut von Weißzeug. Auf einem Tisch duftete in einem bunten Kruge ein Strauß schöner Rosen; ein Lehnstuhl stand neben einem Vorhange, hinter dem das Messinggestäbe eines Bettes hervorblitzte. Überrasche, wenn du überrascht sein willst! Jetzt wußte ich das verschmitzte Lächeln des Langen zu deuten, und ich sah mit einem Male, was ich vorher kaum beachtet – hundert kleine Zeichen eines heimlichen Einverständnisses zwischen ihm und der Frieda vom Dorfe. Und zürnen durfte ich ihm nicht, der gesorgt hatte, daß ich nicht in der Kammer seines Mädchens gelandet war.

Ich hatte eilig den Deckel auf die Schachtel gestülpt, an mir heruntergestrichen, und schon ging die Türe, und ein zierliches Mädchen trat ein, weiß gekleidet. Ein paar große Augen starrten mich aus einem vom plötzlichen Schrecken bleichen Gesichte an, in dem nur der Mund rot leuchtete. Goldene Ringel lagen um Stirn und Schläfen, und das Licht spielte in schimmernden Fünklein um den edlen Kopf.

»Erschrecken Sie nicht, Fräulein!« bat ich. »Meine Freunde haben sich einen Streich herausgenommen – bitte erschrecken Sie nicht! Ich führe nichts Böses im Schild und werde Sie sofort verlassen, wenn Sie mir sagen möchten, daß Sie mir die ungewöhnliche Art, Sie kennengelernt zu haben, nachsehen wollen …«

Eine helle Röte war in dem Gesicht des Mädchens aufgeflammt. Und dann begann ein Feuer in seinen Augen aufzuleuchten, zärtlich, innig, eine holde Wärme strahlte auf mich über, und die lieblichste Stimme kündete mir: »Verleugne dich nicht! Ach, ich bin so froh … Voll Heimweh bin ich nach dir gewesen, so voll Heimweh! Ein Säckchen mit Safran habe ich mir unter das Kopfkissen gelegt, um nachts nicht weinen zu müssen. Aber jetzt muß ich's wegtun – die ihren Liebsten gefunden hat, und es dennoch braucht, bei der wirkt's so stark, daß sie sich zu Tode lachen muß. Lachen möcht ich schon – du! Aber ich möcht doch leben, leben, leben! So gern …«

Das Mädchen war mir um den Hals gefallen und küßte mich, und alles um mich herum war ein süßes Feuer, und die dunkle Wirrnis und Wildnis meiner Jugend war von mir gewichen, und beseligt stand ich und schaute Wege ins Licht.

»Du magst noch scherzen, daß ich nicht erschrecken möge!« schmollte das Mädchen, das mich in den Lehnstuhl gedrängt hatte und mir auf dem Schoße saß. »›Vivat Frieda!‹ steht da auf der Schachtel. Du hast wohl gemerkt, wie ich dir aufgelauert habe, Tag für Tag. Und doch hast du's übers Herz gebracht, bis zu meinem Namensfeste zu warten! Ach, könnt ich's aushalten – ich würd's machen wie du und bis zu deinem Namensfeste warten, eh ich dir ein Küßlein gönnte!«

Und wieder blühte mir der Mund des Mädchens zu, und über seinen Küssen stürzte ich in meiner Erinnerung alles um und um, zu ergründen, ob ich das je gesehn, was auf mich gewartet haben wollte. Aber was ich so vertraut nahe fühlte, das war mir bis zur Stunde fremd gewesen. Und schon wollte ich mich, von dieser Zärtlichkeit in allen Tiefen aufgewühlt, offenbaren, ihm gestehn, daß eine seltsame Ähnlichkeit es getäuscht haben müsse, auch wenn ich mein Leben dafür geben möchte, der zu sein, den es in mir sehe, als es weiter plauderte:

»Wie oft hab ich hinter der Gardine gestanden, wenn du deinen Abendgang machtest! Und einmal habe ich gar ein Brieflein flattern lassen. Aber es ging über dich weg ins Wasser …«

Ins Wasser … Ich hatte die Gewohnheit, gern einen Leinpfad zu gehn, der sich am Kanal hinzog, wo sich Lastkähne aus Nord und Süd begegneten. Die Stadt hatte dort ihre letzten Häuser, und so wußte ich jetzt, wo ich war. Und dann war mir auch ein Abend nah, da ich einem Papierlein nachgeschaut hatte, das von einem hohen Stockwerk her in die goldene Dämmerung geflogen gekommen, einem schneeigen Vogel gleich, sacht auf dem grauen Wasser niedergegangen und, schimmernd steigend und verlöschend versinkend, langsam davongeschwommen war. Kinderspiel hatte mich das gedünkt, und eine zärtliche Botschaft war es gewesen.

»Und was stand in dem Briefchen?« forschte ich.

»Die Stunden gehen ihren Gang:
Wer liebt, der warte nicht zu lang,
Der frag sein Mädchen früh am Tag,
Ob's ihn zum Abend küssen mag,
Frag in der Früh mit einem Kuß,
Wie oft er's abends küssen muß,
Und macht's ihm abends keine Müh,
So küß er wieder in der Früh
Und frag es, ob's ihn über Tag,
Ob's ihn zum Abend küssen mag,
Und küsse froh und wart nicht lang –
Die Stunden gehen ihren Gang.«

Das Mädchen hatte das mit der lieblichsten Schelmerei vorgetragen. Und als ich so vernahm, wie es wirklich auf mich gewartet, hatte ich nur eine Furcht, daß es mir wieder entgleiten möchte, wenn es ahnen könnte, ich habe es bis zur Stunde nicht beachtet. Und ich log nicht, als ich berichtete, wie ich dem Papierlein lang nachgeschaut und geträumt habe, so könne wohl Botschaft eines liebenden Herzens ausgehn und bei irgendeinem angetrieben werden, der im grünen Klee liege und an diesem goldenen Abend an ein fernes weißes Mädchen denke.

»Es war so nah!« lächelte mein Schätzlein. »Die Stunden gehen ihren Gang: wer liebt, der warte nicht zu lang! Du hast ein wenig lang gewartet; aber jetzt, da du es gewagt hast und als Namenstagsgeschenk dich selber gebracht, da soll's noch zeitig genug sein. Einen ganzen Frühling haben wir vor uns, und ich weiß, wo Veilchen blühn. Das dauert nimmer lang, und dort hinaus machen wir unsern ersten Sonntagsgang. Allein zu zwein …«

Und so geschah es, daß mir die Sonne zu jedem neuen Tag aufging als eine Verheißung neuer Bereicherung und die Sterne mir nahe waren wie goldene Blüten an einem Baum, der uns zu süßer Rast in seinen Schatten lud. Die ersten Veilchen fanden wir unter einer alten Hecke, indes eine Wolke von Staren von einer Wiese her einfiel, lärmte, wieder davonstob und uns mit unserer holden Stille allein ließ. Und jeder Sonntag dieses Frühlings sah uns so auf der Wanderschaft. Mein Mädchen, ein Dorfkind, die Tochter eines früh verstorbenen Lehrers, kannte jeden Baum und jede Blume, wußte um Gesang und Genist der Vögel, witterte Fuchs- und Dachsbauten trotz einem Hündlein, störte die Krebse unter den Steinen im Bache auf, und wo eine Forelle unter hangendem Bord stand, spürte es den Fisch und hatte eine feste Hand, ihn zu greifen. Die Erde war unser, und unsere Träume hatten darauf viele Siedelungen.

Nach dem Dörflein ihrer Kindheit hatte Frieda ein starkes Verlangen, um so stärker gerade deswegen, weil ihr, der früh Verwaisten, dort niemand Verwandtes mehr lebte. Als geschickte Weißnäherin und Stickerin hatte sie in der Stadt ein gutes Auskommen, und davon hatte sie hübsch gespart, in der Absicht, im Heimatsdorf ein Häuslein zu erwerben und dort einen Laden für Weißzeug aufzutun und zu nähen und zu sticken, was vorkäme. Gerade an jenem bedeutsamen Namenstage war ihr eine gute Gelegenheit geboten worden, mit einer kleinen Anzahlung ein solches Besitztum zu erwerben, und seither hatte ich mit ihr rechnen müssen, ob sie auch dann auf ihre Kosten komme, wenn sie das Häuschen übernähme und vorläufig den derzeitigen Mieter darin lasse. Denn, meinte sie unter Küssen, ihre Heimat sei fortan dort, wo ich weile. Das Häuschen aber habe ein paar vorige Kammern, wo man über die Ferien fröhlich hausen könne. Und da sich die Zahlungen günstig verteilen ließen, so kaufte meine fleißige Schöne vorsorglich eine Heimstätte.

Vor meinen Landsmannschaftern verbarg ich meine Liebe, und ich hatte eine abweisende Miene aufgesetzt, als sie mich ausforschen wollten, wo ich abgelegt worden sei. Auf einem Schildchen habe einer im Vorübergehen gelesen: »Frieda Liebeskind, Kunststickerin«, und da seien sie übereingekommen, mir zu Fastnacht eine besondere Überraschung zu bereiten und mich bei einer zweiten Frieda einzuführen, da ich die draußen in der Wirtschaft ohnehin kenne und einem jungen Mann nichts förderlicher sei als der Ausbau einer ausgebreiteten Damenbekanntschaft. Worauf ich diplomatisch herumtastete, da sie diese zweite Frieda wohl kennen, werden sie wissen, daß die, den Jahren und dem Gehaben nach, keinen jungen Mann reizen könne, ihretwegen seinen Bekanntenkreis zu bereichern. Habe man mir einmal einen Streich spielen wollen, so hätte man doch gnädig sein und mich bei einer Frieda ablegen sollen, der ich mich gerne als Namenstagsgabe gewidmet hätte. Aber …

Lachend und neugierig fielen sie über mich her, um zu erfahren, an welchen Unhold ich geraten sei. Und da ich so merkte, daß sie nichts von meiner Liebsten wußten, log ich drauflos und schilderte einen Greuel, daß mich schließlich der Lange mit Augen ansah, in denen der Zweifel lauerte. Und ich spürte, daß ich mein Lügenrößlein zu weit hatte laufen lassen, und suchte zurückzulenken. Schließlich sei auch für den verbeultesten Brummkessel noch ein passender Deckel auf der Welt, und wenn etwa er sein Heil dort versuchen wolle, wo mir die Eignung abgegangen … Den Teufel tu er, knurrte der Lange. Aber der Zweifel, so schien mir, wich nicht aus seinen Augen. Und um ihn und die Landsmannschaft von der Spur zu halten, zog ich jede Woche einmal mit hinaus zu der Frieda auf dem Dorfe draußen und tat auffällig, als bemühe ich mich um das Mädchen. Es schmeichelte mir nicht wenig, als es mein Schöntun schließlich als eine angenehme Huldigung zu erwarten schien und ich dadurch, wie ich bald herausfühlte, den Langen verdroß, der sich indes, kühl und schweigsam, wie es seine Art war, durch kein Wort verriet.

Eins zwar mußte den Genossen auffallen: daß ich die Sonntage nicht mehr in ihrer Gemeinschaft verbrachte und von der Kneipe, die sie an den Samstagen bis in den Morgen hinein dehnten, wegging, wie, so spotteten sie, ein Wächter, der vor Mitternacht alle Laternen zu löschen hat. In der Frühe zog ich mit meinem Mädchen aus, indes sie bis zu Mittag ihren Rausch ausschliefen, und wenn wir abends spät heimkehrten, den Würzduft der Wälder und Wiesen in Kleid und Haar, lärmten sie wieder trunken in irgendeinem Wirtshaus den Tag zu Tode. Forschten sie dann über der Woche, wo ich den Sonntag verbracht, so berief ich mich auf einen Arzt, der mir befohlen habe, weite Fußwanderungen ins Land hinaus zu machen und dabei mäßig oder gar nicht zu trinken. Wenn sie gewußt hätten, welchem guten Heilkünstler ich folgte! Doch schienen sie mir zu glauben, bis auf den Liebhaber der Frieda vom Dorfe, der zwar kein Wort verlauten, dafür aber seine mißtrauischen Augen sprechen ließ. Und das trieb mich aufs neue an, ihn irrezuführen, seinem Mädchen schönzutun und mich zu gebärden, als mühe ich mich um dessen Gunst.

Es begab sich an einem warmen Tage, da der Flieder seine Trauben über alle Wege hängte, daß ich mit meinem Mädchen in einem Landgasthof eingekehrt war, an dem um jene Zeit kein Pärlein vorüberging, ohne andächtig von einer dort springenden Schwefelquelle gekostet und den greulichen Geschmack mit einem Schluck guten Weines getilgt zu haben. Im goldenen Abend ward auf dem leuchtenden Rasen getanzt, und mein Liebchen lag mir mit halbgeschlossenen Augen, den Mund leicht geöffnet, im Arm, indes über seinem weißen Gesicht die Schatten des Laubwerkes zu unsern Häupten wie zarte Wölklein hingen.

Ein Gartenhäuschen nahm uns auf, und wir konnten uns nicht genug küssen, als ein neues Paar die heimliche Stätte suchte. Es zauderte, da es uns bemerkte. Doch da lief ein Lachen über das Gesicht des Mannes, und er grüßte froh: »Du bist es?« Es war der lange Landsmannschafter mit der Frieda vom Dorf. Als die mich so mit einem Mädchen sah, ward sie bald blaß, bald rot, und dann tat sie aufgeräumt, schmiegte sich eng an ihren Begleiter und riet lustig, da zwei heimliche Liebespaare einander so entdeckt haben, müsse man diesen Fund mit einem guten Tränklein feiern. Ihr Geliebter ließ denn auch ungesäumt eine Bowle anfahren, als habe er die ganze Landsmannschaft zu Gaste. Und als wir auf unsere Liebe anstießen, meinte er mit einer Verbeugung zu meinem Mädchen hinüber, da ich eines so reizenden Fräuleins Herz gefunden, müsse ich ihm, den ich doch wohl als Urheber des mir gespielten Streiches mit Recht im Verdacht habe, Dank wissen, daß er mir auf den rechten Weg zum Heile verholfen. Mein Lieb sah ihn fragend an, und so berichtete er, wie und warum man mich in eine Schachtel gepackt und an die falsche Adresse abgeliefert und wie ich zur Nacht, da ich eines andern Mädchen zu stören versucht habe, an einen wahren Greuel geraten sein müsse.

Die Frieda vom Dorf hatte ausgelassen gekräht, als sie vernommen, daß ich mich ihr als Namenstagsgabe zugedacht gehabt hatte, indes mein Mädchen über dem Berichte bleich bis in die Fingerspitzen geworden war und sich mühselig zu einem Lächeln zwang. Wieder und wieder ließ es sich das Glas füllen, trank und lachte laut, um plötzlich zusammenzuknicken und herzbrechend zu weinen. Mit Mühe brachte ich's zum Bahnhof und in einen Wagen, wo wir allein waren. Und in dieser wohltuenden Abgeschiedenheit ward es dann stille, um mich plötzlich mit der Frage, die es marterte, zu überfallen: »Ist es wahr … Hast du mich nie früher beachtet … Hab ich mich dir an den Hals geworfen?«

Am Bahnhof vor der Stadt stieg es eilfertig in einen Straßenbahnwagen, der in die Vorstadt hinausfuhr, und winkte mir abwehrend, als ich mich auch noch auf die überfüllte Plattform drängen wollte. Und dann sah ich ein weißes Gesicht über mir, ein Paar Augen, die mich anstarrten, als können sie nie und nimmer begreifen, daß ein Trugbild sie getäuscht. Goldene Lichter sprangen auf, Schatten stießen hinein, das weiße Gesicht leuchtete, war von Finsternis bedrängt, und verzweifelt stürzte ich dem Wagen nach, der noch knirschend und kreischend von sich kündete, als ich ihn längst nicht mehr sah.

Wir hatten es im Brauch, uns nur Sonntags zu sehn, um nicht – wie mein Mädchen demütig und doch entschieden geraten hatte – gar zu arg von unserer Arbeit abgehalten zu werden. Und als ich es am nächsten Sonntag wagte, Frieda wieder aufzusuchen, und vor der Türe wartete, wo sie gewohnt war, mir festlich geschmückt entgegenzulächeln und mich zu einem vorsichtigen Kuß in den Hausgang zu ziehen, da blieb ich allein. Das Fräulein sei verzogen, belehrte mich schließlich eine mürrische Alte, der mein banges Gesicht aufgefallen zu sein schien und die ich, als sie mich mißtrauisch musterte, nach der Stickerin gefragt hatte. »Sehen Sie nicht, daß das Schildlein verschwunden ist!« belehrte sie mich unwirsch. Und dann, als sie merkte, wie's mir zu Herzen ging, tröstete sie nach ihrer Art: »Machen Sie's einem andern Mädchen schlecht, hat Ihnen Ihre Herzallerliebste nicht gut getan! So gleicht sich alles aus.«

Die Stadt war mir verleidet, samt meiner Landsmannschaft, und ich bezog zum Herbst eine andere Universität. Und es war um Weihnachten, daß ich ein Brieflein nachgeschickt bekam, an meine alte Adresse gerichtet, worin mir Frieda schrieb: »Ich hab wieder ein Safransäckchen unter meinem Kopfkissen, und mir scheint, es gibt keinen echten Safran mehr, so wenig will's helfen. Ein Mädchen aber muß heiraten, will's Gott gefallen. Da ist ein rechter Mann in meiner Heimat, der mich darum gefragt hat, und ich hab ihm zugesagt. Dir habe ich wohl unrecht getan, daß ich zuviel von Dir verlangt. Das mußt ich Dir sagen und Dir danken, daß ich Sonntag in meinem Leben gehabt. Vergiß mich denn, die einst ich war. Deine Frieda.« Die einst ich war …

 

Die Erbin

Unweit meiner Heimat lag am See ein altes reiches Städtchen, das unter der Sonne durch Wälder von Obstbäumen weiß zu unserem Hügel herüberleuchtete, im Abendschatten verging, aus dem Dämmer aufs neue als ein goldener Kranz erblühte, der wieder gen Mitternacht mählich erstarb, bis nur noch ein Licht geblieben war. Und das stand über einer Hafenbucht, und ein Wilder Mann trug's in der aufgereckten Faust und, die wir es fern schauten, sahen es frei schweben als einen großen roten Stern, bald tief und voll, bald blasser vor den Nebeln der Wiesen – auch uns ein Weiser auf mancher Wanderung und vertraut, wie eins der ewigen Gebilde des Nachthimmels, der unsere Heimat umfriedete.

See und Sonne waren dem weißen Städtlein nahe, und Wasser und Wärme brachten ihm schon den Frühling, wann die Mulden auf unserem Hügel noch der Schnee füllte und die Berge, von denen weg sich unsere Landschaft zum See niedersenkte, tief hinab als weiße Bollwerke des Winters leuchteten. Und so war es seit Menschengedenken eine Siedelung für reiche Familien geworden, und schon in meinen Knabenjahren war mir mancher Gesell aufgefallen, wann der mit einem todblassen oder dann gelben wachsschimmernden Gesicht, peinlich schwarz oder exotisch in gelbe Bastseide gekleidet, unter den alten Bäumen des Schloßgartens – so hieß ein vornehm geführter Gasthof des Städtchens – beim Weine saß und einen süß und stark duftenden Tabak rauchte. Das waren solche, die in den Tropen Schätze gesammelt, und von diesen Überseern, wie sie sich, heimgekehrt und von Abenteuern umwittert, nannten, war so ziemlich jeder mit irgendeinem Leiden behaftet, das ihn die in jungen Sturmjahren verachtete kleinbürgerliche Ordnung und Enge der Heimat als wohlige Behaglichkeit suchen ließ. Zu diesen, auf der Jagd nach dem Golde vorzeitig zu Krüppeln Gewordenen zählte gar mancher der hochmögenden Herren, die das Städtchen beherbergte und die dort, so wußte man, doch nicht sein konnten, ohne immer wieder aus dem Pferch auszubrechen. Heimlich spielten sie hoch oder sie hatten die Hände in allen gewagten Spekulationen, boten zu jedem Börsentage der Hauptstadt ihr Auto auf und kehrten wachsfarben wie immer, eine überkräftige Havanna im Munde, heim, nachdem sie ihre Geschäfte gemacht, ihren Sonderarzt befragt und dann, ledig aller Pflicht, wie Matrosen nach einer langen Seefahrt gehaust und Rechnungen für Sektgelage mit Sängerinnen und Tänzerinnen und etwa auch für zerschlagene Kristallflaschen und Kelche und zerschmetterte Spiegel mit einem Sümmlein getilgt hatten, wofür sich manch einer in derselben Stadt ein Jahr lang im Schweiße seines Angesichts abrackern mußte. Und schnob ihr Auto im ersten Dämmer der Frühe heim durch die Vororte, dann fauchte es an trübseligen Mietskasernen vorüber, wo da und dort ein armes Licht der Nacht widerstand, einem Kranken oder Sterbenden zu leuchten, wo die Schritte später und früher Arbeiter einander auf dem grauen Pflaster ablösten und die ersten Amseln aus den spärlichen Büschen einer Anlage der jungen Sonne entgegenflöteten, die noch weit hinter den Hügeln säumte.

Davon hörten sie nichts, diese abgetriebenen Gesellen, nichts vom Lerchenjubel über tauschimmernden Saaten, vom Geläute früher Herden, sie sahen nicht den Bauer am Pflug, das Marktweib, wie es mit hochgetürmtem Wägelchen der Stadt zustrebte, die Schmiede am Wege, über deren Kamin der Rauch als eine rußige Flamme stand. Waren sie heimgekehrt, dann fielen sie in ein laues, mit wohlriechenden Essenzen bereitetes Bad, verschliefen den neuen Tag und saßen abends beim Wein im Schloßgarten, sorgfältig gekleidet, wie immer, mit demselben unbeweglichen bleichen oder gelben Gesicht, vielleicht einen Schatten mehr über den Augen, und der süßliche Rauch ihres Tabaks ging um die Rosen, wo noch späte Bienlein säumten, als könnten sie nicht genug heimsen des goldenen Überflusses, der duftenden Ernte.

Die weißen Landhäuser am See, von blühenden Gärten mit Bäumen und Sträuchern aller Zonen umgurtet, hüteten die schönsten Frauen, und Kinder spielten dort, vom Reichtum umsorgt, als Zeugnisse der Vereinigung verschiedenster Stämme, eigenartig, üppig und doch zart, wie Blumen eines Treibhauses, Gebilde, wie sie nur der gezwungenen und vergewaltigten Natur abzuringen. Und die Handwerker und Krämer des Städtleins wußten um hundert und aber hundert Heimlichkeiten dieser Häuser, lebten wohl und behaglich von dem Gelde, das ihnen von deren Reichtum zufloß, und vertrauten ihr Wissen keinem außer ihres Kreises an. Aber es geschahen bisweilen doch Dinge, daß der Staub über das Weichbild des Städtchens hinaus aufgewirbelt ward. Zerrüttete Ehen forderten den Arzt wie den Richter, eine unglückselige Frau, deren fremder Schönheit jeder Blick nachgegangen war, ward aus dem See gezogen, eine übertünchte Ruine von einem Manne war plötzlich zusammengebrochen und eins der kunstvoll geschmiedeten und vornehm geschlossenen Tore hatte sich im Schatten der Nacht weit vor einem verhängten Wagen mit etlichen handfesten Wärtern auftun müssen, und hinter demselben Wagen war es wieder verriegelt worden, und eine Anstalt, ein Massengrab lebender Leichname, hütete fern den ehemaligen Besitzer all der blühenden Herrlichkeit.

In meinen Knabenjahren war es gewesen, daß ich an der Neige eines schönen Frühlingstages mit Angelrute und Rucksack herniedergestiegen war zu dem Städtlein am See. Auf einer breiten, weißen Mauer, die blau überschüttet lag von einem blühenden Gerank, hatte ein Mädchen die Arme aufgestützt gehalten, wenig jünger als ich, in einem losen rotseidenen Gewand, ein blaues, goldgewirktes Band um Stirn und Schläfe, das eine Fülle lichter Locken hielt, mit leuchtend blauen Augen unter nachtschwarzen Brauen und Wimpern und einem Gesicht von dem Goldbraun einer Kastanie, wann die Sonne sie findet. Selbst an dieser Stätte, wo man wandelte wie in einem üppigen Garten voll unbekannter kostbarer Blumen, mußte diese kleine Schönheit, die da verträumt und doch mit einer für ein Kind ungewöhnlichen Überlegenheit auf mich herabsah, auffallen.

»Wollen Sie fischen?« fragte das Mädchen mit einer dunkel beschatteten Stimme und lächelte mit einem leisen Spotte, wie mich dünkte, zu mir nieder.

Ich war nicht gewohnt, daß man mich so anredete: »Sie«, und starrte hölzern und mit einer heimlichen Wut über das Mädchen, das mich linkisch und verlegen machte, zu dem schönen Kinde auf. »Nein!« fuhr ich es grob an. Aber das lächelte und meinte dann: »Schade! An unserem Bootshäuschen stehen Barsche, wie mein Arm so dick, und die beißen sicher an. Aber anderswo gibt es vielleicht noch schwerere.«

Ich sah schon so einen fetten Fisch am Haken, und vor diesem Gesichte bestanden nicht Scheu, noch Verlegenheit. Rute und Rucksack hatte ich über die Mauer geworfen, war einige Schritte zurückgetreten, hatte mit einem Anlaufe beide Hände des Mädchens gepackt, die es mir lachenden Auges entgegengestreckt hatte, war wie eine Katze auf der Mauer und kletterte dann an einem Spalier, worauf auch meine neue Freundin stand, in den Garten.

Das Mädchen schaute mit einem Seufzer die kräftigen Spuren meiner Knabenfäuste an seinem zarten Handgelenk, blies darüber hin und lächelte mich dann, der ich wieder den Rucksack umgehängt und meinen Angelstock geschultert hatte, ergeben an. Von dem Rasen unter der Mauer waren wir auf einen Weg mit feinem buntem Kies getreten. In Büschen und Blumen hing ein silberner Duft vom See her, das Herrenhaus, weiß mit einer säulengetragenen Vorhalle, lag auf einer Terrasse inmitten immergrüner Hecken und Sträucher, und die lang säumende Sonne stand in einer Flucht von Fenstern, daß eine Wolke voll Feuer daraus hervorquoll und die Schatten im Grunde golddurchtropft aufglühten.

Niemand störte uns auf unserem Wege. An leuchtendem Rasen und buntfarbigen Blumenbeeten vorbei stiegen wir zum Bootshäuschen nieder, vor dem sich eine dichte hohe Hecke von blühendem Rotdorn, die den See entlang gezogen war, auftat. Ein zierlicher Kahn schaukelte sich dort, ein Motorboot lag unter einer grauen Decke, und die mit geblümten Vorhängen gesicherten Fenster einer Badeklause trugen auf ausladenden Blumenbrettern scharlachrote Geranien.

»Olivia heiße ich,« belehrte mich meine Führerin. Und ungeschickt forschte ich: »Sagt man ›Sie‹ zu dir?«

Das Mädchen hatte die Augen halb geschlossen, als störe sie das Licht der Sonne, die rot und groß auf dem Wasser lag, blinzelte und meinte: »Nur der Papa nicht … Aber wir beide, wir wollen einander du sagen, wie unsere Grete und der Gärtner, wann's niemand hört.«

Es war in das Ruderboot gestiegen, und ich hatte ihm Angel und Rucksack gereicht, um dann in der Hecke nach einem Würmlein zu suchen. Und als ich einige vermoderte Blätter hob, fand ich, daß Veilchen über Veilchen dort nisteten, und davon brachte ich mit meinem Köder ein Sträußlein in das Boot. Das Mädchen hatte das feine Näschen in den Blüten, indes ich den Wurm über den Haken streifte und die Angel vorsichtig auswarf. Und es dauerte gar nicht lange, daß die farbige Federspule unruhig ward und mit einem Ruck unter dem Wasser verschwand, und im selben Augenblick hatte ich geschickt angerissen und konnte einen stattlichen, rot, grün und blau funkelnden Barsch, der grimmig die Stacheln seiner Flossen spreizte, ins Boot ziehen und bald auch den zweiten in meinem Rucksack bergen.

»Das war ein Pärlein,« meinte Olivia nachdenksam. »Wenn sie so dick sind, wie die, stehen sie immer zu zweien. Das ist wie bei den Menschen. Kinder laufen immer auf einem Haufen durcheinander – und das mag ich nicht. Ich bin lieber allein und will's bleiben, so lang, bis ich mein Haar aufstecken und ein langes Kleid tragen muß. Sieben Vettern hab ich, davon aber mag ich keinen. Wenn uns einer besucht, macht er eine Verbeugung, küßt mir die Hand und fragt: ›Wie befindet sich das liebwerte Fräulein Base?‹ Und ich sage: ›Danke der gütigen Nachfrage, liebwerter Herr Vetter, den Umständen angemessen, recht wohl!‹ Auch wenn ich Kopfschmerzen habe. Und die bekomme ich immer, wenn ich zu lang ins Wasser schaue, und das tu ich zu gern. Das sei nicht vom Guten, die Nähe des Wassers für Menschen aus einer Familie, wo so mancher ohne Grund und Ursache zur Schwermut neige, habe ich einmal unseren Arzt zum Papa sagen hören, als sie mich ins Bett gesteckt hatten, weil ich Freude gehabt hatte, zu weinen. Meine Mama, die weint nie, ich glaube, die kann's nicht. Aber es sei oft viel schmerzlicher, zu lachen, als zu weinen, hat sie mir einmal gesagt. Und ich merk auch nichts davon, daß es mir weh getan, hab ich ein Kissen naß geweint. Wenn ich nicht einen ganz lieben, guten Mann bekomme, gehe ich besser ins Kloster, meint unsere Grete; aber so einer sei rar, wie das siebente Gebot in der Schelmenherberge. Ob's wahr ist? Ja, meint Grete, mein Mann, das müss' einer sein, der bei Föhnsturm in den See spräng und hinüberschwämme, wüßt er, daß ich drüben säß und mich bei meiner Puppe langweilte. Von meinen Vettern spräng keiner auch nur über die Mauer, selbst wenn ich ihn riefe. Die tragen Handkragen …«

»Affen!« knurrte ich aus der Verachtung meines Knabenherzens heraus, der ich es über alles liebte, in der guten Jahreszeit mit den Bauernbuben barfuß zur Schule zu gehn, in Hemd und Hose, und gegen allzu arge Hitze etwa ein Kohlblatt auf dem Kopfe.

»Nein,« wehrte das Mädchen, »es sind feine, junge Herren, und wenn sie Grete in die Backen kneifen, lacht die und sagt: ›Art läßt nicht von Art‹. Sie sind mit einem vollen Portemonnaie auf die Welt gekommen, und da lernt man gar bald, sich etwas zu erlauben.«

»Ich würd ihm die Hand ins Maul geben, wenn mich einer in die Backe kneifen wollte,« beteuerte ich hochfahrend, »und wenn er hundertmal ein feiner junger Herr wäre.«

»Dich?« Olivia sah mich verblüfft an. »Du bist doch kein Mädchen?«

»Mädchen sind wie Schokolade –
O wie schade, o wie schade! –
Beißen alle Fliegen drein,
Wird bald nichts mehr übrig sein!«

leierte ich einige Spottverslein daher, wie ich sie bei der Garde unserer Dorfschülerschaft aufgelesen.

»Wenn einer von Schokolade spricht, bekomme ich Appetit darauf,« meinte Olivia. »Im Lusthäuschen, wo die Mama oft sitzt und liest, da hat sie von Weihnachten her ein Silberkörblein, und das ist voll von gefüllten Schokoladebonbons. Ich weiß, wo es im Wandschranke steht. Aber du mußt mir helfen, durchs Fenster zu steigen; denn seit Onkel Alfons zu Besuch bei uns ist, hält sie den Schlüssel in der Tasche.«

Die Sonne war gesunken; noch lagen auf dem Wasser purpurne Flocken, und der Mond, der schon zur Tagesneige am Himmel gestanden, hing als eine weiß und silbern flammende Ampel über dem Spiegel. Wie ein rechter Fischfrevler hatte ich Angelstock und Rucksack in der Hecke versorgt und war dann Olivia nachgeschlichen, einem Tempelchen im Garten zu, das mit einer flimmernden Kuppel über den See wegschaute.

Das Mädchen probte dle Türe – sie war verriegelt. Auch die Fenster waren geschlossen, bis auf zwei, von denen wir's nicht wußten, da sie hinter ihren Läden lagen. Olivia zwängte ihre Hand durch das Gestäbe und suchte, ob dahinter ein Flügel offen stünde. »Hier,« winkte sie mich heran, und ich tastete mich zu dem Haken, stieß ihn auf und konnte den Laden aushängen. Dann bot ich dem Mädchen die Hand und hielt ihm die andere hin, daß es den Fuß daraufsetze, so, wie wir Buben gewohnt waren, einander zu helfen, galt es, einen Baum mit leckeren Früchten zu erklettern. Leicht und gewandt kam es hinüber, und dann barg auch mich das Geviert, wie es vom Mondlicht hell durchflutet dalag. Eine Bank mit seidenen Kissen stand an einer Wand, davor ein kleiner runder Tisch, auf dem eine blaue Hyazinthe in einem bemalten Topfe duftete. Zwischen den Fensternischen waren Goldleisten eingelassen und umspannten die Bilder üppiger Nymphen; dort eine, die sich zu einem Schwane neigte, der mit schlankem Halse und geblähten Flügeln an ihr aufstrebte, eine andere, hinter der ein Faunskopf aus rotdunklen Schatten auftauchte, eine dritte, die einen Falter betrachtete, der zwischen ihren Brüsten ruhte, eine vierte sodann, die den Schleier von ihren Hüften hob und zum Bade niederstieg. Und alle leuchteten sie in ihrer Nacktheit, als wollten sie im nächsten Augenblick heraustreten aus dem Rahmen und wirklich sein in der nahen Nacht und zum Reigen rufen, was sich liebe.

Ich sah Geheimnisse, die ich ahnte und nicht kannte. Indes meine Augen scheu nach einem dunklen Winkel trachteten, hatte Olivia einen Vorhang zu einem kleinen Ausbau zurückgeschlagen, einem Erker mit drei Fenstern, wozu eine Stufe hinaufführte. Zwei zierliche Sessel standen dort, und das Mädchen winkte mir, zog den Vorhang zu und hielt mir, während es sich mir gegenübersetzte, ein Silberkörbchen hin, das bis zum Rande mit Schokoladen aller Art gefüllt war. Wir saßen still und schmausten, und Olivia ließ die Kugeln auf dem Zünglein zergehn, seufzte wohlig, wann ihm eine Fülle besonders lecker schien, und erzählte darunter: »Weißt du, was unsere Grete singt:

Was ist süßer als welsche Nuß?
Süßer als welsche Nuß ist ein Kuß!
Was ist süßer als ein Küßlein, ei?
Süßer als ein Küßlein sind wohl zwei!

Aber Grete hat wohl einen andern Geschmack. Nein, nein!« Olivia hatte sich mir zugeneigt, und ich fühlte, wie ihre Lippen die meinigen leise streiften. »Was meinst du?« Und sie hatte mir ein erlesenes Stücklein in den Mund geschoben. »Das ist Nußschokolade und ist doch süßer! Gelt?«

Daß Blut war mir in den Kopf gestiegen, und verlegen suchte ich nach einer Antwort, als ein Geräusch an der Tür uns aufhorchen und verstummen ließ. Ein Flüstern war da erwacht, ein Schlüssel wurde vorsichtig umgedreht, und ich sah durch die Vorhangspalte, wie ein Mann mit einem gestutzten hellen Barte und langem blondem Haar in das Mondlicht trat, das den Raum füllte, und eine schlanke, geschmeidige Frau ihm folgte und die Tür zuklinkte. Die beiden blickten sich an; ich schaute für einen Augenblick das dunkle Gesicht eines schönen Weibes unter nachtschwarzem Gelock, spürte dessen Ähnlichkeit mit dem blonden Kind an meiner Seite, und sah dann, wie sich das Paar in die Arme sank und nicht satt werden mochte, sich zu küssen.

Da war eine Bewegung neben mir: Olivia stand auf der Stufe unter dem Vorhang, hatte den Arm vorgestreckt, und der leuchtete aus dem Dunkel heraus, als schwebe er frei, gelöst von seinem Körper. »Mama!« hatte das Mädchen gestöhnt, war hinabgetaumelt und der angstvoll aufschreienden Mutter in die Arme gefallen. »Grete, rufen Sie Grete!« drängte die Frau in den ratlos dastehenden Gefährten. »Die kann mit dem Kinde umgehn und ist uns treu ergeben. So eilen Sie doch!«

Olivia lag wie leblos auf der Bank, indes Träne um Träne unter den dunklen Wimpern hervorquoll. Die Mutter schaute mit wilden Augen um sich, trat zur Türe, hielt inne, stöhnte und lauschte in die Nacht.

Und endlich ward ein eiliger Schritt laut; ein zierliches Mädchen mit einem weißen Häubchen auf reichem Blondhaar, von einem weichen, vollen und doch leis vergrämten Gesicht, hatte sich über Olivia gebeugt, das Kind umfaßt, und das schlang den Arm um den Hals der Magd und ließ sich so hinaustragen.

Ich war allein in dem Liebestempelchen. Die Türe stand halb offen; ich schlüpfte durch den Vorhang, hob das goldgewirkte Band auf, das sich aus Olivias Haar gelöst hatte, und barg es in der heimlichsten Falte meines Rockes, einer Tasche in einer Tasche, wo ich Kügelchen für ein verbotenes Gewehr, Angelhaken für einen gesperrten Karpfenteich und ein verpöntes und bös zerlesenes Indianerbuch versteckt hielt. Und dann strich ich zur Hecke, warf mir den Rucksack über und packte den Angelstock wie einen Knüttel in der Rechten, da ein Hund nahe laut geworden.

Die Lichter des Herrenhauses schimmerten gelb in die weiße Nacht. Ich suchte die Einfahrt und fand sie verschlossen und auch ein Nebenpförtlein verriegelt. Und so zauderte ich nicht lange, kletterte am Spalier auf die Mauer und stand kaum dort oben, als ein Mann von umbuschten Wegen her in den Mondschein trat. »Was tust du dort oben, du Spitzbube?« herrschte er mich an. Ich sah ihn, den ich in dem Liebestempel gesehn, und aus der Ahnung und dem Gefühl heraus, da gehe ein Friedensstörer, ein Unheilstifter, schwieg ich und schaute ihm nur voll Verachtung in das wütende Gesicht, wie es sich unter meinen Blicken vollends verzerrte.

»Ich schieße dich herunter, du vermaledeiter Bengel,« fauchte er mich an, hatte einen Fuß auf dem Spalier und hob den Arm, um nach mir zu greifen. Im selben Augenblick aber hatte ich in die Fratze unter mir gespien, war mit einem Satz jenseits auf der Straße, stob davon, sprang in eine Wiese hinter eine Hecke, schlug einen Haken und schlich hinter einer Hügelwelle zurück, bis mich dünkte, der Garten mit dem Liebestempel müsse mir zu Füßen liegen. Und als ich vorsichtig hinunteräugte, sah ich das Herrenhaus weiß und vornehm in der Mondnacht, und die Kuppel des Lusthäuschens stand jetzt dunkel gegen den silbernen See. In der Tasche fühlte ich mein Messer, ein derbes Stück mit einer Säge und einer schweren Klinge, wie es wohl Holzer, Fischer und Jäger führen. Das zog ich hervor und öffnete es, und saß so trutzig auf dem Hügelkamme und wartete, daß mich mein Feind entdecke. Und dann hätte ich zugestoßen. Aber der hatte meine Spur verloren, und so brachte ich ungefährdet meine Beute, die zwei Barsche, heim, und weil es so schwere Kerle waren, fiel die Mahnung nicht allzu harsch aus, es nicht gar so spät mit der Heimkehr werden zu lassen, wenn ich auf einen Fischzug ausziehe.

Ich war durch manche Schule gegangen, und als ich nach langer Abwesenheit wieder einmal einen schönen Frühling zu Hause verleben durfte, geschah's, daß ich im Dämmer eines scheidenden milden Tages den roten Stern über dem Städtchen am See, das Licht über der Hafenbucht, wie es der Wilde Mann in der Faust hielt, aufglänzen sah, indes in dem Wirtsgarten, wo ich über einem Glase Wein saß, etliche Kleinbürger Geschichten aus jenem Städtlein auftischten. Und einer erzählte, daß es dort jetzt eine kalte Schönheit gebe, wie man sie nenne, ein wohlgestaltes reiches Fräulein, das mutterseelenallein hause und von keinem Mann etwas wissen wolle. Die Mutter sei mit des Gatten Bruder auf und davon, um sich bald wieder einem dritten an den Hals zu werfen, und vom dritten dem vierten. Der Vater sei als ein frühes Wrack gestorben. Man könne die einzige Erbin oft sehn, wie sie von der Gartenmauer auf die Straße niederschaue, als möcht sie keinen Wanderbursch unversucht lassen, und doch schlage sie jeden Antrag aus, und es heiße, sie gehe ins Kloster.

Olivia … Ich hörte den Namen und vermeinte den ersten Mädchenkuß, der mir geworden, wieder auf den Lippen zu spüren, wie eine zärtliche Verheißung: »Wenn du wiederkommst, dann wirst du wissend sein und darfst mich suchen, und da wird keine Rose so rot blühn wie mein Mund.«

Olivia! Sünde und Schuld waren es gewesen, das wußte ich jetzt, was uns beide voreinst in dem Tempelchen über dem See geschreckt. Wie mochte das zarte Kind aus dem Unheil hervorgegangen sein, wie hatte die Heranwachsende die Zerrüttung der Familie ertragen, was war in Wirklichkeit aus dem kleinen dunklen Mädchen mit den nachtschwarzen Wimpern und dem lichten Gelock geworden, daß man es heute als die kalte Schönheit nannte?

Es war eine gute Wegstunde bis zum Städtchen am See, und ich ging in die milde Nacht hinein, grünen Wegen nach, wie ich sie von ungezählten Knabenfahrten her kannte. Ein Kuckuck hatte noch spät gerufen, dann war das letzte Gold in den Wipfeln etlicher hoch über die Hügel wegragender Tannen verblaßt, und ein feiner Nebel war aufgeblaut und der jungen Nacht geblieben und trug den Duft von Wiesen und Wäldern, von Ackerbreiten und blühenden Gärten. Käuzlein hörte ich, und mich hatte so oft ihr Ruf, wann er aus der Tiefe der Wälder her uns wohl und behaglich um die Lampe geschart fand, die Heimlichkeit des Hauses nur um so holder empfinden lassen, und er schreckte mich auch jetzt nicht, da ich einsam des Weges zog.

Der Mond war hervorgekommen, und eine Mauer warf einen tiefen Schatten auf die Straße. Gerank hing daran herunter und das troff von duftenden Blüten. Ach, und da war auch ein schönes Mädchenhaupt über mir, leuchtend in dem Lichte des jungen Gestirns, ein Gesicht glühte golden, ein Augenpaar strahlte von blauem Feuer und ein Lächeln grüßte mich, und wie einst streckten sich mir zwei Hände entgegen. Und ich faßte sie und schwang mich auf die Mauer, und dann stand ich neben einem schlanken Fräulein auf dem feinen Kies eines sorgfältig gepflegten Gartenweges. »Olivia!«

»Du …« antwortete das Mädchen. »So bist du doch noch gekommen! Die Sterne bleiben und die Stunden gehn … Man hat mich bald nach jener Nacht in eine Schule weit von hier verschleppt und jeden Frühling durft ich für ein paar Wochen heimkommen, und dann hab ich hier auf der Mauer nach dir ausgeschaut, dem ich mich mit einem Kusse verschrieben. Und niemand hab ich nach dir geküßt und hat doch mancher gemeint, ich müßt es tun, um Gott und aller Heiligen willen. Niemand! Aber ich bin jung und allein! Meine Mutter ist verdorben und mein Vater tot, und ich glaube, er war es schon, da er noch lebte. Und ist man einsam, dann sind die Stunden lang, und man zählt die Frühlingstage, die dahingehn. Das hab ich getan und wollt nicht zu Ende kommen und mußt es doch. Hörst du das Glöcklein läuten?«

Von einem Hügel her, wo ein Kloster Schwestern zur ewigen Anbetung beherbergte, klang das Stundengöcklein zu Tale.

»Es wird nicht lange mehr dauern, und vernimmst du es dann,« erzählte Olivia und preßte meinen Arm fester an sich, »so denke, daß ich es sei, die es läute. Ja, ich laß mich einkleiden. In Sünden bin ich geboren und will nicht in Sünden dahingehn. Es gibt zuviel Schuld auf Erden, und zu wenige sind's, die freien Willens sühnen. Ein Sklavenhändler war mein Ahn, der das Haus da erbaut; von Geschlecht zu Geschlecht ist der Sohn ausgezogen, Geld zu machen, Geld, nie genug, und wann er heimkehrte, hatte er ein Weib mitgebracht, begütert wie er, und wann das nach des Gatten Seele suchte, fand es Schutt und Asche, und es tat wie die anderen und häufte die Trümmerstätte. Bis auf diesen Tag. Nein,« lächelte Olivia traurig, als ich sie an mich ziehen wollte, »einmal muß ein Ende sein. Wo so viel Schädel bleichen, wer mag da tanzen? Dort muß ein Kreuz stehn. Ich danke dir, daß du gekommen bist, und will mich freuen, daß es auf dieser Welt doch einen gibt, der da weinen mag, wann die Frühlingsnächte kommen und mich suchen, mich, die ich sie vernehme und mich doch tief davor verstecken muß.«

Wir standen in dem Liebestempel, und eine rosige Ampel war aufgeglüht, und der Schein lag auf den Bildern der Nymphen, und ihre Nacktheit leuchtete, und Olivia sah mit schwermütigen Augen die üppige Fülle.

»Nur wer schuldlos ist und ohne Erbe, mag so wandeln,« seufzte sie. »Wir aber hienieden sind es nimmer. Komm,« bat das Mädchen, hatte mich an der Hand gefaßt und war zum Erker aufgestiegen, wo wir voreinst gesessen. »Weißt du noch?

Was ist süßer als welsche Nuß?
Süßer als welsche Nuß ist ein Kuß!
Was ist süßer als ein Küßlein, ei?
Süßer als ein Küßlein sind wohl zwei!

Die Grete, die mich das Sprüchlein gelehrt, ist auch längst verdorben und gestorben. Und dennoch mag's wahr sein …«

Olivias Gesicht war mir nahe, von Leid und Sehnsucht verklärt, und unsere Hände waren ineinander verschlungen, und so küßten wir uns.

»Was ist süßer als ein Küßlein, ei?
Süßer als ein Küßlein sind wohl zwei!«

Das Mädchen flüsterte das zärtlich, neigte sich mir aufs neue zu, und noch einmal küßten wir uns, und wieder.

»Es ist so …« lächelte Olivia und war aufgestanden. »Aber der ist besser daran, wer's nicht weiß. Mußt nicht traurig sein, Liebster, ich habe des Unheils zu viel gesehn, um glauben zu können, daß ein Erbe leichter wiegt, wenn wir's hinweglachen und tanzen möchten. Nein – wer's trägt, soll wissen darum. Und ich weiß um meine Last und will nicht, daß sie eines Tages auch den verschütten möchte, den ich liebe. Leb wohl!«

»Jetzt, da wir uns gefunden?« flehte ich. »Wärst du im Recht, müßten wir alle, wie wir sind, unser Leben von uns tun. Da wär keiner glücklich hienieden!«

»Glücklich?« Olivia stand unter der Ampel, und ihr schönes Haupt trug das Licht, wie das einer Liebesgöttin seine Rosenkrone. »Gefunden – ja … und das ist genug. Es gibt wohl ein anderes Reich, wo ich deiner warten und frei und froh sein darf, was ich bin, wo die Welt um mich ein Gebild ist meiner Neigung und keine Scherben auf dem Wege liegen und mir die Füße blutig schnitten, wollt ich wandeln, nackt und selig, wie eine dieser Nymphen da. Glücklich! Ich hab Menschen sterben sehn, und da war alles nichts, wofür sie gelebt. Und ich sollt Mutter werden und wissen, daß ein Kind, von mir geboren, dereinst wünschen möchte, nie das Licht geschaut zu haben? Nein! Sie haben die Erde wüst und leer gemacht, die darauf leben, und es ist genug für ein armes Mädchen, wenn es weiß, da geht einer, den es küssen möcht in Ewigkeit, wär's nicht zu beider Verderben. Daran will ich denken, wann der Kuckuck ruft, und die Stunden sollen mir nimmer so lang werden, wie sie schon gewesen.

Was ist süßer als ein Küßlein, ei?
Süßer als ein Küßlein sind wohl zwei!

Wir haben's ausprobiert, einmal, daß dem so ist, und das ist genug für gestern und heut, und morgen sind wir anderswo. Die Sterne bleiben und die Stunden gehn … Leb wohl!«

Das Mädchen war hinausgetreten in die Mondnacht, schaute über den See weg in eine verschleierte Ferne, wandte sich und ging mir voran der Einfahrt zu. Dort klinkte es das Nebenpförtlein auf, wartete, daß ich hinaustrete auf die Straße, und stieß hinter mir den Riegel zu.

Leb wohl! Ich sah Olivia langsam dem Herrenhause zugehn. Das schöne Haupt stand für eine Weile über den Büschen, als schweb es losgelöst dahin, und war versunken. Und während ich heimkehrte durch die Nacht, vernahm ich aufs neue das Stundenglöcklein des Klosters auf dem Hügel, indes eine Nachtigall aus einem nahen Busche her die Sterne grüßte, stand und rastete und wollte vergehn unter der Last des Leides, die ein Mädchen mir aufgebürdet, weil es nicht wollte, daß ich an seinem, an unser aller Erbe mittrage.


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