Heinrich Hansjakob
Meine Madonna
Heinrich Hansjakob

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14.

Und nun zum Schlusse meiner Chronik noch ein Wort über Atavismus, d. i. über die Vererbung körperlicher und geistiger Eigenschaften von den Vorfahren auf die Nachkommen.

Ich bin, seitdem ich die Geschichte meiner erlauchten Ahnen näher erforscht habe, ein fast unbedingter Anhänger des großen, jüdischen Gelehrten Lombroso, des Vaters der Lehre vom Atavismus, geworden.

Die Summe der in einer Familie kreisenden natürlichen und erworbenen Eigenschaften vergleiche ich einer Lade voll Erbsen, die dadurch sich gefüllt hat, daß jeder der Ahnen für jede seiner körperlichen und geistigen Eigenschaften und Eigentümlichkeiten eine Erbse in die Lade gelegt hat. Jedem ihrer Nachkommen nimmt nun in der Stunde des Werdens das Schicksal eine Prise von diesen Erbsen heraus, und diejenigen Eigenschaften seiner Ahnen, die er damit bekommt, sind sein Anteil an dem körperlichen und geistigen Familienerbe. Mit diesem Erbe muß er wuchern oder gegen dasselbe ankämpfen, mit demselben oder gegen dasselbe stehen oder fallen.

Ich habe fast von jedem der in diesem Büchlein genannten Ahnen eine und die andere Erbse »verwischt«.

Sehen wir, welche. Der erste geschichtlich nachweisbare Ahne, der Schreiner und Blumenwirt Mathias Hansjakob in Gengenbach, bekannt ob seines »widerspenstigen Wesens und seines bösen Maules«, ist typisch geworden für fast alle seine Nachkommen. Zungenfertigkeit und Liebe zum Widersprechen war und ist so ziemlich allen eigen, mir vielleicht mehr als den andern.

Sein Sohn und seine Enkel – zwei Färber und ein Weber, haben, wohl weil sie nicht sparen konnten, ihren Nachkommen die Armut und den Mangel an Sparsinn vererbt. Ich habe in meiner Familie nie einen Geizhals, wohl aber viele, viele Verschwender kennen gelernt. Mich speziell nennt mein verehrter Freund, der Staatsrat Reinhard, nur den Verschwender.

Mit Vorliebe haben, wie wir gesehen, die Hansjakob des 17. und 18. Jahrhunderts, vorab der Schreiner-Mathis und mein Ur-Urgroßvater Johann Georg, der Weber in der Vorstadt, Opposition nach oben gemacht und geschwärmt für die Freiheit.

Sie waren arme Leute, aber nicht knechtselig und haben sich in einer Zeit des dicksten Absolutismus ein freies Wort vorbehalten.

Daß unsereiner es um keinen Preis zuwegbringt, in die in unserer Zeit überaus zahlreiche Legion der Knechtseligen und allzeit blind Gehorsamen einzutreten, hat er zweifellos von seinen Vorvätern ererbt, um es zu bewahren.

Und ich bin meinen Ahnen, trotzdem mir mein gänzlicher Mangel an politischer und kirchlicher Knechtseligkeit schon schwere Stunden bereitet hat, von Herzen dankbar. Das Gefühl, welches der Freiheitssinn verleiht, überwiegt alle Schmerzen, und sich sagen zu können: »Du bist kein serviler Lump und kein Knecht« – ist Lohn genug.

Drum steht auch schon in der heiligen Schrift: »Den du, o Herr, mit Freiheitssinn begabt, den lässest du nicht leer ausgehen.«

Und doch ist es, im Grund genommen, töricht, in einer Welt voll Sklaven, wo auch den freigesinnten Mann noch Ketten genug binden, von Freiheit zu reden.

Schon der Psalmist sagt: »Erst unter den Toten bin ich frei.« Und der Philosoph Hegel meint mit Recht: »Willst du leben, mußt du dienen; willst du frei sein, mußt du sterben.«

Herrlich aber singt Herwegh:

Die Freiheit wohnt am Don und Belt,
Sie trinkt aus unserm Rhein;
Die Freiheit schläft im Wüstenzelt
Und glänzt im Sonnenschein.
Doch muß man um sie werben,
Wo's immer sei;
Doch muß man für sie sterben,
Dann wird man frei.

Daß die Proletarier am meisten für Freiheit schwärmen, ist erklärlich, ehrt sie aber in hohem Grade. Für die »Bessern« unter den Menschen hat der Geheime Rat Goethe für alle Zeiten die richtige Lebensweisheit bezeichnet in den Worten:

Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein.
Und für den Edlen ist kein schöner Glück,
Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.

Angesichts dieses Spruchs unseres deutschen Halbgotts, der den Fürsten gar keine Verpflichtung auferlegt, bin ich froh, kein Edler, sondern der Sprosse eines proletarischen Schreiners und eines ebensolchen Webers zu sein. –

Ich habe aber nicht bloß deutsches Proletarierblut in meinen Adern, sondern auch welsches, italienisches. Man hat vor kurzem ausgerechnet, wie viel Tropfen deutsches und englisches Blut der dicke König Eduard von England habe. Ich habe mindestens soviel italienisches Blut, als dieser edle Blaublütige englisches.

Von einem meiner Ahnherren, dem Schultheißen Sartori, der noch ein Vollblut-Italiener war, – denn der Name seiner Mutter, Barbara Nuxia, spricht dafür – habe ich auch eine Portion welschen Blutes, das mich äußerlich zum Italiener stempelte und innerlich zum Melancholiker machte.

Auch des Brisgäuers und des Toweisen Vorliebe für die Kapuziner hab' ich geerbt. Nicht geerbt hab' ich gottlob vom Sartori seine Herrenwedelei. Dieselbe wurde in mir durch die demokratischen Erbsen meiner andern Ahnen stark überwuchert.

Vom Urgroßvater Toweis habe ich ferner überkommen die Vorliebe für Zipfelkappen und den »Baugeist«, vermöge dessen ich an Kirchen und Pfarrhäusern immer gerne gebaut habe und trotz vielen Aergers immer wieder baue.

Vom Ur-Urgroßvater, dem Weber, den man den Kugler genannt, wurde mir auch noch meine frühere Lust zum Kegelspiel vermacht. Mein Vater war einst ein ebenso strenger Kegler, wie ich, der in den Studentenferien tagelang auf den Kegelbahnen zubrachte. Ein Hansjakob, im gleichen Grade wie ich mit dem Kugler verwandt, hat gar sein ganzes schönes Vermögen auf Kegelbahnen und bei Preiskegeln durchgebracht. –

Was ich an leiblichen und geistigen Eigenschaften von meinen mütterlichen Ahnen überkommen, das steht geschrieben in den »Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin«.

So spukt der Atavismus in jedem einzelnen Menschen, im Großen wie im Kleinen, und wir Nachkömmlinge sind in alleweg nur das Produkt unserer Ahnen.

Sie sind die verantwortlichen Redakteure unserer körperlichen und geistigen Eigenschaften, während unsere Tugend und unser Verdienst sich lediglich zeigt im Wuchern mit den ererbten guten und im Bekämpfen der ererbten schlechten Anlagen.

So wie aber der Herr, um mit der heiligen Schrift zu reden, an den Söhnen und Enkeln die Sünden der Väter rächt bis zum dritten und vierten Geschlecht, so überkommen uns auch vielfach die Tugenden von den Ahnen. Nie wird ein Heiliger gottlose Eltern und Voreltern gehabt haben. –

Und nun, nachdem ich in vielen Sitzungen vor dem alten Holz der Backmulde aus seiner glänzenden Ueberkleidung heraus die Geschichte meiner Ahnen und ihrer Zeit abgelesen habe, richtet es in seiner neuen Madonnengestalt noch ein Schlußwort an mich und spricht also:

Ich habe dir vieles erzählt aus meiner und aus deines Geschlechtes Vergangenheit. Du hast an deiner eigenen Familie erkennen können, wie die Geschlechter der Menschen dahinsterben, und wie kurz die Spanne Zeit ist, in der sie sich ihres Lebens freuen dürfen.

Ich habe mehr denn hundert Jahre in deiner Bäckersfamilie gelebt und erkannt, wie schnell euer Menschenleben dahinzieht.

Ich sah deinen Urgroßvater als Familienvater an mir sein Brot verdienen an unzähligen Abenden und in zahllosen Nächten. Ich sah ihn alt werden und erlebte seinen Tod.

Ich sah seine Söhne als Kinder in seliger Sorglosigkeit um mich sich tummeln. Ich sah sie ihr Handwerk erlernen an meinem Leib; ich sah sie in die Fremde ziehen und heimkehren und erlebte ihren Tod.

Aber auch die Enkel sah ich als Kinder, Jünglinge, Männer und Greise und erlebte ihren Tod.

Drei Geschlechter zogen an mir vorüber in Leid und Freud, in Mühe und Arbeit – dem Grabe zu. Ich allein bin übrig geblieben, um dir von ihnen und von ihres Lebens Kürze zu erzählen.

Weine eigenen Tage schienen aber auch gezählt zu sein, als du mich auffandest. Schon waren Beil und Säge geschliffen, mir ein Ende zu machen. Ohne dein Dazwischentreten wäre ich jetzt längst in Rauch aufgegangen und ebenso spurlos verschwunden im Weltall, wie deine Ahnen spurlos verschwunden sind unter der Kirchhofserde.

Die herrliche Gestalt, die du mir gegeben, hat mir aufs neue Unsterblichkeit verliehen. Das kunstvolle Madonnenbild, welches du aus mir gemacht, ist gefeit gegen jede rohe Zerstörung. Ich werde in dieser Gestalt geehrt sein für viele kommende Tage und Jahre, und manch Menschenkind wird gläubig und vertrauensvoll seinen Blick auf Mutter und Kind richten, wenn du einst nicht mehr bist.

Jetzt bin ich aufgenommen in jenes Gebiet, das hienieden nur mit der Welt untergeht, um in einer neuen Welt wieder zu erstehen – in das Gebiet der christlichen Religion.

Das danke ich dir; darum will ich deiner nie vergessen, wenn du auch längst versammelt sein wirst zu deinen Vätern im unermeßlichen Totenreich. Ich will die reine Magd des Herrn, deren Gestalt ich jetzt angenommen und an der die Geschlechter der Menschen durch die Jahrhunderte hin huldigend vorüberziehen dem Grabe zu – ich will sie bitten, dir einst in einer bessern Welt zum Frieden zu verhelfen, den du hienieden nicht gefunden hast.

Habe nochmals Dank für das, was du mir getan, und wenn dereinst alle deine Leser und Leserinnen dich werden vergessen haben, eine wird dich nie vergessen – die Backmulde deines Urgroßvaters, die du zur Madonna umgeschaffen hast.

So sprach das alte Holz zum alten Mann in der stillen Karthause zu Freiburg am Josefstag 1902, da er zum letztenmal an diesem Büchlein schrieb.

Der alte Karthäuser aber will diese Familienchronik, in welcher mehr Wasser als Wein, schließen mit den Worten eines frommen Mannes aus der heiligen Schrift.

Der unbekannte Verfasser des zweiten Buches der Makkabäer schreibt am Schlusse also:

»Ich will hiemit der Erzählung ein Ende machen. Wenn sie gut ist, so wie es sich geziemt, so ist es das, was ich selber auch wünsche; wenn sie aber minder preiswürdig ist, so möge man Nachsicht mit mir haben.«

»Denn gleichwie es zuwider wird, immer Wein zu trinken oder immer Wasser, sich ihrer abwechselnd zu bedienen aber angenehm ist, so wird auch für die Leser die Erzählung nicht angenehm sein, wenn sie stets gleich ist. Hier nun sei sie zu Ende.«

Die Madonna aber soll nach meinem Tode in meiner Grabkapelle in Hofstetten aufgestellt werden.


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