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In den Tagen des Toweis wachte die Lust am Bergbau wieder neu auf, nachdem die langen Kriegsjahre des 17. Jahrhunderts denselben brach gelegt hatten. In all den vielen Gruben des Kinzigtales wurde wieder im »alten Mann« gemutet, d. i. in den alten Erzgängen aufs neue gegraben und nach neuen Lagerstätten geschürft.
Die Bergleute waren meist Tiroler, und der Unternehmer und Sucher nach Silber und Gold in der Umgegend von Hasle war kein anderer als der tatkräftige und findige Brisgäuer, der Metzger, Weinhändler, Ochsenwirt und Schultheiß Franz Anton Sartori von Hasle. In alten und neuen Gängen rings um das Städtle, im »Segen Gottes«, im »heilig Grab«, in der »Dreifaltigkeit« zu Schnellingen, in »St. Anton« und »St. Anna am Herrenberg, in »St. Ursula« in Welschensteinach, im »Prinz Karl« in Sarach – überall ließ der tätige Mann graben und schürfen.
Er versprach, »Witwen und Waisen« zu unterstützen, wenn er Glück habe, und bat namentlich auch die Kapuziner um ihr Gebet. Diese konnten es ihm um so weniger versagen, als er längst – ihr »geistlicher Vater« war, d. h. all' ihre irdischen Geschäfte außerhalb des Klosters besorgte.
Warum diese Leute bei den Kapuzinern geistliche Väter heißen, während sie weltliche genannt werden sollten, hab' ich nie begriffen.
Viel leichter begreife ich, warum die Haslacher Kapuziner den Brisgäuer zu ihrem weltlichen Vater und irdischen Vertreter ernannten. Ein Mann, der für sich selbst so gut wußte, wo die Hasen liefen, konnte sicher den armen Kapuzinern kein schlechter Berater sein.
Aber nicht bloß fromme Gelübde machte der Franze-Toni, und nicht nur die Kapuziner ließ er beten für seinen Bergbau, er ging auch mit der Wünschelrute in unbeschrieenen Stunden über die Erzgänge.
Das hatte ihn sein Obersteiger, der Tiroler Matthäus Haselberger, gelehrt, und selbst die fürstlich fürstenbergischen Bergmeister jener Tage verschmähten die Haselrute nicht.
Das Rezept, eine solche Rute, an die auch in unsern Tagen wieder aufs neue geglaubt wird, zu gewinnen, verdient es, hier wiedergegeben zu werden:
»Geh' an einem Sonntag oder Montag des Neumonds zu einer Haselstaude, ehe daß die Sonne aufgeht, schaue um ein Jahrsgewächs und sprich: ›Im Namen Gott des Vaters, da such' ich dich; im Namen Gott des Sohnes, da find' ich dich; im Namen Gott des hl. Geistes, da schneid' ich dich.‹ Und wenn du das Holz abgeschnitten, so vergrab' das Messer, daß es an das Taglicht nicht mehr kommt; dann bete drei Vater unser, drei Ave Maria und den Glauben. Darnach lege die Rute vor dir nieder und sprich darüber die Beschwörung:
›O Herr, allmächtiger Gott, vor deinem Auge sind alle Dinge bloß und offen. Du hast uns armen Menschen erzeigt deine Hilfe und deinen Trost. Du hast uns gesandt deinen lieben Sohn Christum Jesum. Dieser nämlich gesegne dich Ruten, auf daß du mir könnest zeigen alle sämtliche Ding, es sei Silber, Gold oder ander Gut ohne alle Anfechtung und Betrug.‹
›Ich beschwöre dich Ruten bei der hl. Ruten Aarons, die immer grünet und Frucht bringet.‹
›Ich gebiete dir Ruten wohl bei der Ruten, womit berufen ward der Ursprung des heilsamen Wassers, so aus einem Felsen durch die Ruten Moses getrieben worden.‹
›Ich beschwöre dich Ruten wohl bei derselbigen Ruten, mit welcher Moses, der israelitische Heerführer, das rote Meer zerteilet hat, daß es gestanden hat wie eine Mauer vor dem Volk des Königs Pharaonis.‹
›Ich beschwöre dich Ruten wohl bei der hl. Ruten, mit welcher Josua den Jordan beschwur, und ging dadurch mit trucksamem Fuß samt den Kindern Israels, da er sie aus Aegypten führte.‹
›Ich beschwöre dich Ruten, auf daß du die Kraft habest, warum ich dich fragen werde, daß du mir die ganze Wahrheit anzeigest ohne alle Falschheit und Betrug.‹ ›Ich gebiete dir Ruten wohl bei dem hl. Holz und Stamme des hl. Kreuzes und bei dem blutigen Speer, so Christo an dem hl. Kreuz sein hl. Herz und Seiten eröffnet.‹
›Ich beschwöre dich Ruten, daß du mir wundersame Kraft und Wirkung erzeigest. Amen.‹«
Der Obersteiger Matthä und seine Genossen, die an Sonntagen oft beim Toweis ihren Schnaps tranken, haben mehr als einmal mit Andacht vom »Christoffeln« und von der »heiligen Rute« gesprochen und von den »Berggeistern«, denen sie unter der Erde begegnet.
Sie kamen, obwohl im Dienste des Ochsenwirts, oft zum Toweis; denn der war nicht bloß ein heiterer, unterhaltender Mann, sondern auch ihr Brot- und Schnapslieferant.
Täglich erschien die Schaffnerin der verschiedenen Gruben, das »Erzknappen-Kätherle«, ein älteres Wibervolk im Städtle, und holte für die Knappen die Lebens- und Genußmittel.
Die wenigsten Bergleute wohnten im Städtle, die meisten bei den Bauern auf einsamen Gehöften. Das Kätherle brachte nun allerlei Mundvorrat zu den Gruben und hatte deshalb den obigen Namen erhalten.
Es klagte oft beim Toweis, daß die Leute es für eine Hexe verzollten und die Kinder ihm den Spottnamen »Hexe-Kätherle« nachriefen. Aber dagegen konnte dem armen Maidle nicht einmal der Ratsfreund Toweis helfen; denn nicht bloß der ganze Stadtrat, auch die Obervögte jener Tage glaubten noch an Hexenkünste.
Dem Erzknappen-Kätherle sagte man gar nach, es könne Mäuse und Nebel machen. Hundert Jahre früher wäre es zweifellos als Hexe verbrannt worden, obwohl es das Mäuse-Machen und das Nebel-Fabrizieren so wenig verstand als der Stadtrat von Hasle oder selbst ein fürstlicher Obervogt. In seinen jungen Jahren hatte das Kätherle sicher manch einen Bergknappen verhext, aber jetzt war es so unschuldig, wie das Brot, das es vom Toweis aus dem Städtle trug.
Gleichwohl duldete der hohe Rat weder das Erzknappen-, noch seine Freundin, das »Katzen-Kätherle« als Schirmgenossinnen in Hasle. So oft er hörte, daß eine oder die andere dieser Hexen bei einem Burger Unterschlauf habe, so wurde dieser aufs Rathaus gerufen und ihm bei Strafe geboten, alsbald die Unholdin aus dem Hause zu weisen.
Das alles verursachte der Nebel in den Köpfen der damaligen bessern Burger und Ratsherren. Aber auch von der gnädigsten Herrschaft wurde damals noch nach Zauberei und Magie scharf gefahndet und wurden all die vielen Bücher mit den Beschwörungen konfisziert.
Trotzdem gingen der Schultheiß von Hasle und die fürstlichen Bergräte mit der beschworenen Haselstaude über die Berge und suchten Schätze. Nur die Hagel-, Nebel-, Mäuse- und Raupen-Fabrikation alter Weiber war verboten.
Wenn die Erzknappen des Sartori an Sonntagen in den Wirtshäusern oder beim Toweis saßen, wurden sie von den Burgern fleißig ausgefragt, ob sie viel Blei und Silber und rotgültiges Erz für ihren Schultheißen fänden.
Gerne hörten die Haslacher, daß der Segen nicht besonders sei; denn sie gönnten dem Brisgäuer es nicht, daß er, der über der Erde so eifrig Schätze sammelte, auch unter derselben noch welche fände.
Als er eine Grube am Herrenberg seinem Namenspatron zu Ehren »St. Anton« taufte, sie aber, weil unergiebig, wieder ins Freie fallen lassen mußte, meinten die Burger, selbst der heilige Antonius habe keine Freude am geistlichen Vater der Kapuziner und an ihrem Schultheißen.
Daß das rotgültige Erz, d. i. das edelste aller Silbererze, sich nicht so oft zeigte, als der dicke Schultheiß wünschte, daran waren viel die Haslacher selbst schuld.
Sie hatten durch die Bergknappen und ihr Kätherle längst erfahren, daß der Franze-Toni mit der Wünschelrute über seine Gruben gehe, um die Adern edler Erze zu »verspüren«.
Dies mußte aber »unbeschrieen« geschehen, d.h. es durfte der Mann mit der Wünschelrute von niemanden angesprochen werden auf seinem Gang zu den verborgenen Schätzen.
Die Mannen ins Toweisen Backstube, vorab der Dr. Pfaffius und der Vetter des Bäckers, der Färber-Toni, der Sohn des Färbers Tobias, ein ernster und trockener Satiriker, sorgten nun dafür, daß der unbeliebte Schultheiß und Herrenwedler beschrieen wurde, so oft er abends bei Mondlicht oder morgens in aller Frühe zu einem der drei Stadttore hinausging.
Bald war es ein früharbeitender Handwerker, bald ein spätheimkehrender Metzger, bald einer der Torwächter, die dem Franze-Toni neben dem üblichen Gruße zuriefen: »Ihr werdet gewiß ins Bergwerk wollen?« – womit dann das Beschreien schon geschehen und die Kraft der Rute, die der Schultheiß unter seinem langen Rock trug, gebrochen war.
Wütend kehrte der Beschrieene jeweils heim. Wenn er ungestört sein wollte, mußte er draußen in den Bergen bei einem Bauer nächtigen und von dort aus seine Rute wirken lassen. –
Das gehört zur Lichtseite der Naturwissenschaften, daß man in unsern Tagen nicht mehr an Wünschelruten glaubt und keine alten Wibervölker mehr im Verdacht hat, Maikäfer, Mäuse, Raupen, Nebel und Hagel machen zu können.
Sicher ist aber trotzdem, daß Damen, wie das Katzen-Kätherle und das Erzknappen-Kätherle, selbst wenn sie Mäuse und Nebel hätten fabrizieren können, der menschlichen Gesellschaft weniger geschadet hätten, als unsere emanzipierten, radfahrenden, zigarrenrauchenden und studierenden Wibervölker. –
Daß der Schultheiß mit der Wünschelrute geistlicher Vater der Kapuziner war, schadete diesen bei den Ratsherren, welche dem Oberhaupt so wenig hold waren als die gemeinen Burger, mehr, als es ihnen nützte.
Als der geistliche Vater in einem strengen Winter in der Ratssitzung im Namen der Kapuziner »bei der unerhörten Kälte« um ein Holzalmosen nachsuchte, wurde dieses noch »nie geschehene Gesuch des breitern überlegt und dann resolviert, den Kapuzinern drei Klafter Eichenholz als Almosen zukommen zu lassen. Sie sollen aber dies Almosen auf ihre Kosten aus dem Wald führen und in Hinkunft mit derlei Gesuchen abgewiesen werden.«
Der Franze-Toni war tief beleidigt und sann auf Rache. In der nächsten Sitzung erklärte er, »der Pater Guardian habe das Holzalmosen nicht angenommen, sondern wolle sich hiefür demütigst bedankt haben.«
Der Rat nahm den Hieb gleichmütigen Sinnes entgegen, und der geistliche Vater stellte das Holz wahrscheinlich aus seinen Bergwerksrenten. –
Zu den regelmäßigen Kunden einzelner Bäcker gehörten noch in meiner Knabenzeit die Juden. Ein sparsames Volk, war es ihnen in den Wirtshäusern zu teuer; drum schlugen sie ihr Quartier in den Bäckerstuben auf, wo sie Wärme hatten und Brot und Milch und später, als er seinen Weg auch an die Kinzig gefunden, auch Kaffee um billigen Preis bekamen.
Zu den Zeiten des Toweis, d. i. in der ganzen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten viele Juden ihre Einkehr bei ihm.
Sie durchzogen handelnd und schmusend das ganze Fürstentum von Hasle bis Stühlingen und von da bis Meßkirch und Heiligenberg.
Die »berühmtesten« Firmen waren die Gebrüder David und Emanuel Kusel von Mühringen im heutigen Württemberg und die Jüdin Kaula von Hechingen. Die »Knechte« dieser Häuser, lauter Juden, zogen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. Sie handelten vorzugsweise mit Barchent, Kattun, Kölsch und Federn. Ein Jakob Weil von Worblingen betrieb aber schon 1770 mit zwei Knechten die Einfuhr und den Verschleiß von Zucker und Kaffee in der Baar und im Kinzigtal.
Des Toweisen Gäste waren vorab die Leder- und Viehjuden, die aus dem Breisgau auf die Märkte nach Hasle kamen. An ihrer Spitze standen der Lazarus Weil von Kippenheim und der Moses Levi von Ettenheim. Der letztere und sein Knecht Simon Bertus versahen die Schuster und Gerber in Hasle und Umgegend mit Leder.
In der Hauptstadt des Landes aber, in Donaueschingen, saß von lange her eine ganze Kolonie der Kinder Israels; selbst eine Synagoge war dort.
Und als daselbst einst ein Jude mit seiner Familie sich taufen ließ, war große Freude am Hof. Prinzen, Prinzessinnen und Fürstäbte waren Paten, und der getaufte Vater wurde in die Zahl der fürstlichen Beamten aufgenommen. Als ich anno 1864 in Donaueschingen Lehramtspraktikant war, lebten noch christliche Nachkommen dieses Juden.
Aber auch die Antisemiten wuchsen wie Pilze in Stadt und Land. Die Krämer, die Kaufleute, die Gerber, soweit sie nicht Schuldner der Juden waren, liefen Sturm gegen Israel. Und als gar die Firma Kusel um 1770 auf zehn Jahre hinaus das Monopol des Hausierhandels in den fürstenbergischen Landen erhielt gegen 100 Gulden jährlicher Rekognition, und als so alle christlichen »Buckel- und Heckenkrämer« brach gelegt waren, ging ein Sturm der Entrüstung vorab durchs Kinzigtal.
Selbst in der Backstube des Toweis wurde für und gegen die Juden Stellung genommen. Der Freund Schuh-Sepp und der Saffian-Wachtler waren Kunden des Levi, der ihnen borgte und besseres Leder lieferte als die Haslacher Gerber. Nur der Levi konnte dem Wachtler-Hans Saffian besorgen. Die beiden Schuster zählten darum zu den seltenen Judenfreunden.
Ein Hauptantisemit war der Färber-Toni, der an Winterabenden sich oft in der Backstube seines Vetters wärmte. Ihn schädigten die Juden durch den Verkauf bereits gefärbter Zeuge, und er rief deshalb Feuer und Schwefel gegen sie vom Himmel.
Der Bäcker Toweis nahm sich seiner Gäste, vorab der Viehjuden und der Schmuser, an; dies waren allermeist ärmere, bescheidene Leute. Er tadelte aber die Zucker-, Kaffee- und Kleiderjuden, weil die erstern die Burgersfrauen zum Kaffeetrinken, die letztern alle Wibervölker in Stadt und Land zum Luxus verführten.
Aber außerhalb der Backstube des Toweis gab es wenig Freunde der Israeliten. Die Firma Kusel machte deshalb mit ihrem Monopol so schlechte Geschäfte, daß sie im Kinzigtal den Handel ganz aufgab.
Aus allen Teilen seines Landes wird der Fürst bestürmt und im Namen der »Bauern, Taglöhner, Hintersaßen, Witwen und Waisen gebeten, die Juden auszusperren, weil sie Land und Leute verdürben, Krankheiten einschleppten, namentlich das »Hauptweh«, an dem schon viele gestorben seien.«
Die Burger der Residenz Donaueschingen beschweren sich, daß der Juden »zu viel im Ort seien; Burgerskinder bekämen keine Herberge mehr; die Juden machten die Leute irre, indem sie sagten, der wahre Messias käme noch; auch gäben sie den Christenkindern am Freitag Fleisch zu essen.« Der Fürst Maria Benedikt befiehlt 1783 »aus wahrer, landesväterlicher Liebe zu seinen gehorsamsten Untertanen die Ausrottung und Abschaffung der Juden in den hochfürstlichen Landen«.
Sie bekommen eine halbjährige Frist zur Eintreibung ihrer Forderungen.
Alle zehn Jahre seit einem Jahrhundert hatten die Burger und Bauern im Fürstenbergischen petitioniert um Abschaffung und Vertreibung der Juden. Diese wurden dann im Handel beschränkt, mit hohen Zöllen beschwert, auch für kürzere oder längere Zeit ganz ausgesperrt. Aber immer kamen sie wieder. Sie hatten eben unter ihren Kunden den Hof selbst und unter ihren Schuldnern viele höhere Beamte. Die Gebrüder Kusel und die Dame Kaula waren Hoflieferanten.
Jubel herrschte unter Burgern und Bauern, als in den fünfziger Jahren der Markgraf Karl Friedrich von Baden-Durlach seine Verordnung gegen die Juden herausgab und dieselbe der fürstenbergischen Regierung zur Nachahmung mitteilte.
Die fürstenbergischen Untertanen freuten sich über dieses Edikt des Markgrafen; es zog aber in Donaueschingen nicht.
Der Markgraf verbot allen fremden Juden den Handel in seiner Markgrafschaft; den einheimischen Säßjuden aber untersagte er jedes Geschäft an Sonn- und Feiertagen.
Kein Jude sollte mehr als sechs Prozent Zins nehmen dürfen, kein Schuldschein eines Christen an einen Juden Gültigkeit haben, wenn nicht das geliehene Geld vor dem Schultheißen bezw. Vogt des Ortes ausbezahlt worden war.
Handel mit Vieh und Pferden durfte von einem Israeliten mit einem Christen nur abgeschlossen werden in Gegenwart des Schultheißen und zweier Zeugen.
Den Jüdinnen war verboten, in Seide und Samt, in Spitzenkleidern und in Reifröcken aufzumarschieren. Übertretungen wurden mit Landesverweisung bestraft. –
Man kann angesichts dieser Bestimmungen über Handel und Wandel und über die Kleidertracht auch wieder von der guten, praktischen alten Zeit reden.
Alle diese Verordnungen wären auch in unsern Tagen mehr denn je am Platz; aber es herrscht ja bei uns schrankenlose Freiheit, sich von andern betrügen zu lassen, und jede Magd darf sich tragen wie ihre Herrin.
Das praktische Mittelalter kannte die übertriebene Putzsucht der Wibervölker; darum machte es von Zeit zu Zeit eine Kleiderordnung für Edelfrauen, für Bürgerinnen, Bäuerinnen und Mägde, damit keine mehr ausgeben konnte, als ihrem Stand und Einkommen gemäß war.
Schöne Kleider und spitzige Schuh'
Kommen keiner Stallmagd zu –
heißt es in einem alten Volkslied.
Man sucht in unsern Tagen im deutschen Reich nach neuen Steuern. An eine Kleider- und Luxussteuer denkt man aber nicht. Man besteure die Dienstmädchen, Kellnerinnen, Buffetdamen und Ladennamsellen und alle bürgerlichen Weibsleute, die sich wie Baroninnen kleiden, und lege ebenso eine Taxe auf die schönen Zylinder, auf die gelben Glacés und auf die Lackstiefel und aufgestellten Schnurrbärte unserer Gigerl – und es wird Geld im Ueberfluß geben. Diese Leutchen sparen ja alle doch nichts, und darum sollten sie auch etwas ans Vaterland wegwerfen müssen. –
Allgemein beliebt und ungestört waren im Kinzigtal zur Zeit des Toweis nur zwei Juden, ein Lazarus Mayer von Friesenheim, der mit eisernen Kochhäfen handelte, und ein Auerbach von Nordstetten, der alte Kleider kaufte.
1783 wurden die Juden, wie schon erwähnt, aus den fürstenbergischen Landen vertrieben. Wer aber blieb und, wie die Leute sagten und schrieben, aufs neue »das Monopolium des Wuchers« bekam mit dem Sitz in Donaueschingen, war der David Kusel von Mühringen.
Seine Knechte durchstreiften abermals das ganze Land.
Doch als die Landschaft Baar 1792 schwer klagte gegen den David, der jetzt zudem noch kaiserlicher Militärlieferant geworden war, wurde auch er endlich ausgewiesen. Was tut der schlaue Mann? Er verklagt den Fürsten wegen dieser Ausweisung beim Reichskammergericht in Wetzlar, bei dem selten jemand den Ausgang eines Prozesses erlebte.
Vor diesem David muß man eigentlich Respekt haben. Er war ein Mann, der die Welt kannte und wußte, wo die Hasen liefen.
Er war 1771 der erste Jude gewesen, der nach der Aussperrung seines Volkes anno 1743 wieder in die fürstenbergischen Lande kam. Kaum war er da, so folgte ihm »eine ganze Synagoge nach«, und als diese in den achtziger Jahren vertrieben wurde, wußte er's zu machen, daß er allein bleiben durfte. Und da man endlich gegen ihn vorging, drehte er den Spieß um und ging gegen den Fürsten vor.
Indes kam der große Kladderadatsch vom Rhein herüber. Es folgten lange Kriegsjahre, in denen Israel allzeit die besten Geschäfte gemacht hat und in denen der Hoflieferant Kusel sicher nicht zugrunde ging, wohl aber die Souveränität des Fürsten von Fürstenberg.
Man muß die Tapferkeit der fürstenbergischen Vögte, Schultheißen und Obervögte bewundern, die in jenen Zeiten des Absolutismus vom Fürsten immer wieder einstimmig die Aussperrung der Juden verlangten, trotzdem diese, wie fast allezeit, in den oberen Regionen Lieb-Kind waren.
Heutzutag wäre eine solche amtliche Uebereinstimmung nicht mehr möglich; drum sind die schon so oft und so hart verfolgten Söhne und Töchter Israels auch so wohlgemut in unseren Tagen, und sie können, weil sie oben und unten gute Freunde haben, ebenso wohlgemut in die gefahrdrohende Zukunft schauen. –
Beim Toweis hatten auch einzelne Dorfschulmeister jener Tage ihre ständige Einkehr, vorab der Schneider Denzlinger von Hofstetten und die zwei Weber, Wölfle von Weiler und Volk von Vollenbach, die alle drei die Elemente des Wissens in ihren Gemeinden lehrten.
Den Enkel des Wölfle, der auch Mathis hieß, wie sein Großvater, aber nur noch Weber war, habe ich wohl gekannt. Er trank an Sonn- und Montagen seinen Schnaps bei meinem Bäckervater, wie ihn einst sein Großvater bei meinem Urgroßvater Toweis genossen hatte.
Wölfle-Mathis, der jüngere, hat mir, dem Knaben, in schnapsseligen Augenblicken oft gesagt: »Büebli, mi Familie un dia Hansjakobisch sinn scho bald hundert Johr mit enander bikannt. Mi Großvater, der Lährer, isch scho bim Großvater von dim Vater us- un igange.«
Die zwei lehrenden Weber woben auch ihr meistes Tuch für die Haslacher Wibervölker. Im Winter, von November bis April, hielten sie Schule, und im Sommer, wo keine Schule war, saßen sie in ihren »Kellern« und schlugen den Weberbaum.
Aber so oft sie dies taten, wurden sie von den andern armen Dorfwebern durchgehechelt, weil sie ihnen Konkurrenz machten. Sie suchten deshalb gerne Arbeit auswärts, und die Toweisin in Hasle ließ das, was sie und ihre Töchter spannen, bald beim Wölfle-Mathis, bald beim Lehrer Volk weben.
Der älteste der Dorfschulmeister war der Mathis; er lehrte schon, als die Schulmeister noch von den Bauern »umgeäzt« wurden und die zwölf Kreuzer jährliches Schulgeld pro Kopf selber einziehen mußten. Erst der Fürst Josef Wilhelm hob dies auf und entbot anno 1746 »allen Räten, Beamten, Schultheißen, Burgermeistern, Vögten und allen Untertanen und Inwohnern Gruß und Gnad und tat ihnen zu wissen,« daß das Schulgeld in die »Gemeindelade« zu zahlen sei und für arme Väter aus dieser genommen werde. Falls aber ein solcher Vater am Sonntag ins Wirtshaus gehe und zeche, müsse er das Schulgeld der Gemeindelade wieder ersetzen.
Trotzdem traf es dem Wölfle-Mathis und dem Weber in Bollenbach nur 40 Gulden jährliches Gehalt, dem Schneider in Hofstetten sogar nur 26. Außerdem erhielt noch jeder alljährlich von jedem Bauer zwei Laibe Brot, einen auf Weihnachten, den andern auf Sommer-Johanni.
Dazu kamen noch die winzigen Einkünfte als Organisten, die meist auch aus Brot bestanden, so für das Singen bei einer Kindsleich einen Laib, bei Beerdigung einer erwachsenen Person mit nachherigem Orgelschlagen drei Laibe.
Am täglichen Brot im buchstäblichen Sinn fehlte es demnach den Schulmeistern nicht.
Der König derselben saß damals im Städtle Husen und hieß Bredelin. Er war ein »verstickter Student« und somit der einzige studierte Lehrer der Herrschaft. Drum ernannte ihn die Regierung zum Prüfungskommissär aller Dorfschulen, und er machte auf das Geburtsfest des Fürsten schwungvolle Verse.
Mit wahrem Respekt erzählten die eben genannten Handwerker und Schulmeister von seiner Weisheit. Ich habe von seinen Prüfungsbescheiden gelesen. Die würden heute noch jedem Kreisschulrat Ehre machen.
Der Meister Bredelin war schon so modern, daß er gar zu viel auf gutes Deutschsprechen hielt und gegen den Dialekt zu Felde zog.
Und der Dorfweber und Lehrer in Bollenbach schwang sich unter seinem Szepter so weit hinauf, daß er – was heute noch nicht erreicht ist – anno 1786 den Prüfungskommissär und die Ortsvorgesetzten von einem Schüler im Namen aller Schulkinder also anreden ließ: »Dem wohlgelehrten, uns von Seite hoher Stelle verordneten Visitator Bredelin, dem hochgelehrten Herrn Pfarrer, den ortsvorgesetzten Vögten entbieten wir, unseres besten Fürsten Kinder, den Willkommgruß. Wir schmeicheln uns zwar nicht, in allem Genugtuung zu leisten, bitten aber zum voraus um Vergebung und versprechen künftighin uns zu bessern.«
Wer diese kurze Rede nicht, wie ich, der Schreiber dieses Büchleins, selbst gelesen, würde kaum glauben, daß ein Dorfweber des 18. Jahrhunderts diese klassisch kurze und doch alles besagende Rede gemacht und ein Bauernbüblein von Bollenbach an der Kinzig, Lorenz Neumaier benamset, sie gesprochen habe.
Es ist eben die alte Geschichte, daß die Menschen früher im Verhältnis zum Grad ihrer Bildung viel vernünftiger waren als heutzutag, wo die Ueberkultur den gesunden Menschenverstand vielfach unterdrückt. –
Die Lorbeeren, welche der Schulmeister von Husen errang, ließen die Haslacher Senatoren nicht schlafen. Ich glaub', wenn der Bredelin angewiesen worden wäre, auch in Hasle zu prüfen, es hätte eine neue Revolte abgesetzt.
Den alten Franz Antoni Bechtiger, der die ganze Generation erzogen, wollten sie nicht absetzen, um einen Rivalen Bredelins zu bekommen. Aber ein »studierter« städtischer Provisor (Unterlehrer) sollte ihm an die Seite gegeben werden. Es war kurze Zeit vor seiner eigenen Absetzung, da der Toweis den obgenannten Dorfschulmeistern den Beschluß des Rates, dem Bredelin Konkurrenz zu machen, mitteilte.
Direkt von der hohen Schule in Freiburg, wo eben für die königlich kaiserlichen Normalschulen Studenten als Lehrer herangezogen wurden, sollte ein Provisor bestellt werden. Ein gewisser Rieger von dort ist bereit, als solcher nach Hasle zu kommen; aber er verlangt 300 Gulden Gehalt, also nicht viel weniger, als ein Obervogt hat.
An dieser Riesensumme verschlägt sich seine Berufung.
Ein Jakob Bruder von Löffingen meldet sich an seiner Statt um billigeres Geld und verspricht, »auch im Singen, Orgelschlagen und Geigen Satisfaktion zu geben«. Aber der Senat traut seiner Wissenschaft nicht, und auch der Jakob Bruder wird nicht Provisor.
Da empfiehlt der Erzpriester Schmauz in Hofweier seinen Unterlehrer Nikolaus Blum aus Oberschwarzach im Würzburgischen. Der will dem Bredelin die Wage halten um 190 Gulden Jahreslohn und schickt als Schrift- und Wissensprobe eine Abhandlung über den Römer Fabius Flaccus.
Das imponiert den Haslacher Ratsherren mit Macht, und sie erhoffen sich von diesem Römerbeschreiber den Sieg über den Meister Bredelin von Husen.
Er wird (1775) als Provisor angestellt, heiratet ein Jahr später des alten Bechtigers Tochter und wird dessen Nachfolger als Oberlehrer, muß aber dem Schwiegervater Kost und Wohnung geben für jährliche 85 Gulden und dessen Sohn als Provisor annehmen.
So will und genehmigt es der Senat, obwohl der Nikolaus kein fürstenbergischer Untertan ist und die gnädigste Herrschaft deshalb Einsprache erhebt. Die Senatoren sagen dagegen, die Stadt hätte das Recht, Hirten und Hirtenmeister für ihre Kühe und Schweine zu ernennen und alle ihre Diener, also auch den Hirten ihrer Kinder.
Der alte Franz Antoni Bechtiger war, abgesehen von seiner zunehmenden Körper- und Geistesschwäche, den Ratsherren, die vielfach noch seine Schüler gewesen, unliebsam geworden, weil er einen ihrer Beschlüsse mißachtet hatte, was seine Pensionierung beschleunigte.
Er hatte einen Taubenschlag, dessen Ausflug in die Kirchgasse hinabschaute. Die Tauben beschmutzten drum bisweilen irgend ein Wibervolk, das zur Kirche ging oder aus derselben kam. Es wurde dies den Vätern der Stadt geklagt und daraufhin dem Schulmeister der Taubenschlag auf dieser Seite seines Schulhauses abdekretiert.
Der Alte achtete des Verbotes nicht. Da kommt ein zweiter Ukas, der ihn zu 1 Gulden 36 Kreuzer Strafe verurteilt, und wenn er bis morgen früh den Ausflug seiner Tauben nicht aus der Kirchgasse weg getan, hat er für je 24 Stunden der Verzögerung die gleiche Strafe zu erlegen.
Den Franz Antoni ficht das abermals nicht an, und jetzt läßt der Senat, empört über eines Schulmeisters Frevel, von Stadt wegen den Ausflug wegnehmen: dem Frevler aber wird sein Dienst entzogen, doch in obiger milder Weise.
Das geschah anno 1776. Nur zwei Jahre überlebte der Franz Antoni seine Zurücksetzung. Oft aber kam er in seinen letzten Tagen dann zum Toweis, der noch zu ihm in die Sonntagsschule gegangen war, trank bei ihm einen Frei-Schnaps und schimpfte mit ihm über die Herren.
Sein Schwiegersohn Nikolaus aber, dessen Sohn noch mein Lehrer war, trat vollauf in Konkurrenz mit dem Bredelin. Er teilte sich bald mit ihm in die Prüfung der Dorfschulen und nahm mit demselben dem Sohn des Wölfle-Mathis, der auch Weber war, das Staatsexamen ab, damit er Nachfolger seines Vaters werden konnte.
Ja, als der Bredelin das Zeitliche gesegnet hatte, war der Nikolaus der einzige Kreisschulrat in der Herrschaft Hasle, und auf Befehl der Regierung mußten die Dorfschulmeister jede Woche einmal nach Hasle, um von ihm weiter ausgebildet zu werden.
Mit der wachsenden Bildung ging aber noch nicht auch Hand in Hand das Ansehen der Schulmeister und ihr Gehalt. Doch auch das sollte sich bessern. Durch die Schulordnung von 1790 wurde der »Schullohn« etwas erhöht, auch das Ansehen der Lehrer auf eine Höhe erhoben, die es seitdem nie mehr erreicht hat, noch je wieder erreichen wird.
Die Schulmeister in den Städten wurden zu geborenen Ehren-Mitgliedern des Rats und die auf den Dörfern zu solchen des Gerichts ernannt, sollten aber von den Sitzungen, wichtige Fälle ausgenommen, dispensiert sein.
So stand die Ehre nur auf dem Papier und blieb auch da stehen; denn im Ernstfalle hätten die Rats- und Gerichtsherren protestiert, und die von Hasle hätten darin wieder einen Eingriff in ihre Freiheiten gesehen und »revoltiert«.
Gleichwohl ist jene fürstenbergische Schulordnung das Muster einer solchen und zeugt von dem ernsten Bestreben, die Schule zu heben und vorab der Individualität der Schüler Rechnung zu tragen.
Sie enthält Detailvorschriften über die Behandlung »der guten Köpfe, der Mittelmäßigen, der Furchtsamen, der Trägen, der Schläfrigen, der Ungelehrigen und der Blödsinnigen.«
Ihre Strafen zeugen von einer Humanität und sittlichen Feinheit, wie sie unsere Ueberkultur noch nicht erreicht hat.
Die Strafen stiegen von den liebreichen Ermahnungen auf zu Verweisen, ernstlichen Warnungen, verschärften Drohungen bis zur Rutenstrafe auf die Hand. Soll aber ein Schüler auf der Rückseite gezüchtigt werden, so darf das nicht öffentlich geschehen, sondern nur an einem abgelegenen Ort, und soll die Prozedur nie vor den andern Kindern stattfinden, um das beiderseitige Schamgefühl nicht zu verletzen.
Schulversäumnisse wurden von 1790 an gestraft, und der Pfarrer des Orts soll alle 14 Tage, der Obervogt aber bei jeder Gelegenheit die Schule besuchen, um den Unterricht zu überwachen. –
Zu tadeln habe ich an der Schulweisheit jener Tage, daß sie das »Gregorifest« abschaffte, jenes uralte Schulfest am Tage des Papstes Gregor des Großen, des Vaters der Schulen. Es war ein Kinderfest mit Prozession, Essen, Singen und Springen und dauerte oft drei Tage lang.
Doch ließen sich die Eltern und Kinder das Fest nicht lange verbieten: denn zu Anfang des 19. Jahrhunderts, da mein Vater in die Schule ging, war es wieder gerade so in Ehren, wie heute noch der Storchentag in Hasle, den man sich auch nicht hat nehmen lassen durch die Bureaukraten.
Die französische Revolution scheint dem Gregorifest in Hasle wieder Luft gemacht zu haben. Die neunziger Jahre waren dem Polizeistock allüberall nicht günstig. Auch die fürstenbergischen Obervögte konnten davon erzählen und an die hochfürstliche Regierung darüber berichten. –
Der Schneider Denzlinger und seine zwei Kollegen, die Weber, blieben dem Toweis und seinem Schnaps treu, selbst nachdem sie Ehrenmitglieder des Dorfgerichts geworden und der Schullohn erhöht worden war.
In der Herbstzeit gab es zudem auch Wein beim Toweis. Aber da kamen dann die Burger von Hasle, und es ging hoch her; denn so oft es Neuen gab, war Hasle, wie der Obervogt Neuffer, der selbst gern »ins Glas guckte«, einmal schrieb, nur ein einziges Wirtshaus.