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Die Backmulde muß uns nun auch einmal von der Familie des Toweis erzählen; denn seit der Hochzeit des Bäckers mit der Magdalena Lienhard haben wir nicht mehr viel von den Hausgenossen der Mulde gehört.
Und es ist der Mühe wert, von dieser Familie zu reden; denn der Toweis und die Magdalene hatten nicht mehr und nicht weniger als fünfzehn Kinder, von denen fünfe jung starben und zehne aufgezogen werden mußten – sechs Buben und vier Maidle.
Fünf der Buben opferte der Toweis seiner Zunft; sie mußten alle Bäcker werden. Einen aber weihte sein und seines Weibes frommer Sinn der Kirche; er wurde Priester.
Es war keine kleine Aufgabe für die Bäckersleute, zehn lebendige, lebensfrohe Kinder aufzuziehen und jedem noch etwas Vermögen mit in die Welt zu geben.
Zunächst hatte der Toweis bald keinen Platz mehr im alten Hause für seine Kinderschar, und er mußte bauen.
Eines Tages, Ende der siebziger Jahre, trat er als abgesetzter Ratsherr vor den Rat und bat, da er wegen seiner zahlreichen Familie sein Haus vergrößern müsse, ihm zu genehmigen, den Stadtbach zu überbauen.
Die Hälfte des Baches zu überbauen ward ihm genehmigt, und der Toweis erstellte vorab einen kleinen Saal für seine vielen Kinder. Hier sollten sie spielen, lernen und musizieren. Denn, wir wissen es, auf Musik hielten die alten Burger von Hasle viel.
Alle Buben des Toweis waren musikalisch – der eine, Philipp Jakob, der mein Großvater werden sollte, ausgenommen. Allen Kindern aber war der Jugendfreund des Vaters, der Schuhmacher Josef Heim, Pate und die Frau des Metzgers Kröpple Patin. Für die zehn Kinder des Toweis am Santi Klaus-Tag die üblichen Geschenke und an Ostern die Ostereier aufzubringen, war für den Schuhmacher jedenfalls keine Kleinigkeit.
Er tat, was er konnte, und die Kinder liebten und ehrten ihn wie einen zweiten Vater.
Das älteste von ihnen war der Johann Georg, der diesen Namen trug zu Ehren seines Weber-Großvaters, das jüngste der Arbogast, der Stammhalter und Nachfolger des Vaters in Haus und Gewerbe; der kleinste aber war und blieb der zweitälteste, der Philipp.
Die Buben schlugen alle, wie üblich, in der Mutter Geschlecht; sie waren Lienharde, mittlere und kleine, gedrungene Gestalten. Ich erinnere mich noch an den letzten Bäcker Lienhard in Hasle, einen Neffen meiner Urgroßmutter; er war ein schmächtiges, bedächtiges Männlein mit überaus klugen Augen.
Die Maidle, die Mariann', die Walburg, die Barbara und die Helene, waren kraftvolle Wibervölker. Die Helene und die Walburg kannte ich selber noch und von der letztern alle ihre Söhne, lauter schöne, hochgewachsene Männer.
Die Kinder waren ums Leben gern beim Vater in der warmen Backstube, und meine Berichterstatterin, die Backmulde, hat sie alle gesehen in ihrem Jugendhimmel, von allen ihre späteren Lebensschicksale vernommen und von allen ihren Todestag erlebt und überlebt.
Alle Buben, der eine Josef, ausgenommen, lernten an ihr des Vaters Handwerk, und alle kehrten nach der Wanderschaft wieder für kürzere oder längere Zeit zur väterlichen Mulde zurück.
Die Maidle sah sie unzählige Abende draußen in der Stube um die kleine, klugäugige Mutter sitzen und spinnen und singen. Sie sah sie als fröhliche Bräute, sie hörte ihre Klagen über die Leiden im Ehestande, wenn sie zu Vater oder Mutter kamen, um sich Rat und Hilfe zu holen.
Sie sah alle die Enkelkinder des Toweis und überlebte sie. Sie war die stumme Zeugin der Arbeit, des Glückes, der Leiden und des Todes von drei Generationen.
Sie sah viele Jahre lang den Vater Toweis mit seinen Lehrbuben sich abmühen in der Backstube, bis die eigenen Buben so weit herangewachsen waren, um dem Vater helfen zu können.
Alle Kinder mußten, sobald sie der Schule entwachsen waren, abwechselnd an Sonn- und Feiertagen in aller Frühe mit schweren Brotgräzen auf dem Rücken oder mit Körben auf dem Kopf hinaus aufs Land und Brot feil halten vor den fünf Dorfkirchen um Hasle herum.
In die nähern Orte gingen in der Regel die Maidle, in die entfernten stets die Buben.
Wenn die Landleute aus den Kirchen kamen, wimmelte es von Haslacher Bäckerkindern oder Bäckermägden, die alle Brot feil boten.
Das Hausieren in den Dörfern oder im Hin- und Herweg war verboten.
Die Backmulde war Zeuge der Freude oder der Trauer der Kinder, wenn sie von ihrer Feilträgerei heimkehrten und fröhlich oder traurig waren, je nachdem sie viel oder wenig verkauft hatten. Am meisten verkaufte der spätere Student Josef. Er schlug die Orgel viel besser als die Dorfschulmeister und spielte dann den Bauern in der Kirche was Schönes auf, und dafür kauften sie nach dem Gottesdienst außerhalb der Kirche von seines Vaters Brot.
Sobald der erste seiner Buben als fertiger Bäcker aus der Fremde heimgekehrt war, widmete sich der Toweis mehr seiner Liebhaberei, dem städtischen Bauwesen; denn mit seiner Wiedereinsetzung als Ratsfreund war er, wie schon erwähnt, auch wieder Baumeister geworden und blieb es bis 1786, wo er freiwillig zurücktrat.
Er erbaute während seiner Amtszeit eine neue Säge, den Kanal oberhalb der Stadtmühle, ein neues Schulhaus und eine neue »Rîbe«. Nie letztern zwei Gebäude wurden mir später gar wohl bekannt. In der »obern Schule« holte ich meine höhere Knabenweisheit, und in der Rîbe verbrachte ich manchen Herbsttag meiner Knabenzeit.
Jeder Bürger pflanzte in der guten, alten Zeit seinen Hanf, und in der Herbstzeit bearbeiteten denselben lustige Wibervölker im Freien mit den »Knitschen«, daß das ganze Städtle davon ertönte.
War der Hanf zerschlagen, so kam er in die Rîbe. Diese war ein kleines Häusle am Wasser draußen bei der Walke der Stricker und bei den Stampfen der Oeler. In ihr befand sich das »Rîbebett«, in welches der Hanf gelegt wurde. Nun ward der »Rîbestein« losgelassen, ein gewaltiger, konisch geformter Sandstein, der blitzschnell im Kreise über die im Bett liegenden Hanfbündel dahin fuhr, um sie von den letzten Häckseln zu befreien.
Während der Drehung des Steines galt es immer wieder die Bündel umzuwenden, und das war ein gefährliches Kunststück, welches nicht alle Wibervölker jener Tage zuweg brachten.
Berühmt war in meiner Knabenzeit eine alte ledige Person wegen ihrer Kunst dem eilenden Stein gegenüber. Sie bekam drum auch den Namen »das Rîbenanne«; einen andern Namen kannte ich nie von ihr.
Sie war es auch, die jeweils meiner Mutter den Hanf besorgte, und ich mußte ihr manchmal das Mittagessen oder z'Nüne und z'Biere bringen, was ich stets gerne tat, um dem rollenden Stein und dem behenden Rîbenanne zuschauen zu können.
Zum Bau der Säge und der Rîbe brauchte der Toweis keine weitere technische Hilfe; aber beim Schulhausbau zog er den »Stockadorer« Meißburger von Freiburg bei. –
Als anno 1784 von der Landschaft eine neue, kürzere Landstraße über Hofstetten und über die Eck gebaut werden sollte, da wurde der Toweis auch zum Ingenieur. Er nimmt den städtischen Wachtmeister Oesterle und den Zimmermann Mathias Hölzer mit sich und steckt die Straße aus bis auf die Wasserscheide, von wo ab die österreichische Regierung, deren Gebiet dort anfing, bauen muß. Er zeichnet auch einen Plan darüber und legt ihn der Regierung vor. Der fürstliche Straßendirektor von Auffenberg verwirft ihn wohl nur deshalb, weil er nicht von ihm ist. –
Da der Toweis sowohl Hoch- als Tiefbaumeister war, hatte er auch die Brunnen unter sich, und da erwies er sich als der erste Hygieniker von Hasle.
Er versuchte von Zeit zu Zeit das Wasser aller Brunnen und brachte, wenn es ihm nicht gut und rein erschien, eine Musterflasche in die Ratssitzung und erbat sich die Vollmacht, die betreffende Brunnenstube auspumpen und untersuchen lassen zu dürfen. –
Alles stirbt auf Erden, sogar die Namen von Brunnen, und so gibt es im heutigen Hasle auch keinen Motschins-Brunnen mehr, der anno 1784 einmal das ganze Städtle in Aufregung brachte, vorab aber den hohen Rat.
Versucht da der Toweis eines Tages das Wasser dieses Brunnens, welches sonst am beliebtesten war, und findet es höchst ungut. Der Brunnen wird ausgepumpt, und der Baumeister steigt in dessen Tiefe. Er entdeckt drunten Morast, der aus dem Gemäuer des anstoßenden Hauses des Burgermeisters Klausmann kommt.
Er meldet's dem Schultheißen Sartori. Der beruft den hohen Rat, welcher sich an Ort und Stelle begibt und in seinen kühnern Vertretern auch in die Tiefe steigt und den Befund des Toweis feststellt. Unter der Bürgerschaft, die den Rat am Brunnen versammelt gesehen, verbreitet sich das Gerücht einer Brunnenvergiftung.
Der Toweis schlägt dem Rat vor, einen Bergmann aus der Grube »Segen Gottes« kommen zu lassen, der ein »Brunnenschmecker« sei.
Der Rat erklärt seine Sitzung in Permanenz und bleibt auf dem Rathaus beisammen, bis der Brunnenschmecker geholt ist. Dann begibt er sich in corpore in das Haus des Burgermeisters Klausmann, der allein nicht mitdarf und auf dem Rathaus sein Urteil abwarten muß.
In seinem Keller findet der Brunnenschmecker richtig eine alte Kloake, die den Brunnen vergiftet.
In schwebender Pein wartet der verdächtige Burgermeister auf die Rückkunft des Rats.
Der kommt, eröffnet ihm den Befund und macht ihn »bei Hab und Gut, bei Leib und Leben haftbar, die Kloake zu entfernen und den Brunnen wieder zu entgiften«.
Erschrocken über den ihm unbewußten Frevel, verspricht der Mann alles, um den Rat und die Burgerschaft zu beruhigen und »die edle Gottesgabe« wieder rein zu machen. –
Wie sorgfältig die Menschen in hygienischer Beziehung damals schon waren, zeigt ein anderer Vorgang in den Tagen des Toweis.
Der vergantete Burger und Rotgerber Fidel Beck will, da er »die Last seiner Kinder nicht mehr erhalten kann, nach Wien und von dort ins Polen auswandern«. Er bittet den Rat um einen Geleitsbrief und um etwas Reisegeld. Das letztere fällt spärlich aus. Der Mann bekommt sechs Gulden. Um so besser lautet aber der Geleitsbrief. Dem Rotgerber wird mit dem großen Stadtsiegel bezeugt, daß er »mit keiner Leibeigenschaft beladen sei und sich als Lederhändler ziemlichen Ruhm erworben habe,« Schultheiß, Burgermeister und Rat empfehlen ihn deshalb »allen hochlöblichen und löblichen Obrigkeiten, damit ihm seine Reise nicht erschwert werde, um so weniger, als in Hasle Gott sei Dank eine gesunde, frische Luft herrsche und dem Rat von einer Contagion (ansteckenden Krankheit) nichts bekannt sei.« –
Für sein Baumeisteramt bezog der Toweis ganze zehn Gulden Gehalt und, wenn er tagelang bei einer Arbeit sein mußte, noch dreißig Kreuzer Diät. Er konnte also bei solcher Bezahlung seiner Liebe zum Bauen noch Opfer genug bringen.
Ein solcher Baumeister war ein Mädchen für alles. Er hatte alle die zahlreichen Fronen zu leiten, die Liste der Froner aufzustellen und ihre Arbeit zu überwachen.
Wenn ein Burger von der Stadt Gratis-Holz verlangte zum Bau eines Hauses oder zur Umzäunung eines Gartens, bekam er es erst, wenn der Baumeister sich von der Notwendigkeit überzeugt hatte.
Wenn die Stadtbäche zu viel oder zu wenig Wasser hatten oder die Pumpen an den Brunnen schlecht funktionierten, so lief man zum Baumeister.
War in der Schule eine Bank, im Rathaus ein Stuhl oder ein Fenster zerbrochen, so wurde es ihm gemeldet.
Wenn die Haslacher boshafter Weise das Wasser abrichteten, das unter der Stadtmauer hindurch in des Obervogts Garten und Fischweiher lief, und dem Pascha die Forellen abstarben, wurde zum Baumeister geschickt, damit er wieder Wasser sende. So war der Toweis mit seiner weißen Zipfelkappe und seiner roten Weste oft den ganzen Tag auf den Beinen und bald da, bald dort in und außerhalb des Städtchens, um seines vielseitigen Amtes zu walten.
Zwischen hinein trank er seine Kundenschoppen bei den Wirten. Am Abend aber erschien er in der Backstube und schaute nach, ob sein Sohn-Stellvertreter und der Sohn-Lehrbub alles recht machten. –
Daß er einen seiner Buben studieren ließ, kam, wie schon gesagt, von seiner und seines Weibes Frömmigkeit her.
Der Toweis war so religiös, daß er jeden Morgen eine heilige Messe anhörte, und sein erster Gang außerhalb des Hauses war der in die Kirche. Mit Vorliebe ging er zu den Kapuzinern.
Wer die Ratsprotokolle der achtziger und neunziger Jahre liest, findet es sehr häufig verzeichnet, daß der Ratsfreund Tobias Hansjakob zu einer Strafe von 30 Kreuzern in die Ratsbüchse verurteilt sei, weil er mehr als eine Viertelstunde zu spät gekommen war.
Er bezahlte stets ruhig und stillschweigend. Erst nach Jahr und Tag eröffnete der Burgermeister Battier einmal dem Senat, daß das Zuspätkommen des Toweis, der ganz nahe beim Rathaus wohnte, daher rühre, weil er keinen Tag das Anhören einer heiligen Messe versäume.
Hatte er vorher noch in der Backstube zu tun, so kam er erst in eine spätere Messe und dann nicht rechtzeitig in die Sitzung.
Daß der Rat trotz dieses lobenswerten Grundes gleichwohl fortfuhr, den frommen Mann zu strafen, spricht sehr gegen dessen Strenggläubigkeit.
Der ganze Rat bestand nach dem Tode Sartoris, der einzige Toweis ausgenommen, aus echten, freisinnigen Haslachern, die nur der Stabhalter und Ratschreiber Fernbach noch an religiöser Aufklärung übertraf. Angesteckt hatte zweifellos alle der Pfarrer und Josefiner Schuhmacher, der den Stadtvätern die fadesten Andachten vorschlug, die er in nichtssagenden, religiösen Phrasen jener Zeit in einem eigenen Gebetbuch zusammengestellt hatte.
Die Ratsherren genehmigten die Phrasen mit dem Zusatz, sie seien »mit vollem Seelenfeuer zusammengestellt«.
Hier ein Beispiel von der Aufklärung der Bewunderer Schuhmachers:
Ein Sohn des Färbers Tobias, Namens Valentin, hatte sich in Bogen in Bayern als Färber niedergelassen und war krank geworden. Er sendet dem Rat seiner Vaterstadt 50 Gulden mit der Bitte, »zu Ehren des heiligen Valentin beim Garten seiner Großmutter ein Bildstöckle zu errichten, damit er wieder gesund werde.«
Was tut der aufgeklärte Rat? Er lehnt die Bitte des Färbers »platterdings« ab, »weil die Anschaffung solcher unnützen, die Religion entehrenden Denkmäler und Abzeichen nicht der jetzigen Aufklärung entspreche. Der Valentin Hansjakob solle die 50 Gulden seinen armen Verwandten schenken, das sei gescheiter.«
Aus Anlaß meiner Studien über die Zeit der Backmulde habe ich diesen Bildstöckle-Stifter Valentin entdeckt. Und da der Schuster Hansjakob, von dem ich in dem Buch »Verlassene Wege« erzählte, auch in Bogen lebte und zweifellos ein Enkel des Valentin war, so hat sich meine Vermutung als richtig erwiesen.
Der Schuster, welcher so gerne die geistliche und weltliche Obrigkeit kritisierte und öfters dafür eingesperrt wurde, war richtig auch ein Abkomme des »Schriner-Mathis«.
Seit seinem Tode hat mich ein Bruder von ihm, ein armer Säckler in München, entdeckt. –
Der Toweis ließ sich nicht anstecken von der Aufklärung, ging nach wie vor zu den Kapuzinern und bezahlte seine Strafe fürs Zuspätkommen. Und jeden Sonntag mußte einer seiner Buben den Kapuzinern ein Brotalmosen bringen.
Die Kapuziner nun bestätigten dem Toweis das Talent seines dritten Buben, des Josef, von dem der Schulmeister Franz Antoni schon längst bezeugt hatte, er sei nicht bloß sehr musikalisch, sondern auch in alleweg sein bester Schüler.
Der Toweis traute aber weder der Wissenschaft der Kapuziner, noch der des Schulmeisters von Hasle. Er hielt, was Gelehrsamkeit betrifft, nur etwas auf die Benediktiner in Gengenbach.
Er nahm eines Tages seinen Sepple an der Hand, wanderte mit ihm an der Kinzig hinab und brachte ihn in die dortige Klosterschule. Die Klosterherren sollten, so meinte er, den Buben einmal ein Jahr auf Probe behalten und in die Lehre nehmen. Auf die Kosten käme es nicht an.
Die Mönche glaubten dem behäbigen Mann in der roten Weste und dem langen, hechtgrauen Bäckersrock und behielten den Sepple.
Das war im Herbst 1776 geschehen. Ein Jahr später kam der Sepple heim, brachte einen Preis mit und das Zeugnis, daß er der erste in der Klasse gewesen sei.
Jetzt hatte aber noch ein wichtiger Akt zu geschehen, ehe der Sprößling des Toweis seine Studien fortsetzen konnte. Es mußte dazu die Genehmigung direkt vom Fürsten eingeholt werden. Und hierin zeigte sich dieser als wahrer Landesvater.
Die Bittschrift mußte unmittelbar an den Fürsten adressiert und dann dem Obervogt übergeben werden. Dieser hatte die Bittschrift vorzulegen und über Vermögens- und Familienverhältnisse der Eltern, über das Talent des angehenden Studio Erkundigungen einzuziehen und zu berichten. Bestand Gefahr, daß die andern Kinder im Vermögen geschädigt würden durch den Studenten, und hatte dieser kein Talent oder der Vater keine Mittel, so wurde der Sohn gänzlich abgewiesen und dem Stand des Vaters überantwortet.
War diese Maßregel schon sehr lobenswert, so kam noch eine andere, viel lobenswertere dazu.
Jedes Jahr hatte der Studiosus seine Zeugnisse dem Fürsten vorzulegen, wie der Sohn dem Vater. Geschah das nicht alsbald bei Beginn der Ferien, so wurde vom Obervogt sofort daran erinnert.
Je nach dem Befund der Zeugnisse wurde dem Betreffenden die Fortsetzung des Studiums erlaubt oder er von demselben abkommandiert. Dies geschah regelmäßig, wenn der Student nicht in allen Fächern die Note »sehr gut« hatte.
Verwarnung und noch eine Frist von einem Schuljahr kamen vor, wenn das Zeugnis nur in einem oder dem anderen Fach nicht die verlangte Note nachwies.
Es hatte diese Vorlage zu geschehen bis in das letzte Universitätsjahr hinein und bei Theologen selbst noch im bischöflichen Seminar in Straßburg.
Waren es aber der Studenten mehr, als daß sie in fürstlichen Landen als Pfarrer oder Beamte hätten Anstellung finden können, so wurde einfach einer Anzahl das Weiterstudieren verboten ohne Rücksicht auf Zeugnisse.
Wer seinen Sohn ohne Erlaubnis ins Studium gab, weil er fürchtete, die Erlaubnis nicht zu bekommen, wurde mit Strafe belegt.
So hat 1757 ein Bauer Neumaier aus dem Fischerbach seinen Sohn ins Kloster Allerheiligen geschickt. Er wird um vier Reichstaler punktiert, dem Sohn aber erlaubt, noch »einige Schulen zu studieren«, weil »er von sich spüren lasse, daß er ein kapables Subjektum werden könne zu einem Barbier oder Chirurgus«. Der Schuhmacher und Amtsbote Hammerstiel in Hasle wird mit sechs Gulden Strafe belegt, weil er seinen Buben auch ohne Erlaubnis nach Allerheiligen gegeben hat. Zugleich wird ihm befohlen, den Buben wieder zu holen.
Der Schuster begibt sich schweren Herzens ins herrliche Kloster im Renchtal; aber der arme Kleine jammert und schreit so, da er wieder heim soll, daß die Mönche ihn behalten. Der Vater wird aber um zwölf Gulden punktiert, weil er den Sohn nicht bringt.
Da legt sich der Abt des Klosters selbst ins Mittel beim Fürsten, »weil der junge Hammerstiel ein zum Studieren sehr taugliches Subjektum sei.« Daraufhin wird's erlaubt, und der Schusterssohn bekommt fortan in allen Klassen die ersten Preise für seine Leistungen. –
Da die Kultur die Menschen immer siecher und elender und damit auch dümmer macht und dazu noch jeder billige Denker studieren kann, haben wir in unsern Tagen eine Menge studierter Dummköpfe und bekommen mehr und mehr ein »gebildetes« Proletariat.
Darum hatte die gute, alte Zeit weise Maßregeln getroffen, daß Esel und Faulenzer nicht weiter studieren durften und kein Ueberfluß an aussichtslosen studierten Leuten entstand.
Im fürstlichen Archiv in Donaueschingen liegen heute noch die Zeugnisse jener Studenten, und man staunt, wie hohe Anforderungen der fürstliche Bescheid an die jungen Leute damals stellte.
So unsereiner sechzig oder siebzig Jahre früher zu studieren angefangen hätte und im ersten Jahre schon als Repetent heimgekehrt wäre, würde ihm ohne Gnade das Weiterstudieren gänzlich verboten und er unbarmherzig zum Handwerk seines Vaters kommandiert worden sein.
Wir sehen, es kommt viel darauf an, in welcher Zeit ein Mensch lebt und studiert. Was wäre mir an Studierleiden, an Geistesplagen, an Kämpfen und Weltschmerz erspart worden, so ich früher gelebt und vom Studium obrigkeitlich abbefohlen worden wäre! –
Interessant ist, daß es damals in und um Hasle viel mehr Studenten gab als jetzt. Einmal war das 18. Jahrhundert ganz vorzugsweise eine Zeit, in der es weit mehr talent- und geistvolle Menschen gab, als vor- und nachher.
Ferner war die Gelegenheit zum Studieren viel günstiger durch die zahlreichen Klosterschulen, in denen Knaben billige und sichere Unterkunft und gute Lehrer fanden.
Vor und nach des Toweisen Josef und gleichzeitig mit ihm studierten viele junge Leute aus dem Städtle und aus den umliegenden Dörfern in den Klöstern Billingen, Gengenbach, Obermarchtal, Allerheiligen, Ettenheimmünster, Weingarten und Thann (Elsaß), in den Kollegien der Jesuiten zu Rottweil und Rottenburg, in den Schulen zu Colmar, Pruntrut, Pont-à-Mousson und auf den Universitäten zu Freiburg, Wien, Salzburg, Straßburg und Jena.
Und das alles zu einer Zeit, wo es noch keine Eisenbahnen gab und die Entfernungen eine andere Bedeutung hatten als heute.
Die Theologen gingen gerne nach Salzburg, die Juristen nach Wien und Jena, trotzdem Freiburg so nahe war und keiner von den Studenten Ueberfluß an Geld hatte. Aber es war eben ein großer Zug in den Menschen jener Tage. Ihr lebhafter Geist trieb sie nicht nur in die Ferne, er suchte nach möglichster Ausbreitung seiner Kenntnisse.
Die wenigsten Studenten begnügten sich mit dem, was zum Brotstudium nötig war; sie machten auch noch den Magister oder den Doktor.
Der Gerber Hettich hatte einen Stiefsohn namens Anton Küner. Er bat den Fürsten, ihn studieren lassen zu dürfen, weil, er ein »schadhaftes Pedal« habe; wenn er es auch nur zum Schreiber oder Chirurgen bringen könnte.
Dieser am linken Fuß gelähmte Hüner doktorierte anno 76 in Freiburg mit höchstem Lobe in der Theologie, war dann Vikar in seiner Vaterstadt und starb als resignierter Pfarrer von Steinach.
Des Toweisen Josef errang anno 84 in Freiburg die Würde eines »Meisters der freien Künste« in Mathematik, Physik und Naturgeschichte.
Dabei waren diese Leute keine Streber; sie begnügten sich, Pfarrer zu werden und es zu bleiben. Wenn heute ein Theologe den Doktor macht, meint er schon, er müsse mindestens als Universitätsprofessor oder als Domdekan sterben.
Was jene geistlichen Herren, wenigstens die zwei letztgenannten und einen dritten Haslacher, den Georg Schwendemann, Pfarrer in Bohlsbach, noch auszeichnete, war ihr Verlangen, alt geworden, in ihrer Vaterstadt sich ruhig auf den Tod vorbereiten zu können. Sie ließen sich als Sechziger pensionieren und verlebten ihre letzten Tage da, wo die Jugendsonne ihnen einst geleuchtet.
Unsereiner hätte längst den gleichen Wunsch, aber die Pension eines simplen Pfarrers reicht bei den heutigen Lebensmittelpreisen kaum über das Hungerleiden hinaus. Und da das Alter sonst Bresten genug hat, möchte ich nicht auch noch vor dem lieben Tod mit Mangel kämpfen. –
Zu einer bedeutenden Stellung, die übrigens, wie gesagt, keiner erstrebte, brachte es von den vielen damaligen Studenten aus Hasle und der Umgegend nur einer, der 1775 in meiner Vaterstadt geborene Joachim Kleyle, eines Krämers Sohn. In seinen Adern rollte lebhafter, südlicher Geist: denn seine Mutter war eine Battier.
Er studierte auf dem Gymnasium in Donaueschingen und dann in Wien mit Auszeichnung Jurisprudenz und Philosophie und kam nach seinem Staatsexamen als Gehilfe zum Reichshofrats-Kollegium und 1803 zum Kriegs-Departement, wo er bald ein Liebling des Erzherzogs Karl wurde. Er begleitete diesen als Hofkriegssekretär auf seinen Feldzügen.
Als nach der Rückkehr Napoleons von der Insel Elba Erzherzog Karl Zivil- und Militärgouverneur von Mainz wurde, war Kleyle in Zivilsachen seine rechte Hand.
Nach dem zweiten Pariser Frieden zog sein Gönner sich ins Privatleben zurück, und Kleyle wurde Direktor seiner großen Domänen.
Zu diesem Amt taugte Kleyle wie kein zweiter; denn er war Agrarier mit Leib und Seele. Er widmete all seine freie Zeit landwirtschaftlichen und ethnographischen Studien, war der Vorkämpfer für die heute noch bestehenden landwirtschaftlichen Bezirksvereine in Oesterreich und der erste und wärmste Eiferer für die Regelung des landwirtschaftlichen Unterrichts.
1823 wurde er von Kaiser Franz wegen seiner dem Staate und dem kaiserlichen Hause geleisteten Dienste in den erblichen Ritterstand erhoben.
Sein ältester Sohn, Karl Kleyle, wurde als Landwirt noch berühmter denn der Vater.
Er trat nach Absolvierung seiner juristischen Studien ebenfalls in den Dienst des Erzherzogs und bekam in jungen Jahren schon die Verwaltung der erzherzoglichen Güter in Mähren und Galizien, wobei er sich hervorragend auszeichnete. 1846 trat er an die Seite seines Vaters als dessen Stellvertreter in der Gesamtverwaltung der erzherzoglichen Domänen.
1847 starb Erzherzog Karl, und sein Sohn Albrecht folgte. Die beiden Kleyle waren als Haslacher Blut anno 48 für Freiheit, was ihnen bittere Stunden verursachte. Vater und Sohn traten aus dem Dienste des Erzherzogs, der erstere in Pension, der andere übernahm als Ministerialrat ein Staatsamt. Hier wirkte er großartig für die Landwirtschaft, für das Forst- und Bergwesen.
Er ist der Erfinder des nach ihm benannten Pfluges, der seinen Namen in alle Welt trug.
Der Vater starb 1854 in Wien, und schon nach einigen Jahren folgte ihm sein Sohn, noch nicht fünfzig Jahre alt, im Tode nach.
Von beiden weiß man in der Vaterstadt des Joachim Kleyle kein Wort mehr. Ich hörte in Hasle nie eine Silbe von ihnen. Erst als ich anno 1868 das erstemal nach Wien kam, erzählte mir der gelehrte Kustos des Belvedere und der Ambraser Sammlung, Dr. Bergmann, ein Vorarlberger, von dem Haslacher Kleyle.
Länger als Vater und Bruder wird die Tochter und Schwester Sophie fortleben; denn sie war das weibliche Ideal eines klassischen Dichters, des unglücklichen, genialen Lenau.
Lenau hatte im Jahre 1822 seine juristischen Studien aufgegeben und wollte Landwirtschaft studieren. Er bezog zu diesem Zweck die von Joachim Kleyle auf den Gütern des Erzherzogs errichtete Ackerbauschule und wurde hier ein intimer Freund eines jüngern, früh verstorbenen Sohnes des Gründers der Anstalt, des Fritz Kleyle.
Der Dichter hat eines seiner schönsten Lieder diesem Freunde gewidmet.
Als Lenau zwei Jahre später, nach seiner Heimkehr aus Amerika, die Familie Kleyle in Wien aufsuchte, lernte er die ebenso anmutige als geistreiche Schwester seines Jugendfreundes kennen, Sophie Kleyle, die aber bereits an einen höhern Beamten und Freund Lenaus, Löwenthal, verheiratet war.
Zwischen beiden entstand eine Zuneigung, die fortan für sie eine Quelle der schwersten Kämpfe wurde. Die junge Frau gewann auf das Leben und Dichten Lenaus den mächtigsten Einfluß, und der Umgang mit ihr wurde für den Dichter der reichste Born geistiger Erfrischung, Anregung und Erhebung, aber sicher auch mit ein Grund seines traurigen Endes.
Es ist ein tragisches Geschick, das diese beiden Seelen umspann, auf der einen Seite der Zauber des gegenseitigen Verständnisses und auf der andern Seite die gänzliche Aussichtslosigkeit, sich je angehören zu können.
Wie schmerzlich Lenau dies fühlte, sang er in einem Aufschrei seiner Seele:
Ach, wärst du mein, es wär' ein schönes Leben:
So aber ist's Entsagen nur und Trauern,
Nur ein verlorenes Grollen und Bedauern:
Ich kann es meinem Schicksal nicht vergeben.
Undank tut wohl und jedes Leid der Erde,
Ja, meine Freund' in Särgen, Leich an Leiche,
Sind ein gelinder Gram, wenn ich's vergleiche
Dem Schmerz, daß ich dich nie besitzen werde.
Ein lebhafter, höchst geistvoller Briefwechsel bestand zwischen beiden, und viele der herrlichsten Lieder des Dichters sind den Beziehungen zu Sophie Kleyle gewidmet.
Im Juli 1844 machte Lenau von Baden-Baden aus eine Reise in den Schwarzwald und kam auch nach Hasle. Hier suchte er, wie einer seiner Briefe an Sophie erzählt, deren Onkel auf, den Posthalter Kleyle, dem ich noch als Knabe Briefe im Städtle austrug.
Lenau erachtete diese Frau nicht nur sich, dem Dichter-Genie, ebenbürtig, sondern geistig ihm überlegen und hielt sie für die »geistig Höchste in Deutschland«.
Von allen, die den Sänger lieben,
hat niemand mich, wie du, verstanden –
singt er. Willenlos folgte sein stolzer Geist den Entscheidungen der verständigen Frau; aber beider Herzen brachen und verbluteten schließlich unter dem Kampfe zwischen Liebe und Pflicht.
Sophie brachte es auch dahin, daß der demokratische Dichter seinem Gelöbnisse, »ihm möge eher die Hand am Saitenspiel herunterfaulen, als daß er ein Fürstenlied singe«, untreu wurde. Er dichtete ein Lied auf das fünfzigjährige Soldatenjubiläum des Erzherzogs Karl, dessen erster Beamter ja Sophiens Vater war.
Sie verließ den armen Dichter auch nicht, als er in der Irrenanstalt zu Oberdöbling in geistiger Umnachtung sein Leben verbrachte und 1850 beschloß. Sie besuchte ihn dort häufig, obwohl er sie nicht mehr kannte, und überlebte den Unglücklichen fast um drei Jahrzehnte.
Leute, die sie in ihren alten Tagen gekannt, schildern sie mir als eine äußerst geistvolle Dame. Ein Sohn von ihr lebte kürzlich noch: ein anderer fiel als Rittmeister in der Schlacht von Königgrätz.
Die Frau interessierte mich deswegen besonders, weil sie Haslacher Blut entstammt und es mich freut, daß ein Genie wie Lenau sie die geistreichste Frau Deutschlands genannt hat, ein Ruhm, der auch meine Vaterstadt Hasle noch bestrahlt. –Wer Lenau's Genie auch im Briefstil und die ganze Tragik des Verhältnisses zu Sophie Löwenthal kennen lernen will, der lese: Lenau und die Familie Löwenthal. Max Hesse, Leipzig 1906. Schlossar, Nikolaus Lenau's Briefe an Emilie von Reinbeck. A. Bonz & Comp., Stuttgart 1896.
Auch der Ratschreiber Fernbach hatte einen Studenten, der später Oberamtmann in Wolse war, und ein Battier brachte es zum fürstenbergischen Overvogt in Stühlingen.
Wegen seiner ausgezeichneten Zeugnisse erhielt des Toweisen Josef einen Freiplatz, als er sich anno 84 für das theologische Seminar zu Straßburg meldete.
Es galt nun beim Eintritt desselben den Tischtitel zu stellen, d. h. zu garantieren, daß dem jungen Kleriker ein standesgemäßes Auskommen gesichert sei, falls er krank würde vor Erlangung einer kirchlichen Pfründe.
Diese Garantie übernahm bei ärmeren Kandidaten des geistlichen Standes entweder der Fürst oder auch die Stadt Hasle. Der Toweis war imstande, sie selbst zu leisten.
Er gab im Stadtrat die Erklärung, ab, für die vom bischöflichen »Konsistorium« geforderten 1000 Reichstaler Tischtitel eine Obligation auf eine Anzahl seiner Felder ausstellen zu lassen.
Dazu bemerkte der fromme Mann, falls die Obligation dem Konsistorium nicht genüge, sei er bereit, all sein Hab und Gut zum Pfande zu setzen, womit sein Weib und seine ganze Nachkommenschaft einverstanden sei.
Und als der Toweis seinen Josef im August 1789 zum erstenmal am Altare sah in der Pfarrkirche zu Hasle, da war sein und seiner Magdalena höchster Lebenswunsch erfüllt.
Während der Studienzeit des Josef hatten die Kinzigtäler Studenten alle stets ein offenes Haus beim Toweis, und auch alle fremden fahrenden Schüler jener Tage, die, einen Zehrpfennig bettelnd, sich durchs Land schlugen, fanden bei ihm eine offene Hand. –
Aber noch viel interessantere Fahrende kehrten beim Toweis ein, und das waren die zahlreichen »Jauner« jener Zeit, die bei ihm am liebsten ihren Schnaps tranken, weil er bis in die neunziger Jahre als Ratsfreund das Asylrecht besaß.
Ich kenne sie aus den amtlichen Akten jener Tage alle mit Namen, die poesievollen Gestalten der Jauner und Stromer, welche damals das Kinzig- und Elztal durchstreiften und namentlich an Jahrmärkten in Hasle eintrafen und im schutzverheißenden Hause des Ratsherrn Toweis Einkehr hielten.
Ich nenne sie poesievoll, weil diese Leute dort ihre Zentrale hatten, wo mir der Schwarzwald am besten gefällt – bei den Höhhäuslen und im Gebiet der Heidburg, auf der Wasserscheide zwischen Kinzig- und Elztal. Wenn sie im Sommer auch auf dem östlichen Schwarzwald und auf den höhen von St. Peter und St. Märgen umherstreiften, sobald der Winter kam, zogen sie ihren Lieblingsstationen zu und nahmen »Unterschlupf« bei den Buren auf bei Herne, am Schwabenberg, am Hünersedel und in Schweighusen.
Von da aus stiegen sie dann herab und kamen auf die Märkte von Hasle.
Sie waren aber nicht bloß poesievolle Leute, sondern in meinen Augen auch biedere, bescheidene Gauner.
Mord oder Raub lag den allermeisten von ihnen so ferne als mir und dem Leser. Die meisten bettelten ihr tägliches Brot, und wenn dies fehlschlug, stahlen sie es. Sie gingen in Lumpen, und wenn diese abfielen und kein neues Häs zu erbetteln war, nahmen sie es, wo eines zu finden war.
In der ganzen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam in der Herrschaft Hasle nur ein Mord vor, den ein Gauner am andern verübte. Ein Balthasar Weber von Zweibrücken, ehemaliger königlich sardinischer Korporal, wurde in einem Hohlweg »auf der Pfaus« von einem andern Gauner und dessen Zuhälterin erschlagen. Seine Konkubine erwehrte sich des gleichen Schicksals mit ihrem Messer meisterlich. –
Also im Winter kamen die Vagabunden und Gauner und ihre Weibsleute zurück auf die wunderbare Höhe zwischen Elze und Hasle. Die Weiber spannen und strickten, und die Männer dreschten bei den Buren.
Kam aber der Frühling, so flogen sie aus. Sie wollten zur Sommerszeit frohe Menschen werden und in des Waldes düstern Gründen ein freies Leben führen.
In einsamen Mühlen wurde Mehl gestohlen, auf einsamen Höfen Brot geholt, bisweilen auch der nötige Speck dazu, und dann saßen sie ums Feuer in Wäldern und Hainen, die Enterbten jener Tage, und sangen, pfiffen und tanzten.
Die Weiber spionierten untertags, wo nachts etwas zu holen wäre. War Beute genug da, so blieben sie tagelang im gleichen Wald, ehe sie weiterzogen, diese genügsamen, armen Teufel.
Wurde ein solch fahrendes Weib oder ein Jauner erwischt, so wurden sie das erstemal am Gerichtsort an den Pranger gestellt mit einer Tafel am Leibe, worauf, je nachdem, geschrieben stand: »Du sollst nicht müßig im Land herumziehen«, oder »Du sollst nicht stehlen«. Zum Dessert gab's dann noch 20 - 60 Schläge auf den bloßen Leib mit dem Ochsenziemer.
Im Wiederholungsfall erfolgte Zuchthaus, wo sie mit dem Ochsenziemer empfangen und entlassen wurden; was man Willkomm und Abschied hieß. Nach öfterem Besuch des Zuchthauses bekamen sie bei der Entlassung den Namen desselben aufgebrannt.
Erzdieben wurde Rad und Galgen aufgeprägt, und schließlich erlöste sie der Strick von ihrem fahrenden, fröhlichen Leben.
Bei den Bauern waren sie nicht unbeliebt, die Jauner und Jaunerinnen. Ein Bauer gönnte es oft dem andern, wenn er von ihnen gerupft wurde. Dazu wußten diese Fahrenden gar viel zu erzählen und kannten allerlei Heil- und Zauberkünste. Sie hatten bewährte Wundsegen, konnten das Blut stillen, wußten Mittel, alle Schlösser aufzusprengen, im Spiel zu gewinnen und, was am meisten zog, sie vermochten es, die »neun Fürsten der Finsternis zu rufen«.
Sie erzählten den Bauersleuten auch viel vom geheimnisvollen Alraunmännchen und von dem und jenem Manne, der eins besitze. Viele unter ihnen waren gute Musikanten, vorab Geiger, und spielten dem jungen Volk in den weltfernen Höfen zum Tanz auf.
Auf die Jahrmärkte von Hasle brachten sie in ihren Gräzen zur Winterszeit Bohnen und Nüsse, die sie teils erbettelt, teils gestohlen hatten. Vom Erlöse tranken sie dann im schützenden Hause des Toweis ihren Schnaps, ehe sie sich wieder in die Berge schlugen.
Hatte der Mann in der roten Weste Zeit, so setzte er sich zu ihnen und ließ sich von ihren Sommerfahrten berichten. –
Nennen wir nun die Jauner und Jaunerinnen, die in jenen Tagen auf meinen Lieblingshöhen überwinterten und auf die Märkte nach Hasle kamen. Sie verdienen es, als Repräsentanten der Volkspoesie und der ehrlichen, maßvollen Gaunerei der Vergangenheit entrissen zu werden in einer Zeit, wo die Gaunerei im großen so in Ehren steht.
Da war der »Freiburger Michel«. Er zog mit seinem Weib und acht Kindern auf dem westlichen und nördlichen Schwarzwald herum und bettelte mit Vorliebe Anken (ausgelassenen Butter).
Dann kam der »Krämer-Sepple«, auch Nußschwinger genannt. Er lebte mit seinem »kurzen, dicken Mensch« vom Bettel und sah es im Herbst besonders auf die Nußbäume ab.
Der »Kohlerle« und der »Soldätle« gingen als Schutzpatrone mit zwei Bettelweibern, mit der »Kohl-Theres« und dem »Messer-Maidle«.
»Der »Buschjockele« führte des »Polacken-Baschis« Tochter mit sich, machte Bäuschte (Tragringe) und bettelte nebenher.
Der »Straßburger Schuhmacher« flickte den Bauern die Bundschuhe und bettelte, wenn's nichts zu flicken gab.
Der »Zipfelbub«, so genannt, weil er am Kinn eine Warze trug wie ein »Geißzipfel«. Er war ehedem im Kloster Thennenbach Knecht gewesen und entlassen worden, weil er die Liebe der Klosterköchin gewonnen. Jetzt schlägt er sich als Jauner durch die Welt und erzählt Klostergeschichten.
Unbeliebt war bei den Buren der »Württemberger Jakob«, der ein »kleines, mageres Mensch«, eine Schweizerin, mit sich führte und schimpfte und fluchte wie ein Türke, wenn ihm die Buren nicht gleich nach Wunsch aufwarteten.
Beliebter ist der »Studentle«. Er ist ein verkrachter Student und ein Bauernsohn aus dem Wolftal, der bettelt, Kleinigkeiten stiehlt und ein Weib und viele Kinder bei sich hat.
Der »Schweizer Jakoble« verfertigt Bürsten und Handschuhe und ist mit seinem Kebsweib überall willkommen.
Die »Mehlkäther« und ihr Mann, der »Böhm«, waren vortreffliche Spielleute, hießen aber hie und da etwas mitgehen, was nicht ihnen gehörte.
Nicht ganz korrekt benehmen sich auch der »alte Josef« und sein Weib, des »blinden Böhmen« Tochter. Er hat, aber nur einmal, beim alten Vogt im Simonswald Kleider und Schuhe gestohlen, und sie gibt sich bei den Bauern gern für »betrübt oder besessen« aus, um mehr Almosen zu bekommen.
Einer der schlimmsten war der »Galeeren-Mathis«, aus der Reichs- und Nachbarstadt Zell gebürtig. Er galt als der Patriarch aller Jauner um Kaste rum, war siebzig Jahre alt und schon zweimal auf den Galeeren in Frankreich gewesen. Des »Stumphosen Lenz« und »der kleine Jakoble« sind seine Gesellen. Alle drei stehlen lieber, als daß sie betteln.
Vor dem Mathis waren im Kinzig- und Elztal »berühmt« als Erzdiebe der »Schlesinger-Toni« (Anton Seng von Saig beim Titisee), der »Schapbachei-Toni« und der »Wälder-Sepple«. Der letztere endigte am Galgen, weil er auch Räuber geworden war.
Die Jauner hielten streng an ihrem Gebiet; fremde Jauner wurden nicht gerne gesehen. In der Baar und am Bodensee streiften wieder ganz andere herum als auf dem Schwarzwald.
Am Bodensee war in jenen Tagen »berühmt« der alte »Bock-Sime«, ein Schweizer, weil er sogar heilige Leiber in St. Veit bei St. Gallen gestohlen und zwanzig Jahre auf den Galeeren verlebt hatte. Er galt als der beste Musikant unter seinen Kollegen.
Das waren so die bekanntesten und genanntesten Jauner aus der Zeit meines Urgroßvaters, lauter Leute, auf die ich keinen Stein zu werfen vermag, die mir im Gegenteil, ich wiederhole es, unserer derzeitigen Großgaunerei gegenüber mit einer gewissen Poesie verklärt erscheinen und die dem Volkstum und dem Geldbeutel meiner Schwarzwälder weniger schadeten als die heutigen Touristen, Luftkuristen, Skiläufer und Radfahrer und die zahllosen jüdischen Hausierer.
Ich muß auch angesichts dieser Miniatur-Jauner wieder sagen: »Gute, alte Zeit!« –