Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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Die treue Gefährtin meines Großvaters funktioniert bei mir, wie schon erwähnt, als eine Art Beschließerin. Sie birgt in ihrem Innern meine literarische Wäsche, d. i. alle Schriften, die ich schon im Leben verbrochen habe.

Alle weiblichen Wesen sind neugierig, und es nimmt ihre Neugierde bekanntlich mit dem Alter zu. So ist auch meine Freundin gar »wunderfizig«, wie man in Hasle sagt, und sobald sie ein neues Buch von mir zum Beschließen erhält, geht sie in nächtlichen Stunden, wenn das Mondlicht in die Stube fällt, darüber her, um seinen Inhalt kennen zu lernen.

Kaum hatte sie nun seinerzeit die Geschichte vom Eselsbeck von Hasle gelesen, in der auch mein mütterlicher Großvater, der Wälder-Xaveri und langjährige Träger der Hausierkiste, einen Platz gefunden, so fing sie an, mir noch mehr, als ich bislang wußte, von ihm zu erzählen. Was sie erzählte, schließt sich an ihre Tage bei der Sägmühle unmittelbar an. Hören wir sie drum weiter:

Der Mann, so mich drunten am Bach aufgeladen hatte und, wie gesagt, dein Urgroßvater war, führte mich, im Städtle angekommen, in eine enge Gasse. Sie hieß die Fledermausgasse, weil sie so eng und finster war, daß die Fledermäuse schon vor Abend darin hin- und herschwirrten.

Vor einem kleinen Häuschen, dessen Dach und Wände mit Schindeln gedeckt waren, hielt der Mann an. Sein Weib, eine schlanke, blasse, schwarzhaarige Frau, kam alsbald unter die niedrige Haustür und fragte: »Hast Bretter bekommen ohne Geld, Klaus?«

»Geschenkt hab' ich sie!« antwortete freudig der arme Mann. »Der Bachjok hat als alter Freund an mir gehandelt und nichts für die Bretter genommen. Er hat mir auch noch ein gutes Neune-Brot dazu gegeben.«

»Es gibt eben doch noch gute Menschen auf der Welt,« sprach gerührt sein Weib. »Ich hab' vorhin unsern Xaverli mit dem letzten Geld, das du mir diesen Morgen zurückgelassen, zum Bäcker in der vordern Gasse geschickt, damit er einen Laib Brot hole. Die Bäckerin hat ihm den Laib auch geschenkt und das Geld wieder mitgegeben.«

»Gott sei Dank!« erwiderte der Klaus. »Aber am Samstag gehst du mit den Kindern hinauf in die Wallfahrtskirche und betest für unsere Wohltäter. Und jetzt hol' mir die Säge, ich will die Bretter versägen, damit sie Platz haben in der Werkstatt und schön trocken bleiben den Winter über.«

So kam ich – fuhr meine Freundin zu erzählen fort – ins Haus deines Urgroßvaters, stand dort jahrelang in einer Ecke, hörte und sah alles, was vorging, und lernte ihn und seine Familie so gut kennen wie mich selber. Was ich dir also noch weiter erzähle, beruht auf Erfahrung.

Du bist nach deinen Büchern ein großer Freund der Schwarzwälder Bauern und der armen Leute. Das kommt meines Erachtens daher, weil du von mütterlicher Seite her von den echtesten Schwarzwälder Bauern, die es geben kann, abstammst und arme Leute zu deinen Ahnen zählst.

Dein Urgroßvater, Nikolaus Kaltenbach, war gebürtig zu Rohrbach, jenem weltfernen Walddorf zwischen den Städtchen Furtwangen und Vöhrenbach im tiefsten, abgelegensten Schwarzwald.

Als du im August des Jahres 1885 – ich hab's in deinen »Dürren Blättern« gelesen – von Vöhrenbach her über den Hirschbühl und den Rappeneckwald nach Rohrbach kamst, wo die junge Adlerwirtin die schönen Lieder sang, damals wußtest du noch nicht, daß Rohrbach die Heimat eines deiner Urahnen sei.

Unterhalb des Dörfchens zieht gegen Nordwesten ein kleines Tälchen hin, »in der Reibsch« genannt. In ihm steht gleich zu Anfang der Reibschhof, ein stattliches, altes, schindelgedecktes Bauernhaus.

Hier war dein Urgroßvater Nikolaus daheim und sein Vater Thomas ein angesehener, waldreicher Bauer, der neben seiner Weid- und Waldwirtschaft noch eine Weinstube hielt.

Er hatte drei Buben: den Jörg, den Nikolaus und den Philipp. Der letztere war Erbprinz und die zwei anderen die »Enterbten«.

Drunten im Bregtal, in und um Furtwangen, hatten damals die ersten Uhrenmacher eben angefangen, ihre Holzuhren zu drehen, zu feilen und zu schnitzen, als die zwei ältesten des Reibschbauern am Weg der Entscheidung standen, ob sie Bauernknechte oder Holzmacher werden wollten.

Da kam der Vater Thomas eines Abends heimgeritten. Er war drüben in Villingen auf dem Markt gewesen und hatte auf dem Rückweg einen Schoppen getrunken im Kreuz zu Böhrenbach.

Hier hatte er Uhrenhändler aus den benachbarten Tälern Urach und Eisenbach getroffen, den Martin Winterhalter, den Andreas Bärmann und die Gebrüder Christian und Martin Grimm.

Diese waren als die ersten Schwarzwälder 1738 mit ihren Holzuhren nach Frankreich, England und Schottland gezogen und jetzt eben zurückgekehrt mit allen Taschen voll Geld und in der Absicht, alle Uhren in der Heimat zusammenzukaufen und Knechte zu dingen, die mit ihnen zögen in jene Lande.

»Werdet Uhrenmacher, ihr zwei Buben,« sprach der Alte an jenem Abend, »und geht hinaus in die Welt!« Und so taten sie – der Jörg ging »in d' Ure«, der Nikolaus »ins Isebächle« – und wurden Holzuhrenmacher, der Nikolaus nebenher noch ein geschickter Dreher.

Zwei Jahre später zogen sie hinaus in die Welt – der Jörg nach England, der Klaus nach Frankreich.

Mit einem Pack Uhren auf dem Rücken, eine unter dem Arm, marschierten sie von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, der eine bei den Engländern, der andere bei den Franzosen.

Die Uhren wurden ihnen an einen Zentralpunkt nachgeschickt, zu dem sie immer wieder zurückkehrten, wenn sie ihre Traglast verkauft hatten.

Erst Uhrenknechte, wurden sie später selbständige Händler, und als solcher zog der Klaus hinunter bis nach Poitiers, wo er seinen Stapelplatz anlegte.

Dreißig Jahre alt, kommt er zurück in die Heimat. In Triberg landet er und kehrt im Löwen ein, bevor er bergaufwärts zieht, dem Bregtal zu. Da hört er, das Wirtshaus sei feil; er kauft's, denn er hat ja Louisdor genug in der Tasche, und kehrt als Löwenwirt von Triberg heim auf den Reibschhof.

Der alte Thomas lebt noch und freut sich. Der junge Löwenwirt sucht alsbald eine Wirtin. Drüben an der östlichen Bergwand des Rohrbacher Tales ist die »Reiners-Eck«, ein Bauernhof, auf dem das Geschlecht der Reiner sitzt.

Die »Marei« auf der Reiners-Eck sei, so sagt man dem Klaus, das schönste Meidle im Schönenbacher Kirchspiel. Die holt er und hält mit ihr Hochzeit an Sommer-Johanni 1752 draußen in dem reizenden Schindelkirchle von Schönenbach, wohin die Rohrbacher damals noch eingepfarrt waren.

Zeugen sind sein Bruder, der Jörg, der einige Tage nach der Heimkehr des Klaus zu Besuch aus England gekommen war, und der Vater Thomas.

Am Hochzeitsabend fährt das junge Paar nach Triberg und bezieht sein neues Heim. Aber den Handel gibt der junge Löwenwirt nicht auf; er wird Uhrenpacker, d. i. er kauft Uhren, packt und versendet sie an die Händler in der weiten Welt, nach Frankreich, Preußen, Holland, Oesterreich.

Es geht alles gut, die Wirtschaft und der Handel. Da stirbt, nach kaum zwei Jahren des Zusammenseins, dem Klaus sein junges Weib. Er muß ein anderes suchen.

Im Löwen zu Triberg hat der Vogelhans von Gremmelsbach, einer Waldgemeinde zwei Stunden nördlich vom Städtle, seine Einkehr. Mit Weib und Kind kommt er an Markt- und Wallfahrtstagen und ißt und trinkt dort, denn der Löwenwirt ist ein Kunde vom Hans, der neben seiner kleinen Landwirtschaft mit Vögeln und mit Wildbret handelt.

Wenn die Glasträger und Uhrenhändler heimkehren aus der weiten Welt, so wollen sie bisweilen was »Extras« essen, und das liefert der Vogelhans.

Er wohnte in dem abgelegenen Hochtälchen von Althornberg, wo einst auf den »Schloßfelsen« die Burg gleichen Namens stand.

Einsam erhob sich seine Hütte zwischen Tannen und Felsen, die des Vogelhansen einzige Nachbarn waren.

Drum suchte er seine Unterhaltung bei den Tieren des Waldes und bei den Vögeln des Himmels. Er hielt sich stets eine Anzahl der letzteren in einer Stube, und mit seinen Vögeln zu sprechen, war seine Freude. Er bekam deshalb im Volksmund den Namen »der Vogelhans«.

Der Vogelhans hausierte aber auch, wie schon gesagt, mit toten Vögeln und mit Wildbret. Krammetsvögel, Schnepfen, Haselwild, Auerhahnen, Hasen und Rehe waren die Artikel seines Handels, dem er nachging, so oft der Bau seines Gütchens es zuließ, vorab zur Winterszeit.

Ob er die Tiere alle selbst fing und erlegte als rechtmäßiger Jäger oder als Wilderer, das weiß die alte Schwarzwälderin nimmer. Ich glaube, daß er fing, was er fangen konnte, ohne Jagdpaß, und das übrige teils von Wilderern, teils von privilegierten Jägern kaufte.

Daß er trotzdem, wie sie heute noch »im Gremmelsbach« von ihm erzählen, allgemein beliebt war wegen »seiner Treu und Redlichkeit«, – versteht sich im Volksmunde, der noch nie einen Wilderer einen Sünder genannt hat, von selbst.

Der Vogelhans wußte seine Ware auch an den Mann zu bringen. Wenn er nur wenig Wild hatte, hausierte er in den Waldstädtchen Hornberg und Triberg; hatte er viel, so lud er seine Beute auf einen zweiräderigen Karren und zog ihn hinab bis – Straßburg, einen Weg von fünfzehn Stunden.

Seine Begleiterin war vielfach seine Tochter, die Mariann'. Es ging talab gen Straßburg, drum war der Transport nicht so schwer, aber immerhin der Weg ein mühsamer.

Im Hin- und Herweg trafen sie oft auf Fuhrleute, die ihnen erlaubten, ihren Karren »anzuhängen« und »aufzusitzen«.

Das Meidle wurde durch diese Reisen in die große Rheinstadt gewandt und gewohnt, mit den Menschen umzugehen, und drum faßte der Löwenwirt und Witmann Nikolaus sie alsbald ins Auge mit der Absicht, sie zur Löwenwirtin zu machen.

Der Vogelhans gab ebenso gern sein Jawort, wie sein Meidle, welches, schier dreißig Jahre alt, nicht mehr geglaubt hatte, daß es noch zum Heiraten kommen würde.

Niemand im Städtle begreift, warum der Löwenwirt des Vogelhansen Tochter nehme, die immer auf der Landstraße herumfahre und hausieren gehe. Drum hielt der Nikolaus seine Hochzeit auch nicht in Triberg. Und da in Gremmelsbach, wohin Althornberg gehörte, damals noch keine Pfarrkirche war, so zog er mit seiner Braut gen Osten über den Berg und wieder nach seinem lieben Kirchlein in Schönenbach.

Zwei Jahre nach der ersten Trauung ward er da mit seinem zweiten Weib zusammen gegeben, und er hat's nie bereut; die Mariann' war eine gescheite Frau, eine christliche Mutter, eine vortreffliche Wirtin und in den Tagen der Not eine Heldin.

Der Vogelhans zog fortan allein gen Straßburg und das noch manch' Jährle, bis der Tod dem greisen Vogelsteller selbst eine Falle legte und ihn wegnahm aus seiner Waldeinsamkeit.

Seine direkten Nachkommen existieren noch in Gremmelsbach, und auch seine Hütte »im Zimmerwald« steht noch einsam unfern der Schloßfelsen. Aber sein Geschlecht hat die malerische Hütte verlassen. Sein Urenkel, der im Herbst 1897 verstorbene »Brunnenmättler«, verkaufte das Gütle und erwarb sich eines im Dorf.

Noch hat sich vom Vogelhans in seiner Familie die Kunde erhalten, daß er fingerlange, dunkle Augenbrauen – ein Zeichen der Energie – gehabt habe. –

Hier muß ich, der Schreiber der alten Freundin, diese unterbrechen und sagen, wie ich staunte, bei einem meiner Urahnen die Liebe zu den Vögeln zu finden, die auch ich hatte von Jugend an und die mich heute noch festhält.

Als Knabe hielt ich stets Vögel, so weit es mir die Eltern gestatteten; als Student hatte ich im Priesterseminar einen Vogel und, selbständig geworden, wurde ich zum Vogelnarren. Ganze Zimmer voll hielt ich in Waldshut und am Bodensee, und jetzt in Freiburg ist einer der Hausgänge stets von Vögeln bewohnt.

Auch Reden hielt ich früher gerne an die Vögel und war so in alleweg ein richtiger Vogelhans.

Ich behaupte, jeder Mensch hat irgend etwas von jedem seiner Ahnen, und so überkam ich vom Vogelhans in Althornberg meine Vorliebe für die Vögel.

Sein Enkel, der Wälder-Xaveri, hatte von ihm auch was, nämlich das Hausiertalent.

Ob ich vom Vogelhans auch meine Vorliebe für die Jagd geerbt? Als Student zog ich gerne mit den Jägern von Hasle durch die Wälder, als Pfarrer am Bodensee war ich einige Zeit Jagdpächter, und als Abgeordneter in Karlsruhe stand ich einmal einen ganzen Tag im Ettlinger Wald als Wilderer, weil ohne Jagdpaß, neben dem Gendarmerieoberst Stölzl auf dem Anstand. –

Daß ich auf den Vogelhans, diesen von Poesie umwobenen Naturmenschen, als meinen Ahnen stolz bin, versteht sich, und ich freue mich, ihn anläßlich der Erinnerungen der Hausierkiste seines Enkels entdeckt zu haben.

Im Mai 1900 habe ich die Stätte, auf welcher der Vogelhans gelebt und gejagt, aufgesucht. Ich fuhr von Hofstetten weg mit meinem Leibkutscher Sepp den weiten Weg bis ins Leutschental; ein weiter, aber schöner Weg. Er zieht durchs romantische Gutachtal hinauf bis gegen Triberg. Wo der kleine Gremmelsbach in die Gutach einmündet, zweigen wir ab und folgen dem Zug des Bächleins. Der Frühling schaut trotz der Maienzeit noch kaum recht in dieses Tälchen. Hie und da ein knospender Kirschbaum und auf den Matten gelbe Schlüsselblumen. Die Gegend gefällt auch dem Sepp. Er meint, die Felsen seien hier oben so naturgemäß aufeinander gesetzt.

Um drei Uhr des Nachmittags sind wir auf dem obersten Rand des Leutschenbachs. Hier ist der Sephenhof, der Geburtshof des Vogelhansen. Aber seines Geschlechts ist kein Mensch mehr da. Ein fremder Stamm lebt heute im großen, alten, auf windiger, rauher Höhe gelegenen Hof.

Der junge Bur, eben mit Pflügen vor seiner Residenz beschäftigt, geht mit uns, um den Führer zu machen. Mit seiner Hilfe gelingt es, im Wagen bis an die Rappen- und Schloßfelsen zu kommen.

Wie war ich erstaunt, als ich auf diesen Felsen stand! Solch eine Aussicht eigenartigsten Reizes hätte ich da oben nie erwartet. Man sieht nicht weit, aber man schaut in eine so malerisch gruppierte Menge waldiger Bergspitzen, kleiner Täler und grüner Mulden, daß einem das Herz aufgeht vor Freude über dieses Stück Schwarzwald.

Dort drüben am »Zimmerwald«, mit Wagen unzugänglich, steht die Hütte, in der einst mein Urahne gehaust hat. Sie liegt so einsam und so weltverlassen da, daß man Mitleid mit ihr haben könnte ob ihrer Einsamkeit und Verlassenheit, wenn nicht die ganze Natur ringsum so reizvoll und so lebhaft redete, jene Sprache redete, die mir die liebste ist.

Ich beneidete deshalb meinen Ururgroßvater um den stillen Sitz in der lauten Natur. Vielleicht habe ich vom Vogelhans auch die Liebe zur Einsamkeit geerbt, und ich könnte mich heute entschließen, in einem wohnlichen Hause bei den Schloßfelsen zu leben und zu sterben.

Wie mir der junge Bauer sagte, wird jetzt noch auf dieser Höhe bisweilen Vogelfang getrieben, aber er rentiert sich ebensowenig mehr als die Strohflechterei. Den heutigen Vogelfängern fehlt die Ware, d. i. Vögel, und den Strohflechterinnen fehlen die Käufer.

Hochbefriedigt von der Tour kehrten der Sepp und ich am späten Abend heim. –

Des Vogelhansen poesievolles Metier als Vogelsteller und Wildbrethändler ist jetzt bei den Bauern im Schwarzwald fast ganz eingegangen. Der letzte echter Art, den ich im Frühjahr 1897 auf einer Suchreise im Wolftal entdeckte, war der Vogelmichel von Rippoldsau, ein Original, das nicht unbeschrieen modern darf.

Ein himmellanger, starker Mensch, war er vielseitiger, aber nicht so rechtschaffen wie mein Urahne. Er trieb die folgenden Berufe: Besenbinden, Baumzweigen, Reifschneiden, Kübelmachen und – Wildern. In letzterer Eigenschaft hatte er es meist nur auf Federwild abgesehen.

Im Winter, wenn Schnee über dem Kniebis lag, schlug sich der Michel als armer Teufel von Hof zu Hof bescheiden durch als Besenbinder.

Wenn aber der Frühling ins Land gekommen und der Schnee als Wasser die Wolf hinuntergezogen war und wenn dann in den Tälern die Obstbäume zu treiben anfingen und die Reifstecken geschnitten wurden, da überkam den Michel der Uebermut. Die Bauern stritten sich darum, zu wem er zuerst komme als Baumzweiger und Reifschneider. Denn der Vogelmichel verstand alle seine Gewerbe meisterhaft.

Jetzt ging der arme Teufel vom vergangenen Winter als Rächer durch die Burenschaft im oberen Wolftal. Den Buren, welche ihn in den Wintertagen schlecht behandelt hatten, versagte er zunächst seinen Dienst, ließ auf sich warten und bediente zuerst seine Wohltäter.

Wenn er dann endlich als Baumzweiger auf einen Hof kam, in dem er schmale Kost und wenig Schnaps bekommen hatte in der Winterszeit, so spielte er dem Bauer einen Streich. Er pfropfte ihm auf seine Wildstämme Vogelbeer- und auf seine Kirschbäume Schlehenzweige.

Bald waren so die Bauern belehrt, wie der Vogelmichel im Winter behandelt sein wollte.

War das Zweigen beendigt, so ging der Michel ans »Strickeln« auf Schnepfen, Auerhahnen und Haselhühner. Nebenbei schnitt er Besenreis und Reifstecken für die Winterarbeit, um einen Vorwand zu haben, im Wald herumzustreifen.

Sein grimmigster Feind war der fürstliche Förster Ganter in Rippoldsau, der genau wußte, daß der Michel seinem Federwild Fangstricke lege. Aber nicht allzu oft ging der Schlingenleger selbst in die Falle, denn der Michel war schlau.

Wurde er aber einmal erwischt, so war der Wilderer trotz seiner Stärke harmlos und ließ sich willig arretieren.

So hatte der Oberförster eines Tags eine Schlinge gefunden. Er stellte nun seinen Jagdaufseher und Oberholzmacher, den Ländere-Karle, auch ein Original, von dem wir im »Abendläuten« erzählt haben, als Aufpasser in die Nähe.

Zwei Tage hatte dieser vom ersten Morgengrauen an im Dickicht vergeblich gelauscht, als am dritten endlich der Vogelmichel vorsichtig angeschlichen kam, um nach seiner Schlinge, die der Karle zugezogen hatte, zu sehen.

Wie der Wilderer sich bückt, um die Schlinge wieder aufzuziehen, springt der Karle aus dem Hinterhalt und erklärt den Michel als seinen Gefangenen. Da nimmt der starke Michel seinen »Ziehamriemen« (Geldbeutel) aus der Tasche und bietet dem Karle seine ganze Barschaft an, wenn er ihn laufen lasse.

Empört über diese Zumutung an seine eidliche Pflicht, führt der Karle den Delinquenten alsbald zum Förster, der ihm, obwohl es schon am Nachmittag war, befiehlt, den Strolchen sofort dem Amtsgericht Wolfach einzuliefern.

Das war ein weiter Weg – zu Fuß fünf Stunden. Sie kamen drum erst spät am Abend nach der Gerichtsstadt. Hier saß der Amtsrichter Feyerlin, auch ein Nimrod vor dem Herrn, schon beim Bier und wurde geholt, als ob ein Mörder eingeliefert worden wäre.

Er erklärte, nachdem er den Tatbestand aufgenommen, der Michel sei geständig, gerichtsbekannt und nicht fluchtverdächtig. Er könne somit wieder nach Hause gehen bis zum Tage des Gerichts.

Der Michel war seelenvergnügt über diesen salomonischen Spruch, weniger der Karle, der den weiten Weg umsonst gemacht hatte.

Beide übernachteten nun im gleichen Wirtshaus und im gleichen Zimmer und zogen am andern Morgen friedlich wieder der Heimat zu. Dort angekommen, trennen sie sich; der Karle geht zum Oberförster, um zu rapportieren, der Michel aber in den Wald, um neue Stricke zu legen.

Der Förster ist teufelswild, daß man den Strolch hat laufen lassen, und glaubt, er werde jetzt erst recht wildern. Das glaubt der Karle auch, stürmt in den Wald und findet den Michel, wie er an der gleichen Stelle seine Schlingen legt. –

Fortan aber hatte sich der Michel verschworen, den weiten Weg vors Gericht nie mehr zu Fuß zu machen. Drum legte er sich, so oft er nach Wolfe transportiert werden sollte, nach kurzem Marsch mitten auf die Straße und war weder durch Zureden noch durch Schläge zum Weitergehen zu bestimmen. So blieb schließlich nichts anderes übrig, als ihn per Wagen zu befördern.

Mit dem Gefängnisleben war er jeweils sehr zufrieden, und er lobte namentlich die gute Verpflegung.

Er trug stets eine kurze Lederhose mit weiten Taschen, in welchen er seine Draht- und Roßhaarschlingen verwahrte. Die letzteren verschaffte er sich dadurch, daß er in die Ställe der Wirtshäuser schlich und den Pferden die Haare aus dem Schwanze zog.

So oft er beim Wildern erwischt wurde, visitierte man seine Taschen nach Schlingen, die dann auf den Gerichtstisch kamen. Als der Richter ihn einmal fragte, woher er die Schlingen habe, meinte der Michel, das wisse er selber nimmer, er habe dieselben wenigstens schon 20 Jahre lang in der Tasche. Nachdem der Gerichtshof sich zur Beratung zurückgezogen hatte, wollte der Staatsanwalt den Frevler necken wegen des guten Hosenstoffs, der länger als 20 Jahre ausgehalten habe.

Da höhnte der Michel und sprach: »Herr, das kennet Ihr nit, i trag' Lederhosen, und die halten länger als 20 Jahr'!« –

Der Lohn für einen gewilderten Auerhahn war damals zu verlockend, als daß der Michel sein Schlingengewerbe hätte aufgeben können. Für einen Auerhahn bekam er zwei Kronentaler und ein Mittagessen mit Wein.

Seine Abnehmer waren meist Wirte im Reuchtal drüben.

Bisweilen ging dem Michel, der viele Schlingen legte und nicht täglich alle besuchen konnte, ein Stück Wild im Walde zugrunde. So fand er einmal nach mehreren Tagen erst einen toten Hahn, den eine Maus oder ein Marder ausgehöhlt hatte.

Der Vogelmichel wußte Rat. Er füllte die Oeffnung mit Sand, nähte die Geschichte zu und machte sich mit dem Hahn auf den Weg ins Reuchtal. Der Wirt, dem der Michel seine Beute antrug, faßte den Vogel am Kragen und prüfte ihn. »Der ist schwer,« meinte er, »den will ich alsbald nach Karlsruhe befördern.«

Der Michel bekam seinen Sold, seinen Imbiß und seinen Trunk und schied. Die Sache mit dem Sande wurde ruchbar; doch der Wirt mußte schweigen, weil der Hahn ein gewilderter war. Der Michel aber schwieg nicht und erzählte seinen guten Freunden, wie er den Reuchtäler »verwischt« habe.

So schlug sich der Vogelmichel durchs Leben, wegen seiner Originalität beliebt bei den Bauern und bei seinen Richtern, und auch die Rippoldsauer hielten was auf ihn; denn als er alt und gebrechlich geworden war und selbst das Betteln nicht mehr ging, nahmen sie den Michel, statt ihn bei den Bauern »umäzen« zu lassen, in ihr neues Armenhaus auf.

Hier starb der brave Mann – Michael Schoch hieß er – und anfangs der achtziger Jahre haben sie ihn begraben; aber heute noch erzählt der Ländere-Karle, jetzt ein Greis, vom Wilderer und die Bauern vom Baumzweiger und Besenbinder, dem Vogelmichel. –

Und nun zurück in die Tage des Vogelhansen, in denen es sicher noch nicht so gefährlich war, Schlingen zu legen, wie in heutiger Zeit.

Während der Hans, so wollen wir die Hausierkiste weiter erzählen lassen, mit Wildbret handelte, handelte sein Schwiegersohn, der Löwenwirt, mit Holzuhren, die er in alle Welt sandte.

Es war immer Leben im Löwen. Von allen Bergen und aus allen Tälern der Umgegend kamen Uhrenmacher, brachten ihre Erzeugnisse, boten sie dem Löwenwirt zum Kaufe an und tranken nach abgemachtem Geschäft ihre Schoppen.

Fast täglich sah man im Löwen auch Uhrenhändler und Glasträger, die aus der weiten Welt heimgekehrt waren und in Geschäftsverbindung mit dem Nikolaus standen.

Da kam der siebenjährige Krieg, der Uhrenhandel stockte in all den Ländern, die mit diesem Krieg zu tun hatten. Die Uhrenhändler draußen kamen ihren Verpflichtungen, manche aus Leichtsinn, andere auch wegen der Geschäftsstockung, nicht mehr nach, und ihre Spediteure, von denen sie die Ware hatten, gerieten ins Schwanken.

Der Löwenwirt in Triberg wehrte sich gegen diese Krisen bis zum Jahre 1768, dann aber brach sein Glück zusammen. Er wollte nicht, daß auch nur einer der vielen armen Uhrenmacher, denen er ihre Uhren abgekauft, einen Heller verliere, obwohl er selbst nichts bekommen hatte für die fortgeschickte Ware.

Seine ganze Habe gab er hin, damit die Leute zu ihrem Geld kämen, und er selber ward ein blutarmer Mann.

Der alte Reibschbur war längst tot und der Bruder Philipp Hofbesitzer;Der letzte Bur des Stammes, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch lebte, kam um den Hof. Seine Waldungen gehören jetzt dem Fürsten von Fürstenberg, und das Hofgebäude ist Armenhaus. der Vogelhans lebte noch – aber der Nikolaus wollte niemand in sein eigen Unglück ziehen, und ihre Hilfe wäre ja auch nicht imstande gewesen, dasselbe abzuhalten. In jenen Tagen gab es im Volke überhaupt keine geldkräftigen Leute: die Menschen mußten mit Wenigem zufrieden sein und waren es auch.

Mit seinem Weib und vier Kindern zog der verarmte Löwenwirt in die Fledermausgasse in eine kleine Mietswohnung und ward ein Dreher.

Drechseln hatte er gelernt bei der Uhrenmacherei im Eisenbach und konnte es besser als Uhrenmachen, und ein Drechsler war keiner im Städtle.

Es kam ihn hart an, das Unglück, weil diese Sorte von Menschengeschick den Männern durchweg härter erscheint als dem weiblichen Geschlecht. Drum sind – und das muß zu ihrem Lob gesagt werden – die Frauen im Unglück allezeit gefaßter und mutvoller als die Mannsleute.

So war's auch die Mariann' aus dem Gremmelsbach, meine Urgroßmutter. Sie meinte, man müsse sich schicken in die Heimsuchung und nicht den Kopf hängen lassen, sonst gehe es einem noch schlechter.

Der alte Vogelhans brachte von Straßburg Pfeifenköpfe von Porzellan, der Nikolaus drechselte die Rohre und die Mundspitzen dazu, und die einst so stattliche Löwenwirtin ging damit und mit Spulen für die Spinnerinnen hausieren in Berg und Tal und brachte am Abend ihrem unglücklichen Dreher ein Stück Geld heim. Nebenbei kaufte sie »auf Borgs« Butter von den Bürinnen, verkaufte ihn wieder im Städtle an Wirts- und Bäckersleute und bezahlte bei der nächsten Hausierreise die alte Schuld.

So schlugen sich die Leute durch, schlecht und recht, wie man zu sagen pflegt. Sie waren und blieben arm, aber sie litten keine Not.

Acht Jahre nach ihrer Verarmung, am 1. Dezember 1776, wurde ihnen, die schon in den fünfziger Jahren waren, noch ein Kind geboren. Weil am 3. Dezember das Fest des hl. Franz Xaver ist, ward das Knäblein Xaver geheißen. Und aus diesem Knäblein wurde später dein Großvater.

Sonst hatten sie noch drei Buben, Nikolaus, Valentin, Alois, und ein Meidle, Elisabeth Bona. Dieses holte der Tod in seinem neunten Lebensjahr, bald nach der Geburt deines Großvaters. Ich hörte noch oft seine Eltern erzählen, das Kind sei zu gescheit gewesen und darum so frühe gestorben.Der damalige Pfarrer Neininger von Triberg schrieb in das Totenbuch von dem Dreherskind, »es sei über sein Alter hinaus gescheit gewesen.«

Als ich, die Hausierkiste, in Brettform in das Häuschen des armen Drehers kam, war der Xaverli fünf Jahre alt, ein schmächtiges, blasses Büble mit ungemein hellen, blauen Augen.

Ich lernte aber auch noch die Hausfreunde des Drehers kennen, die ihn oft besuchten in seiner Werkstätte. Ich will dir auch von ihnen noch erzählen.

 


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