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Aber es ist unvorsichtig, vor den Göttern mit seiner Heiterkeit zu paradieren. Die Post brachte einen Brief der Mutter, der den blanken 324 Himmel meiner Stimmung sogleich mit Nebel überzog.
Sie schrieb, ich schiene mein zuletzt gegebenes Versprechen übel einzuhalten. Die Tante habe ihr mitgeteilt, daß ich mich immer weniger in Gesellschaft zeige und durchaus nicht auf die günstigen Gelegenheiten eingehe, die sie mir zu bereiten suche. Den mütterlichen Rat, den sie mir zum Abschied gegeben, müsse sie aber nun um so dringender wiederholen, denn die Lage habe sich inzwischen leider auf unvorhergesehene Weise bedeutend verschlimmert, und eine gute Heirat scheine ihr das einzige Mittel, mein Erbe so zu erhalten, daß mir später ein erträgliches Leben auf ihm gesichert bleibe, wenn ich es nicht überhaupt vorzöge, einen anderen Beruf zu wählen, was sie aber nicht voraussetze, da sie wisse, wie sehr ich an dem Landleben und an der Heimat hänge. Im übrigen höre sie, daß wir uns anscheinend recht gut verstünden, Mimi und ich, und sie glaube nun einmal, wie sie mir schon damals auf unserem gemeinsamen Spaziergang dargelegt habe, daß sie die Richtige für mich sein würde. Freilich wolle sie mich in keiner Weise nötigen und mir etwa ihren eigenen Geschmack aufdrängen, obwohl es eine alte Regel sei, daß ein Sohn mit der Frau, die der Mutter 325 gefalle, im Leben nicht schlecht fahre. Aber es böten sich mir, wenn ich mich dazu nicht entschließen könne, gewiß noch andere schöne Aussichten, die bei einigem guten Willen meinerseits gewiß zu erfüllen wären, ohne daß ich dabei meinen berechtigten Ansprüchen an Charakter, Familie und sonstige gute Eigenschaften, die ein häusliches Glück verbürgen, entsagen müßte.
Ich war so verärgert, daß ich zum erstenmal in meinem Leben einen Brief der Mutter unwillig hinwarf. Und die trüben Unken, die der alte Tauchen aus den Tümpeln des Fischwaldes vor meinen Ohren hatte ertönen lassen, begannen wieder ihr warnendes Klagerufen. Dabei fiel es mir auf die Seele, daß ich es bisher noch immer verabsäumt hatte, in der Landtafel nachzuschauen. Jedesmal, wenn ich den Gang zum Landgericht tun wollte, hielt mich eine Scheu ab, ein Gefühl, als würde ich damit ein Unrecht meinem Vater gegenüber begehen, der doch gewiß an mir unrecht tat, indem er mir verheimlichte, daß unser Vermögen in Unordnung geraten sei. Seinerseits hinwieder mochte die Ängstlichkeit, mit der er mich von allen wirtschaftlichen Dingen fernhielt, auf den Hader zurückgehen, den ich mit ihm und Onkel Artur 326 einst gehabt hatte und bei dem manches harte Wort gefallen war, das, im Verein mit einem schlechten Gewissen, immer noch irgendwie unglücklich und verhängnisvoll hemmend nachwirkte. Ich verschob den Vorsatz, im öffentlichen Buch zu spionieren, von einem zum anderen Mal, weil es mir, bei allem Recht, das ich als Erbe dazu haben mochte, widerstrebte, ihn auszuführen, und ich beschloß, mit dem Vater zu sprechen, ihn, wenn nötig, zur Rede zu stellen, wenn ich auf Weihnachten nach Hause kommen würde.
Ich ließ Martha, als ich sie später traf, meine Verstimmung nicht merken und zwang mich, um so vergnügter zu tun, als sie selbst mehr als sonst bedrückt schien.
Wir fuhren hinaus und fanden den kaiserlichen Park still und fast menschenleer.
Während die Gartenreste, die in den Stadtmauern gefangen liegen, ihre meisten Blätter schon müde verstreut hatten, flammte hier das Laub noch im vollen Prunk des Herbstes, und dieser größte und verschwenderischste aller barocken Künstler erfüllte das herrliche Bauwerk aus Natur erst mit der rechten Stimmung jenes zierlichen höfischen Zeitalters, das, in seiner höchsten Pracht und Machtentfaltung selbst 327 schon die Schauer des Unterganges leise ahnend, solche Wundergärten gedichtet hat. Damals wurde die wilde Natur bei Hof nicht vorgelassen. Nur künstlich frisiert, im steifen Schnitt beengender Feiertracht durfte sie an die breiten, kalten Steinfliesen und Marmorportale der Paläste herantreten, von denen aus die Majestät sich ihr zuneigen und ländlicher Lust zu pflegen geruhte. So blickt sie durch hohe Glastüren und Bogenfenster nur als ein erweiterter Prunksaal herein, in welchem es ihr gestattet ist, ihren Reichtum, vom Geschmack der Gartenkünstler veredelt und geleitet, maßvoll walten zu lassen. Aus Gras und Wiesen weben sich, von weißen Wegen figurenreich umsäumt, köstliche Teppiche, die Bäume bauen sich, mauergleich beschnitten, zu hochgewölbten Korridoren und heimlichen Laubboudoirs, die der mutwillige Wind nur sacht bewegen, wo er nur flüstern kann, wie es angenehm ist zur Dämpfung eines galanten Geplauders. Die frischen Quellen müssen, in enges Röhrwerk gefaßt, ihrem Trieb entgegen in die Luft steigen, in schöne Becken freundlich niederplätschern, wie klingende Glasglocken über glatte Steinstufen fallen, und über allem leuchten die Standbilder der Götter, der uralten Gestaltungen weltbewegender 328 Naturkräfte, anmutiger Tugenden und schöner Sünden, marmorne Reize, die das warme Leben dem Blick nicht bieten darf, in weißer Kühle und wundervoll erstarrter Bewegung enthüllend.
Heute lag der Garten vor uns wie der ungeheure Festraum eines längst verlassenen Schlosses. Das Parterre ein verblichener Teppich, in dem noch einzelne grelle Farbflecke brannten, die Laubwände Tapeten aus schwerem Goldbrokat und Purpur, hier und da schon zerschlissen und durchlöchert, oben der mattblaue Himmel mit verklärten Wolkenbildern, wie ein hohes, heiteres Deckengemälde, alles umsponnen vom gedämpften Licht und der tiefen Traumstille des gedämpften Herbsttages. Fernher das dumpfe Kochen und wühlende Branden der großen Stadt, deren Dünste gegen Norden und Osten trüb in der Bläue lagen. Unsere einsamen Schritte rauschend im hingeschütteten Goldlaub, manchmal vom Schloß ein verträumtes Uhrenschlagen, blasser, fröstelnder Sonnenschimmer und der herbe Duft von gefallenen Blättern und von Buchsbaum.
Dieses und ähnliches sprach ich erklärend zu Martha, und sie hörte mir, während wir in den Laubengängen kreuz und quer spazierten, nachdenklich zu. 329
So kamen wir in eine ganz einsame Gegend des Parkes, und einer der schmalen Hainbuchengänge, die wir durchschreiten wollten, erwies sich als eine Sackgasse und endete unvermutet in ein kleines Rondell, wo vor einer Marmorgruppe, die einen flötenden Satyr und eine lauschende Nymphe darstellte, Bänke zur Rast einluden. Die Gruppe war von einem zierlichen Säulenbau überwölbt, an dem Wildweinranken wie Blutgerinnsel niederhingen.
Wir setzten uns. Still und umschlossen war der Ort. Vorne der Blick in den braunen Gang, dessen heller Kiesgrund voll roter und ockergelber Blätter lag, und wo er fürs Auge immer enger und tiefer zusammenlaufend mündete, ein ungewisses Schimmern von Fernblau und Goldduft. Oben im starren Rund der gestutzten Baumkronen der Himmel schon in den schrägen und weich färbenden Strahlen der Sonne, die sich neigte.
Mir war es, als säßen wir ganz versunken im Grund der Zeiten, und über uns glitte in den stummen Wolkenschiffen fremd und unhörbar das Leben hinweg, hier schattend, hier lichtverklärt, immer sich bildend, verändernd, lösend und aus vielen schweigsamen Gesichtern traumhaft zu uns niederschauend. 330
Ich sagte es Martha. Sie blickte sinnend zu Boden und bewegte ihren Fuß im dürren Laub.
»So muß alles versinken, was gut und schön ist«, sagte sie langsam, »und man soll es nicht wieder aufstören. Das macht es nur noch trauriger.«
Da ich nicht antwortete, fügte sie nach einer Pause hinzu: »Ich war schon halb ans neue Leben gewöhnt. Besser, du hättest mich nicht mehr daran erinnert, daß es einmal so anders war, daß ich es mir so anders vorgestellt habe. – Ach, das waren dumme Träumereien!« seufzte sie.
»Sind wir nicht jung und haben noch viel Schönes vor uns, wenn wir nur wollen?«warf ich ein, sie sanft an mich ziehend.
Sie schüttelte den Kopf: »Wozu noch etwas wünschen? Es kommt ja doch, was kommen muß. Je schlimmer man es sich vorstellt, desto erträglicher wird es sein. Nur nicht erst wieder das Gewesene aufrühren!«
»Kind, du sprichst wie jemand, der den besten Teil des Lebens hinter sich hat.«
»Soweit es schön sein konnte, hab' ich es auch wirklich hinter mir – lange schon – seitdem ich vom Wald fort bin.« 331
»Und kann es denn nicht wieder schön werden?«
»Nein. – Siehst du, wie ich noch sehr jung und eigentlich immer fröhlich war, überkam es mich doch manchmal ganz plötzlich wie ein Schauder, und ich ahnte, daß ich nicht zum Glück geboren bin. Es ist etwas in mir, das immer Zwiespalt erzeugen muß. Es kommt mir fast so vor«, dies sagte sie lächelnd, »es wäre ein Irrtum geschehen, als ich zur Welt geschickt wurde, und ich wäre wohin geraten, wo ich gar nicht sein sollte. Der Vater, wenn er ärgerlich wurde, weil mir etwas nicht gut genug war oder ich nicht nach seinem Kopf wollte, schimpfte mich auch immer eine verwunschene Prinzessin. – Ach, und ich hätt' es doch viel lieber einfach gehabt, und die ganze Vornehmtuerei war und ist mir die größte Qual. Das hat mich von oben weggetrieben, und das treibt mich auch von hier.«
»Und wohin willst du?«
»Die Leute sagen, ich hätt' eine gute Stimme und könne mir viel damit verdienen. So will ich zur Bühne, will selbständig sein, leben, wie ich mag. Und wenn ich genug verdient habe, suche ich mir einen stillen Ort, da will ich einsam sein und Gutes tun.« 332
»Es fehlte gerade noch, daß du Nonne wirst.«
»Das wäre vielleicht das Richtigste. Ich passe ohnehin gar nicht in die Welt und singe am liebsten in der Kirche.«
»Martha! Du bist heute mit dem linken Fuß aufgestanden . . .«
»Mir scheint, das geschieht jeden Morgen, seit ich hier bin. Vielleicht steht mein Bett verkehrt. Ich muß nachsehn.«
»Liebe, liebe Martha«, sagte ich, zärtlich den Arm um sie legend, »du weißt gar nicht, wie weh das tut, dich so sprechen zu hören.«
»Dir?«
»Gewiß. Mir – gerade mir. Denkst du denn gar nicht daran, daß ich dich lieb habe?«
Ich wollte sie küssen, aber sie wehrte ab und sagte ernst: »Was willst du von mir? – Schau, wenn wir uns lieb haben, so ist das wie dieses hier –«, sie nahm ein Wildweinblatt, das nah von ihr niederhing, »es sieht so schön und freudig aus, und blüht doch nur, weil es welk ist. Da –«, sie ließ die fünf Blättlein zerfallen, »ein Windstoß, und es ist hin und liegt auf der Erde.«
Gedankenvoll blickte sie zu den fünf blutroten Tropfen auf dem weißen Kies nieder, und ich sah Tränen in ihre Augen treten. 333
Statt aller Antwort zog ich sie an mich und legte meine Lippen an ihre kühle Wange. Sie ließ es geschehen, und wir verweilten ein paar Augenblicke so. Es war ganz still um uns. Ein leichtes Windschauern löste ein paar Blätter von der Buche, die leise raschelnd niedertaumelten. Die Uhr vom Schloß tat verträumt einen hellen Schlag, dem zögernd vier tiefere folgten.
Sich sanft von mir befreiend, begann Martha von neuem: »Siehst du, daß es mit uns zweien doch kein gutes Ende nehmen kann, ist mir auch damals bald nach dem schönen Sommer dort oben klar geworden.«
»Und dies ist der Grund, daß du seither die Heimat gemieden hast?«
»Nicht das allein, aber doch einer – und vielleicht der tiefste . . .«
»Martha! – Wie glücklich hätten wir noch sein können, wie glücklich könnten wir noch jetzt sein, wenn du nur . . .«
»Nein, nein. – Laß mich. Du wirst mich doch nicht belügen wollen . . . Du hast deinen Weg und ich hab' meinen. Sie gehen auseinander, und da ist es am besten für uns beide, wenn sie sich gleich trennen . . .«
»Sie haben sich einmal begegnet, und das war das schönste Stück meines Lebensweges, sie 334 haben sich jetzt wieder getroffen, ohne daß wir es wollten. Laß sie zusammengehen, solang' es das Schicksal will, und laß uns nehmen, was Schönes und Liebes auf dieser Strecke erblühen mag.«
»Dann ist das Ende nur ein furchtbares Leid. Ich ertrag' es nicht. Du vielleicht. Du bist ein Mann. Dir blüht leicht wo ein neues Glück. Du hast auch all die Jahre her dir dein Leben nicht dadurch vergällen lassen, daß ich nicht dabei war.«
»Martha!«
»Still! – Mach dir und mir nichts vor. Du hattest gewiß recht und konntest gar nicht anders. Ich aber . . .« Sie stockte, und wieder schimmerte es in ihren Blicken, die unruhig zur Ferne gingen, feucht auf.
»Liebe, liebste Martha!«
Sie entzog sich mir. »Laß es!« sprach sie mit Entschlossenheit, und nach einer Pause, in der mir gar nichts Tröstliches einfallen wollte, begann sie und erklärte: »Siehst du, dieser fürstliche Garten, von dem du so schön zu sprechen verstehst, ist deine Welt. Da kommst du her. Ich aber komme – aus dem Wald, aus dem Dunklen, dem Unbekannten.«
»Martha!« rief ich, »wie kannst du derlei 335 sagen und weißt doch, daß mir dieser Park, wenn ihn mir jemand samt dem Schloß und großen Reichtum dazu schenken wollte, niemals meinen Wald ersetzen könnte! Ja, den dunklen Wald, aus dem ich so gut komme wie du, und der uns beiden nichts weniger als unbekannt, sondern das Vertrauteste ist, das wir zusammen besitzen, in dem wir uns gefunden haben und alles, was uns so heimlich und innig verbindet.«
»Du verstehst nicht, was ich meine«, versetzte sie. »Ob du auch zufällig da oben im Wald geboren bist wie ich, dein Wesen hat doch eine ganz andere Herkunft als das meine. Es kommt aus allem diesen, das uns hier umgibt, und zwischen dir und mir steht eine Mauer, eine Parkmauer, wenn man es so nennen will. Ich gehöre nicht herein, ich hab' innerhalb dieser Mauer nichts zu suchen.«
In diesem Augenblick sah ich mich unter der Galerie der steifen Ahnen. Ich hätte laut auflachen mögen, doch ich fühlte, wie tief, wie unheilbar vielleicht das Martha jetzt verletzt hätte. So bezwang ich mich zu einem Lächeln und sagte, indem ich ihre Hand ergriff: »Liebe Martha, diese Mauer besteht, glaub mir's, nur in deiner Einbildung. Sollte sie mich je umgeben haben, so hab' ich sie längst und gründlich 336 niedergerissen. Es ist nicht nötig, zu mir ein Tor oder auch nur ein Hinterpförtlein zu durchschreiten. Alles steht weit offen, und du weißt es so gut wie ich selbst, daß ich nie innerhalb irgendeiner Mauer leben könnte, und würde sie eine noch so schöne Welt umschließen. Nein, mein Leben und Wesen war, ist und bleibt immer nur der weite, wilde, freie Wald.
Erinnerst du dich, wie unser geliebter Eichendorff an irgendeiner Stelle den Park schildert, der plötzlich, von Frühlingssturm und Heimweh nach der Wildnis überfallen, die beschnittenen Wipfel dehnt und reckt, wie sie mit den freien jenseits der Mauer ineinander rauschen, die gefaßten Quellen ihre Bande brechen, die Blumen ihre Beete überwuchern und die ganze steife Pracht in einer blühenden Verwirrung untergeht? Selbst die Marmorbilder werden lebendig, und die Götter wandeln wie einst frei und schön in der Natur. So, wenn du schon eine Mauer sehen willst, ist es vielleicht mir ergangen, und der Frühlingssturm, der mich befiel, ist meine Liebe zu dir.«
Für's erste wußte sie nichts zu erwidern. Nach einer Weile, während ich absichtlich schwieg, um meine Worte in ihr nachwirken zu lassen, schüttelte sie den Kopf und sprach 337 eigensinnig: »Es ist doch so, wie ich sage. Da ist deine Welt und da ist meine. Und da ist eine Mauer dazwischen, ob du sie wahrhaben willst oder nicht. Ich fühle sie nur zu deutlich. Und so haben wir auch verschiedene Wege, die auseinander gehen, die nie zusammenkommen werden und dürfen. Darum, je eher sie sich trennen, desto besser, so schmerzlich es für den Augenblick sein mag.«
Sie wollte sich erheben. Ich drückte sie sanft auf die Bank nieder. Die seltsamen Erlebnisse mit dem Bild, die ich ihr bisher sorglich verschwiegen hatte, würden jetzt ein starkes, ein wohl unüberwindliches Argument geboten haben. Doch ein Gefühl, daß die Zeit dafür noch nicht ganz reif sei und daß ich nichts tun dürfe, das Marthas Empfinden irgendwie von außen beeinflussen könne, hielt mich zurück. So sagte ich nur: »Liebes Mädchen, ich glaube, eine Macht, die der unseres Willens weit überlegen ist, hat schon unseren Weg bestimmt. Doch erkläre mir nun, wie du dir den Weg vorgezeichnet hast, den du gehen willst.«
»Wie ich dir schon sagte«, erwiderte sie, »ich will zur Bühne. Und weißt du, dieser Herr Rudi, der berühmte Dichter, so zuwider er mir ist, kann mir da sehr nützlich sein. Deshalb darf 338 ich ihn nicht schlecht behandeln. Er hat mir das Angebot einer Konzertreise in Amerika verschafft. Dort würde ich, wie er meint, meinen Ruf begründen und es dann viel leichter haben, hier ein gutes Engagement zu erhalten. In einigen Tagen soll der Vertrag unterschrieben werden.«
»Martha! Unterschreibe ihn nicht und schlage dir solche Pläne aus dem Kopf!« bat ich. »Überhaupt«, fuhr ich fort, »hüte dich vor dem Rudi, du hast viel mehr Grund dazu als ich.«
»Warum?« fragte sie erstaunt.
»Weil dieser angebliche Weg zu deinem Ruhm, den er sich ausgedacht hat«, versetzte ich, »ein recht bequemer Weg auch von ihm zu dir ist.«
»Wie meinst du das?« sagte sie stirnrunzelnd.
»So, wie der schlaue Rudi es sich denkt«, antwortete ich, »und wie du, liebes Waldmädchen, es dir in deiner Weltfremdheit nicht im entferntesten vorstellst. Du glaubst ja auch, diese schlimme Welt von dir zu entfernen und sie zu bannen, indem du eine Art von Klostertracht zur Schau trägst.«
Sie war nachdenklich geworden. Dann, mit niedergeschlagenen Blicken, die verwirrt am Boden hin und her gingen, sprach sie: 339
»Was soll ich sonst? – Ich muß fort von hier. Ich kann und will hier nicht bleiben. Es wird mit jedem Tag unerträglicher.«
»So versprich mir doch, nichts zu übereilen und nichts ohne meinen Rat zu tun. Laß uns doch wenigstens gute Freunde sein.«
»Ach, ich weiß nicht, was ich kann und soll. – Komm, es schlägt halb. Um fünf wird der Park geschlossen. Wir müssen eilen, um noch zurecht ans Tor zu kommen.«
Wir hatten uns erhoben.
»Martha«, bat ich, meine Hände auf ihre Schultern legend, »glaubst du es denn, daß ich dich lieb habe und . . .«
Rasch legte sie die Hand auf meinen Mund. Ihre Lippen zitterten und ihre großen feuchten Augen sahen mich flehend an. Dann pflückte sie vom wilden Wein eine Ranke mit ganz jungen, zarten, wundervoll gefärbten Blättern und gab sie mir lächelnd, während eine Träne ihr über die Wangen floß: »Häng' dir das über den Tisch und sieh es dir an, wenn du an mich denkst . . .«
Ich nahm die Ranke und küßte ihre Fingerspitzen. Dann gingen wir schweigend den Laubengang hinunter.
Als wir uns vor dem Tor noch einmal 340 umwandten, lagen schon die breiten rötlichen Scheine des Abends auf den goldenen Laubwänden, und lange Schatten schlugen kühl über die Wiesenmatten, Beete und Wege hin. Einzelne der lichten Göttergestalten waren wie von warmem Leben behaucht. Und das Gloriett auf seiner Terrassenhöhe flimmerte und strahlte, als wäre es innen voll Feuer, und ein goldiges Wolkengewühl lagerte hinter dem heiteren Säulenbau.
Der schöne Blick bannte uns für eine Weile. Die tiefe Sonne sank hinter die Wipfel, und der ganze Wundergarten schien in Abendrot unterzugehen.
Der schnelle Fiaker brachte uns früh in die Stadt. Wir stiegen beim kleinen Garten aus, und da Martha Zeit hatte und es noch hell war, wollten wir dort eine Weile spazieren. Nach der Stille des großen Parkes aber war uns die lärmvolle Enge hier unerträglich, und die bescheidene Anlage schien so verstaubt und ärmlich. Ich beredete Martha, mit mir zu kommen, ich wolle ihr ein hübsches Gärtchen zeigen, und führte sie auf einem Umweg zu meinem Haus. Durch den offenen Torweg traten wir in den Hof. Freilich war's nur mehr der kümmerliche Rest eines Parkes, was sich uns 341 hier bot. Ein paar Rasenstücke in verwilderten Buchsbaumfassungen, die wenigen alten Bäume, mitten ein vertrocknetes Steinbecken, aus dem sich verwittert und übermoost die Figur einer Putte mit Pfeil und Köcher auf einem großmauligen, dickschuppigen Fisch reitend erhob. Im Rasen rechts und links noch zwei graue Urnen mit Faungesichtern, und hinten an der Mauer ein verfallenes Hüttchen. Aber ich hatte das Gärtchen lieb und bemühte mich manchen Morgen, es von dieser oder jener Seite zu zeichnen. Nun müsse sie aber auch noch meine Wohnung sehen, sagte ich, als wir uns anschickten, den Garten zu verlassen, und öffnete rasch die Tür zum Vorzimmer und die in den Wohnraum. Martha blieb, ein wenig neugierig in die dämmernden Räume hineinspähend, unter der Torwölbung stehen.
»Betrachte doch das Bild, das über dem Schreibtisch hängt«, sagte ich. »Es ist sehr merkwürdig!«
Sie trat näher. Ich schob sie sanft hinein. Sie wehrte sich und ging nur bis zur Schwelle der Stube vor.
»Wem sieht das Bild ähnlich?« fragte ich, in ihrem Antlitz forschend. Sie schwieg zweifelnd.
»Niemandem anderen als dir selbst«, fuhr ich 342 fort. »Das bist du, hier auf dem großen Bildnis und – komm nur ein paar Schritte näher – noch mehr auf diesem kleinen.«
»Wieso? Das ist nicht richtig! Wie kommst du zu diesen Bildern?« überstürzte sie sich, jetzt ganz zum Schreibtisch herangetreten mit dem kleinen Bild in der Hand, das ich ihr gereicht hatte. »Ach, alles Einbildung!« fügte sie mit einem Blick in den Spiegel hinzu. »Das bin ich gar nicht, nicht einmal eine besondere Ähnlichkeit! Und dieses Kostüm!« Sie lachte, während sie das Bildchen im goldgepreßten Futteral genauer in Augenschein nahm.
»Würde dir entzückend stehen«, fiel ich ein, »und das Porträt vollkommen zu dem deinigen machen. Ich werde dir einmal erzählen, was es mit diesen Bildern für eine besondere Bewandtnis hat.«
Ich hatte den Diener herangeklingelt und befahl ihm trotz Marthas Beteuerung, sie müsse ungesäumt heimkehren, den Tee zu bringen. Zögernd ließ sie sich nötigen, Platz zu nehmen.
»Sehr gemütlich hast du es hier«, begann sie, im biedermeierlichen Kanapee zurückgelehnt den Raum betrachtend. Wieder hefteten sich ihre Blicke auf das Bildnis an der Wand. »Weißt du«, fuhr sie fort, »eine gewisse 343 Ähnlichkeit ist tatsächlich vorhanden, nicht aber mit mir, denn so schön und vornehm bin ich nicht, aber der Vater verwahrt eine Photographie meiner Mutter, die so jung hat sterben müssen, und von der hat diese Dame etwas im Blick und im Ausdruck des Mundes. Aber das ist natürlich ein Zufall.«
»Wahrscheinlich keiner«, sagte ich bedeutungsvoll. »Doch davon später einmal. Ich besitze die Bilder jedenfalls, weil sie dir nicht nur gleichen, sondern weil sie dich für mein Auge und Gefühl darstellen. Das kleine begleitet mich seit dem Sommer, da ich dich nicht mehr daheim fand, auf allen Reisen und . . .«
»Wie du zu flunkern weißt!« lachte sie.
»Du wirst einmal erfahren, daß ich nicht flunkere«, sagte ich nachdrücklich. »Aber«, setzte ich mit einem Lächeln in ihre gespannten Blicke hinzu, »nur dann, wenn du mir öfter hier ein Plauderstündchen schenkst.«
Ein altes Klavier, das im Zimmer stand, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte, es zu spielen, und es fand sich nicht so verstimmt, wie wir erwartet hatten.
Der Diener brachte das Service und Licht. Martha, die meine nicht sehr geschickten Veranstaltungen bemerkte, schob mich lachend beiseite 344 und übernahm es selbst, den Tee zu bereiten. Ich saß stillvergnügt, sah sie mit den schlanken Fingern hantieren und wünschte, daß sie stets zur Dämmerstunde käme. Als ich sie neuerlich darum bat mit der Begründung, daß uns schlechtes Wetter gewiß auch bald die Spaziergänge verleiden würde, sagte sie lustig: »Vielleicht, wenn du sehr brav bist. Aber vergiß nicht . . .«, damit nahm sie die Weinranke und hing sie im Studierstübchen über meinen Schreibtisch ans Bücherregal.
Dann begleitete ich sie ein Stück Weges durch die dunkle Gasse nach Hause.
Martha hielt Wort und kam nun öfter um die schöne Stunde des Zwielichts und der Einkehr, die in meiner stillen Behausung etwas vom Zauber der Ländlichkeit hatte. Meist erwartete ich sie schon in der Stadt und ging dann mit ihr auf weniger belebten Gassen zurück. Unterwegs besorgten wir zusammen Einkäufe an Büchern und Noten, und ein Antiquitätenladen bot uns Gelegenheit, einander kleine Geschenke zu machen, deren Wert durch Liebhaberei und Erinnerung mehr bestimmt wurde als durch den Preis. Zu Hause saßen wir dann plaudernd auf dem Diwan in meiner Studierstube, und ich ließ oft mit Absicht die Lampe 345 erst bringen, wenn es fast dunkel war. Während die Dämmerung langsam in die Stille wuchs, draußen ein Stück gefärbten Himmels mit den feinen schwarzen Astgittern hereinsah, ab und zu ein gedämpftes Wagenrollen vorüberkam, wurden unsere Worte leiser und zärtlicher und schwiegen endlich ganz in süßer Träumerei, der wir uns Hand in Hand eng zusammengerückt beim Knistern der Ofenglut hingaben. Später, wenn die Lampe mit dem grünen Schirm den altmodischen Raum freundlich erhellte, spielte Martha auf dem Klavier und sang mit ihrer klaren, fast knabenhaften Stimme, was ich wünschte, und das waren meist die wundervollen Vertonungen lieber deutscher Gedichte von Schubert, Schumann und Brahms, oder die unsterblichen Volkslieder, ja zuweilen sogar stellte ich ihr mein altes Kommersbuch hin und fiel mit ihr ein in die unverwüstlichen Klänge der herrlichen freien Studentenlaune.
Die Wildweinranke über meinen Schreibtisch hatte sich schon fast ganz entblättert, dafür standen, wenn Martha kam, stets frische Rosen vor dem Spiegel, die ich ihr beim Abschied mitgab.
So genossen wir ein stilles Glück, das von lärmenden Festen, weltlicher Eitelkeit und 346 betäubendem Rauch nichts wußte und doch in behutsam tastenden Worten und zwangvoller Zurückhaltung ein zerstörendes Quälen barg, und ich kam mir manchmal vor wie einer, der in einem Haus aus Papier ein Feuer hüten muß und es doch gern warm hätte dabei.
Eines Abends – es war schon spät im November, die Bäume vor den Fenstern ächzten im Wind, und Tropfen schlugen an die Scheiben – hatte mir Martha, die zum Singen nicht aufgelegt war, lange auf dem Klavier vorgespielt und war dabei immer wieder auf wehmütige Weisen verfallen. Wir hatten beide wenig gesprochen, und ihr Spiel vermied, wie um uns das Reden zu sparen, von Unruhe getrieben jede Pause.
Eben hatte sie auf meine Bitte den seltsamen Walzer aus Schumanns Albumblättern gespielt, der ein so unübertrefflicher Ausdruck rastlos wühlender Leidenschaft ist, die von dem Gegenstand, an dem sie verzweifeln muß, bis zum Wahnsinn nicht lassen will. Sie schien mir heute besonders reizend in einem dunkelgrünen schlichten Kleid mit zarten weißen Spitzenhüllen um Hals und Arme. Das weiche Licht der Kerzen rieselte immerzu mit leiser Unruhe über ihr blasses Gesicht, und ihre großen Blicke folgten 347 fast ängstlich dem Notenblatt. Ein Glas mit großen gelben Rosen, die sie besonders liebte, hatte ich aufs Klavier gestellt. So eigen stumm und träumend hingeneigt standen die wundervollen Blüten im zitternden Lichtschein, und plötzlich, offenbar bewegt von einem stärkeren Anschlag der Tasten, schüttelte die vollste unter ihnen all ihre duftenden Blätter auf das blankspiegelnde dunkle Holz hin. Martha erschrak und brach das Spiel ab. Ich war im Zimmer leise auf und ab gegangen und stand nun gerade hinter ihr. Ich bog mich nieder und umschlang sie. Unsere Lippen hafteten tief schlürfend aufeinander. Wir hatten beide die Augen geschlossen. Allerlei Bilder jagten mir in bunter Folge an der Seele vorüber. Die Nacht in Venedig, der Saal mit der Bühne, Gegenden aus der Heimat in tiefem, rotem Licht. Immer enger zog ich Martha an mich, fühlte ihr Atmen und den erregten Schlag ihres Herzens. Tief seufzend ließ ich sie los. Sie lag wie ohnmächtig in meinem Arm. Dann schlug sie die Augen auf, lehnte sich an das Notenpult und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ich strich ihr besänftigend mit der Hand übers Haar. Endlich stand sie auf, blaß und mit schmerzvoll irrendem Blick. 348
»Es muß ein Ende haben«, seufzte sie, »ich muß fort . . .«
Ich wollte sie mit zärtlichen Worten an mich ziehen. Sie wehrte ab, trat in die Mitte der Stube und griff nach ihrem Mantel, der über einem Stuhl hing, wie ich ihn ihr beim Eintreten abgenommen hatte. Ich flehte sie an zu bleiben. Aber sie schüttelte den Kopf und begann sich anzukleiden. »Leb wohl«, sagte sie flüsternd. »Wir dürfen uns nicht wiedersehen.«
Ich hielt ihre Hand fest, beschwor und versprach.
Sie bat mich, den Tränen nah, sie freizugeben. So hilflos und mitleiderregend war ihr Anblick, daß ich ihr den Willen tat, auch Hut und Mantel nahm und mit ihr das Haus verließ. In Sturm und Regen schritten wir schweigend die Straße hinauf, die im schwankenden Laternenschein vor Nässe glänzte. Etwa hundert Schritt von ihrem Haus bat sie mich, sie zu verlassen. Wann ich sie wieder treffen könne? – Sie antwortete nicht. Aber wie damals, als wir von den Heidesteinen zurückkamen, zeichnete sie mir mit zitternder Hand Kreuze auf Stirn, Mund und Brust. Ich wollte sie küssen, aber einige Leute kamen eben aus der Seitengasse. Sie löste ihre Hand aus meiner und schritt eilig hinweg. 349
Freund Albrecht schrieb einen wunderlichen Brief vom Land der Roten Erde, dessen spätherbstliche Stimmung er in wenigen Sätzen treffend schilderte: »Der Nebel hängt um die alten Eichen wie nasse Tücher, die Hunde läuten, der starke Keiler kämpft sie ab und bricht wie immer dort aus, wo der alte Schultes steht und vorbeischießt. Und draußen am Waldsaum lehnt der Schäfer Jochen auf der Schippe und kiekt Spörken. Und das alles ist doch immer wieder ein Genuß, wenn man hier gewachsen ist, läßt es sich auch mit den bunteren Reizen eurer Landschaft nicht vergleichen. Wie geht es deinem Wald? – Vor allem hoff' ich – er steht noch! Weidmannsheil auf Wild und sonstiges, was man im Hause gut brauchen kann. So zum Beispiel ein bißchen mehr Sonnenschein. Mein Alter kann nicht mehr recht mit und wird mit jedem Tage kümmerlicher. Haus und Hof sind nun in meiner Hand und machen mancherlei Sorge, die ich allein fast nicht mehr bewältige. Onkel Tiraß läßt dich grüßen, und du sollst bald mal wieder auf Schweine kommen. Er ist unverändert wie der Forst, die Hunde und Säue, grimmig und gesund. Aber in der alten Abtei ist es sehr einsam geworden, seit Primavera hinterm Gitter steckt. Sie behauptet, sich 350 dort wie im Himmel zu fühlen, und ihre Mutter wandelt nur mehr in ätherischen Verzückungen, worin sie nicht einmal mehr die stinkenden, kratzenden Rüden zu stören vermögen.
Ich bin vorderhand weder imstande, es zu solcher Abklärung zu bringen, noch so unsterblich wie Tiraß, der feuchtbemooste, in seinem Urwaldwesen. Ich brauchte etwas von dem Leben um mich, das dich, Glücklicher, so leicht und fröhlich umgibt und von dem du mir nicht den richtigen Gebrauch zu machen scheinst. Den richtigen – verstehe mich wohl! Aber der Mensch ist ja meistens so, daß er das, was er besitzt oder besitzen könnte, nicht wahrnimmt oder wahrhaben oder einfach haben will und statt dessen seine Gedanken und Wünsche weiß Gott wohin in die Ferne schickt. Auch die meinigen lassen sich schwer hier halten. Zumal in dieser trüben Zeit ziehen sie wie die Kraniche und Wildgänse südwärts – wenn auch nicht weiter als bis zu eurer Donau.
Laß die Mimi und ihr Gelächter grüßen, das gewiß angenehmer klingt als die Kranichschreie, die ich hier aufs Papier gebracht habe . . .«
Armer Albrecht! Seine Gedanken und schwerfälligen Sonnensehnsüchte schweiften nicht nur in der Ferne, sie irrten auch. Dem mußte ein 351 Ende gemacht werden. Ich beschloß, Mimi zu besuchen, und machte mich sofort auf den Weg zum Palais des etwas dämlichen Onkels und der geistreichen Tante. Die Eltern, hieß es, seien ausgegangen und nicht vor Mitternacht zurückzuerwarten, Mimi aber liege zu Bett, krank, doch scheine sie nicht vorzuhaben, schwer krank zu sein, denn sie habe sich eben nach einem Bade frisieren lassen und erkundigt, ob heute Abonnementtag der Opernloge sei, was stimme. Gut. Ich ließ mich anmelden. Die Zofe mit verdutzter Miene wiederholte betont, daß ihre junge Herrin zu Bett liege. Desto besser, sagte ich, so könne sie nicht davonlaufen, und ich hätte ihr sehr Wichtiges mitzuteilen. Vielleicht durch den Türspalt? lautete es zögernd mit fragenden Blicken. Ja. Das Kammerkätzchen huschte voraus und auf Zehenspitzen zur Tür, lauschte, klopfte, meldete, erklärte. Ich nahm ihm die Klinke aus der Hand, die weitere Erklärung aus dem Munde und drückte einen Spalt auf. Die Zofe verschwand diskret. Ich öffnete die Tür und trat ein.
»Na, hörst du! . . .« staunte nicht allzu unwillig Mimi, die an hohe, mit Spitzen breitumsäumte Kissen gelehnt unter resedafarbener seidener Steppdecke im blanken Messingbett 352 lag, das, zwischen die zwei Fenster gestellt, in die Mitte des sehr geschmackvoll eingerichteten Zimmers reichte. Ein Rüchlein Houbigant-Parfüms aufschnuppernd mit den variierten Klassikerworten »nicht jedes Mädchen duftet so!« ließ ich mich ohne Umstände auf den Bettrand nieder. Mimi, in einem entzückenden Schlafanzug aus safrangelber Rohseide – die roten Lederpantöffelchen standen ordentlich ausgerichtet auf dem persischen Bettvorleger –, zog die Decke etwas höher und fuhr, schon leicht lachend, fort, mein Benehmen erstaunlich und ungehörig zu finden. Wenn die Eltern . . .
»Sie bleiben, wie ich mich versichert habe, mindestens bis Mitternacht aus, so haben wir Zeit zu allem Möglichen«, sagte ich. »Und das ist gut«, fügte ich bei, »denn wir können Eltern bei dem, was wir miteinander zu reden haben, durchaus nicht brauchen.«
Mimi machte immer größere Augen und war bereits sehr belustigt. Und es entspann sich zwischen uns mit dem dazugehörigen Mienenspiel das folgende Gespräch.
Sie: »Ich bin wirklich sehr neugierig.«
Ich: »Du hast allen Grund, es zu sein.«
»Denn man los, wie dein Freund Albrecht zu sagen pflegt.« 353
»Stimmt. – Mimi, sag einmal, hast du nicht auch gehört – man hört hier so mancherlei –, daß wir uns heiraten sollen, du und ich?«
»Das wird ja immer besser! Und dazu dringst du in mein Schlafzimmer?«
»Natürlich, darum handelt es sich bekanntlich, es ist der geeignete Ort.«
»Du bist arg, wirklich sehr arg – und ich . . .«
»Zur Zeit ein fast wehrloses Mädchen. Also beantworte mir meine Frage.«
»Hm . . . gehört hab' ich's auch.«
»Und was denkst du dir bei solchen hauptsächlich für unsere beiderseitigen Ohren bestimmten Gerüchten?«
Schweigen. Sie lag, das Köpfchen in die Linke gestützt, während das rechte sehr gepflegte und blitzend beringte Pfötchen auf dem schneeweißen Leinwandsaum der Decke Klavier spielte. Die Mutter hatte recht: sie war ein sehr, wirklich sehr hübsches Mädchen.
»Mendelssohns Hochzeitsmarsch?« fragte ich, mit dem Finger auf den Takt deutend, was einen Ausbruch hellen Gelächters verursachte. »Oder der Brautmarsch aus Lohengrin?«
»Der letztere!« schüttelte das Gekicher aus ihr heraus.
Ich prompt darauf: »Aha! Die 354 Schicksalsfrage wird also den Ritter vertreiben, und das Schwanenboot steht schon regiebereit hinter den Kulissen.«
Ich pfiff pathetisch das Motiv. Dann fuhr ich fort: »Mit dieser Frage hab' ich gerechnet, sonst hätte ich mich nicht unterfangen, Elsa im Bett aufzusuchen.«
Sie, den Kopf aufwerfend: »Du – das ist eigentlich unhöflich!«
Ich: »Aber Mimi! Dir ist doch mein Nam' und Art bekannt und daß ich nicht vom Gral stamme.«
»Das ist mir freilich bekannt, diese Situation daher um so ungehöriger und bedenklicher.«
»Nun aber ernst: möchtest du mich heiraten?«
»Möchtest du?«
»Ich bin unhöflich, aber verläßlich und ehrlich: Nein!«
»Und ich hab' dich sehr gern, wirklich sehr gern, Kunze. Aber heiraten . . . ?«
»Das ist es eben! Dazu gehört doch mehr als gern haben, nämlich das, was man so Liebe nennt. Oder vielleicht ist das auch nur ein Gerücht, eine Redensart, ein alter, abgegriffener Kniff der Romanschreiber, die sonst kein Ende finden?«
»In der Regel stimmt das. Weitaus die 355 meisten Eltern, darunter auch unsere beiderseitigen, finden, zum Heiraten gehöre nur Geld.«
»Ja, und alles Weitere wird sich naturgemäß finden, denken sie – vielleicht aus Erfahrung –, und vielleicht haben sie nicht so unrecht, die Erfahrenen.«
»Na also! Wenn du meinst . . .?«
Ein Augenaufschlag, schief von unten her, traf mich, und die schöngereihten Zähnchen blinkten aus geöffneten Lippen, und das Pfötchen schlug ein paar volle Schlußakkorde auf der Bettkante. Ich bot ihr eine Zigarette, die sie mit frisch polierten Nägeln aus dem vollgeklemmten Etui herauszerrte, und gab uns beiden Feuer.
»Na also! . . .« blies ich aus tiefster Lunge rauchend hin. »Mimi, wie wär's . . . mit meinem Freund Albrecht von der Roten Erde . . .«
Sie fuhr in die Höhe und richtete sich in schöner Unbekümmertheit sitzend auf.
»Albrecht? Das ist ein Mann!«
»Allerdings. Er kann nicht den leisesten Verdacht erwecken, ein Zwitter zu sein.«
»Was ihr alle miteinander hier seid – irgendwie«, fuhr es aus ihr heraus.
»Na, hörst du! . . .« Ich stand auf. »Das ist mehr als unhöflich, das ist mehr als die 356 Schwanenritterfrage! Jetzt erst begreife ich, daß du diese Situation zwar als äußerlich ungehörig, aber als gefahrlos betrachtest!«
In reizender Unbekümmertheit zerschüttelte sie sich vor Lachen, warf sich rücklings auf die rosig durchschimmernden Polster und lachte mit weit ausgestreckten Armen. Dann wieder aufsitzend, sprach sie ernsthaft: »Nein, Kunze. Komm«, sie schlug mit dem Händchen auf den Deckenrand, »setz dich wieder her und sei gut.«
Ich tat es mit den Worten: »Das bin ich, doch offenbar nicht gut genug für dich.«
»Weißt du«, begann sie, meine aufgestützte Hand streichelnd, »du bist ein netter Kerl, und auch viel, viel besser als alle die anderen hier, aber Albrecht, vor dem muß man Hochachtung haben.«
»Vor mir also hast du keine?«
»Ich bewundere dich.«
»Warum?«
»Nun, deinen Geist – trotz Mama – und trotz ihres faden Salons deine Bildung und – und – nein, ich bin auch vollkommen überzeugt davon, daß du ein Mann bist, sogar ein sehr – ein gar nicht ungefährlicher –, aber bei Albrecht dem Bären, wie ich ihn nenne, fühlt man sich halt so sicher – so geborgen . . . Diese ruhige 357 Kraft, diese Anständigkeit – hübsch ist er ja nicht, eher häßlich in seiner Vierschrötigkeit –, dennoch . . .«, ihr Gesichtchen, auf den bloßen Arm gelehnt, fiel an meine Schulter, »lach' mich aus – ich liebe ihn! . . .«
»Denn's chut!« sprach ich in Albrechts Ton- und Mundart.
»Wunderbar«, fuhr sie auf und patschte lachend in die Pfötchen. »Wunderbar machst du ihn nach! Ach, er ist doch so köstlich!« setzte sie träumenden Blicks, noch steiler mit beiden Händen auf der Decke aufgestützt, hinzu. Ich bot ihr eine neue Zigarette. Sie dankte.
»Köstlich, ja köstlich«, fuhr ich fort. »So findet er, ich darf's dir verraten, dich auch.«
»Wirklich?« Sie schlug mit einem Aufstrahlen des Glückes in der Miene, was ihr einen hinreißend süßen Ausdruck gab, die Händchen zusammen und faltete sie innig vor der Brust.
»Wirklich«, bestätigte ich trocken.
»Warum kommt er dann nie?«
»Er wehrte sich bisher standhaft dagegen, weil er glaubt, daß wir – uns heiraten sollen – wollen.«
Sie wurde sehr nachdenklich. »Wie feinfühlig!« sann sie. »Ja, das ist er! Und du? . . .«
Es war entzückend, wie sie mich jetzt unter 358 gesenkter Stirn liebevoll und wie um Verzeihung bittend anblickte.
»Ich – ich werde ihm sofort schreiben, daß er beruhigt, ganz beruhigt kommen soll und den Rennpreis sozusagen schon in der Tasche hat.«
»Du bist ein reizender Kerl!« Ihre Ärmchen flogen um meinen Hals, und ein dicker Kuß saß auf meiner Wange. »Ich bitt' dich, telegraphiere ihm, daß ich vor Sehnsucht nach ihm sterbe!«
»Nun, nachdem du, gottlob, zwei Jahre nicht gestorben bist, wirst du es wohl noch ein paar Tage aushalten. Denn ich bin gewiß, auf die Nachricht kommt er spornstreichs wie ein Hahn gerannt.«
»Aber ich hab's doch nur aushalten können, weil ich nicht wußte, daß auch er mich liebt!« schmollte sie.
Ich erhob mich. »Jetzt weißt du es.« Sie, vorgeneigt und mit den Händen auf der Decke gefaltet vor sich hinblickend: »Also doch – ein Rennpreis?«
»Liebe Mimi, mach' dir keine Sorgen. Ich reite ein anderes Rennen.«
Sie kniete auf, schlang noch einmal die Arme um meinen Hals, zog mich nieder, küßte mich und flüsterte mir ins Ohr: »Ich danke dir . . . 359 und wünsche dir ein ganz, ganz großes Glück!« Dann warf sie sich abgekehrt in die Kissen und schlug die Hände vors Gesicht.
Ich blieb vor ihr stehen und sagte nach einer Weile der Betrachtung: »Mimi, es ist halt so: wir haben uns sehr gern, wir lieben uns beinahe. Aber – und das ist mir schon einmal passiert –«, sie wälzte sich in großer Unbekümmertheit halb abgedeckt herum und horchte, »aber«, fuhr ich fort, »wir scheinen zwei mit der gleichen positiven oder negativen Kraft geladene Körper zu sein – wir verstehen uns wunderbar, doch es springt kein Funke über . . .«
»Außer«, krähte sie in hellstem Gelächter, »außer . . . es wird an geeignetem Ort – ein Kontakt hergestellt! . . .« Damit bohrte sie sich, von Kichern gerüttelt, in die Kissen und riß die Decke über den Kopf.
Mit den Worten: »Da schau, du Fratz, ich hätte nicht geglaubt, daß du technisch schon so gebildet bist!« legte ich die Hand auf die Türklinke und warf ihr, die nun mit allerliebsten Mausäuglein aus den Kissen schielte, eine Kußhand zu.
»Halt!« rief sie, schleuderte die Decke weg, hüpfte aus dem Bett und mit bloßen Füßchen – auch diese hatten polierte Nägel – zu 360 mir, rankte auf den Zehenspitzen mit dem Arm an meiner Schulter empor und flüsterte: »Also du schreibst, du telegraphierst sofort?«
»Ich schreibe«, sagte ich streng. »Denn Albrecht will alles klar, bestimmt und deutlich haben. Merk' dir das übrigens gleich: er haßt Telegramme und sagt, nur unordentliche Menschen telegraphieren, weil sie den rechten Zeitpunkt verbummeln, wo es noch eine viel billigere Postkarte mit einer Benachrichtigung getan hätte, die keine Frage offen läßt. Er haßt überhaupt Aufregungen – also bereite ihm keine.«
»Du!« wand sie sich, »zum Dank gehn wir jetzt einmal miteinander – aber allein – ins Theater und nachher soupieren – mit Musik!«
»Gott behüte!« wehrte ich ab. »Da möcht' es doch am Ende Kurzschluß geben! . . .«
Und nach einem Kuß auf ihre Stirn verließ ich das von Reinlichkeit und Fleur de Lys duftende Mädchenzimmer.
Und indem ich langsam die Treppe hinabschritt, dachte ich, daß es doch zweifelhaft scheine, ob auf Personen verschiedenen Geschlechts meine Theorie von den gleichgeladenen Körpern überhaupt angewendet werden könne, ferner, daß es nicht so ganz ungefährlich sei, ein hübsches, wirklich sehr hübsches Mädchen, wenn es krank zu 361 Bett liegt, zu besuchen, weil man doch angesteckt werden könnte, zumindest wie ein Kontakt.
Ich schrieb an Albrecht. Er antwortete gar nicht. Binnen fünf Tagen stand er ums Morgengrauen, eine gewaltige, altmodische Reisetasche neben sich, vor meinem Bett und erkundigte sich nach einem christlichen Ausspann – er hob das nördliche scharfe »S« besonders hervor –, wo ein bescheidener Fremdling absteigen könne. Einen christlichen Ausspann, wiederholte ich mit nördlichem scharfen »S«, gäbe es in der ganzen Stadt nicht, und bei dem, was er vorhabe, müsse er sich schon eines der besseren Hotels leisten. Er sei für alle möglichen Fälle ausgerüstet, versicherte er, selbstbewußt eine wohlgefüllte Brieftasche über seinem Herzen beklopfend. Übrigens, meinte ich, ihn von Kopf zu den Füßen musternd, würde ich ihn vorerst zu meinem Schneider führen. Auch damit war er einverstanden. Dann frühstückten wir, und mittags waren wir bereits bei Tante Amalie zu Tisch. Und nach acht Tagen waren Mimi und Albrecht als »strahlendes Brautpaar« sowohl in Tante Amaliens Salon, Glückwünsche entgegennehmend, als auch mit ganzseitigem Titelbild im Blatt »Die Gesellschaft« zur Schau 362 gestellt. Und acht weitere Tage hatte die Gesellschaft ein neues, sehr aufregendes Thema für Gespräche, in denen Albrechts Güter lawinenartig bis zu märchenhaften Ziffern an Hektaren anschwollen, und manche Mütter hoffnungslos verschuldeter Söhne empörten sich über den unbescheidenen Fremdling, der eingedrungen sei, um eine der vermögendsten einheimischen Töchter hinwegzuführen. Mich aber trafen gelegentlich Blicke, die deutlich ausdrückten, daß man mich für einen Idioten halte.
Albrecht schlug einen Besuch in Herrenschlag vor. Ich sagte, ein solcher käme dermalen nicht recht gelegen, und Albrecht würde doch gewiß sehr bald wiederkehren, was er bejahte. Der Mutter schrieb ich, Albrechts Beispiel habe mir Eindruck gemacht, und um meine guten Absichten auf den Weg der Gerüchte zu bringen, begann ich, während der Feste um das Brautpaar einem sehr gefeierten Mädchen etwas den Hof zu machen, was auch sogleich bemerkt und mit Kopfschütteln besprochen wurde. Auch zeigte ich mich nach Albrechts Abreise hier und dort wieder in der Öffentlichkeit.
Eines regnerischen Abends – ich war für sieben Uhr bei den Eltern jenes Mädchens geladen – ging ich, schon für die Gesellschaft 363 gekleidet, von meiner Wohnung der Hauptstraße zu, um noch irgendeinen Einkauf zu besorgen. Da sah ich auf dem anderen Gasseufer mit Mantel und Schirm, ein helles Seidentuch um den Kopf, eiligen Schrittes Martha kommen. Sie sah mich nicht oder tat so und schien, das Kleid hochraffend, ganz darauf bedacht, den Pfützen im Pflaster auszuweichen. Ich steuerte auf sie zu und schnitt ihr den Weg ab. Befangen erwiderte sie meinen Gruß. Ich nahm ihren Arm und bat sie, mir nur einige Minuten Gehör zu schenken. Sie sagte nicht ja und nicht nein, und ich führte sie ohne weiteres in eine der Seitengassen und schlug ihr vor, ein wenig zu spazieren. Zehn Minuten gab sie schließlich zu. Sie müsse ja rechtzeitig nach Hause, da sie mit der Tante in eine Gesellschaft solle, die ihr zwar sehr unangenehm sei, aber es habe heute schon zu einem Auftritt deshalb geführt, und sie wolle nicht weiteren Streit haben, dessen es in letzter Zeit schon genug gegeben. Auch sei sie schon angekleidet und eben drüben bei der Friseurin gewesen.
Das Herz war mir voll genug, und ich wußte nicht, wo anfangen, um mir alles recht von der Seele zu reden. Martha selbst aber begann von ihren eigenen Sorgen, wünschte meinen Rat 364 über das Angebot einer Bühne in Deutschland und kam so ins Plaudern, daß die bestimmte Zeit längst überschritten war, als ich nach der Uhr sah. Wir kehrten um und verabschiedeten uns an der gewohnten Stelle etwa hundert Schritte vor ihrem Hause. Es hatte wieder leicht zu regnen begonnen. Ich blieb stehen und sah, wie sie zum eisernen Pförtchen kam, die Hand an die Klinke legte und dann nach mir umblickte. Da sie nicht eintrat und wieder nach mir hinsah, ging ich schnell zu ihr. Sie war ganz blaß und sagte hastig: »Die Tür ist abgeschlossen. Ich hab' den Schlüssel nicht mit und kann nicht mehr hinein. Die Tante ist im Zorn ohne mich weggefahren, und die Magd ist einkaufen gegangen. Vor einer Stunde ist die nicht zurück. Was soll ich tun?«
Während wir noch sprachen, setzte der Regen stärker ein. Ich lachte.
»Da bleibt nichts übrig«, sagte ich, »du mußt so lang zu mir kommen. Wir können in dem Wetter nicht noch eine Stunde herumlaufen.«
Ich bot ihr den Arm und führte sie zu meiner Wohnung. Das Wasser schoß von allen Dächern, trommelte auf Marthas Schirm, gurgelte im Rinnsal. Trotz des Schirmes troffen 365 wir beide, als wir endlich im sichern Hausflur standen. Ich zündete die Lampe im Vorzimmer an. Martha wollte sich erst den nassen Mantel nicht abnehmen lassen und wurde verlegen, als ich sie dazu nötigte. Mir aber entfuhr ein Ausruf der Bewunderung, als ich ihn von ihren Schultern zog, denn sie war in einem Gesellschaftskleid ähnlich jenem, das sie damals bei dem Konzert getragen hatte, und ein zartes Rot glomm ihr bis in den Nacken hinab.
Als wir den Salon betraten, merkte ich, daß ich zwei Dinge vergessen hatte: einmal, die Lampe auszulöschen, dann lag auf dem Tisch ein Strauß roter und weißer Rosen noch in der Hülle aus Seidenpapier, wie ihn die Blumenhandlung geschickt hatte. Den hätte ich, das war mir auf die Seele gebunden worden, heut' abend mitbringen sollen.
Ich mußte lachen. Habent sua fata flores! Ich streifte die Hülle von den Blumen und überreichte sie Martha.
»Wieso?« staunte sie. »Wie konntest du wissen . . .«
»Ahnung, liebstes Mädchen, Ahnung!«
»Du lügst!« In ihren großen Augen blitzte es auf wie Wetterleuchten. »Diese Blumen waren für jemand anderen bestimmt!« 366
»Kann sein. Aber du siehst ja, sie wollten nicht mitkommen. Und mein Herz, mein ahnendes Herz, ist auch hiergeblieben.«
»Nein. Ich mag sie nicht.« Und sie legte den Strauß wieder auf den Tisch.
Ich ergriff ihre Hand.
»Liebe, liebe Martha. Nimm die Blumen und was bei ihnen blieb. Es gehört nun einmal dir und will und wird niemand sonst gehören.«
Ihr die Rosen wiedergebend, küßte ich sie leicht auf den Mund und auf die Brust.
Sie schauderte zusammen und ließ sich mit einem Seufzer auf der zierlichen, mit geblümter Seide bespannten Bank beim Ofen nieder. Dort saß sie ganz in eine Ecke gedrückt, und scheu wie ein gefangenes Vögelchen.
Ich stand breit mit verschränkten Armen vor ihr und genoß es, sie in meiner Macht zu wissen.
Sie schwieg und bog mit zitternden Fingern die frischen Köpfchen der Rosen zurecht.
Eine geraume Weile sprachen wir kein Wort. »Kind«, sagte ich dann, »ich habe Hunger.«
Sie blickte verwirrt zu mir auf.
»Natürlich«, fuhr ich fort, »denn ich war zu einem üppigen Diner geladen, das muß ich nun deinetwegen lassen.« 367
»So geh doch hin, ich halte dich ja nicht.«
»Fällt mir nicht ein. Aber du würdest wohl heute zur Strafe auch fasten müssen.«
Sie lachte. »Wahrscheinlich. Die Magd wird nichts vorbereitet haben.«
»Gut. So wollen wir zusammen in die Stadt fahren und dort in einem lauschigen Eckchen, wo uns niemand sieht, bei Musik eine treffliche und vergnügte Mahlzeit nehmen und dabei auf den Ärger unserer Tanten ein Glas Champagner leeren. – Es ist nun doch einerlei, ob du viel früher als deine Tante, die vor Mitternacht nicht zu erwarten sein wird, nach Hause kommst.«
»Einverstanden!« lachte sie fröhlich und stand auf.
Ich schickte den Diener um einen Wagen und schrieb indessen eine Absage an meine Gastgeber, die ich dann durch ihn bestellen ließ.
Wir fuhren in die Stadt zu einem der vornehmsten Restaurants, traten dort durch eine Seitentür ein und nahmen in einem der kleinen, abgetrennten Speisezimmer Platz. Dort tafelten wir fröhlich, während die Musik aus dem Hauptsaal gedämpft zu uns herüberdrang. Gegen elf Uhr wünschte Martha heimzukehren. Ich brachte sie im Wagen nah an ihr Haus. 368 Als sie ausstieg, umarmte sie mich und flüsterte: »Ich danke dir!«
Nun kam sie wieder fast jeden Tag um die Dämmerstunde zu mir. Wir sprachen nichts mehr vom Auseinandergehen. Sie sang und spielte Klavier, und dann saßen wir oft eine Stunde lang ganz schweigsam beisammen, hielten uns umfaßt und fühlten unser Schicksal heranreifen wie eine schwere, süße Frucht, die sich eines Tages von selber lösen wird. Die Last der Liebe hatte uns überwunden. Wir wehrten uns nicht mehr. Von ihren großen weichen Purpurflügeln überschattet, träumten wir selig schaudernd in die flackernden Herdflammen.
Es ging nun schon auf Weihnachten. Da erhielt ich eines Morgens einen Brief von der Mutter, der mir mitteilte, das Holz des Fischwaldes habe auf dem Stock verkauft werden müssen und werde wohl noch diesen Winter fallen. Es sei, wie die Dinge stünden, die einzige Möglichkeit gewesen, das ganze Gut zu retten. Und auch so noch sei es fraglich, wie lange dieser Zustand sich halten könne.
Mir war, als hätte ein Axthieb meine eigenen Wurzeln getroffen. Das Mark meiner Seele erzitterte bei dem Schlag. 369
Sogleich schrieb ich Martha einige Zeilen und bat sie, gewiß zu kommen. Sie antwortete durch den Boten, der das Brieflein überbrachte, an diesem Tag sei es ihr unmöglich. Sie wolle trachten, mich am nächsten aufzusuchen.
So saß ich abends mit meinen Gedanken, die der Kummer jagte wie Boreas die Wolkenwölfe, bei der grünen Lampe allein, nachdem ich mir von der Kneipe nebenan eine Mahlzeit hatte holen lassen. Es mochte bald neun Uhr sein, da klingelte es an der Tür zum Vorzimmer. Ich öffnete, und Martha stand vor mir. Sie sagte, es habe sich ganz unerwartet eine Gelegenheit ergeben, von Hause fortzukommen. Die Tante sei Mittag plötzlich verreist.
Ich führte sie herein. Sie trug einen breiten Samthut auf dem dunkelschimmernden Haar und einen schwarzen Samtmantel, der mit Hermelin verbrämt war, und sah mit leuchtenden Augen und zartgeröteten Wangen so fröhlich und schelmisch drein, wie ich sie nie gesehen. Wir sollten wieder einmal zusammen in die Stadt gehen wie neulich, schlug sie vor. Heut' könne sie auch ganz gut etwas länger ausbleiben. Wir wollten recht lustig sein, und sie habe sich auch besonders fein gemacht. Damit schlug sie den Mantel auseinander und zeigte sich in 370 einem köstlichen Kleid, das ihre Gestalt mit Spitzen und duftigen Geweben über einem Grund aus grüner Seide umhüllte, wie der Mondschein eine schlanke Jungtanne.
»Aber dir ist was!« forschte sie, als sie sich aus meiner Umarmung gelöst hatte und zog mich an den Händen mehr zum Licht. »Was hast du?« fragte sie ernst und voll Teilnahme.
»Nichts!« erwiderte ich, mich um eine vergnügte Miene bemühend. »Ich hab' vielleicht heute zu viel studiert. Komm, wir wollen lustig sein.«
»Nein, nein! Ich erkenn' es wohl. Du hast eine schlimme Nachricht bekommen. Ich muß sie wissen.«
Es tat mir so bitter leid, ihre Fröhlichkeit zu zerstören. Aber den ganzen Tag über hatte ich nichts anderes ersehnt als den Augenblick, da ich ihr sagen könnte, was mein Schmerz war. Ich griff in die Tasche und gab ihr den Brief. Sie las ihn, zur Lampe niedergebeugt, und als sie zu Ende war, wandte sie sich und umarmte mich stumm. Lange standen wir so. Als ich ihr Gesicht von meiner Schulter hob, sah ich Tränen in ihren Augen.
Und diesen Abend geschah mir ein so 371 himmlisches Wunder der Liebe, der Güte, der Reinheit, daß ich es keiner Feder anvertrauen mag.
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