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Es war im Frühling des folgenden Jahres und in Venedig, wo ich, eigentlich schon auf der Rückreise begriffen, Tag um Tag hinzögerte, weil ich mich vom schönen Süden, der mich ganz und gar in seinen bunten Zauber verstrickt hatte, nicht losreißen konnte. Ich spielte mit dem Gedanken, den herannahenden Sommer, für den noch einige Wanderungen in den Alpen vorgesehen waren, an der Meeresküste zu verbringen oder gar noch einmal umzukehren und mich für die heiße Zeit in den traumhaften Albanergebirgen im Kreise einiger Künstler niederzulassen, deren fröhliche Gesellschaft fast die einzige war, mit der ich in Rom Umgang gepflogen hatte. Einer von ihnen, mit dem ich mich besonders angefreundet hatte, wollte ein vielversprechendes Maltalent an mir entdeckt haben und war eifrig bestrebt gewesen, mich darin auszubilden. Kurz, ich befand mich in einer Stimmung, die es mir weit anziehender erscheinen ließ, ein aller Pflicht entbundenes Leben zu führen, Natur, Kunst und die Empfindungen der eigenen schönen Seele zu genießen, als mich 234 wieder von einem »graulichen Tag hinten im Norden« umfangen zu lassen. Ich vergaß Auerhähne und Birkhähne, Heide und Moor und das Schicksal des Fischwaldes. Der Vater drängte nicht auf Heimkehr, in die Briefe der Mutter floß zuweilen etwas wie eine Mahnung oder Warnung mit ein, aber ich dachte, einmal zurück heißt festgehalten, und Gott weiß, ob dich dann Italien je wiedersieht. Ja, ich war recht im Begriff, der Heimat und dem stillen Pfade, den sie mir vorzeichnete, untreu zu werden, und das Bild im Ledertäschchen wagte ich schon lange nicht mehr anzusehen aus Furcht, es möchte mir wieder als ein fataler Spiegel vor die Seele treten. Doch es fand einen anderen Weg, das in sehr eindringlicher Weise zu tun.
An einem wunderbar lauen und klaren Abend saß ich, angenehm ermüdet von gemächlichen Kunstwanderungen durch Gassen, Kirchen, Paläste und Museen, im Café Florian auf dem Markusplatz und gab mich seligentspannt dem Genuß der wundersamen Umgebung und des südlich bunten Treibens hin, das die Dämmerung zu entfalten begann. Keine Stadt der Welt hat einen Platz von so eigenartiger Schönheit. Viel mehr als einem städtischen Raume gleicht er mit seinen hellen Steinfliesen einem 235 ungeheueren Festsaale: Der abendliche Himmel, in kristallenem Farbenspiel allmählich die Sterne herandunkelnd, ist die Decke, die geheimnisvoll in Gold erschimmernden Mosaiken in den Fassadenbogen der Markuskirche gleichen kostbaren alten Wandteppichen, der schlanke Kampanile schwebt märchenhaft zwischen dem Licht des niedergegangenen Tages und aufgehender Lampen. Eine Militärkapelle konzertierte im Freien. Die Schwärme der Fremden, die mich anfangs geärgert hatten, störten nicht mehr jene alles mit Begeisterung umfassende Stimmung, die das unvergleichliche, aus der Fülle überströmende Glücksgefühl bewirkt, das Italien dem Nordländer zu geben vermag und das ihn aus seiner kargeren Natur und Umwelt seit Jahrtausenden immer wieder nach dem Süden lockt, als wäre dort das verlorene Paradies oder das ewige Arkadien, wo noch die Götter unter den Menschen wandeln. Venedig aber ist in diesem Paradies wieder ein Fleck von ganz besonderem Zauber, der von der traumhaften Stille seiner Wasserstraßen und der Spiegelung seiner orientalischen Marmorbauten ausgeht.
In der auf und nieder lustwandelnden Menge fesselten mich wieder die barhäuptigen Frauen in ihren langen, schwarzseidenen 236 Schultertüchern, bursa genannt, die mit dem breiten Fransensaum bis unter die Knie reichen und der Gestalt wie dem Gange und jeder Bewegung ein wundersam melodisches Fließen verleihen. Dieses schmiegende Bewegen entzückte mich zumal, wenn die hübschen Mädchen, darunter welche, die durch blondes Haar und blaue Augen auffielen, die Treppen von den kleinen, über die Kanäle geschwungenen Brücken herabgingen, und ich bemühte mich in eiligen Skizzen und, als diese nicht gelingen wollten, mit der Kamera die Grazie solch flüchtiger Erscheinungen festzuhalten.
Schon war ich so eine Weile vor dem geleerten Glas Wermut gesessen, beglückt von der Schönheit des Platzes und dem Reiz seines lärmlosen Getriebes, melancholisch, weil ich dies alles verlassen sollte, als eine weibliche Gestalt, die Menge überragend und aus ihr hervorleuchtend, vom Uhrturm her nahte. Sie trug sich sehr aufrecht und in anmutvollem Stolz das Haupt erhoben, das welliges Haar in jenem tiefen, warmen Goldton umflocht, mit dem Paolo Veronese gern die Locken seiner üppigen Figuren malte, daß sie wie Abendschimmer um ein schönes Antlitz sind. Der schwarzglänzende Umhang umfloß einen klassischen Wuchs, ein herrliches 237 Schreiten, schlanke Fesseln in hellen Seidenstrümpfen sahen unter den langen Fransen des Saumes hervor und schmale Füße in spiegelnden Lackschuhen. Die Erscheinung bannte mich derart, daß mein Blick den ihren, der frei über die Menge hinschweifte, auf mich zog. Groß und ohne die mindeste Bewegung sah sie mich aus goldbraunen Augen in dunklen Wimpern an, doch gleich wieder spähte sie, als suche sie jemanden, den Platz hinauf und hinab, den sie ohne Aufenthalt langsam und sicher ausschreitend überquerte. Ich hatte meine Zeche beglichen, erhob mich und folgte in einiger Entfernung dem Leuchten des Haares, das in griechischer Art über dem schönen Nacken aufgeknotet war. Wieder schien sie meinen Blick zu fühlen, denn eh' sie im Bogen des jenseitigen Durchganges verschwand, wandte sie sich kurz und beschleunigte, als sie mich auf ihrer Spur sah, den Tritt. Nun war es nicht leicht, sie in Sicht zu halten, denn als ich den Durchgang verlassen hatte, befand ich mich in der nur von einzelnen Laternen schwach erhellten Dämmerung enger Kanälchen und Gäßchen, und es bedurfte der Eile, um sie endlich wieder einen schmalen Steig längs des Wassers hinschreiten zu sehen. Ich lief in das Ungewisse eines mir vollkommen fremden Teiles 238 der nächtlich-unheimlichen Stadt hinein, an schwarz aufstarrenden Bauten, verschlossenen Toren, feuchten Schiffspfählen vorbei, geländerlos neben und unter mir die dunkle, öligglatte Flut, auf der hier und da Lichtscheine und ruhende Gondeln wie Särge schwankten. Meine Hast hätte sie, die Weg und Steg wußte, kaum erreicht, wenn ihr nicht ein anderes Mädchen, offenbar das gesuchte, begegnet wäre, um sie mit lachendem Gruß aufzuhalten. Langsamer gingen sie nun plaudernd miteinander, und eben, als sie sich anschickten, eines der schmalen Treppchen zu einem Brückenbogen zu ersteigen, hatte ich sie eingeholt. Durch meinen hallenden Tritt aufmerksam gemacht, wandten sich beide um. Ich lüftete den Hut und sprach in leidlichem Italienisch eine schmeichelhafte Begrüßung. Um aber die Anrede zu entschuldigen, verstieg ich mich zu der unverfrorenen Behauptung, ich sei Maler, und der Wunsch, die blonde Schönheit zu porträtieren, sei bei ihrem Anblick dort auf dem Platz mit unwiderstehlicher Gewalt in meiner Seele aufgesprungen. Die schamlose List schien einzuschlagen, denn die Blonde, indem sie in unbeschreiblicher Anmut, einen Fuß höher als den anderen auf die Stufen gesetzt, die schlanke Hand mit dem darüberfallenden Seidentuch an 239 das Steingeländer legte, lächelte in gnädiger Hoheit herab und erwiderte – ach, Wort und Stimme reinste Musik! –, der Vorschlag gefalle ihr nicht übel, nur wisse sie für den Augenblick nicht recht, wie und wo mein Plan ausgeführt werden könne, wobei sie ihre Begleiterin fragend anblickte. Die jedoch, klein, dunkel, zierlich und lebhaft, versetzte sogleich, es wäre am besten, wenn wir uns anderntags zur weiteren Besprechung an einem bestimmten Ort träfen. Ihr, der Dunkelhaarigen, Freund, ein Gentilhuomo, dessen Bekanntschaft ich machen solle, werde gewiß bereit sein, die Sitzung in seinem Palazzo zu ermöglichen. Ich zeigte mich mit Eifer einverstanden, und es wurde ausgemacht, sich am nächsten Nachmittag vor einer Kirche zu finden. Zur Sicherung der Verabredung händigte ich der Blonden meine Karte mit der Hoteladresse ein, und mit einem innigen Kuß auf ihre klassischen Finger verabschiedete ich mich, nachdem die Mädchen auf mein Andringen, noch irgendwo ein Stündchen miteinander zu verweilen, bedauernd versichert hatten, daß sie für den Abend schon vergeben seien.
Tief in Gedanken begab ich mich wieder auf den erhellten Platz zurück, und in dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Das Abenteuer, 240 in das ich mich einmal kühn gestürzt hatte, beschäftigte meine den Erlebnissen stets vorausstürmende Einbildungskraft mit möglichen Ausgängen und zweifelhaften Verwicklungen, und immer noch lag mir die tiefe, melodische Altstimme des aphroditischen Wesens und die freundliche Rede im Ohr, die wie ein Glockenspiel geklungen hatte. Glückliches Volk, das schon Musik hört, indem es spricht!
Doch in einiger Erregung, ob das Stelldichein auch ernst genommen sei, begab ich mich etwas vor der Zeit zum ausgemachten Platz, fand aber die Mädchen schon vor der Kirche promenieren, und es erfolgte eine Begrüßung von jener südlichen Wärme und Herzlichkeit, die den Eindruck erweckt, man habe alte Freunde vor sich. Heute waren sie, was ich bedauerte, nicht in Venezianertracht, sondern modisch gekleidet, darum nicht minder anmutig, und ich hatte nun Gelegenheit, die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge und den prachtvollen Bau meiner Venus im vollen Licht des Tages bestätigt zu sehen. Die feingeschwungenen dunklen Brauen und Wimpern, die braunen, wie mit Gold gesprenkelten Augensterne zum blonden Haar gaben dem schönen Antlitz einen Reiz besonderer Art. Giuditta wurde sie von der Freundin 241 angesprochen, und konnte man sie anders nennen, die als Bild und Augenweide so sehr dem sinnenfrohen Pinsel eines Künstlers der Spätrenaissance zu entstammen schien? Ja, das Haupt des Holofernes in der einen, das blutige Schwert in der anderen Hand, so, schicksalgewaltig und gestaltherrlich, dabei doch in hinreißender Lieblichkeit aus dem Zelteingang tretend, dessen Vorhang die dunkle Sklavin hebt, so glaubte man sie schon von irgendeinem Bildnis oberitalischer Meister zu kennen, und meine Erinnerung suchte ordentlich danach in den Galerien, die ich in den letzten Monaten besichtigt hatte. Die kleine Schwarze hieß, wie ich im plaudernden Auf- und Abschreiten erfuhr, Manuela. Alsbald erschien auch ihr Freund und Gentilhuomo, ein adrett gekleidetes Herrchen, das sich erfreut zeigte, die Bekanntschaft eines Fremden von Distinktion zu machen, und mich ohne Umstände einlud, mit den Damen in seinem Motorboot an den Lido zu fahren. Froh, die Entdeckung meiner künstlerischen Unfähigkeit hinausgeschoben zu sehen, willigte ich sofort und gerne ein und holte auf Rat unseres Kavaliers, der mich übrigens nach flüchtiger Begutachtung richtig einzuschätzen und meine bildnerischen Absichten nicht sehr ernst zu nehmen schien, im 242 Vorüberfahren aus meinem Quartier viel lieber den Schwimmanzug als das Malgerät. Die meinem Talent an Sicherheit zweifellos überlegene Kamera aber hatte ich als ein zielbewußter Liebhaber schon mitgenommen, da ich ausging, die Mädchen zu treffen.
In dem von einem Chauffeur in Matrosenmontur gesteuerten Boot durchfuhren wir den Canale grande und querten sehr geschwind den Hafen, dann gab es eine schäumende Kreuzfahrt auf offener See längs der lagunenreichen Küste. Schließlich landeten wir, mieteten Kabinen und vergnügten uns auf dem noch fast menschenleeren Strande. Die Mädchen liefen mit klingendem Gelächter den grünen, gischtig überschlagenden Wellen entgegen, die eine Brise mit dem Flutgang in langen, rhythmisch wiederholten Reihen zum hellen Sand her wälzte, und Giuditta war wie eine Göttin Griechenlands. In einem der eleganten Cafés, das schon von Publikum gefüllt war, dessen größter Teil jedoch noch keine Lust zum Bade in der See und dem frischen Winde gezeigt hatte, nahmen wir den Tee, und bei allerlei Geplauder kam die Nacht heran. Der Wind senkte die Schwingen und zog sie ein, das Meer atmete ruhiger in weitem Ausholen, draußen zogen einzelne Segel im 243 Abendschein und die Rauchfahne eines Dampfers. Wir beschlossen, noch den Strand entlang zu wandeln, und gingen paarweise hintereinander, Giuditta mit mir. Und wir wanderten, bis die Sterne mit feuchtem Gestrahl hervorstachen, bis das samtene Tiefblau des Himmels dunkler und dunkler mit dem unendlichen des Horizontes der See verschwamm, bis nur mehr hier und dort in weiter Ferne das rot aufblinkende Signal eines Leuchtturmes die Küste anzeigte. Von der erhellten Terrasse einer Gaststätte klang gedämpfte Tanzmusik, manchmal schlug ein Wellenklatschen ans Ufer. Unser Geplauder verstummte, wir gingen langsam Arm in Arm, dann Hand in Hand aneinandergelehnt; ich atmete den köstlich-bitteren Duft der Salzflut und den süß-berauschenden des goldschimmernden Haares. Weit im Süden zuckte manchmal ein Wetterleuchten über die Kämme aufgestockter Wolken.
Nur bis zum Hafen fuhren wir im Motorboot zurück, dann schlug Gaetano, der Gentilhuomo, vor, das Boot heimzuschicken und stimmungshalber in zwei Gondeln das Binnenwasser unter dem Sternenhimmel zu durchqueren. Ich hatte inzwischen vernommen, daß Gaetano Teilhaber einer der großen Glasfabriken sei, was 244 sein Gehaben als das eines sehr wohlsituierten jungen Mannes erklärte, und übrigens führte er den Namen eines Geschlechtes, das im Goldenen Buch der Stadt verzeichnet und auch einmal durch einen Dogen in ihrer Geschichte vertreten war.
Also glitten wir, von den ruhevoll und lang ausholenden Ruderschlägen des schweigsamen Gondolieres gefördert, hin und langsam dem feenhaft gespiegelten Lichtschimmer des schneeweißen Dogenpalastes und der Piazetta, dem ungewiß ins Sternengestrahl dämmernden Riß des Glockenturmes, den magischen Kuppeln von San Marco entgegen. Gaetano und Manuela sangen im Boot vor uns. Aber Giudittas schlanke Finger lagen fast heiß in den meinen verschränkt, ich schlürfte den Duft ihres Goldhaares und betäubende Süße von ihren Lippen, die zwischen Kuß und Kuß Liebkosungen von unnennbarem Wohlklang flüsterten. Ach, die Blüte des Olymps glaubte ich im Arm und in fühlender Hand zu halten. Alle Gedanken waren untergegangen in diesem Traum von Meer und Licht, von Marmorschimmer und Sternenhimmel der samtenen Nacht. Ich fragte nichts und niemanden, ich ließ mich berauscht im dunklen Boot übers öligglatte, flimmernde Wasser 245 hintreiben ins blühende Verwildern eines ahnungsvoll dämmernden Wundergartens der Lust.
Wir tauchten in die nur hier und da flüchtig erhellte Finsternis schmaler Kanäle, an deren Aus- und Eingängen der langgezogene, seltsame Ruf des Gondolieres in die Stille hallte. Manchmal antwortete es um Ecken im gleichen Ton, und dann mit leisem Aufrauschen glitt ein Schatten von Boot und Fährmann, ein Schimmer von Gesichtern, ein Plaudern, Lachen und Gesang zu Mandolinenklängen an uns vorbei, und aufgestörte Wellen klatschten an die steinernen Wände, manchmal wischte über uns ein Brückenbogen wie eine dunkle Hand hin, bis ein sanfter Anstoß am Landungspfahl uns aufschreckte, daß wir mit tiefem Seufzer unsere Umschlingung lösten. Gaetano und Manuela standen schon oben auf den feuchten Stufen, Hände wurden gereicht, an denen wir uns vom schwankenden Gondelbug emporzogen.
Durch ein finsteres Steinportal betraten wir eine kühle Hallenwölbung, die den Eindruck beginnenden Verfalls machte. Auch das breite, prunkvolle Treppenhaus schien öde und verwahrlost. An einer Stelle war eine hölzerne Stütze eingezogen, um einen Riß im Bogen 246 haltend zu sichern. Freundlicher, wenn auch nicht eben bewohnt im Aussehen, empfing uns im ersten Stockwerk eine noch weiträumigere Halle, die mit spiegelglatten Fliesen bunten Marmors gepflastert und mit einer dunklen, kassettierten Holzdecke versehen war, in der sich einige zerrüttete Gemälde zeigten. Aus einer der hohen Türen trat jetzt bescheiden eine ältliche Haushälterin, die Manuela sowohl wie Giuditta sehr vertraut begrüßte. Aus dem lebensfreudigen Kreise meiner römischen Künstlerfreunde war ich Erscheinungen ähnlich den beiden schönen Kindern gewöhnt, so zerbrach ich mir auch jetzt und hier nicht den Kopf nach dem Wer? und Woher? und auch nicht nach einem Wohin? Was fragt man in dem seligen Lande der Kunst und Schönheit, was fragt die Jugend, die in olympischer Freiheit Rausch und Traum genießt?
Nun aber eröffnete sich uns ein Gemach, das mich höchlichst entzückte. Auch mit Marmorfußboden und einem prächtigen alten Kamin versehen, überwölbte es uns mit der heitersten, wohlerhaltenen Deckenmalerei, angeblich von Tiepolos Hand, jedenfalls hätte sie ihm keine Unehre gemacht. Hohe Leuchterarme, aus den Wänden langend, erhellten den Raum und die 247 gedeckte Tafel in der Mitte, die mit kalten Speisen, Wein in blinkenden Karaffen, wundervollem Glas und Schalen voll üppiger Früchte bestellt war. Die malerischste Wirkung indes tat ein herrliches altes Steingutgeschirr, das in vielen Stücken zu Gebrauch und Schmuck sich buntfroh von dem gelblichen Damast abhob. Auf meine bewundernden Ausrufe erklärte der Hausherr sich als leidenschaftlicher Kunstfreund und Sammler, und Freude wie Ziel seines Lebens sei es, dieses ererbte Haus seiner Familie, das er in üblem Zustande von unverständigen Menschen überkommen habe, nach und nach wieder im alten Glanz erstehen zu lassen.
Die Damen erbaten sich Zeit zum Umkleiden, und es wurden dabei heiter-bedeutsame Blicke mit Gaetano getauscht, der beifällig nickte, mich aber und sich selbst, da ich sonst noch mein Hotel hätte aufsuchen müssen, der Pflicht abendlicher Gewandung entband. Wir ließen uns inzwischen bei Zigaretten und einem Glas Wermut in einem der Nebenräume nieder, der mit künstlerischen Kostbarkeiten gefüllt war.
Wie staunte ich, als nach kurzer Zeit die Mädchen gleich wandelnden Gemälden alter Meister in köstlichen Stilgewändern erschienen, 248 Manuela in Purpur, Giuditta aber in einem golddurchwirkten Brokat, der zu ihrem Haar geschaffen schien. Es sei seine Liebhaberei, erklärte Gaetano, sich vom Sitz erhebend, auch Frauenschönheit auf die Räume seines Hauses abzustimmen, und mit einer freundlichen Handbewegung lud er uns ein, nun im Tafelzimmer Platz zu nehmen.
Diese Mahlzeit wird mir in ihrer reinen, unvergleichlichen Schönheit nie aus dem Gedächtnis schwinden. Trotz allem Verlangen, mit dem ich Giudittas Gestalt umwob, wünschte ich jeden Augenblick zu verlängern, jedes Bild, das er bot, sehnsüchtig festzuhalten. Wie die Speisen auf den bunten Tellern lagen, Glas und Silber glänzten, die Mädchen den roten Wein in geschliffenem Kristall an lachende Lippen hoben, der Kerzenschimmer der Girandolen und Wandleuchter weich ihren Reiz umfloß, das Götterbild die Wölbung ober uns in den Himmel zu öffnen schien, das alles war, als sei man in ein verschollenes, glücklicheres Jahrhundert zurückversetzt, oder die selige Vision eines alten Meisters sei um uns lust- und lebenatmende Wirklichkeit geworden. Und als Giuditta nun, mit schlanken Fingern eine der kostbaren Schalen umfassend, mir die schönen Früchte bot – 249 vor der Brust stak ihr eine dunkelrote Rose, der Brokat war ein wenig von ihrer Schulter geglitten, die Falten von ihren erhobenen Armen fielen zurück, das tiefe Leuchten ihrer Blicke, das Lächeln ihrer Lippen versprach alles, alles zu gewähren –, da starrte ich sie erst in stummer Verzückung an, weil mir das Wort versagte, und mußte Atem schöpfen, ehe ich sie bat, nur ein Weilchen in dieser Stellung zu verharren. »Das ist der Maler!« rief Gaetano heiter und forderte mich auf, die Szene in den nächsten Tagen auf die Leinwand zu bannen. Welcher Kunst hätte ich gebieten müssen, die das vermöchte! Ich aber kam wieder zu mir, da ich dachte: besser noch besessen als gemalt!
Sehr spät erhoben wir uns vom Tisch. Ich selbst hatte hingehalten, weil mir war, daß ein so unbeschreiblicher und reiner Genuß vollkommener Schönheit nie mehr wiederkehren könne. Vor dem, was kommen sollte – ich wußte nicht wie und wo –, schauderte mir fast, denn ich sah es sinnenwild züngeln wie eine Hölle der Lust, und mir pochten die Schläfen, mir dörrte der Gaumen, mir taumelte glühend das Hirn vor Begier, hineinzustürzen, werde daraus, was wolle.
Wir begaben uns in den Nebenraum, und 250 Gaetano lud mich ein, bis der Kaffee geboten werde, seine Schätze in den übrigen Gemächern zu besichtigen. Wertvolles Mobiliar, allerlei Bildwerk in Farbe, Stein, Bronze und seine mit hohem Geschmack wirksame Anordnung in den Räumen bewundernd, schritt ich neben ihm her, manche Stücke hielten uns in längerer Besprechung auf, und ich empfand die Pause, da die Frauen im ersten Zimmer zurückgeblieben waren, bei aller Ungeduld wie eine Erholung. Doch da mein liebenswürdiger Führer, der es, mag sein, auch etwas darauf abgesehen hatte, mich auf die Folter zu spannen, sich in gar zu weitschweifigen geschichtlichen und kunsthistorischen Erklärungen verlor, erlahmte meine Aufmerksamkeit, und ich gab schon zerstreute Antworten, während ich zuweilen durch die offenen Flügeltüren die Flucht der Gemächer hinabschielte. Da geschah es, daß ich wie vor einem Blitzstrahl zurückfuhr, daß ich zur Säule erstarrt stand, daß ich zu taumeln glaubte, weil es mir war, alles stürze um und über mich in klirrenden Scherben zusammen. Vor mir, an eine Staffelei geheftet, hing das Bild – kein Zweifel möglich –, das gleiche Bild im gleichen ovalen Goldrahmen, der oben in eine geschnitzte Schleife auslief, von derselben Meisterhand mit 251 Pastellstiften gemalt, doch nicht Christian Günter, sondern seine Geliebte, doch nicht das reizende Mädchen im Kostüm des heiteren Jahrhunderts, sondern die um weniges spätere Frau, die in Liebe und Leid nicht gealtert, nein vollendet und verklärt war. Leicht geneigt das schöne Haupt, blässer das Antlitz, ein weher Zug mütterlicher Erfahrung um die feinen Lippen, ein Ausdruck tiefer Schwermut in den großen, dunklen Blicken. Geändert auch die Tracht, ungepudertes, dunkles Haar schlicht aufgeknotet und ein schmuckloses Gewand in der antiken Mode jener Zeit, da man Griechenschönheit neu entdeckte und Weibliches ihr anzuähneln bestrebt war.
Mir mußte so alles Blut aus dem Gesicht gewichen sein, daß der Hausherr mich erschrocken anblickte mit der Frage, ob mir nicht wohl sei. Ich schüttelte den Kopf, indem ich doch die Lehne eines Sessels als Halt ergriff, und nachdem ich mich gefaßt hatte, ließ ich eine Sturzflut von Fragen über den bedauernswerten Mann ergehen. Wen das Bildnis vorstelle? E – er wisse es nicht. Wie es in seinen Besitz gekommen? O – ein Erbstück, das er von Kindheit an kenne. Vielleicht, wenn seine Mutter noch lebte, die leider vor zwei Jahren gestorben sei, sie 252 hätte es gewußt, sie kannte alle Verwandtschaft bis Adam hinauf und Sippschaft bis über die Meere hin. Er glaube sich zu erinnern, einmal gehört zu haben, das Bild sei nach dem Ableben eines sehr entfernten Verwandten, mag sein von Mailand, mit anderen Gegenständen ins Haus gekommen. O – es sei ein ganz gutes Stück, jedoch ohne Signatur –»ma - sette cento« fügte er mit leicht wegwerfender Handbewegung in der typischen Geringschätzung des Italieners für alles, was nicht Cinquecento oder älter ist, hinzu. Sein Vater, lachte er, habe übrigens Bilder nach der Schönheit der darauf dargestellten Frauen, nicht nach dem Kunstwert gesammelt, so könne es auch nur ein Stück dieser Galerie sein, von der er die meisten Gemälde weggegeben, vertauscht, verkauft habe, um bessere zu erhalten. Warum mich übrigens das Porträt so interessiere? Ob ich eine Dublette besäße, denn das käme zuweilen vor. Ich verneinte. Eine Ähnlichkeit? Ich sagte ja. Manuela und Giuditta kamen rufend und scheltend ob unseres langen Ausbleibens durch die Zimmer heran. Wir gingen ihnen langsam entgegen. Ich war wie gelähmt. Die Mädchen schienen erhitzt und angeheitert vom Weine. Giuditta zog mich an ihrer Seite nieder, der 253 Duft ihres Haares, ihres Gewandes, ihrer Glieder umströmte mich. Ich war erloschen. Die Fenster standen offen ins laue Schwarz hinaus. Mandolinengeschwirr erhob sich unten wie melodisches Grillengezirp und drang herein. Gaetano trat zum Fenster, lachte und nickte hinab. Er hatte die Musik bestellt. Eine junge Magd, die serviert hatte, brachte ölflüssigen, süßen Wein. Die Mädchen lachten, plauderten, tranken, trällerten Kanzonen zur leisen Musik, ach, Verse von unnennbar süßem Wohlklang. Ich saß stumm und starr wie eine Bildsäule und hatte für jede Ermunterung nur ein abwesendes Lächeln. Sie begannen sich in venezianischem Dialekt zu unterhalten, über mich, soviel verstand ich. Sie lachten. Es schmerzte mich. Giuditta, immer erhitzter und wilder, hatte plötzlich, so schien mir, einen harten Ausdruck, etwas Grausames im Blick. Ich streichelte matt ihre wundervolle Hand. Sie entzog sie mir, leerte ein Glas, rief Unverständliches, das belacht wurde, lachte laut auf, sprang zum Fenster und sprach zu den unsichtbaren Musikanten hinunter in die Nacht. Die begannen ein neues Lied, sie sang den Text und tanzte, mit den Fingern wie mit Kastagnetten schlagend, dazu. Dann warf sie sich in einen Sessel und schmollte. Ich konnte 254 ihr nicht helfen. Nach einer Weile streckte sie gähnend wie eine wilde Großkatze die herrlichen Marmorarme und erklärte, sie wolle tanzen gehen, was Manuelas und Gaetanos Beifall fand. Der Vorschlag verletzte mich tief, obwohl ich wußte, daß nur mein törichtes Verhalten ihn verursacht hatte. Und ich selber stimmte bei.
Abermals wechselten die Mädchen das Gewand. Sie mußten eine ganze Garderobe im Hause haben, wenigstens für heute, denn sie erschienen bald in Tanzkleidern, Giuditta in einem überaus leichtfertig-reizenden und stark geschminkt. Noch einmal sprang das Tier in mir auf, vor Begier heulend. Wie leicht, während sie sich umgezogen hatten – Gaetano war indes vor mir, dem Stummen, mit einem seltsamen Lächeln auf und nieder geschritten –, wie leicht hätt' ich alles wieder wenden können! Ein Wort, eine Erklärung, eine bittende Liebkosung hätte genügt. War ich ein plumper Tor? Wem eigentlich hatte ich so was wie Treue zu halten? Einem gemalten Bild? Einem Phantom? Einem Gespenst, das mich zu narren beliebte? Einer Erinnerung und einem vagen Traum der Zukunft? Und wer hielt mir die Treue? Vielleicht während ich hier . . . 255
Unter Lärm und Gelächter liefen sie die Vorhalle hin, stürmten die Treppe hinunter. Ich folgte am Geländer aufgestützt wie ein Kranker. Wir gingen zu Fuß durch Gäßchen, über Brücken einen nahen Weg zur Rückseite eines der großen Hotels, wo sich ein Nachtlokal befand. Beim Eintritt empfing uns Qualm, Lärm, stampfende, torkelnde Musik, kreisendes Tanzgewühl. Champagner perlte. Gaetano tanzte, Manuela tanzte, ein Offizier holte Giuditta zum Tanz.
Fahles Grau langte über die Kuppel von Santa Maria della salute herauf, als wir durch den Ausgang zum Canale Grande traten. Giuditta, verwüstet und zügellos, erwehrte sich lachend des Offiziers, der sie auf Schultern und Nacken küßte. Jetzt erschien ihr Antlitz verlebt, jetzt im blassen Zwielicht glich sie einer angewelkten Orchidee, die giftigen Duft haucht. Hatten mich die aufgewühlten Sinne täuschend betäubt? So schal schien mir alles wie ein verrauchter Weinrest im Glas, so falsch wie Theater bei Tag, so entwundert wie eine Landschaft, wenn schleiernder Mondeszauber dem Morgen wich. Ach, da waren nur mehr Trümmer und Gestrüpp mit Schlangen darunter, kein blühender Garten mehr und keine weißen Marmorbilder. 256
Gaetanos Motorboot lag an der Rampe. Er stand darin und lud zur Fahrt ein. Manuela und Giuditta, die den Offizier abschüttelte, folgten ihm. Ich verabschiedete mich und erklärte, zu Fuß mein nahes Hotel aufsuchen zu wollen.
Die Kanäle, in der Ebbe gesunken, verbreiteten üblen Geruch. Unter baufälligen Mauern traten verkrustete Piloten hervor. Fruchtschalen und Wegwurf schwammen auf dem öligen Wasser. Ein Frachtschiff, mit graugrünem Gemüse und Melonen beladen, bewegte sich langsam zu eintönigen Ruderschlägen. Im Hafen brüllte eine Dampfpfeife.
Am späten Vormittag weckte mich ein Klopfen aus kurzem, bleiernem Schlaf. Der Hoteldiener brachte ein umfangreiches Paket. Gaetano zeichnete als Absender. Es enthielt das Bild. Ein begleitender Brief sprach in anmutigen Worten die Bitte aus, das Porträt der schönen Unbekannten als Erinnerung an sein Haus und den dort verbrachten Abend entgegenzunehmen. Für ihn, den Schreiber, habe es nicht den Wert, den es anscheinend mir bedeute. Auch hege er den lebhaften Wunsch, daß mir kein malocchio – kein bös verzaubernder Blick – die baldige Wiederholung meines Besuches, auf die er sich freue, verleiden möge. 257
Rasch machte ich mich fertig, suchte einen Altertumshändler auf und erwarb von der Barschaft, die noch für eine längere Reise bestimmt war, eine gute holländische Landschaft, die ich mit einem Schreiben des Dankes und der Entschuldigung an den freundlichen Gastgeber sandte. Und es sei kein böser, sondern im Gegenteil ein sehr guter Blick gewesen, der die peinlich auffallende Veränderung so plötzlich an mir bewirkt habe, und nichts hindere mich, sein wundervolles Haus, in dem ich eine solche Fülle des Schönen genossen, bei einer Rückkehr nach Venedig wieder zu betreten.
An Giuditta aber schickte ich einen schönen alten Schmuck, der sich an der Goldkette auf ihrem Busen ruhend sehr reizvoll ausnehmen mußte. Dann schnürte ich mein Bündel und reiste mit dem Abendschnellzug ab und heimwärts ohne Aufenthalt.
Die Eltern überraschte meine unvermutete Rückkehr, die Mutter freudig. Gott sei Dank, sagte sie sogar mit fühlbarem Aufatmen, Gott sei Dank, daß ich endlich da sei. Holla! dachte ich, da stimmt was nicht. Und Onkel Artur war wieder im Haus. Den ganzen Tag stand er mit hinten verschränkten Händen vor dem kalten Ofen, unsicher gegen all seine Art und 258 im Schwadronieren die albernsten Themen weit herholend, wie einer, der um Gottes willen verhindern möchte, daß die Rede auf ein gewisses Kapitel kommt. Erst in vorgeschrittener Dämmerung ging, nein schlich er aus. Dann, den Rockkragen aufgeschlagen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, rannte er Wiesen und Felder entlang und blickte manchmal scheu um, als wären ihm Verfolger auf den Fersen. Ich empfahl ihm den Fischwald für derlei Spaziergänge; da herrsche ein Düster, daß man eine Wildsau – leider gab es hier keine mehr – nicht von einem Menschen kenne. Im Fischwald stolpere man schon bei hellichtem Tag fortwährend über Wurzeln und Steine, meinte er. Hui! sagte ich, man stolpert im Leben über manches, wenn man die Beine nicht ordentlich hebt und sieht, wo man hintritt. Doch der Fischwald flößte ihm eine Angst ein wie ein Ort der Gespenster, und er ließ sich nicht bewegen, selbst in meiner Begleitung den Schritt dahin zu lenken.
Der Vater war mürrisch und einsilbig wie nur in seinen schlechtesten Zeiten. Einmal nahm er mich beiseite und bat mich in ernsten Worten, ich möge nun rasch meine Studien vollenden und mit dem Doktorhut bekrönen, ich würde ihm einen großen Gefallen damit tun. Er verfüge, 259 setzte er stockend hinzu, augenblicklich auch nicht über die nötigen Mittel, um mir weitere Reisen, die ja sicherlich sehr bildend seien, zu ermöglichen. Er tat mir leid, doch mehr noch als sein bedrücktes Wesen erschreckte mich das Ungesagte und Ungewisse, das hinter seinen Reden zu drohen schien. Die Mutter, gegen ihre Gewohnheit, die sie sonst über ihren eigensten Bezirk von Haus, Hof, Stall, Gemüsegarten und Küchenfeldern fast nie hinausführte, begleitete mich eines Abends in den Wald. Ich erzählte von meinen Fahrten, sie schwieg zuerst, dann nahm sie merkbare Anläufe, um Hemmungen zu überwinden oder sich um solche herumzureden, und endlich, sehr behutsam, fing sie an, die Gute, Zarte, zu forschen, ob ich nicht doch allmählich daran denke, eine Frau zu suchen. Allmählich? Schon? Warum? Ich fände mich noch lange nicht in dem Alter. Gewiß, versetzte sie, doch jung gefreit und so weiter, und ich sei in einer anderen Lage als andere, und der Vater, ob es mir nicht auch auffalle, scheine angegriffen und fühle sich der immer schwieriger werdenden Verwaltung nicht mehr recht gewachsen, und da es doch mein eigener Wunsch und gottgewollter wie selbsterkorener Beruf sei, hierzubleiben und den Wald zu betreuen, und ich die Einsamkeit 260 liebe, es aber doch nicht gut sei, daß der Mensch allein bleibe, ich weiter als der einzige und letzte beizeiten für den Stamm, den rechten, sorgen müsse . . . Schon gut, aber in fünf, sechs Jahren würde ich auch noch nicht alt und eigentlich erst reif genug sein, um zu heiraten. Fast hundert Schritte lang Schweigen. Ein Reh stand auf der Wiese im Waldwinkel. Ich hob das Glas vor die Augen. Ein schlechter Gabler. Passiert! Wir gingen weiter. Der Bock setzte schreckend ins Dickicht. – Die Mimi, sprang sie über, sei doch eigentlich ein nettes Mädchen, ein sehr, wirklich sehr hübsches dazu, und mit einem sehr, aber auch sehr schönen Vermögen. Sehr gut erzogen, Familie sehr in Ordnung . . . Sehr, sehr, sehr! Ich lachte hart und häßlich auf, wie es der lachfrohen Mimi zuweilen auskam. Für die also, fuhr es mir durch Hirn und Blut, für die hätt' ich den vollen Becher, den die wunderschlanke Hand der herrlichen Giuditta bot, mir von der Lippe gerissen, da der Ruch seines heißen, roten Weines schon all meine Sinne füllte, daß ich ihn hinschüttete wie Spülwasser des Alltags, daß ich die köstliche Schale aus dem seltensten Kristallschliff der Schönheit wegstieß, wegschleuderte auf die Fliesen, wo sie in Splittern verspritzte? Die Mutter mißverstand, 261 indem sie fortfuhr, es sei richtig, die Mimi lache etwas viel, doch ein heiteres Wesen habe seinen unschätzbaren Wert in trüben Tagen, deren doch das Leben in summa mehr bringe als frohe, und wen Gott besonders schlagen wolle, den schlage er mit einem übellaunigen Weibe. Ja, ja, die Mimi! Ich würde sie mir also noch einmal anschauen – und andere vielleicht auch . . . Das Schußlicht schwand, wir kehrten um. Nun solle ich, hob die Mutter eifriger und wie ermutigt wieder an, in Wien fleißig studieren. Was denn Onkel Artur habe, unterbrach ich, mit seinem dem Vater nachplappernden Geschwätz vom »Doktor bauen«, weil man das gut brauchen und teuere Advokaten damit sparen könne? Sie seufzte nur und meinte, solch ein Abschluß, da einmal der Anfang gemacht und manches Semester schon hingegangen, sei immer brauchbar, mache auch unabhängiger von – von Zufällen. Und vom Forstwesen, versetzte ich scharf, das mir doch dem Herzen zunächst liege, rede überhaupt niemand mehr ein Wörtlein. Ach, warf sie hin, der Vater meine, Praxis auf großen Gütern werde sich immer noch machen lassen, übrigens scheine mir der alte Eberhard mehr beigebracht zu haben als die beste Schule, wie auch der Forstmeister eines großen 262 Nachbargutes voll Achtung bestätige, mit dem ich vergangenes Jahr gelegentlich einer Jagd ein paar Stunden fachlich verplaudert hätte. Also, nahm sie den rotgoldenen Faden wieder auf, ich möge jetzt nur fleißig büffeln und die Prüfungen hinter mich bringen, dabei aber auch der doch sehr nötigen Pflege der Gesellschaft – oh, hätte sie geahnt, wie mich dieses verhaßte, verachtete Wort stach! –, ja, der Gesellschaft nicht ganz vergessen. Schließlich könne man nicht immer über den Büchern hocken, müsse auch ausruhen und essen, und in Wien seien so viele Häuser, zu denen unsererseits die besten, wenn auch nun etwas eingerosteten Beziehungen liefen, deren Auffrischung mit Freuden Tante Amalie, Mimis Mutter, besorgen würde, der Onkel sei ja etwas dämlich, und hier und da ein Abend in guter, in der guten Gesellschaft sei erfrischender verbracht als im Wirtshaus mit Kneipkumpanen oder gar lockeren Frauenzimmern, übrigens sei Tante Amalie doch so geistreich und halte einen literarisch-musikalisch-malerischen Salon, wo sich die besten Kreise mit denen der anständigen Künstler und Wissenschaft berührten. Hu! – ein paar lederne Professoren, Hofmaler und poëtae laureati, deren Werke in die k. und k. Fideikommißbibliothek, aber nicht in das 263 Herz und Gedächtnis des Volkes aufgenommen seien, schimpfte ich, und mit geistreichen Damen könne man mich überhaupt jagen wie einen schußscheuen Hund mit der Flinte.
Nachts, nachdem man schon auseinandergegangen war, schritt ich noch lange im Turmzimmer vor Onkel Christian Günters Bild – warum lächelte es nun so heimlich-bedeutsam? – auf und ab und dachte. Dachte wieder, wem ich eigentlich so was wie Treue zu halten hätte? Ja – die alten Fichten vor dem Fenster regte ein Atemzug der Spätfrühlingsnacht –, ja, stieg es plötzlich dunkel und machtvoll vor mir auf, ist denn der Wald gar nichts mehr? Ich lief zum Fenster, lehnte mich hinaus. Da drüben stand er, ein finsterzahniger Streif gegen das samtene Blau unter flimmernden und ruhig strahlenden Sternen. Wie oft hatte ich's gefühlt und gesagt, der Wald ist mein Leben! War er nicht eines Lebens, eines Glückes wert? Was ist Glück? Der Rausch einer Nacht, mehrerer Nächte, die früher oder später ein fahles Tagen überschleicht, von denen nichts übrigbleibt als ein unordentlicher Tisch mit Resten verrauchten Weines, eine entzauberte, verwüstete Schönheit und die schale Erkenntnis einer Wunderwelt, die falsch war? Flimmernde Sterne! Aber der 264 Wald ist echt, und es gibt ruhige Sterne, die nicht fallen, die nicht wechseln wie Mond und Venus, die wiederkehren in sicheren Bahnen der Ewigkeit. Ja, die eigenes Licht strahlen, nicht fremdes flimmern, und wiederkehren . . .
Schließlich – ich wandte mich in das Zimmer zurück –, der Wald lebt länger als der Mensch, und merken es Kinder, ob Liebe oder Vernunft die Eltern verband? Und ich durfte mit mir zufrieden sein. Hatte ich nicht dennoch meinem Wald die Treue gehalten? Christian Günter, was lächelst du so seltsam? – Phantom! – Ich hielt die Hand vor das Licht, dessen Schein auf dem Bildnis irgendeine täuschende Spiegelung hervorgerufen haben mochte. – Täuschung am Ende auch dies? Gespenster, die mich narrten? Christian Günter, warte nur ein Weilchen: ich bringe dir deine Frau heim!
Wahrhaftig, er lächelte! Er wurde mir unheimlich. Ich ging zu Bett.
Das Bild, für das der Kunsthändler mir die Ausfuhrpapiere beschafft hatte, war nach Wien gesendet worden, wo ich im Haus eines Kameraden noch ein Absteigequartier besaß. Nun folgte ich ihm und fand es vor. Doch ich ließ es vorderhand verpackt im Zimmer stehen.
Dem Studium stellten sich, wollte ich auch 265 den mütterlichen Wünschen gerecht werden, erhebliche Hindernisse entgegen. Da war schon einmal der Kamerad, der sich in gewisser Weise ehrlich freute, daß ich mein Quartier bei ihm bezog, weil er mich so endlich wieder »bei der Hand« habe, wie er sich ausdrückte. Denn es war season, und er hatte schrecklich viel zu tun. Täglich mußte er ausrücken, entweder im grauen Zylinder oder in Uniform, denn es gab Rennen, Polo, Concours hippiques, die große Steeplechase um den Kaiserpreis, und das Derby nahte, der Tag der Tage, an dem man die neuesten Moden zur Schau trug, dazu die ganze »Jubelwoche«. Er benötigte dringend meinen Rat beim Schneider, beim Schuster, Stöcke mußte ich begutachten und Krawatten, und jeden Morgen trat er nächtlich gewandet in mein Zimmer mit der Frage aller Fragen: was man heute anziehen solle? Auch meine Unterschrift auf Wechseln war erwünscht und schließlich nur eine kleine Gefälligkeit, doch ich lehnte sie ab mit der Begründung, daß ich kein eigenes Vermögen besitze. Aber besitzen werde – ein recht hübsches Gut –, meinte er. Darüber fehle mir jedes Recht zur Verfügung, wehrte ich ab, und der Vater habe mir mit Entmündigung gedroht, wenn ich je einen Wechsel unterschriebe. Dabei 266 sollte der junge Mann einen Besitz erben, fünfzehnmal größer als Herrenschlag. Doch dieser und andere, die noch mehr besaßen oder erhoffen durften, Väter wie Söhne, wußten oft nicht einmal genau, was sie besaßen, und wo es herkam, was sie verbrauchten. Es mußte eben da sein, denn es war nötig, von November bis Juni in der Stadt zu leben und Haus zu machen, außerdem im Klub zu spielen. Den Verwaltern und Direktoren blieb es anheimgestellt, das dazu Erforderliche zu beschaffen, und manche waren geschickt genug, Onkel Arturs Ideen von der Industrialisierung in die Tat umzusetzen, zumal wenn die Besitze überraschend günstig über Kohlen oder gar Petroleumquellen lagen, sich daher »ausbeuten« ließen. Solche Eigentümer wurden dann natürlich nicht von Onkel Arturs berühmten »Riesenrädern der Weltwirtschaft« zermalmt, sie lieferten vielmehr mit Gewinn den Betriebsstoff dazu, und die »Einschaltung« war gelungen. Sie brachten aber auch neuen Schwung in den Betrieb der Geselligkeit, den weniger Glückliche nun mithasten mußten, ob sie wollten und konnten oder nicht. Ach, diese bedauernswerten Reichen und Bedauernswerteren, die von ihnen gezwungen wurden, es ihnen gleichzumachen, hatten immer so viel zu tun! In der 267 winterlichen und sommerlichen season verstand sich das von selbst, denn die Ansprüche, die gestellt wurden, waren enorm: ein Fest jagte das andere, eine Veranstaltung traf mit anderen auf Tag und Stunde zusammen, und überall mußte man gesehen worden sein. Überdies tagten Parlament und Herrenhaus, das Kabinett wackelte wieder einmal, und es war immerhin möglich, daß man von allerhöchster Stelle zu hoher Verantwortung berufen wurde. Der Sommer aber brachte mit den Ferien der Politik den Jagdbetrieb, und wieder hatte man vollauf »zu tun«, indem man mit todernster Miene in der Tracht eines Holzknechtes, das Binokel um den Hals, den Stutzen geschultert und, wo nötig, eine Stange in der Hand ums Morgen- und Abendrot in Wald und Berge lief und den übrigen Teil des Tages von Wild und Hund redete. Abends aber hing man wohlgekleidet und von einem guten Dinner etwas beschwert in Klubsesseln und verbesserte bei Kognak und Tabak Land, Staat und Welt. Denn es wurde schlecht regiert, das Volk hörte leider nicht auf seine geborenen Führer, und die Krone war falsch unterrichtet und beraten. Für sie gab man natürlich Gut und Blut, wenigstens im Liede und in Reden. Das Blut verstand sich 268 von selbst, denn so war es Tradition und Pflicht, und hinsichtlich des Gutes war ebenso selbstverständlich vorauszusetzen, daß die Krone es nicht beanspruchen würde, weil sie doch die gottgewollten Grundfesten des Reiches und Vaterlandes, damit auch ihre eigenen, nicht erschüttern konnte.
Das war der Kamerad, das waren die Genossen seiner Art. Und da ich die Prägung dieser Art trug, war es nicht leicht, den Ansprüchen zu entgehen, die sie stellten. Viel schwieriger aber war es noch, jene zu erfüllen, die Tante Amalie, noch dazu aufgestachelt durch Briefe meiner Mutter, stellte. Schon flatterten ihre Einladungen mir auf den Tisch, und wie das Gekrächz einer Krähe den Schwarm der übrigen herbeizieht, folgte ein wahrer Hagel von anderen, auch solche zu mir ganz unbekannten Menschen, deren Namen ich nie gehört hatte. Doch Tante Amaliens Salon sorgte dafür, daß sie mir bekannt wurden. Und wenn ich Ausflüchte erzeugen wollte, wurde ich belehrt, daß es doch so wichtig sei, dort und da zu erscheinen. Da gab es hohe Personen, denen man vorgestellt werden mußte, Minister und andere Gewaltige, die man, wer weiß, einmal brauchen konnte. Und überhaupt, ein Mensch ohne Beziehungen war doch eine 269 Telegraphenstange ohne Drähte. Eingeschaltet sein: in der Weltwirtschaft wie in der Gesellschaft, die sich Welt nennt, war es das Notwendige.
Und Mimi lachte über meinen Zorn, wenn man mich vom Dejeuner zum Tee, von dort zur garden party, weiter zur Wohltätigkeitsvorstellung, zum souper und après souper schleppte. Die Wohltätigkeit blühte und erforderte für die wohltuenden Damen stets neue Toiletten. Das war ihr stärkster Anreiz. Mimi war reizend ungebildet und fand auch Literatur nur belustigend. Ich widersprach ihr, sofern es sich um den Salon ihrer Mutter handelte, der nämlich imstande war, einem jede Lust auf Literatur und Kunst auszutreiben. Ich begriff es, daß Mimi sich nur für Toiletten und Gelegenheiten, sie zu tragen, und nicht im mindesten für Bücher, Museen und Vorträge interessierte. Das ehrte die gesunde Natürlichkeit ihrer Lebensanschauung, die auch eine solche Mutter nicht wegzuerziehen vermochte. Aber Tante Amalie, stets atemlos vom Geist gehetzt, gab es nicht auf, der Tochter berühmte Leute zuzuführen und ihr Haus mit dem Hauch der Unsterblichkeit zu erfüllen, was wieder die Wohltätigkeit am schönsten ermöglichte und am 270 wohlfeilsten, denn wer sang, deklamierte und mimte nicht, da moralisch genötigt, honorarlos für Arme, Kranke und Verwahrloste? Und junge Talente erhielten so die Gelegenheit für das ersehnte Debut. Wen traf man nicht um Tante Amaliens Samowar, der zugleich die Funktion eines Weihrauchbeckens versah, und um ihre Büfetts, deren berühmte Leckerbissen die Prominenten ebenso anlockten wie die großen Namen hinwieder das übrige gesellschaftsfähige Publikum. So war es nur gerecht, dieses Namen über Namen in seinen Räumen sowohl wie in seinem stets breit aufliegenden Gästebuch vereinigende und sammelnde Haus eine Drehscheibe der Kultur zu nennen, wie einer seiner prominentesten Besucher geistvoll geäußert hatte.
Und wen traf ich alsbald hier, lässig am Büfett lehnend und ein Sandwich kauend, während er einigen Damen, die ihn bedienend mit anbetenden Gebärden umringten – Apoll im Kreise der Charitinnen –, Bonmots und geschliffene Urteile über zeitgenössische Erscheinungen wie geistige Almosen hinwarf? »Ah, da schaust' aber!« rief er selbst, als er meiner ansichtig wurde, und lenkte mit dieser nicht eben literarischen Begrüßung, deren Vulgarität nur das Zeichen großer Vertraulichkeit sein konnte, 271 alle Blicke auf mich – Rudi, mein gehauter Freund und Schulbankgenosse! Wir schüttelten uns die Hände, und der Kreis wich zurück, ergeben und doch mit zweifelnd getauschten Blicken, denn es war vorderhand nicht recht begreiflich, wie der Meister die Familiarität eines Unbekannten mit so guter Miene ertragen, sie sogar in gleicher Formlosigkeit erwidern, ja ihr zuvorkommen konnte. Und er wich immer weiter, da wir in dieser Tonart fortplauderten und ich Kognak verlangte, um das überraschende Wiedersehen mit einem Anstoßen zu feiern.
»Ein Führer der jungen Literatur!« flüsterte mir Tante Amalie, das Lorgnon am Nasenbein, zu, als Rudi von einer den Bleistift mit reizender Verschämtheit in den Lippen drehenden Jungfrau um ein Autogramm in ein bereitgehaltenes Buch gebeten wurde. »Kennen wir!« versetzte ich beruhigend. »Du kennst doch alle berühmten Leute!« staunte sie unwillig.
Ich kannte sie zwar, außer zufällig den Rudi, gar nicht und doch die meisten genug, um ihre Bekanntschaft nicht zu suchen. Und ich hatte nun auch genug von Namen, alten und neuen, mit Adel oder Lorbeer gekrönten, genug von Bekanntschaften, Verwandtschaft und dem Ganzen, was Gesellschaft heißt. Ich reiste ab, nicht in 272 Person, nur im Wege des Gerüchtes, das ich verbreiten ließ, wobei mir Mimi in dankenswerter Weise verwandtschaftlich half, verzog in die Vorstadt, nahm einen Einpauker und hatte in wenigen Wochen eine Prüfung hinter mich gebracht. Dann, ohne mich bei Tante Amalie oder sonstwo der Gesellschaft gezeigt zu haben, fuhr ich heim.
Am ersten Morgen schlug ich noch traumumfangen die Augen auf und wußte durchaus nicht, wo ich war. Rom? Venedig? Wien? Doch kein Lärm, es mußte die ungeheure Stille gewesen sein, die mich wach machte. Der Tag, dem ich durchs Fenster entgegenblickte, begann eben erst die Dämmerung anzuglühen, ein großer Stern strahlte noch rein über bräunlichem Wolkenstreif. Zur Pirsch war es zu spät, doch warum nicht einmal den Tag mit den Bauern beginnen, nachdem man ihn, bleich von durchschwärmten Nächten heimtaumelnd, so oft über Städten hatte erröten sehen? Schon ganz ermuntert blieb ich liegen und genoß in warmem Behagen das allmähliche Erwachen ländlichen Lebens. Mein Fenster ging auf den Meierhof hinaus. Die Hähne fanden es schon lange ungehörig, daß ihre wiederholt gekrähte Reveille unbeachtet blieb, indes kam von den Feldern 273 noch ein verträumter Wachtelschlag und nun der erste Lerchentriller herüber. Die Morgenglocke läutete. Jetzt schlug eine Stalltür, Rosse stampften dumpf, ein Rind maulte mit Kettengeklirr, Tritte schlapften. Dann hob eine Stimme ermunterndes Schelten, und bald knarrte der erste Wagen feldwärts. Immer mehr Laute und Geräusche wuchsen mit dem Licht in den Chorus der agrarischen Symphonie, und die Peitsche als Taktstock trieb knallend das Andante ins Allegro. Ich fuhr aus dem Pfühl, und bald saß ich draußen auf den Heidesteinen inmitten der weiten, flimmernden Frühe. Klingender Wind lief über die Felder, kämmte die raschelnden Haferrispen, fuhr den hellen Birkenjungfrauen durchs bängliche Flitterhaar, das reife Korn schlug Wellen, und im hingewälzten Goldschaum seiner Ähren tanzten die Blutstropfen des Mohns und die meerblauen der Zyanen. Fern über dem ernsten Kreis der Wälder – es war ein sehr klarer Tag – standen wunderlich vereinzelt die Gipfelzacken der südlichen Gebirge. Ja, wenn man mit Siebenmeilenstiefeln von einem zum andern hinsteigen könnte, stünde man bald auf dem letzten, unten läge das Wunderland und hoch in den Dunst hinausschimmernd der endlose Horizont des Meeres, davor 274 an seinem Rand aber in den Lagunen die Stadt mit den goldenen Kuppeln und den Palästen über stillen Kanälen.
Doch der Schoß der Heimat, weit umfangend, wiegt immer tiefer in die wunderbare Harmonie der Stille, die keinen störenden Ton hat, es sei denn ein fremder. Die Ferne ist zaubervoll, und der Wanderer fand dort und da einen Ort, eine Landschaft, wo gut weilen schien. Aber es ist mit fremden Gegenden wie mit neuen Menschen: sie reden eine andere Sprache, deren Melodie anzuregen, zu entzücken, zu berauschen, doch lange nicht zu halten vermag, und die deutsche Seele, so gern sie schweift, gleicht einem Zugvogel, der nördlich der Alpen nistet. Denn da spricht, singt, lärmt alles Heimat, und, was tiefer und weit und wiegend wie Wald und Meer ist, die Stille ist Heimat. Vielerlei Mundarten hat die Sprache heimischer Landschaft und viele Weisen ihr Lied. So vertraut ist keine wie die der Kindheit. Wo unsere Wurzeln haften, ist nichts, was unwichtig oder gleichgültig wäre, nichts, was nicht besonderen Sinn und tiefe Bedeutung hätte. Da ist es nicht nötig, daß etwas schön sei, das Wetter nicht und nicht die Landschaft oder das Haus. Denn das Vertrautsein, Verwachsensein, die 275 hundertfältige Beziehung aus gleicher Wurzel offenbart ein anderes Gesicht und einen neuen Sinn der Schönheit. Ein Hohlweg, der hügelan unter dem Gebreit einer einsamen Wettereiche in die Wolken klafft, ein Schlehenbusch am Rain, in dessen Gedörn die Halme der Heufuhr hängen, die vorüberstreifte, die Radspur, in der sich Regenwasser sammelt, der Felsklotz im Heidegras, den kindliche Phantasie »Großglockner« nannte, der, mit kleinen Füßen erklettert, Ausblick in die »weite Welt« gab, all das hat seinen eigenartigen Reiz, seine Köstlichkeit, Beziehung und Erinnerung. Der Fremde geht umher, schüttelt den Kopf, er findet nichts Schönes, es sei denn sonniger Frühling, der alles schön macht. Aber wenn die Wolkenwölfe über die stöhnenden Fichtenwipfel jagen und der Regen aus ungeheueren Wäldern dampft, flieht er das furchtbare Land, und doch hat es gerade dann seine besondere Köstlichkeit.
Ich schlug einen Bogen über die Felder und ging unten am Westende beim großen Teich in das Dorf hinein. Da stand das behäbige Wirtshaus, Schloßtaverne genannt, ein hübscher, einfacher Barockbau mit Stuckverzierungen, und als ich vorüberkam, roch es eben anmutend nach Kaffee heraus. Ich fand, daß ich zur 276 Abwechslung einmal hier frühstücken könne, betrat die Stube, wo die dicke Wirtin mit einer scheuernden Magd aufräumte, wünschte ihr einen guten Morgen und bestellte bei der freudig Erstaunten einen Morgenimbiß, den sie mir unter die schattigen Kastanien in den Garten bringen möge. Dann leistete sie mir Gesellschaft, während ich mit Lust den dunklen Waldhonig auf das Butterbrot strich, und wir plauderten von den dörflichen Dingen, die nur dem Grade und Umfang, nicht der Art nach verschieden sind von den städtischen. Was bewegt und treibt, ist genau dasselbe dort und hier: menschlicher Eigennutz, gehässiger Wettbewerb, heimliche Intrige. Nur dort schlägt es große, aufgeregte Wellen, und hier macht es ein kleines, eifriges Geplätscher. Im Grund ist es genau das gleiche, was unten zu einem Krach im Gemeinderat oder oben zu einer Parlaments- und Kabinettskrise führt. Und der alte, weise Dorfbauer und Bürgermeister ist nicht weniger klug als der Ministerpräsident, nur daß er ruhevoller die Dinge aus dem großen Rhythmus der Natur betrachtet, der sein Dasein und das der ganzen Gemeinde unmittelbar umwogt und wie das breite Schwanken der See ist, das am Hafendamm in wilder Brandung aufschäumt. So schäumt das 277 Leben in den Mauerschluchten der Stadt, und alles scheint dort erregender, wilder, wichtiger, nur weil es Masse ist, weil gehäufte menschliche Not und Hast einander stößt und wälzt und von Unerbittlichkeiten zurückgeschleudert wird, und weil das Leben den Zusammenhang mit den großen stillen Dingen der Ewigkeit verloren hat. Wenn die Bauern vom Wetter sprechen, so ist es nicht wie bei gebildeten Menschen verlegene Gedankenlosigkeit, sondern ernstes Reden vom Schicksal. Jahrtausendalte Erfahrung, urväterische Weisheit schwingt mit und fromme Ergebenheit in den höheren Willen, der Gesetze gab und aller Dinge Maß ist.
So sprach ich mit der beleibten Wirtin vom Wetter und von der Ernte, von Taufen und Hochzeiten und den Neuigkeiten in der Stammtischrunde, nur von Onkel Arturs und des Müllers Bahnprojekt sprach ich nicht, weil ich wußte, daß ihr Gatte zu den fanatischen Anhängern gehörte, und von der Mutter am Abend vorher vernommen hatte, daß es der Pfarrerpartei gelungen war, bei den Behörden die Konzessionserteilung zu hintertreiben, was unsere innigste Freude erregte, doch den Waldmüller, der schon viel Geld auf diese Karte gesetzt haben mochte, in eine fatale Lage brachte. 278
Nach Einnahme des trefflichen Frühstücks schlenderte ich die breite Dorfgasse hinauf, begrüßte diesen und jenen alten Freund oder Widersacher und betrat den Kramladen, nicht eigentlich um etwas zu kaufen, nur um die Schelle zu hören, die in Bewegung gesetzt wurde, wenn man die Türe öffnete, um den Geruch des kleinen Warenlagers, der Drogen und des Heringsfäßchens zu spüren, um an der Decke oben – der Laden war noch ein richtiges »Gewölbe«, in das man zwei Stufen hinabstieg – das uralte, in seiner Vertrocknung phantastisch aussehende kleine Meerungeheuer hängen zu sehen, das mich als Kind schon immer angezogen hatte und einst Zeichen der Berechtigung zum Handel mit Kolonialwaren gewesen. Während ich einen Bleistift auswählte und ein paar Zigaretten nahm, plauderte ich mit dem alten Kaufmann, der, ein Sammetkäppchen auf dem Kahlkopf, die Brille auf der Nase, hinterm Tisch stand, über ähnliche Dinge, nur seinem höheren Interessenkreis angemessen, wie vorhin mit der Tavernewirtin.
Volleres Glockengeläute, als es sonst zum Frühgottesdienst üblich war, für den es auch schon zu spät schien, erregte meine Aufmerksamkeit, als ich den Laden verließ. Ein Leichenzug kam die Straße her. Voran der kreuztragende 279 Mesner mit den Ministrantenbuben, dahinter im schwarzen Ornat der greise Pfarrer, der mir meinen Gruß freundlich zurückwinkte, ihm folgte das Ochsengespann, das den mit Tannenreisig umkränzten Wagen zog, auf dem der schlichte Brettersarg ruhte, und die Schar der Leidtragenden, der Freunde und Nachbarn in Sonntagstrachten. Den Beschluß bildeten die alten Betschwestern, die nichts sonst mehr zu tun haben und jeder Leiche betendes und klagendes Geleit geben, und der Dorftrottel, der bei allen solchen Anlässen seine Anwesenheit teils aus Gründen pflichtgemäßer Repräsentation, teils wegen erhofften Abfalls bei der folgenden Mahlzeit für wichtig erachtete. Mit dem Hut in der Hand stand ich gleich einigen anderen am Wegrand und dachte mir, wie unvergleichlich würdiger und stilvoller man diesen alten bäuerlichen Auszügler zu Grabe trug, als es in Städten üblich ist, wo die prunkvolle Geschmacklosigkeit eines neubarocken Pompes mit Silbertressen an den Theaterfräcken und -hüten gewerbsmäßiger, selbst schon leichenhaft einherschreitender Gruftstatisten, die müden, schwarzen Klepper, Kerzenqualm, Blumen- und Schleifenpracht und plärrende Musik die abschreckende Wirkung der ohnehin traurigen Begebenheit noch mit 280 besonderer Trostlosigkeit aus dem gleichgültigen Getriebe des Alltags hervorheben. Hingegen erinnerte ich mich jenes altertümlichen Totengeleites, dem man zuweilen als einem schaurigen memento mori mitten im buntesten Treiben italienischer Städte begegnet, wo die Brüderschaft, Antlitz und Gestalt in eine Art Domino gehüllt, den schmucklos verhängten Sarg trägt und ihm mit brennenden Kerzen ausschließlich in stummen Reihen folgt, ein namenloser, düsterer Maskenzug, der der ausgelöschten Vergänglichkeit ergreifenden Ausdruck gibt.
Ich lenkte meine Schritte zur Kirche, nahm dort nicht vorne in der Patronatsbank, sondern hinter der kleinen Trauergemeinde unterm Vorsprung des Orgelchores Platz, hörte die Messe und blieb, als schon der Zug nach der Einsegnung das Gotteshaus wieder verlassen hatte. Diese kühlumwölbte, nach verhauchtem Weihrauch und etwas modriger Feuchtigkeit duftende Stille war noch tiefer und weiter als der Schoß der Heimat. Ich versank in ihr, nicht betend, ich gesteh' es, denn der gebildete Mensch ist in der Regel ein schlechter, zerstreuter Beter, doch ich ließ mich willig in dem tiefen, alles Leben samt der Ewigkeit umfangenden göttlichen Schoß versinken, der Kirche heißt. Das ist die große 281 Mutter, die nicht schicksalsdunkel und schonungslos gleichmütig wie die Natur, sondern trostvoll das Leben des Menschen von der Wiege an begleitet und ihn, wenn er es müde und satt oder auch kraftvoll widerstrebend lassen muß, sanft und ernst in heilige Arme nimmt, um ihn am schauderhaften Rand des Grabes vorüber in ein neues, helleres Licht zu führen. Sie harrt geduldig des Irrenden, verstößt nicht den Verlorenen, verzeiht dem Heimkehrenden alles. Den Gang der Natur geleitet sie vom Aufstieg zum Niedergang des Lichtes und hebt jede Wende in die Verklärung sinnvoller Feste, in die höhere und ewige Bedeutung vergänglichen Geschehens. Es gibt keine gewaltigere Dichtung als die Schrift, die für jeden Tag im Jahr das frohe oder mahnende Wort weiß, und keine wundervollere Harmonie als das Gesamtkunstwerk, das in Bau, Bild, Wort und Weise ihr Gottesdienst darstellt. Seine Schönheit ist wie die der Natur in Erscheinung und Ausdruck immer vollendet, ob sie schlicht im Alltäglichen oder mit Entfaltung festlicher Pracht in Orgelbraus und vollem Chor auftritt, ob stille Messe im Morgendämmern einer Dorfkirche, ob Volksgesang, ob strenger Choral im Münster einer Abtei oder Hochamt im Dom zu Mozarts 282 kindlich jubelnden und flehenden Engelsstimmen. Er ist überall auf dem gesamten Erdenrund derselbe und trägt doch bewahrend Färbung und Temperament jeder Volksart.
Ich versank in die strahlende, reinigende, versöhnende Heiligkeit dieser Stille und fand auf einmal die Ruhe und Klarheit, alles Erleben, Suchen, Hoffen, Zweifeln und Sorgen nach Wert und Gewicht auseinanderzulegen, zu ordnen und zu sichten. Da lösten sich Rätsel, da wurde Unbegreifliches sinnvoll, und ärgerliches Stückwerk reihte sich ganz natürlich in erstaunliche Zusammenhänge. Erst der alte Mesner, der eintrat und sich durch Hüsteln und lautes Umhergehen bemerkbar machte, störte mich aus meiner Versunkenheit auf. Er wollte das Portal schließen, und als ich mich erhob, trat er zu mir und machte mich flüsternd aufmerksam, daß die Seitenpforte geöffnet bleibe. Aber ich verließ mit ihm die Kirche und machte dem Pfarrer einen Besuch. In seiner Kanzlei, die nach Schnupftabak und altem Aktenpapier roch, saßen wir beisammen und sprachen von der höheren Politik im Sprengel und Lande. Die Haushälterin brachte mir ein Gläschen vom dunkelgoldenen Prälatenwein, mit dem Ehrengästen aufgewartet wird. Ich gab meinem Vergnügen 283 darüber Ausdruck, daß die geplante Bahnverbindung verhindert oder doch aufgeschoben sei, worauf der Pfarrherr verstummte und eine Prise mit besonderem Nachdruck in seinen Nasenröhren versorgte. Dann mit dem zusammengerollten blauen Taschentuch unter ihnen mehrmals in sägender Bewegung längsher fahrend, meinte er, meinen Vater würde das weniger freuen, denn die Geschäfts- und Schicksalsgemeinschaft mit dem Waldmüller scheine doch trotz eingetretener Abkühlung im persönlichen Verkehr eine recht enge geworden. Nun war es an mir, nachdenksam zu schweigen, und ich lenkte dann ab mit der Frage, ob ihm als dem Matrikelführer Genaueres über die Herkunft der verstorbenen Gattin des Waldmüllers bekannt sei. Er verneinte. Der Müller sei schon als Witwer zugezogen mit dem damals ganz kleinen Kinde, der Martha, als er die Waldmühle erworben hatte. Zweifellos sei er ein fleißiger und zielbewußter Mann, denn die baufällige Mühle, für die niemand mehr was wagen wollte, habe er in wenigen Jahren erstaunlich in die Höhe gebracht. Und mit dem Kind, der Martha, fuhr er fort, scheine er hoch hinaus zu wollen, lasse sie um teueres Geld in fremden Ländern erziehen, und nichts sei ihm gut genug für sie. Wäre 284 schade, schloß er, abermals schnupfend, wenn das gute und brave Mädchen dabei Schaden nähme, doch bisher scheine sie sich gut zu halten. Sie besuche ihn auch jedesmal gelegentlich ihrer seltenen und kurzen Aufenthalte beim Vater und mache ihm trotz aller ihr zugedachten Verwöhnung den Eindruck einer klugen und bescheidenen Person. Als ich mich verabschiedete, erkundigte er sich noch nach Albrecht, an dessen ruhevollem, heiterem Wesen er großen Gefallen gefunden hatte, und er meinte schließlich in jovialer Munterkeit, es würde für mich allmählich Zeit, an den heiligen Ehestand zu denken, woraus zu merken war, daß die Mutter mit ihm hiervon gesprochen hatte, denn er gebrauchte fast dieselben Argumente.
Tief in Gedanken verließ ich den geräumigen und wohlgehaltenen Pfarrhof und machte mir noch am gleichen Tag im Archiv zu schaffen, um den Christian Günter betreffenden Skandalakt zu finden, was auch nach einigem Stöbern gelang. Ich nahm ihn aufs Zimmer mit, um ihn abends einer genauen Durchsicht zu unterziehen, fand aber nichts, was Aufschluß geben konnte, außer endlich einen italienisch geschriebenen Brief eines gewissen Giacomo Solari, datiert aus Mailand im Jahre 1811, an meinen 285 Urgroßvater in Erbschaftssachen, soviel ich entziffern konnte und verstand. Mailand hatte doch mein venezianischer Freund als möglichen Ort der Herkunft des Bildes genannt, und der Name Solari kam, wie ich mich zu erinnern glaubte, in der Geschichte einiger Barockbauten des Landes vor.