Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Wenn ich mein Leben rückschauend überblicke, denke ich wohl manchmal, wie dieses und jenes gekommen wäre, wenn jenes und dieses anders oder gar nicht gekommen wäre, um endlich mit wachsender Überzeugung den Schluß zu ziehen, daß wir mit all unserm Träumen und Trachten, Tun und Meiden doch nur ein Los erfüllen, das uns hohe Mächte geworfen haben, erfüllen mit Sorge und Fleiß sowohl wie auch mit unsern Torheiten, und es fällt leidlich gut aus, wenn wir es nur immer ehrlich gemeint haben. Denn einzig die Unwahrheit ist dem Gang der Natur zuwider, und wer es besser machen will, indem er sich oder andere belügt, arbeitet gegen den Zug und kommt schließlich gleichsam unter die Räder, so gut ihm auch anfangs manches zu gelingen schien. Ich wenigstens hab' mich von jung auf als ein rechtes Kind der Natur mehr ziehen und treiben lassen, statt im Schweiß meines Angesichtes zu rudern und zu steuern, was mir oft übel genug vermerkt worden. Und weil ich mehr dem Herzen folgte als dem Verstand, der 10 immer alles besser wissen und machen will, habe ich durch Leichtsinn mein Glück gemacht und mit einer offensichtlichen – so schien es – Dummheit mir die Heimat gerettet, die doch ein Glück ist, wenn nicht das größte, so das gewisseste und dauerhafteste für Erdenkinder, ein Glück, das keine Launen hat, das sommers und winters schön ist und mit dem Alter in seinem Wert immer tiefer und voller erfaßt wird.

Ich bin in Herrenschlag daheim, und wer den Ort oder seinen Ruf kennt, wird sich gar verwundern, daß ich mich anschicke, ihm ein Lob zu singen, dessen Name schon dem Kundigen wie Schlehenschmack auf der Zunge und wie ein nordöstliches Frösteln übern Rücken hinunter ist. Mancher bläst sich vielleicht auch gleich in die Finger und reibt die Fäuste aneinander, was freilich bei den Herrenschlagern von Oktober bis April und tagweise auch im Mai noch und im November schon wieder eine häufig betriebene Leibesübung ist. Das ist richtig, es gehört was dazu, um gern in Herrenschlag zu sein, nämlich vor allem wohl, daß man dort zu Haus ist, dann aber auch noch Gesundheit des Leibes wegen der scharfen Luft, die dort zu blasen pflegt, und Gesundheit der Seele wegen der gewaltigen Einsamkeit, die dort herrscht. Es liegt bekanntlich 11 in dem Hochland, das im Süden von der Donau und gen Mitternacht von den böhmischen Wäldern begrenzt wird und in mannigfachen Höhenwellen, Kuppen und Hochflächen zu diesen hinüber schwingt, und ist eine Gegend, die als unfruchtbar und unwirsch im Verruf steht, von den Vorteilen neuzeitigen Verkehrs nichts ahnt und bislang nur dadurch in weiteren Kreisen bekannt wurde, daß sie die Heimat eines Räubers und eines Dichters war. Und in einem volkswirtschaftlichen Buch mag zu lesen sein, daß das Waldviertel – so wird der Landstrich genannt – viel Holz und einen Hafer von ausgezeichneter Güte liefert, was indes auch nur auf sein rauhes Wesen hindeutet. Alle diese Eigenschaften schätze ich an meiner Heimat, zumal den Mangel an Zivilisation, und ich schätze es auch, daß Herrenschlag, auf einer Hochfläche von beinahe neunhundert Metern Seehöhe gelegen, sozusagen recht der Ausbund seiner Umgebung ist und, was Unwirtlichkeit und Einöde angeht, alle Nachbarorte übertrifft, die Orte, die mit Vorliebe auf -schlag enden, wie Heinrichsschlag, Bernschlag, Biberschlag, Weikartsschlag, oder die wie Heidenreichs, Waldreichs, Dietmanns eines Eigennamens eigen anzudeuten scheinen. Dann gibt's noch solche auf -berg und -stein und auch etliche, 12 die dem deutschen Ohr höchst rätselvoll und dunkel klingen und von slawischem Urerinnern umwittert sind, wie Ranna und Dobra. Genug zur Einleitung, die dem Fremden, der auf Reisen Bequemlichkeit liebt, nicht eben eine Lockung scheinen wird. Vom vielen Walde hat das Land mit Recht seinen Namen, und er gibt ihm ein finsteres Gesicht, sowohl für den, der es zu Fuß oder in altfränkischer Postkutsche durchquert, wie für den, der etwa im Süden von einem der Alpengipfel über das gesegnete Land Österreich unter der Enns den Blick ergehen läßt und das Gesichtsfeld, das die anmutigen waldgefleckten Hügelwellen, die fruchtbaren Breiten und Auen des Donautals und seiner Nebentäler umfaßt, gegen Norden von unendlich hingezogenen, tiefblauen Höhenrücken beschlossen findet.

Um nun zum Anfang meines Berichtes zu kommen und dort zu beginnen, wo's nötig ist: Ich hatte in einer geistlichen Erziehungsanstalt eben die erste Bekanntschaft mit der göttlichen Odyssee gemacht, in die uns ein alter Griesgram von Professor keineswegs, damit wir einen Genuß davon hätten, sondern ausschließlich zu dem Zwecke einzuführen bemüht war, um die wundervollen Verse, die voll ewigen Meeresrauschens sind, als eine hochnotpeinliche Folter für unsere 13 grammatikalischen Unkenntnisse zu benützen. Wir wurden streng gehalten und außer zu den langen Sommerferien nur noch einmal im Jahr, nämlich zu Ostern, losgelassen. Ungern geschah es immer, und an guten Lehren zum Schutz vor den Gefahren der bösen Welt wurde uns ein reichlicher Kanon mitgegeben, selbst mir und, wie es mir schien, gerade mir in besonders scharfer Ausgabe, wo ich doch immer eilig und geradeswegs nicht in die große Welt, sondern in die Einöde meiner Heimat strebte. Besonders vor dem höchst verderblichen Umgang mit dem anderen Geschlecht wurde ich regelmäßig gewarnt und fand dort oben doch voraussichtlich nur, wie immer, meine gute Mutter, die ältlichen Dienstboten des Hauses und höchstens etwa in Dorf und Umgebung etliche eingeborene Waldviertlerinnen, von denen selbst die Jugendlichen im allgemeinen wenig Verführerisches haben. Item, man schien's meiner Nase anzumerken, daß sie einmal eine feine Witterung fürs Ewig-Weibliche haben würde, und sollte schließlich damit recht behalten, wogegen die guten Lehren übrigens nicht aufkamen.

An jenen Ostern also, es war der Samstag vor den Palmen, reiste ich wieder einmal, herzlich froh, dem geistlichen Bildungsgehege für 14 zwei Wochen entronnen zu sein, und voll seliger Heimatpläne meinen Wäldern zu. Wer dahin gelangen will, verläßt in Melk an der Donau Bahn oder Schiff und vertraut sich und etwa noch ein geringes Gepäck der Waldviertler Post an, die im Gasthof zum Löwen Station hat. Man braucht nicht sehr zu eilen, um den Anschluß zu erreichen, und findet den Postillon meistens noch bei seinem Viertel grünlichen Zirfandler in der Gaststube. Dann, während er austrinkt, zahlt und einspannt, hat man noch Zeit, ein reichliches Frühstück zu sich zu nehmen, auf welchen Umstand der Wirt jedesmal besonders hinzuweisen pflegt. Bei großem Andrang, das heißt, wenn mehr als zwei Reisende sind, oder bei Regen werden die Postgäule, die sich keineswegs eines edlen, wohlgenährten oder auch nur jugendlichen Aussehens erfreuen, vor ein Ungetüm von schwarz-gelbem Kasten mit kleinen Fenstern und weit vorspringendem Dach gespannt, der innen vier mit zerschlissenem Leder gepolsterte Sitze und einen muffigen Geruch hat. Wohl dem, der diese auf ziemlich unnachgiebigen Federn ruhende Gelegenheit nicht etwa mit einem wohlbeleibten Pfarrherrn, einer umfangreichen, marktkorbbeschwerten Bäuerin und einem pfeifenrauchenden, ziel- und rücksichtslos 15 spuckenden Viehhändler teilen muß, für die vierstündige Fahrt eine beengende Gesellschaft, die sich bald mehr zur Last als zur Lust ist, so gut sie auch anfangs zu harmonieren scheint. Diesmal hatte ich Glück, heitern Himmel und war allein. Der Postillon spannte darum den offenen, zweisitzigen Wagen an, der hinten eine Art Koffer zur Aufnahme der Post hat, und bald rasselten wir in gemächlichem Trott über das Pflaster des Städtchens zum Strand hinunter, dann auf einer Holzbrücke über den Donauarm und gelangten durch das dichte Weiden- und Pappelgehölz einer vorgelagerten Insel an das Ufer des eigentlichen Stromes, wo die Drahtseilfähre harrt oder erwartet werden muß, wenn sie, was Leuten, die's eilig haben, gewöhnlich begegnet, am jenseitigen Ufer liegt.

Heute war sie gar noch in der Mitte des Stromes auf der Fahrt hinüber begriffen. Man konnte also eine gute Weile rechnen, bis sie drüben angelangt sein, Entschluß zur Rückkehr gefunden und dann mit langsam ruckendem Seil und umschäumtem Doppelkiel kaum merklich heranpflügend wieder das diesseitige Ufer erreicht haben würde.

Ich hatte keine Eile mehr, denn was mich umgab, war schon Heimat. Ich stieg vom Wagen, 16 schritt am Ufer, dessen schräger, mit breiten Steinen gepflasterter Saum von den bräunlichen Fluten gurgelnd bespült wurde, auf und nieder, sog den feuchten Geruch des breit und mächtig dahinströmenden Gewässers ein und betrachtete die hohen Aubäume, an deren Stämmen in halber Manneshöhe die Spuren des letzten Hochwassers, angeschwemmter Schlamm, geschichtetes Astwerk und faulendes Laub hingen. Die Luft war still und österlich. Hinter weißlich-verschwommenen Dunstballen stand eine blasse, milde Sonne. Drüben überm Wasser in den Gärten der zwischen Felsabhang und Uferstraße eingeengten Häuser schimmerte hier und da das zarte Rosa oder grauliche Weiß frisch erblühter Baumzweige. Und neben mir in der Au unter den Weidenzweigen, die wie feines, grünes Nixenhaar niederhingen, zwischen verworrenem Schwemmwust und noch feuchten, gekräuselten Sandwellen sproßte sattgrünes Sumpfgras und standen die zarten Buschwindröschen mit den freundlichen weißen Anemonengesichtern im gefiederten Blätterpaar.

Inzwischen kam die Fähre mit zunehmendem Brausen heran und legte knarrend an den hölzernen Landungssteg. Ein paar Marktgänger stiegen aus, der Postillon rührte die Peitsche, die 17 des Weges gewohnten Gäule zogen den Wagen ruhig bis in die Mitte der Fähre, blieben stehen und ließen die Köpfe hängen. Der Schranken wurde wieder vorgeschoben, der Steuermann drehte das Griffrad, und erneutes Aufschäumen um die beiden Zillenkiele bewies, daß wir uns in Bewegung setzten.

Langsam rückte das rechte Stromufer ab, das linke näher. Weit hinauf und hinunter öffnete sich der schimmernde Blick über die Stromesbreite, die grünenden Auen, die steilen, kahlen Uferlehnen und die höheren Waldgebirge dahinter. Über den Wipfeln der Insel aber, die wir verlassen, stieg wachsend das stolze Stift Melk mit seinen barocken Turmhelmen und langen Fensterfronten auf grauem Felsgeschröff empor. Der Fährknecht, eine jener hohen, groben Gestalten mit wettergebeiztem Gesicht, wie sie den Uferleuten eigen, trat breitschreitend zu mir und hob den Überfuhrzoll ein. Dann lehnte er mit dem Postillon bedächtig plaudernd am Geländer, bis wir drüben anlegten.

Die Straße führt eine Strecke längs des Ufers stromaufwärts einer Schloßruine entgegen, die von der felsigen Lehne mit einem abenteuerlich gezackten Turm aufsteigt. Hinter dem Schloßfelsen schneidet eine schmale Schlucht 18 ins Gelände und speit ein reißendes Gewässer in den Strom. Etliche Häuser und eine Ultramarinfabrik liegen am Fuß des Felsens. Ufer, Gestein und Gebäude sind voll des blauen Farbstoffes. Die Straße biegt mit einer kurzen Wendung in die Schlucht ein, Fels und Ruine schieben sich kulissenartig vor und haben mit eins den Blick auf Strom, Auen und Berge entzogen.

Nun war ich wieder in meinem geliebten Waldviertel. Der Fluß sagte es, der mir sein bräunlichklares, den Ursprung im Hochmoor auch hier nahe der Mündung nicht verleugnendes Wasser frisch über breite Steine rauschend entgegentrieb, die hohen Fichten sagten es, die ernst und still an den jähen Schluchthängen emporstarren, die ärmlichen, verwitterten Häuschen, die zu den mühsamen, steilen Feldstreifen dahinter gehören, die kleinen, uralten Mühlen mit den moosfeuchten Dächern, über die aus faulendem, undichtem Holzgerinn ein blanker Wasserstrahl ins morsche Schaufelrad schießt, und bekräftigt wurde es vom dumpfen Pochen eines Eisenhammers, das mit jeder Biegung der Straße näher kam. Links oben erschien das wohlbekannte, breite Schloß mit dem kapellenartigen Torturm, dem auf dem jenseitigen Hang ein allerliebster, efeuumrankter Barockpavillon 19 gegenüberliegt. Schloß und Hammer, schnell aufgetaucht, bleiben zurück und sind schnell wieder verschwunden, was mehr den raschen Wendungen des Tales als dem müden Trab der dürren Postgäule zuzuschreiben ist. Es geht bergauf. Sie fallen von selbst in Schritt. Sie wissen im Traum, wie's geht, und daß der Postillon ein Achtel trinkt beim kleinen, weißen Wirtshaus »Zum Schuß«, wo das Tal breiter, der Fluß stiller wird und die Straße sich in ein Seitental mit hohen Wiesen und Buchenhängen verzweigt.

Der Wirt kommt hervor und nimmt aus der Tasche des Postillons einen unreinlichen Brief und die neueste Nummer des Weltblattes in Empfang. Ich schließe mich anstandshalber dem Achtel des Postillons mit einem zweiten an und bezahle beide. Der Wirt, der mehr am Viehhandel als am Getränk verdient, was diesem anzumerken, wechselt ein paar Alltagsworte mit uns, und voran!

Nach einer Weile Trab geht es wieder Schritt bei unmerklicher Steigung. Wieder erscheinen in einiger Entfernung auf kahlem, grünem Hügel hohläugige Burgtrümmer. Da nimmt der Postillon sein Horn, setzt es an die Lippen und bläst das schöne Stück, das Schubert auch schon 20 kannte. Fröhlich widerhallt es von den waldigen Hängen.

Hinten im Talgrund erscheinen ein paar hohe Schindeldächer und weiße, freundliche Hausgesichter. Darüber auf der Anhöhe, die steil zum Flecken abfällt, die Ruine. Der Wagen hält auf einem kleinen, ungepflasterten Platz, wo zwischen zwei Lindenbäumen auf einer niederen Granitsäule das Standbild eines gewappneten Ritters steht – das Wahrzeichen des Marktrechtes. An der Säule hängt eine Eisenkette mit schweren Kugeln – der alte Schandpfahl. Seitwärts am Bergabhang um knappe Haushöhe über dem Markt erhebt sich die uralte Kirche, das Chor mit den hohen, schmalen Fenstern dem Platz zugewendet. Ein Pfirsichspalier blühte da hart an die Mauer geheftet und streckte die zarten Arme bis hoch zwischen die wundervollen Maßwerke der Fenster aus, als hätte ein Maler seinen Pinsel in Rosenrot getaucht und ein paarmal übermütig aufs verwitterte Mauerwerk hingespritzt. Die Rückseite der alten, steifen Glasmalereien schien trübfarbig durch die unregelmäßigen Einfassungen.

Ich stieg aus. Etliche Leute, meist Weiber und dralle, frischwangige Mädchen, umdrängten 21 postheischend oder mit Briefen und Paketen in der Hand den Wagen. Es gab viel Fragen und einiges Gekicher auf die Scherze des Postillons, der auch abgestiegen war und das schwarze Behältnis hinter den Wagensitzen öffnete. Aus dem Wirtshaus kam ein Bursche, warf den Gäulen ein Bündel Heu vor die Nasen und holte dann mit einer Butte Wasser aus dem Brunnen, der in der Mitte des Platzes, dem Ritter gegenüber, einen klaren Strahl in ein plumpes, granitenes Becken gießt. Derweil ging ich zur Kirche hinauf, schritt langsam über den alten Friedhof mit den vielen Holz- und Steinkreuzen, sah an der wunderbaren Pfirsichblütenpracht hinauf und betrat durch das granitgefaßte Portal das Innere. Hier war es kühl und still um die leeren, wachsbetropften Bänke mit den vielen Namenstäfelchen. Die alten Glasfenster, die ein hoher barocker Holzaltar mit abenteuerlichen Figuren und schlecht marmorierten Säulen halb verdeckt, leuchten in tiefen, prächtigen Farben. Bemalte Holzwappen hängen an den wuchtigen Steinsäulen und an den Wänden über den finsteren Beichtstühlen, zwischen denen Grabsteine mit ausgemeißelten Ritterfiguren stehen. Ich kniete in eine Bank hin und betete, denn ich war sehr glücklich. Draußen mußte sich ein Wind erhoben 22 haben, denn es sauste leis um die hohen Fenster, die manchmal sacht in den bleiernen Fassungen bebten, und ich fühlte eine Sonnenhelle übers steilgiebelnde Netzgewölb hinstreichen. Geisterhaft ist dies heimliche Wehen um die kühlen, stummen Zeugen der Vorzeit. Auch die alten Schlösser kennen es, die hoch auf den Bergen liegen. Immer ist es um sie, auch an ganz stillen Tagen. Ich liebe es, und jetzt fesselte es mich über mein kurzes Gebet hinaus. Als ich ins Freie trat, umfing mich ein frischer Luftzug, und ich mußte die Hutkrempe tiefer ins Gesicht ziehen, denn die Sonne war voll herausgekommen und zog durch einen dunkelblauen Himmelsfjord.

Auf der Weiterfahrt machte sich der nahende Mittag eines frühhitzigen Apriltages fühlbar. Zwar hätte es so vieles und so Herrliches zu schauen gegeben, die goldenen Häuschen der Butterblumen in der saftigen Kresse am Bachesrand, die Pulmonen, Leberblümchen, Küchenschellen an den Hängen und das süße junge Laub der Buchen. Aber wir schliefen abwechselnd ein, die Pferde in ihrem wankenden Trott, der Kutscher mit hängender Pfeife im Mundwinkel und hängender Peitsche in der Hand, und ich mit meiner großen Heimatfreude. Noch sah ich rechts 23 im Talgrund die Ruine, die mit grotesk zerrissenen Mauern so widersinnig mitten in einem Wiesenplan steht. Die Langholzfuhr, die uns begegnete und der die Pferde von selber auswichen, hörte ich nur mehr.

Als ich durch ein heftiges Tunken meines Oberkörpers aufwachte, ging es in frischerem Trab, weil der Kutscher zu allgemeiner Ermunterung die Peitsche hatte knallen lassen. Lachend sah er mich an. Wir waren nah am Ziel, einem größeren Marktflecken, der im ausgeweiteten Tal zwischen Gebirgen von beträchtlicher Höhe liegt, die bis tief herunter mit dem herrlichsten Buchenwald bestanden sind. Hier wird gemeiniglich Mittagsstation gemacht. Ein anderer Postwagen erwartet die Reisenden, die noch höher hinauf ins Land wollen. Meiner aber harrte die väterliche Karosse und der Kutscher, Hausknecht und Gärtner Matthias, das Scheusal mit dem Affengesicht und dem roten Backenbart. Natürlich saß er schon in der Wirtsstube hinter einem Krug Bier und tat sehr erfreut, als er mich eintreten sah. Und so häßlich und dumm er war, ich hätte ihn umarmen mögen. Mit einer Eile, die er mehr beteuerte als bewies, trank er aus und begab sich ans Einspannen. Ich genoß einen kleinen Imbiß, stieg dann 24 selbst auf den Kutschbock des Jagdwagens und ergriff die Zügel. – Jetzt ging's in einem flotteren Zug, und die wohlgenährten kleinen Jucker liefen, daß ihre kurzgestutzten Schwänze lustig auf und nieder hüpften. Wie wundervoll waren die hohen Wälder. Unten einzelne Buchen schon ganz in lichten Frühlingsflammen, weiter hinauf das rotgraue Wipfelgewirr, und gegen die windgewohnten Kämme und Gipfel hin, über die wechselnd Himmelsblau und helles Gewölk, Sonne und Schatten strich, ein immer tieferes Violett. Und im geraden Zug des Tales mittendurch eine schlanke Zeile junger Erlen, dazwischen der Bach, randvoll, wie Quecksilber quellend, rechts und links die Wiesen weiß von Schneeglöckchen. Denn hier ist die Jahreszeit schon um gut zwei Wochen zurück.

Das Schönste aber kommt nun, wo die Straße vom Tal abbiegt und hart ansteigend plötzlich in den Schatten einer engen Schlucht taucht. Dumpf tobend braust da ein starkes Gewässer um verwaschene Blöcke nieder und scharf zieht die Luft herein, der erste Hauch der echten strengen Luft des Hochlandes, die hier durch den steilen Wasserriß in die tieferen Täler abströmt. Und dunkel wird's auf einmal, dunkel von ungeheuer ragenden Fichten, die man herrlicher als hier 25 gewachsen auf dem ganzen Erdenrund nicht finden wird. Kühn wurzeln sie im schroffen Hang zwischen und über mächtigen Felstrümmern und strecken sich hoch mit turmgeraden Stämmen, als wollte eine jede von ihnen die andere übereilen und übern Schluchtrand hinaussehen.

»In der Höll« heißt der Volksmund den Ort, der früher einmal, als das Reisen noch gefährlich war, ein bürgerliches Gemüt wohl schaudern machen konnte, weil hier die Stimme im Wasserrauschen untergeht und der Blick nur mühsam ins Düstere späht, das voll abenteuerlicher, ungewisser Gebilde ist. Ich aber gab jetzt dem Hias die Zügel, lehnte mich zurück und ließ mich, während die Braunen eifrig tretend sich mühten, von der mächtigen Waldespracht berauschen. Hinauf sah ich, wo das schwarze Wipfelgezack von Sonne übersprüht einen schmalen Strom der tiefen Himmelsbläue grenzte, in den ab und zu eine Buchenkrone ganz goldgetränkt und jauchzend von Jugend ihre lichtbelaubten Zweige warf.

An zwei Stunden geht es so bergauf. Nur Wald, Fels und Bachgebraus. Aber mich schläferte nicht mehr, wenn ich mich auch einsilbig und abweisend gegen die Plauderversuche des roten Matthias verhielt, nachdem ich von ihm 26 erfahren hatte, daß daheim im ganzen alles beim alten geblieben war.

Nun waren wir so hoch, daß an den vereinzelten Buchen kein grünliches Knospenschwellen mehr zu sehen war.

Der Weg steigt da aus dem Wald hervor und schwingt sich, den ganz in Felsen verklemmten Bach verlassend, in weitausholender Schlangenwindung an einer kahlen Kuppe empor, die von einem einsamen Granitblock und etlichen Wacholderstauden bekrönt wird – ein stiller Vorposten der Hochlandsheide. Und wie zum Abschied öffnet sich hier noch einmal über die riesigen, dunklen Waldrücken hinab ein unermeßlicher Blick aufs Unterland und die Kette der Alpen im Süden, daß man aufschreien möchte vor Überraschung und Entzücken. Den Lauf der Donau verdeckt der waldige Vordergrund, aber von ihren südlichen Nebenflüssen sieht man einige weit ihre schimmernden Bänder ziehen durch die breiten Täler mit den obstbaumumhegten Dörfern und den sanften Hügeln, die bald vom Ackerbau mit unzähligen gradlinigen Flächen und Flecken in Grün und Braun zerteilt, bald von blauen Forsten überdeckt sind. Und hinten das Vorland der Alpen mit dunkleren, lebhaft bewegten Konturen ansteigend zu den hohen 27 Gipfeln, jetzt alle noch in gleißendem Weiß, vom Schneeberg im fernsten Südosten angefangen bis zum breitruhenden Ötscher in der Mitte, der überm wundervollen Land wacht wie ein guter alter Kaiser, und weiter dem Westen zu über die abenteuerlichen Zacken der Ennstaler Alpen zum geheimnisvollen Schimmer der Eisfelder und Horne des Großen Priel in Oberösterreich, dem sich die Sonne nun schon zuneigte. Ihr gelblicher Glanz spielte auf den fernen, blauschattigen Schneeflächen, und wunderklar hob sich die Alpenherrlichkeit unter ruhigem, weithingelagertem Schichtengewölk von dem meerfarbenen Südhimmel ab.

Du traumschöner Blick! Du gelobtes Donauland! – Hier oben steht kein Hotel Bellevue, keine Pension zur Alpenschau, keine vierstöckige Kuranstalt, wo der Raummeter Wald- und Höhenluft für bares Geld verordnet und verkauft wird. Gottlob, du lieber Fleck Erde – noch hab' ich dich allein, jungfräulich, wie du bist, noch muß ich dich nicht teilen mit der plakatfreudigen Käuflichkeit des Fremdenverkehrs. Das aber war doch immer mein Gefühl vom erstenmal an, wo sich dieser Wunderblick mir aufgetan, hier oder an einer anderen Stelle in den Wäldern, daß ich die Freude, die mir über 28 den Rand der Seele schwoll, mit jemandem teilen müsse. Und ich dachte an die, die ich lieb hatte, und waren sie mir nicht bei der Hand, so schrieb ich dann wohl dem oder jenem, wenn ich zur Lampe heimgekehrt war. Viele sind's nie gewesen, an die ich in solchen Augenblicken denken mußte. Und heute hat manch einer von ihnen schon keine Adresse mehr auf Erden. Und der Strom meiner Freude fließt dunkler und tiefer, wenn ich ihrer gedenke, die da einst an meiner Seite gingen und schauten und trunken waren gleich mir.

Damals hatte ich nur den groben Matthias bei der Hand. Er bekam einen Puff und mußte seine versoffenen Augen nach meinem Finger richten, den ich gebieterisch hinausstreckte. Und er meinte mit weisem Fürwitz, daß ihm die Klarheit des Gebirges sehr verdächtig sei. Es würde nicht lang mehr halten mit dem schönen Wetter. Er war zu stumpf, um meine Verachtung zu fühlen. Aber eine beißende Sorge hatte er mir doch in die Falten der Seele gesetzt mit seiner unverlangten Wetterprophezeiung, nämlich die Sorge um den günstigen Verlauf der Hahnbalz.

So gibt's Leute, die von den Wundern dieser Welt immer nur das Bedenkliche sehen. Und sie werden für die Klügsten gehalten, man sucht 29 ihr Urteil und spricht es nach. Später ist's mir noch oft so gegangen und bei wichtigeren Personen, als der Matthias eine war. Ich bin mit meiner Freude am Schönen so oft und hart angelaufen, daß ich sie schließlich verdrossen und verschlossen bei mir behielt.

Von der Höhe der Kuppe geht es ebenaus in ein sanftes Tal mit runden, niederen Hängen. Der Bach fließt stiller und dunkler, die Straße geht in heller Windung an ihm hin. An den Hügeln, wo sie kahl sind, liegen im langen dürren Waldgras verstreute Granitfindlinge. Der Wald hat das melancholische Blaugrün des Hochlandes. Eine kleine Sägemühle steht am Bach bei aufgeschichteten Haufen geschlagener Stämme. Und weiterhin einige braune, friedlich rauchende Blockhütten, wo Holzknechte wohnen. Ein Bild, das freundlich ist in seiner stillen Armut, und nach dem ich mich bei jeder Fahrt ein paarmal umwende.

Nun geht's noch einmal kurz bergauf und durch eine Art Paß, wo die Bäume hart an die Straße herantreten. Hohe, schmutzige Schneewächten lagen da im Schattenrand des Waldes, und es roch feucht nach altem Winter. Und jetzt lag die Ebene vor uns mit ihren rötlichen Heideflächen, sumpfigen Wiesen und weiten Äckern, 30 die den berühmten Hafer und einen späten, schweren Roggen bringen. Und rundumschließend der hohe Wald, schwarzgrün und schwarz, tief blau und immer blauer in weiten Wellen gegen Norden verflachend, bis er mit dem Himmel in eins fließt. Die Dörfer haben sich vor dem Wind in die Mulden geduckt. Sie rücken langsam heraus, wenn man näher kommt, erst mit dem Kirchturm, wo sie einen haben, oder mit einem Schloß wie Herrenschlag. Und das war nun das erste, was ich sah, die graue Feste, mein Vaterhaus, rötlich verklärt von der sinkenden Sonne, deren schräge Strahlen sich in einem goldenen Dunstgewebe über dem weiten Waldmeer fingen. Doch, daß meine Schilderung unparteiisch werde, will ich nun einen andern reden lassen, einen etwa, der mich auf der ganzen Fahrt schon mit Zweifeln und völligem Mißtrauen in das Endziel begleitet hat, der unter dem Begriff »schöne Gegend« himmelhohe Gletschergebirge versteht, die man von der Terrasse eines gut geführten Hotels aus bequem und satt genießen kann. Der würde nun ungefähr sprechen: »Wie, dieses weitläufige alte Gemäuer dort mit dem abgefallenen Verputz, den winzigen Fenstern, die nicht einmal Reihe halten können und lichtscheu voneinander abstehen, mit den drei 31 plumpen, niederen Ecktürmen, die roh gleich Folterknechten dreinschauen, wie, diesen finsteren und traurigen Überrest einer finsteren Zeit nennen Sie ein Schloß? Wohl, es hat noch ein Dach, drum ist es noch nicht ganz Ruine, ein vielfach geflicktes Schindeldach, das Schwärme von Dohlen umwirbeln. Aber wo ist der Park, der zu einem Adelssitz gehört? Ich sehe nichts davon. Ich sehe nur ein paar Schwarzfichten, die sich an die Hauswand lehnen, damit sie der Sturm nicht umwirft, denn sie sind müde vor Alter. Und der Häuserhaufen, der unordentlich in die seichte Mulde darunter hingeschüttet ist, das soll ein Marktflecken sein, ein Ort, den Sie schön finden? Nur drei oder vier Gebäude, die den Namen Haus verdienen. Der Rest sind Holzkaluppen, besonders die dort am Westende unter Ihrem »Schloß« um den großen Teich herum, der mir nicht sehr sauber gehalten scheint. Denn seine Fläche spiegelt so trüb und matt wie eine angelaufene Silberplatte, die voller Grünspanflecke ist. Ein Froschpfuhl, aus dem der Abend üble Dünste zieht, Gespenster aller Krankheiten. Nein, mein Bester! Ich kehre um, wenn es auch schon Nacht wird und meine armen Knochen durchgefahren sind. Diese ganze Gegend ist unheimlich. Da muß man ja 32 schwermütig werden. Überall der finstere Wald, und die Wiesen mit ihrem tückischen Grün, in dem man gewiß bis an die Knöchel versinkt und nasse Füße kriegt, und die paar dürren Heidehügel, und dort hinten krumme Kiefern, schwarze Wacholderstauden, Mooshügel, bleiche Steine, als wär's ein Friedhof. Das ist Moor. Da tanzen bei Nacht die Irrwische, und man fällt hinein und hat nicht einmal mehr Hoffnung auf ein anständiges Begräbnis. Und dieses niederträchtige, unmerkliche Ziehen und Wehen von Osten her. Es wird frieren, gewiß, heute nacht wird Frost und Reif sein. Vom Frühling haben Sie ja hier noch keine Ahnung! Nein! – Leben Sie wohl! – Die Fahrt war ja stellenweise recht hübsch. Aber aus einer Eisenbahn sieht sich so was auch besser an. Nichts für ungut! – Sie entschuldigen schon! . . .« Fort, Gespenst!

Ich aber stelle mich im Wagen auf und jauchze, als wär ich an der Pforte des Himmels. Und die Leute grüßen und lachen. Wir rollen durchs Dorf und durchs alte, finstere Schloßtor in den weiten Hof, den auf drei Seiten die langen Gebäudeflügel einschließen, während er nach hinten, den Wirtschaftsgebäuden zu, offen ist.

Lord, der struppige Griffon, und Waldmann, der Dackel, sind außer sich vor Freude. Und die 33 Mutter, die gute, kleine, blasse Mutter, läuft mit ihrem behenden Schritt die Treppe herunter und steht lachend in der Tür . . .

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