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7.

Ende April 1887 war ich wieder in München. Konnte es nicht schon als ein Vorzeichen gelten, daß diese Stadt dazu berufen war, mir zum Schicksal zu werden? Als ich sie vor bald zwei Jahren verließ, hatte eine Rückkehr kaum im Bereich der Wahrscheinlichkeit gelegen. Ich war mit dem Plan nach Berlin gegangen, dort meine Studien abzuschließen. Es war anders gekommen. Noch drei Münchner Semester sollten folgen, ehe ich fertig wurde. Immerhin ein Stück Leben, wenn man es erst vor sich hat und die Tage, Wochen, Monate im Gleichtakt einförmiger, ermüdender Arbeit sich langsam zum Gewebe abspulen. Von heute aus gesehen, will es mir freilich als eine Art von Intermezzo erscheinen, dieses Münchner Examensjahr, einen so wichtigen Einschnitt auch sein Ergebnis für mich bedeutete. Wie die Dinge nun einmal lagen, mußte ich meine ganze Willenskraft auf das eine Hauptziel sammeln; alles andere Erleben, inneres wie äußeres, mußte davor in den Hintergrund treten. So kommt es, daß die Lese an allgemein interessierendem Lebensgut – an Vollkorn gleichsam –, die ich in meine Scheuer zu bringen habe, gerade aus dieser zweiten Münchner Periode nicht allzureich bemessen ist.

Ich fand München seit 1885 nicht wesentlich verändert; weder im Straßenbild noch im allgemeinen Lebensrhythmus. Die Grasbüschel zwischen den Ziersteinen um das Max-Josefs-Denkmal herum gediehen noch immer, und diese Ziersteine selbst, ein vielfarbig schattiertes Sternengebilde, stachen noch immer wie kleine Mäusezähne durch die zarten Beschuhungen der mehr oder minder schönen Hoftheaterbesucherinnen. Sie tun es noch bis zu diesem Tage. Die Bierwirtschaften leerten sich wie vordem um elf Uhr abends, die Kaffeehäuser schlossen gar schon um sieben, bis auf die wenigen »Kaffee-Restaurants«, die ihren Großstadtnachtbetrieb bis gegen Mitternacht ausdehnten. Der Tag selbst, der Arbeitstag, begann früh und wäre unangenehm lang gewesen, wenn nicht Brotzeit oder Frühschoppen zwischen neun und zehn und das Kaffeehaus um drei zu der großen Zäsur der Mittagspause noch jene zwei kleineren Zäsuren wohllebig hinzugefügt hätten. So ließ sich die Woche schließlich ertragen, indem sie aus lauter kurzen Unterabteilungen von Arbeit bestand, die von der allgemein herrschenden Behaglichkeit und der »königlich bayerischen Ruh« vielfältig durchflochten und umrahmt waren.

Diese selbst, die bayerische Gemütlichkeit, hatte durch die Königskatastrophe vom vorigen Jahr einen harten Stoß erlitten, der jedoch inzwischen im ganzen schon ausgeheilt war. Aber wie anders stand nun der tote König vor der Phantasie seines Volkes als vordem der lebende! Aus dem Sonderling, der das Land nur in Schulden stürzte, war im Licht der Verklärung ein edler, verfolgter, unverstandener Märtyrer geworden. Jeder Tod besitzt ja die magische Kraft der Verklärung; ein tragischer Opfertod vervielfacht sie. Schon damals war Ludwig II. in die Unsterblichkeit himmelblauer Ansichtskarten eingegangen. Unter den Unzähligen, die ihm nachtrauerten, gab es auch in München natürlich kultivierte Menschen genug, die dem unglücklichen und genialischen Manne, dem königlichen Freunde und Gönner Richard Wagners, eine etwas geschmackvollere Unsterblichkeit gegönnt hätten als gerade jene. Sein Nachfolger, der damals schon sechsundsechzigjährige, allerdings außerordentlich rüstige Prinzregent Luitpold, stand noch wenig in Gunst beim Volk. Man machte ihn, versteckt und offen, mitverantwortlich für den Untergang des Königs. Der Mann auf der Straße wollte nichts von der vielberufenen Staatsraison wissen; er dachte mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf. Wer hätte damals ahnen wollen, daß das eben beginnende Prinzregentenzeitalter einst als das Goldene Zeitalter Münchens und Bayerns im Bewußtsein des Volkes weiterleben werde! Und wie merkwürdig, daß es wiederum ein wahnsinniger König, Ludwigs Bruder Otto, sein mußte, der als Genius eines falsch verstandenen monarchischen Prinzips über diesem ganzen Zeitalter schwebte und es sogar noch versinken sah, ohne es freilich zu wissen!

Ich wohnte während dieser drei Münchner Semester, von denen das letzte nur noch einige Wochen für mich dauerte, zuerst in der Mars- und in der Goethestraße, dann die längste Zeit in der Schwindstraße. Ich hatte während meiner ganzen Studienzeit die Tendenz gehabt, mich nicht allzu eng an die eigentlichen Studentenviertel zu binden, sondern möglichst weit »herumzuwohnen«. Einseitigkeit war mir auch in dieser Hinsicht zuwider. So in Berlin. So jetzt in München. Nur mit dem Unterschied, daß diesmal kein irgendwie nennenswerter Erlebnisstoff für mich abfallen sollte. Meine wissenschaftlichen Arbeiten verlangten endlich den ganzen Menschen. Jedes andere Interesse, so predigte ich mir tagaus, tagein, mußte schweigen!

Ich war mit der Berliner Empfehlung zu Grauert gegangen und von ihm mit vollendeter Liebenswürdigkeit aufgenommen worden. Er hatte sogleich gewonnenes Spiel bei mir, obwohl ich seiner Weltanschauung und Geschichtsauffassung eigentlich im tiefsten meiner Seele entgegen war. Ich trug ihm den Plan meiner Doktorarbeit vor – Kaiser Friedrich II. und sein Verhältnis zu den Päpsten seiner Zeit –, bat ihn um Ratschläge dafür und verbarg ihm auch nicht, auf welcher Seite meine menschliche und weltanschauliche Sympathie stehe. Er zeigte volles Verständnis für alles, was ich ihm, wenn auch nur mit andeutenden Worten, bekannte, und machte nur den einen Vorbehalt, daß für die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas meine persönliche Stellungnahme auszuscheiden und nur das mitzusprechen habe, was ich den Quellen als Ausbeute entnehmen werde. Hiergegen war, auch vom strengsten Standpunkt aus, und gerade von ihm, nichts einzuwenden. Denn das oberste Gebot der Geschichtsschreibung, wie jeder Wissenschaft überhaupt, muß ja das Suchen nach Wahrheit sein, zum wenigsten nach Objektivität, soweit sie dem Menschen erreichbar ist.

Ich konnte mir nicht verhehlen, daß der gerade von liberaler Seite arg befehdete Grauert hier strengeren Grundsätzen huldigte, als es bei manchen Gelegenheiten von seinen Gegnern geschah. Wenigstens in der Theorie schien mir der Mann unanfechtbar zu sein; daß er sich auch in der Praxis peinlich daran hielt, ohne darum seine Überzeugung zu verleugnen, sollte ich während meiner einjährigen Arbeit in seinem Seminar genugsam erfahren. Grauert ist mir überhaupt als eine der angenehmsten und erfreulichsten Professorenerscheinungen aus meiner Universitätszeit in Erinnerung geblieben. Er war nicht nur ein gewissenhafter Forscher, nicht nur ein Gelehrter von Rang, sondern auch ein vornehm denkender Mensch, den man liebgewinnen mußte. Es war eine weltmännische Ader in ihm, die vielleicht durch seinen längeren Aufenthalt in Rom und durch seine reichen vatikanischen Beziehungen noch besondere Nahrung erhalten hatte. Von norddeutscher, teils westfälischer, teils märkischer Abkunft, unterschied er sich schon hierdurch, wie eben durch jene größere Weitläufigkeit und durch schöne menschliche Duldung von jenem Kreise bodenständiger Parteipolitiker, denen er ursprünglich seine Berufung verdankt hatte.

Dies mag ihn, besonders in früherer Zeit, in manchen stillen Konflikt mit seiner Umgebung und auch mit sich selbst verwickelt haben, dem der feinsinnige Mann vielleicht nur dadurch zu begegnen vermochte, daß er sich immer mehr vom Parteiwesen abwandte und sich auf seine eigentliche Domäne, seine untadelige Gelehrtenarbeit, zurückzog. So konnte es geschehen, daß gegen das Ende seiner Tage hin, als er seinen siebzigsten Geburtstag feierte, ihn der ehrerbietige Dank für die reiche Forscherarbeit eines Menschenlebens gleichzeitig aus allen Lagern grüßte. Mir aber, seinem einstigen Schüler und Doktoranden, von dessen weltanschaulich so ganz anders gerichtetem Schaffen ja die Öffentlichkeit und der Gefeierte selbst genügende Kunde hatten, war die ehrenvolle Einladung zuteil geworden, das Wirken des Siebzigjährigen mit festlichen Prologversen zu umschreiben. Ich kam dem mir gewordenen Auftrag mit Freude nach und hatte die Genugtuung, zu sehen, daß der edle verehrte Jubilar, in der Fülle aller der Ehrungen, an den Versen seines einstigen, nun auch schon ergrauenden Schülers selbst wieder seine besondere Freude hatte.

Bis zu solchen kaum erträumbaren Perspektiven war es freilich damals, 1887 und 88, noch weit. Hermann Grauert war noch ein vielumstrittener Mann, und wer sich als Schüler unter seine Fittiche begab, um bei ihm seinen Doktor zu machen, mußte darauf gefaßt sein,, daß das gegnerische Lager auch gegen ihn selbst auf dem Posten war und ihn offen als Feind behandelte. Der Hauptgegner Grauerts war Heigel, der andere Vertreter der historischen Fächer an der Universität. Ich weiß nicht, wie weit die beiden Forscher sich auch persönlich befehdeten; wissenschaftlich standen sie jedenfalls in feindlichen Lagern. Heigel hatte keine besondere Vorliebe für die Examensanwärter, die von Grauert herkamen; vielleicht war es auch umgekehrt so.

Ich selbst geriet dadurch in eine tragikomische Situation. Ich stand mit meiner Weltanschauung viel näher bei Heigel, was freilich dieser nicht wissen konnte, da ich ja Schüler von Grauert war, von dem doch anzunehmen war, daß er ungefähr in der gleichen Gedankenwelt leben werde wie sein Lehrer. Ich war also bereits hinreichend verdächtig für Heigel, der bei meinem Examen ebenfalls ein sehr entscheidendes Wörtchen mitzureden hatte.

Noch dazu kam die Wahl meines Themas: Friedrich II. im Verhältnis zum Papsttum. Und dies im Grauertschen Seminar! Lag es nicht klar auf der Hand, daß hier auf einem der heikelsten, umstrittensten Einzelgebiete der Geschichte eine klerikal gefärbte einseitig parteiische Doktorarbeit zur Welt kommen sollte? Heigel war nicht der Mann, einem so problematischen Täufling ohne weiteres seinen Segen zu geben. Als im Frühjahr 1888 mein Opusculum, nach schweren Geburtswehen, endlich das Licht der Welt erblickt hatte und unter die Augen meines gestrengen Examinators Heigel kam, geschah etwas Merkwürdiges und im Grunde recht Komisches, wenigstens von später aus gesehen. Heigel, selbst ein formvollendeter Meister des historischen Stils, entdeckte in meiner eigenen Stilgebung arge Schwächen und Fehler, die ihn veranlaßten, mir mein Opus zur nochmaligen stilistischen Revision zurückzugeben. Welches aber waren jene beanstandeten Fehler? Man höre und lächle: Ich hätte meine Arbeit fast nur in Hauptsätzen niedergeschrieben, es fehlten die Nebensätze, fehlten die Semikolons! So setzte ich mich denn hin und vollbrachte in wenigen Nächten das Werk stilistischer Umformung, indem ich die Hauptsätze wenigstens durch ein »und« verband und auch mit den nötigen Semikolons nicht sparte. (Ich schöpfte aber damals einen solchen Widerwillen gegen dieses Interpunktionszeichen, daß ich es viele Jahre nicht über mich gewann, es wieder in Gebrauch zu nehmen; erst neuerdings, wie der Leser sieht, bin ich wieder auf seinen Geschmack gekommen.)

Bereits nach drei Tagen lag die solchermaßen gereinigte und wissenschaftsfähig gemachte Dissertation wieder auf Heigels Schreibtisch. Sicherlich nicht zu seinem besonderen Vergnügen, obwohl gesagt werden muß, daß er jetzt Entsagung genug übte, ihr sein Placet zu erteilen. Was hatte ihn im Grunde so aufsässig gemacht? War es wirklich mein »Stil«? War es die vermeintliche Tendenz meiner Arbeit, obwohl gar keine zu erkennen war, höchstens hier und da ganz schwach etwas durchschimmerte und dann eher nach der Heigelschen Seite deutete? Oder war es einfach nur, weil ich der Schüler des Gegners war? ... Als ich viele Jahre später bei einem geselligen Zusammensein in der Gesellschaft »Hölle«, deren Mitglied er war, mit Heigel darüber sprach, erinnerte er sich noch ganz genau an jene Geschichte und mußte selbst über das kleine Mißgeschick lachen, das ihm mit mir passiert war. Ich hätte aber auch einen gar zu biblischen Stil geschrieben, so meinte er, und klopfte mir auf die Schulter. Es war recht viel Wasser seitdem die Isar hinabgeflossen.

Den Sommer und Herbst dieses Jahres 1887 verlebte ich größtenteils wieder in Berlin und brachte während dieser Zeit meinen »Emporkömmling« endlich zum Abschluß. Ich hatte drei Jahre daran gearbeitet, wenn auch mit großen Unterbrechungen. Ich befand mich in sehr gehobener Stimmung, als ich an einem goldenen Septembertage die letzte Szene des Stückes niederschrieb. Die Hoffnung auf eine literarische, dichterische Zukunft gewann neuen Atem und machte mich glücklicher, als ich seit langem gewesen war. Dazu kam, daß Luise Heck ebenfalls wieder in Berlin erschienen war. Sie behauptete zwar, es sei nicht meinetwegen geschehen, aber ich wußte es besser. Wir hatten uns während unserer Trennung oft geschrieben. Eine Art von Probe-, von Prüfungszeit für uns beide hatte; es nach meiner Absicht sein sollen. Mir wollte es schon in der ersten Stunde des Wiedersehens scheinen, daß wir sie aufs beste bestanden hätten. Ich sprach viel mit ihr über die Zukunft, wobei ich allerdings mit dem Egoismus des Mannes vornehmlich an die meinige dachte, und verhehlte ihr auch nicht, daß ich nach meiner ganzen Natur offenbar nicht für die Ehe geschaffen sei. Dies war einer meiner Glaubenssätze in jener Zeit; ich war wirklich felsenfest überzeugt davon. Gewisse Kindheitserfahrungen hatten den Grund dazu gelegt, in den Herzenswirrungen der letzten Jahre war es zum Dogma geworden. Ich hielt es für meine Pflicht gegenüber dem geliebten Mädchen, ihr dies zu sagen, und war so sehr im Bann meines Dogmas, daß ich nicht einmal in Erwägung zog, ob ich ihr nicht damit wehtun würde. Sie war jedenfalls tapfer genug, es sich nicht merken zu lassen, was mich nur um so fester mit ihr verband.

Nur über einen Punkt sprachen wir grundsätzlich nicht: über meine Besuche im Hause Marschalk. Ich merkte wohl, daß sie davon wußte. Es hatte natürlich nicht ausbleiben können, daß trotz alles bewahrten Schweigens doch dann und wann ein Wort über die schönen Schwestern gefallen war. Je beharrlicher ich jetzt darüber schwieg, desto bedeutsamer mußte es natürlich für Luise erscheinen. Und doch war ja in Wirklichkeit nicht das geringste zu verbergen. Ich verkehrte äußerlich auf eine rein freundschaftliche und kameradschaftliche Weise im Hause der vier Schwestern, nicht anders, als es immer gewesen war. Innerlich freilich leuchtete eine Flamme in mir, wenn auch ohne Glut, so doch von einer milden, wohltuenden Wärme. War dies nun Liebe? War es ein gesteigertes Freundschaftsgefühl? Und wie maß es sich an meiner Leidenschaft zu Luise? Ich vermochte wiederum nicht ins reine mit mir zu kommen und reiste, von Zwiespalt wie im Frühjahr zerrissen, nach München zurück.

Wie auch immer: der Luftwechsel hatte mir gutgetan. Ich ging mit neuen Kräften an die Vollendung der Dissertation. Es wurde ein sehr arbeitsamer und häuslicher Winter. Die Zahl meiner Münchner Freunde war sehr zusammengeschmolzen. Nur Scharf war wieder da. Es hatte ihn nicht länger in seiner Berliner Artilleriestraßengruft gelitten. Jetzt hauste er auf eine ähnliche Weise in der Münchner Akademiestraße, gegenüber dem eben entstehenden Prunkbau der neuen Akademie. Gleich nebenan war das Café Minerva, ein Hauptschauplatz der damaligen studentischen, literarischen und künstlerischen Boheme. Scharf hatte also nicht weit; wir trafen uns dort oft, soweit unsere sehr verschiedene Tages- und Lebenseinteilung es zuließ.

Eine neue, vorerst noch flüchtige Bekanntschaft bahnte sich damals an, die bis zum Tode des einen Teils dauern sollte: mit Michael Georg Conrad. Er hatte im Herbst die erste Szene meines »Emporkömmlings« in seiner »Gesellschaft« zum Abdruck gebracht. Es war jene Totengräberszene, die ich im Sommer 1884 am Ufer der rauschenden Weißach bei Kreuth niedergeschrieben hatte. Meine literarische Laufbahn war damit offiziell eröffnet: ich war zum erstenmal gedruckt worden. Und Conrad, der anerkannte Führer unserer jungen Bewegung, hatte mir in seiner »Gesellschaft« Aufnahme gewährt, hatte mich dadurch in die Kämpferschar der Jüngsten eingereiht. Ich durfte mir wohl etwas darauf einbilden! Mit Conrad selbst, meinem Entdecker – wie er ja auch der erste Entdecker von Hauptmann und so vielen andern wurde –, kam es noch zu keiner engeren Verbindung. Ich getraute mich, in angeborener Schüchternheit, nicht an den großen Mann heran, dessen Name schon ein Programm und ein Philisterschreck war. Da in meinem folgenden Leben Conrad noch eine bedeutende Rolle gespielt hat, so hebe ich mir die Würdigung seiner wuchtigen und breitausladenden, eminent männlichen Kämpferpersönlichkeit für später auf. Er hatte sich vor einiger Zeit mit der genialen Maria Ramlo, der unvergleichlichen Nora des Hoftheaters, vermählt und war gerade glücklicher Vater geworden, wovon er in seiner schon damals patriarchalischen Weise den Lesern der »Gesellschaft« Kunde gab.

Am 9. März 1888 starb in seinem historischen Palais zu Berlin der alte Kaiser. Er hatte es bis nahe an Einundneunzig gebracht. Über sein letztes Lebensjahr hatte die unheilbare Krankheit seines Sohnes, des Kronprinzen, tragische Schatten gebreitet. Die Welt wußte längst, daß für den todsiechen Mann keine Hoffnung mehr war. Wäre noch ein Zweifel gewesen, so hätte ihn der ärgerliche Ärztestreit an seinem Krankenlager widerlegt. Trotzdem verlangte ein wiederum falsch verstandenes monarchisches Prinzip, daß der vom Tode Gezeichnete die martervolle Reise von San Remo nach Berlin antrat, um hier als Kaiser Friedrich III. nach neunundneunzigtägiger Herrscherzeit zu sterben. Unter den größtenteils tragischen Erscheinungen unserer Kaisergeschichte seit der Ottonen- und Salierzeit eine der tragischsten, sowohl was das persönliche Schicksal angeht, wie nicht minder in den Nachwirkungen für unser gesamtes deutsches Geschick, indem ein allzu junger, lebensunreifer Mann dadurch lange vor der Zeit auf den Thron gelangte.

Ein Winter, der nicht aufhören wollte, jener des Dreikaiserjahrs 1888. Bis spät in den März hinein fiel Schnee und abermals Schnee. Die Flocken rieselten unablässig vom Himmel herunter, als der tote Kaiser, der Wiederbegründer des Reichs, die letzte Fahrt von seinem anspruchslosen Palais Unter den Linden nach der Gruft in Charlottenburg antrat. Ein weißes Leichentuch deckte alles miteinander zu, den feierlich dahinziehenden Baldachin mit dem Sarg, die düster brennenden Kandelaber der Trauerstraße, die schwarzgedrängten Menschenmassen und die erstarrte, in Tiefen dem Frühling entgegenatmende Natur. Ich fuhr in diesen Tagen, die Osterferien ausnutzend, abermals nach Berlin. Was zur Vollendung meiner schriftlichen Examensarbeit, der Dissertation, nötig erschien, war getan. Ich erwartete die mündliche Prüfung bereits in den ersten Wochen des neuen Semesters. Eine kurze Atempause war mir vergönnt, und wiederum zog es mich mit magischen Banden nach Berlin.

Ich fand so manches anders, als ich es verlassen hatte. Das dunkle Gewölk, das schon seit langem über dem Hause Marschalk lastete, hatte sich entladen, seine geschäftlichen Stützen waren zusammengebrochen. Ich suchte Max Marschalk in der verlassenen und größtenteils ausgeräumten Wohnung auf, in der ich so viele schöne, glückliche Stunden verlebt hatte. Seine Mutter und Schwestern waren aufs Land, nach Hohenschönhausen, gezogen. Er selbst saß wie Marius auf den Trümmern von Karthago, als ich kam. Ich setzte mich dazu, ließ mir von ihm erzählen, wie alles sich begeben hatte, und wir beratschlagten, was jetzt zu geschehen habe. Die Zukunft lag finster und ungewiß vor ihm und seiner Familie da. In jenen Stunden, Tagen kamen wir uns sehr nahe; näher als je vordem. Die in der Stunde der Not geborene Freundschaft bewährte sich auch ferner und blieb von langer Dauer. Mein erster Besuch in Hohenschönhausen verlief ganz anders, als ich mir mit Bangen vorgestellt hatte. Mutter und Schwestern waren von einer heiteren Gelassenheit, von einem schönen harmonischen Gleichmut, als ob nicht das geringste geschehen wäre, seit wir uns zum letztenmal sahen. Ich bewunderte diese überlegene Fassung sehr und nahm im Herzen einen wohl noch innigeren Anteil an dem Schwesternquartett und vor allem an der einen von ihnen, als in den Tagen des Glücks.

Von Luise hatte ich im Lauf des Winters ungünstige Nachrichten über ihren Gesundheitszustand erhalten. Ich war in schwerer Sorge um sie gewesen. Gegen das Frühjahr hin schien es sich gebessert zu haben, aber plötzlich waren die Briefe von ihr ausgeblieben. Dies war einer der Hauptgründe, die mich nach Berlin getrieben hatten. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß sie ihr Elternhaus neuerdings verlassen habe und sich in Berlin bei ihrer dort zahlreich vertretenen Verwandtschaft aufhalte. Eben deshalb war es auch nicht ganz leicht, ihre Wohnung zu erkunden, ich brauchte einige Tage dazu und verlebte sie in höchster Unruhe. Als ich ihr endlich schreiben konnte und nicht sofort eine Antwort erfolgte, wuchs mein Fieber ins Unerträgliche. Endlich war sie da: es war eine Absage. Ich war wie vom Donner gerührt. Der ganze Ton des Briefes verriet, daß hier eine gequälte Seele nach einem erlösenden Ausweg suchte und gerade um der Liebe willen zur Entsagung bereit war. Jeder Gedanke an kluge Berechnung wäre ein Frevel an der Geliebten gewesen. Ich bannte ihn weit aus meiner Seele und schrieb einen langen überströmenden Brief an sie. Sie kam, wie ich sie gebeten hatte; unsere stummen Blicke, als wir einander ansichtig wurden, sprachen beredter und leidenschaftlicher, als alle Worte vermocht hätten. Es war wie ein befruchtender Regen über einem noch toten Lande. Wir wußten, daß wir einander schwerlich mehr verlassen würden. Um diese Zeit des Aprils begann es nach dem endlosen Winter nun doch Frühling zu werden. Am Augustaufer breiteten die Weiden ihre herniederhängenden Äste mit den gelbgrünen Knöspchen und Kätzchen sehnsüchtig über die träge dahinziehende Flut des Kanals.

Als ich wieder in München eintraf, das Herz zugleich voll Glück und voll Zweifel ob meines unheilbaren Zweiseelentums, machte ich eine merkwürdige und aufregende Bekanntschaft, die vielleicht gerade darum vortrefflich in die mich beherrschende Stimmung paßte. Es war Hermann Conradi, wohl der genialste unter den Lyrikern des jungen Geschlechts. Seine »Lieder eines Sünders« hatte ich mit Begeisterung gelesen. Ihr mächtig flutender Rhythmus, der hinreißende Wohllaut ihrer Melodie schien mir mit nichts vergleichbar, was ich von den anderen kannte. Vor kurzem war sein Roman »Adam Mensch« bei Wilhelm Friedrich erschienen und hatte dem Dichter wie dem Verleger eine schwere Anklage wegen Unsittlichkeit und anderer Delikte eingetragen. Conradis Name war für uns damalige jüngere wie ein leuchtendes Fanal in der Dämmerung einer sinkenden oder aufsteigenden Zeit, je nachdem man es auffassen wollte.

Meine erste Begegnung mit Conradi, die durch einen gemeinsamen Bekannten vermittelt wurde, war von höchst stürmischer Art. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, wir flogen uns geradezu in die Arme! Oder wir stürzten einer in den andern hinein, wie zwei Weltkörper, die einander zu nahe gekommen sind und sich miteinander vermählen, aber auch unaufhaltsam vernichten müssen. Conradi war ohne Zweifel eine vulkanisch-dämonische Natur, die ebenso sehr sich selbst wie andere verzehrte. Dieser ausgehungerte, engbrüstige, asthmatische, junge Mensch mit den Sommersprossen, der Knopfnase und den brandroten Haaren besaß eine magische Anziehungskraft für schwächere Naturen. Er fraß Menschen und spie sie dann wieder aus, soviel noch von ihnen übrig war. Auch mich hätte er mit Haut und Haaren gefressen, wenn ich ihm nicht widerstanden hätte. Aber dies war das Letzte, was er vertragen konnte.

Druckfehler, das folgende Wort fehlt. Re So geschah es, daß wir uns ebenso jäh und stürmisch wieder voneinander entfernten, wie wir uns genähert hatten. Der Zusammenprall der zwei Weltkörper war in diesem Ausnahmefall ohne Vernichtung abgegangen. Schon nach wenigen Wochen waren wir wieder weit auseinander, wie zwei im unendlichen Raum sich verlierende Kometen.

Mitte Mai 1888 bestand ich die mündliche Prüfung für das Doktor-Examen. Es fehlte nicht an grotesken Zwischenfällen, da meine Kenntnisse in der wissenschaftlichen Geographie, einem der niedlichen Nebenfächer des Doktor-Examens, ein paar bedenkliche Lücken aufwiesen und ich im Feuer des Gefechts den magnetischen Nordpol an den Äquator verlegte, ob welcher Antwort des Kandidaten Jobses allgemeines Schütteln des Kopfes und ein homerisches Gelächter des Professorenkollegiums erfolgte. Trotzdem erhielt ich auf Grund meiner Gesamtleistungen das Prädikat magna cum laude. Die damals noch sehr feierliche Promotion fand erst zu Ende Juli, am Schluß des Semesters statt. Vorher machte ich noch den schuldigen Antrittsbesuch als glücklich ans Ziel gelangter junger Doktor der Philosophie in meinem Güttländer Elternhause und wurde nach den vielen Enttäuschungen sehr herzlich aufgenommen. Es war doch endlich ein Resultat! Verwandte und liebe Freunde hatten es immer vorausgesagt! Aber die Aufregung dieses letzten Jahres begann sich zu rächen. Meine zum Zerreißen angespannten Nerven versagten den Dienst. Ich erlebte in schweren, mich bis zu Tode erschöpfenden Angstzuständen die erste jener Nervenkrisen, die mich von da ab durchs Leben begleiten sollten. Als ich am 15. Juni 1888 die Rückreise von Güttland zunächst nach Berlin antrat, hörte ich von Schneidemühl ab allenthalben in Städten und Dörfern die Trauerglocken läuten. Am Morgen jenes Tages war Kaiser Friedrich III. gestorben. Die neunundneunzig Tage seiner tragischen Regierungszeit waren zu Ende. Sein neunundzwanzigjähriger Sohn bestieg als Wilhelm II. den Kaiserthron.

Am Abend dieses historischen Tages blickte ich am Bahnhof Friedrichstraße in das liebe Gesicht meiner Luise, das von einem schwarzen Schleier umhüllt war. Sie war in tiefer Trauer, da ihre Mutter vor kurzem gestorben war. Ihr Vater hatte sich schon während der letzten Zeit immer mehr seiner Schwarmgeisterei und den Träumen vom Tausendjährigen Reich ergeben. Es war vorauszusehen, daß er sich wenig um sie, wie überhaupt um seine Kinder, kümmern und daß sie fortan beinahe allein in der Welt dastehen werde. Um so ernstere Pflichten erwuchsen mir selbst gegen sie. Die Zeit der großen Lebensentscheidungen reifte heran.


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