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Ende Oktober 1885 begann ich in Berlin das neue Semester. Es war bereits mein sechstes. Kurz zuvor war ich zwanzig Jahre alt geworden. Obwohl Berlin mir schon längst nicht fremd war, so glaubte ich, es doch erst jetzt richtig kennenzulernen, und hatte das starke Gefühl, daß ein ganz neuer Entwicklungsabschnitt für mich anfange. Berlin war ja schon damals ein gewaltiger Lebenskomplex; mit den Augen jener Zeit gesehen, war es ohne Zweifel bereits eine rauschende und berauschende Stadt. Genau auf der geometrischen Mitte der Transversale von Eydtkuhnen nach Aachen gelegen, war es die natürliche Achse, um die sich der Verkehr des gesamten preußischen Staatsgebiets drehen mußte. Sein Avancement zur Reichshauptstadt hatte seine Bedeutung während des letzten halben Menschenalters außerordentlich gehoben, obwohl ja der bundesstaatliche Charakter des Reiches den übrigen Hauptstädten und Residenzen noch viel Spielraum ließ.
Eine Funktion übte Berlin bereits zu jener Zeit aus, worin es in ganz Deutschland unerreicht dastand, nämlich als Amüsierstadt. Es mußte schon damals »jeder einmal in Berlin gewesen sein«, wie der spätere Werberuf lautete. Zum wenigsten galt das für den ganzen Osten und Norden sowie für das nähergelegene Mitteldeutschland. Aber auch die Kohlenkönige und Schlotbarone des Westens fühlten sich mehr und mehr von den Lockungen des »Sündenbabels« angezogen. Es war das verführerische Reiseziel aller Provinzonkel und das abschreckende Beispiel ihrer zu Hause gebliebenen Eheliebsten. Nur der deutsche Süden widerstrebte noch den Lockrufen der gleißenden Sirene. Politische und stammestümliche Abneigung taten das Ihrige, um den Schwaben, den Bayern, selbst den weltläufigeren Badener von Berlin und vom Norden überhaupt fernzuhalten. Nur zwischen Nürnberg und Berlin bestand schon damals eine rege Verbindung, die man füglich auf sehr ferne historische Ursachen zurückführen konnte: schließlich waren es ja die Burggrafen von Nürnberg, die nach Brandenburg gezogen waren und deren Nachkömmling jetzt die deutsche Kaiserkrone trug. Auch die jahrhundertelange dynastische Verbundenheit zwischen Berlin und den fränkischen Hohenzollernlanden trug sicher viel zu der beiderseitigen Annäherung bei. So ist es bis heute geblieben. Das innere Wesen der Dinge ändert sich nicht so rasch, wie es dem heutigen Zeitungsleser in der Hetzjagd der täglich vorüberziehenden Sensationen erscheinen mag.
Schon die Berliner von 1885 waren sehr stolz auf ihre große Modernität und Fortgeschrittenheit. Auch diese Erscheinung ist also nicht erst von jetzt, so laut es die Trompetenbläser des Ewigmorgigen auch in die Welt hinausrufen. Wer diese Töne bis zur Ermüdung hört und lange genug über diese Erde spaziert ist, könnte sich vielmehr zu dem Paradoxon versucht fühlen, das Ewigmorgige sei im Grunde nichts weiter als das Ewiggestrige. Gerade angesichts der fulminanten Weltstadtentwicklung des heutigen Berlins kommt es mir auf das lebendigste wieder in Erinnerung, daß nicht anders schon das Berlin von 1885 von dem höchsten Bewußtsein seiner weltstädtischen Überlegenheit und Fortgeschrittenheit erfüllt war; und wir in seinem brausenden Lebensstrom schwimmende Kinder des Zeitalters alle mit ihm. Dieser hinreißende und berauschende Rhythmus der gerade durch ihre Modernität märchenhaften Stadt machte zumal uns junge Menschen, uns dichterische Künder eines neuen Lebensgefühls zu unbedingten, fanatischen Bekennern Berlins und seiner weltstädtischen Berufenheit.
Ich sagte bereits früher, anläßlich meiner ersten Bekanntschaft mit Berlin, daß schon das bloße Wörtchen Weltstadt eine Art von Zauberformel war, die geradezu magisch auf uns wirkte. Selbst wenn Berlin nicht schon die Stadt gewesen wäre, die wir in ihm sahen – und wer London, wer Paris kannte, mochte vielleicht über uns lächeln –, so wäre es sie doch hundertmal für uns geblieben, da wir diese Stadt nun einmal so sehen wollten, da wir an sie glaubten, da sie die Erfüllung unserer Träume war. Und doch – hierin lag das Irrationelle unseres Gefühls und damit seine eigentliche Rechtfertigung – und doch leuchtete über jenem Berlin der Achtzigerjahre, über jener werdenden oder schon gewordenen Weltstadt des ausklingenden ersten Wilhelminischen Zeitalters, über jenem »Sündenbabel« des Friedrichstraßen-Strichs und der Hunderte von Mädchenkneipen – es leuchtete über ihm ein letztes verklärendes Abendrot einer versunkenen Geistes- und Gesellschaftsepoche. Es war die Spätromantik Kleists, Hoffmanns, Fouqués, Chamissos, der Varnhagens, Arnims und Bettinas. Es war die Welt Schleiermachers, der Humboldts, der Grimms und ihrer Zeitgenossen, von denen die allerletzten noch vor nicht langem als Zeugen einer feineren und höheren Kultur in dieser Stadt gewandelt waren.
Berlin hatte damals etwa eineinhalb Millionen Einwohner, ein Drittel von heute. Aber diese Zahl bezog sich ja nur auf das engere Weichbild von Berlin selbst; alle die heute eingemeindeten Vororte waren noch kleinere oder größere Bauerndörfer, teilweise bereits großstädtisch gesprenkelt, wie Schöneberg mit seinen berühmten Millionenbauern, teilweise auch von villenartigem Charakter, wie Lichterfelde. Am deutlichsten offenbarte sich das Wesen jener Übergangsperiode im Stadtbilde von Charlottenburg: breite geradlinige Großstadtzeilen dort, wo es bereits mit Berlin zusammenstieß, am Zoologischen Garten; die vornehme Zurückgezogenheit der die Charlottenburger Chaussee säumenden Landhäuser; der kleinresidenzliche, bürgerliche Charakter von Alt-Charlottenburg mit dem Schloß als Mittelpunkt; die emporwachsenden Fabriken und Arbeiterquartiere an der Spree; diese selbst als ewig belebte, von Frachtkähnen und Dampfern durchzogene Verkehrsader; dörfliche, bäuerliche, gärtnerische Siedlungszungen zwischen Kiefernheide und Sand. Ähnliche Wesenszüge, stärker oder schwächer schattiert, wiederholten sich im Kreise der Berlin rings umgebenden Vorstädte, Dörfer und Villenkolonien. Wirklichen, für die damalige Zeit überwältigenden Großstadtcharakter hatte nur Berlin selbst – jenes alte Berlin, das vom Schlesischen Bahnhof bis etwa zum Lützowplatz, von der Müller- und Brunnenstraße bis zum Kreuzberg sich erstreckte. Hier war die Dominante das griechische Kreuz, das sich dem Auge in der Überschneidung der Friedrichstraße durch Linden- und Leipziger Straße sinnfällig darstellt und das seine Verlängerung bis nach dem Alexanderplatz sowie weiterhin nach dem Osten fand.
Dies war Berlin – die Großstadt, die Weltstadt jener Achtzigerjahre. Aber wie viele stille, verschlafene Winkel gab es noch allenthalben, wenn man aus dem weitmaschigen Netz der Großstadtstraßen nur hundert Schritte seitab machte! Hier schien plötzlich die Zeit den Atem anzuhalten, kein Pulsschlag des brausenden Großstadtblutstroms war mehr vernehmbar; man war wie durch einen feierlich erhobenen Zauberstab um fünfzig, sechzig, siebzig Jahre zurückversetzt. Man sah wie im Traum um sich und schaute das Berlin Friedrich Wilhelms III. Die Großvaterzeit – von damals aus gesehen –, ja die der Urgroßväter wurde wieder lebendig und blickte mit ernsten, nachdenklichen Augen auf uns spätgeborene, fiebernde Enkel hinab. Und wahrhaftig! Der kleine, eilfertige, absonderliche Mann im tabakbraunen altmodischen Rock, der dort soeben in der nebelgrauen Dämmerung des Novembernachmittags um die Straßenecke bog;, konnte das nicht Theodor Amadeus Hoffmann sein, vielleicht gerade auf der Fährte eines seiner gespenstischen Großstadtabenteuer dahineilend? Vielleicht auf dem Wege zu seinem Freunde, dem Rat Krespel, im Spandauer oder Monbijou-Viertel, der seine eigene, höchstpersönliche und verrückte Art hatte, sich sein Haus zu bauen, und dessen Tochter Antonia so bezaubernd sang, bis sie sich mit Hilfe ihres Hausarztes, des Doktors Mirakel, zu Tode gesungen hatte?.
Ich habe bereits in meinem Kindheitsbericht erwähnt, daß die Gestalt meines großen dichterischen Landsmanns, des genialen Sonderlings und Abseitigen, des bizarrsten und einmaligsten aller Kammergerichtsräte, schon sehr früh meinen Entwicklungsweg gekreuzt hatte. Kandidat Dargel, mein Güttländer Hauslehrer und Mentor, hatte sie durch seine Schilderung lebendig vor meiner Kindheitsphantasie erstehen lassen. Später hatte ich ihn selbst gelesen und war seinem Bann erlegen. Hierbei war bezeichnend, daß gerade seine Berliner Nachtstücke und Gespenstereien den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen hatten. Mir schien, als habe Hoffmann so recht eigentlich die Phantastik der Großstadt entdeckt. Berlin als Märchenstadt: hier war eine Synthese, die gerade durch ihre Unwahrscheinlichkeit, durch die offenkundige Unvereinbarkeit zweier einander so grell widerstrebender Elemente mich verblüfft und hingerissen hatte. Keinem andern wäre dies gelungen. Nur Hoffmann, der Magier, der Zauberer, konnte das Wunder vollbringen, bei hellichtem Tage das Märchen durch die Straßen der Großstadt wandeln zu lassen. Es erschien mir und erscheint mir noch heute als eine der so ganz unvoraussehbaren und nachher doch durchaus folgerichtig wirkenden Zwangsläufigkeiten einer logischen Entwicklungsreihe, daß Hoffmanns Lebensweg eben in Berlin hatte münden müssen, in jener schon damaligen Großstadt, und daß beide nun für immer zusammengehörten, die wirblige, quecksilberige, springlebendige, rationalistische, in all ihrer Gescheitheit exaltierte Stadt und ihr nicht minder exaltierter, romantisch-realistisch-spukhafter Seher.
Ich hatte eine erträgliche Studentenbude in der Rosenthaler Straße bei einer freundlichen Zimmervermieterin mit ein paar heranwachsenden Kindern gefunden. Das eigentliche Studentenviertel lag ja etwas mehr nach der Friedrichstraße zu, in der Gegend um das Oranienburger Tor. Die Tieck-, die Eichendorff- und die anderen ebenso stillen wie leider auch häßlichen Straßen, die von den Romantikern wahrlich nichts weiter als ihren Namen hatten, waren der Hauptschauplatz des damaligen Studentenlebens und seiner Begleiterscheinung, der zahlreichen Mädchenkneipen mit den roten, blauen oder grünen Laternen. Sie waren in allen Schattierungen da, von der ganz soliden, bürgerlichen Studentenkneipe mit weiblicher Bedienung bis zur »lauschigen«, dämmerigen Animierspelunke.
Hier waren die blonden oder braunen, die blauäugigen oder schwarzäugigen Huldinnen zu Hause, die in den dichterischen Versuchen der jungen Generation eine immer größere Rolle zu spielen begannen. Die soziale Frage beschäftigte ja schon damals die Köpfe und Herzen gerade der Besseren, der Geistigeren, der Aufgeschlosseneren unter uns. Nun gut! Hier konnten wir sie an der Quelle studieren; jedes dieser Mädchen erschien uns als eine lebendige Anklage gegen die herrschende soziale Ordnung. Hier wurde Sozialismus weniger mit dem Verstande als mit dem Herzen getrieben. Um so tiefer erschütterte er uns. Die Mädchen lauschten unseren Gesprächen mit echt weiblicher Hingabe und Anpassungsfähigkeit, empfanden sich zuzeiten als unglückselige Opfer, als bemitleidenswerte Kameliendamen, zuzeiten auch wieder als männerverderbende Sirenen, als unheimliche Vampire, wie es nun gerade unserem Geschmack entsprach, und taten im übrigen, was sie wollten. Dann und wann war eine darunter, die zu »retten« es sich gelohnt hätte und die vielleicht gerade darum am ersten zerbrach und verdarb. So verstärkte und vertiefte sich das tragische Gefühl immer von neuem.
Auch ich kam oft in dieses lateinische Viertel, wo die meisten meiner Freunde wohnten, und lernte genug von der hier waltenden Atmosphäre kennen, um sie nicht fortwährend um mich haben zu wollen. Ich bevorzugte das lärmende Getriebe der Altstadt, des Rosenthaler Viertels, überließ mich willenlos den flutenden Menschenwogen, lauschte dem dröhnenden Rhythmus der Weltstadt und fand mich oft in weit entfernten Straßen des Ostens oder Nordens wieder, von wo ich dann mit nüchternen Sinnen einen umständlichen Heimweg entweder zu Fuß oder mittels Pferdebahn zurückzulegen hatte. Wohl noch niemals – auch nicht in den tragischsten Stunden vorhergegangener Heidelberger oder Münchner Semester – hatte ich die furchtbare, fressende Qual des Alleinseins so deutlich empfunden wie jetzt unter den unzähligen fremden Gesichtern, unter den gleichsam wesenlosen, lemurenhaften Menschenscharen der Millionenstadt. Meine Seele schrie nach einer anderen, nach einer Schwesterseele, die ihre Sprache spräche, ja auch stumm sich in sie ergösse. Mein Blut brandete, meine Sinne fieberten der Unbekannten, der Fremden entgegen, die plötzlich meinen Weg kreuzen und wie eine Frucht vom Baume mir zufallen werde. Ich suchte das Abenteuer, jagte nach dem Wunder, aber es schien von der Erde verschwunden zu sein.
Mit meinem Kollegbesuch in jenem ersten Berliner Jahr war es nicht weit her. Ich zählte ja nun schon zu den älteren Semestern und hatte bereits genug Erfahrung, um zu wissen, daß es in jenem Zustand mehr auf das häusliche Studium als auf die Vorlesungen ankam. Auch Seminarkurse, vornehmlich in den germanistischen Fächern, wenn ich denn doch mit ihnen Ernst machen wollte, wären hoch an der Zeit gewesen. Ich tat nichts dergleichen, schmökerte nur zu Hause in den alt- und mittelhochdeutschen Grammatiken herum und besuchte im übrigen nur ein paar von den berühmten Modekollegs der Universität. Sie hatte ja so viele strahlende Namen in allen Fakultäten. Noch lebte der Großmeister der Geschichtsschreibung, Leopold von Ranke, als ein hoher Achtziger in seinem weit vom Straßenlärm zurückliegenden Gartenhaus, an der Neuen Wilhelmstraße. (Oder war es ihre Fortsetzung, die Luisenstraße?) Ranke las nicht mehr, aber sein Name strahlte als eines der glänzendsten Sternbilder am Himmel der Wissenschaft; ein Schimmer davon fiel auch noch auf die Universität Er starb nicht lange darauf, wenn ich nicht irre, im Frühling 1886. Ich sah seinen Leichenzug durch die Straßen der Stadt sich nach dem Alten Sophienstädtischen Kirchhof an der Sophienstraße bewegen. Ganz Berlin säumte die Straßen und sandte dem Fürsten des Geistes, der von dannen ging, seine stummen Abschiedsgrüße zu.
Noch lebten und lehrten Mommsen und Sybel, der Geschichtsschreiber Roms und der der französischen Revolution wie der deutschen Einheitsbewegung. Noch las Curtius, der Meister der hellenischen Geschichte. Ich hospitierte in ihren Hörsälen, nahm dieses und jenes mit, gewann aber im ganzen kein Bild, weder vom Lehrstoff noch von den Vortragenden selbst. Curtius und Sybel und Mommsen blieben Namen für mich, ferne, traumhafte Gesichter auf dem Katheder, die kein Gesicht für mich hatten.
Nicht viel anders erging es mir mit Wilhelm Scherer, dem vielbewunderten, von Jüngern umdrängten Lehrer und Meister der deutschen Literaturgeschichte. In seinen Vorlesungen, in seinem Seminar saßen um diese Zeit schon alle die Kommenden, die der Literatur und dem Theater des anbrechenden naturalistischen Zeitalters als Kritiker, Dozenten oder auch als Theaterdirektoren, wie Brahm und Schlenther, ihr Gesetz diktieren sollten. Es war übrigens schon Scherers Schwanengesang, den ich vernahm. Der bedeutende Mann, ohne Zweifel ein Bahnbrecher seiner Zeit, starb schon im Spätsommer 1886. Die Spuren der Krankheit waren bereits tief in sein Gesicht geschrieben, als ich ihn hörte. Vielleicht kam es daher, daß sein einst bedeutungsschweres Wort nur noch wie ein Schatten an mir vorüberhuschte.
Das große Universitätserlebnis dieser Zeit war Heinrich von Treitschke für mich. Man witzelte in Studentenkreisen, daß er taubstumm sei; gegenüber einer zum Reden berufenen Persönlichkeit ein recht blutiger Scherz. Treitschke litt in der Tat an einer damals bereits weit fortgeschrittenen Schwerhörigkeit, die ja, soweit mir erinnerlich ist, schließlich auch seiner Lehrtätigkeit ein vorzeitiges Ende bereitet hat. Eine Folgeerscheinung dieses bösartigen Leidens pflegt zu sein, daß auch der Gebrauch der Sprache dadurch beeinträchtigt wird: weil man sich nicht mehr sprechen hört, verliert man am Ende die Kontrolle über das eigene Wort. Es wurde erzählt, daß der gewaltige Mann sich nur mit übermenschlicher Energie durch stundenlange tägliche Übungen noch im leidlichen Besitz des Sprechvermögens erhalte. Wer zum erstenmal in seinen Hörsaal kam, mußte freilich den Eindruck gewinnen, daß alles Bemühen des auf dem Katheder gestikulierenden Redners vergeblich sei. Man verstand zuerst kein Wort; nur ein gleichsam unterirdisches Donnern, Grollen, Ächzen, Stammeln war vernehmbar, wie man es eben von Taubstummen kennt. Der große, breite, massige Mann mit dem mächtigen, vierschrötigen Kopf, mit dem noch schwarzen Haupthaar und dem ergrauenden Bart stand da wie ein gefesselter, ohnmächtig ringender Prometheus, das Haupt von den Feuerkugeln und Blitzen seiner Rede umzuckt, während ununterbrochen das unterirdische Donnerrollen eines Vulkans erklang. Ein erhabenes und erschütterndes Schauspiel. Aber ach für den Neuling ein Schauspiel nur! Ich begriff nicht, warum das Auditorium zu wiederholten Malen in ein stürmisches, begeistertes Trampeln ausbrach, da ich auch nicht eine Spur vom Sinn des Geächzes und Gestammels erfaßt hatte. Aber mein Nebenmann tröstete mich nachher, das werde sich schon finden, ich solle nur wiederkommen. Ihnen allen sei es zuerst nicht anders ergangen.
Ich folgte seinem Rat und kam wieder. Es war, wie er gesagt hatte. Bereits beim nächsten Mal fing ich an, einzelne Wort zu verstehen, bald auch ganze Sätze zu unterscheiden. Man mußte es lernen, wie man eine fremde Sprache lernt. Aber als ich sie dann beherrschte, und es ging schneller, als ich gedacht, da gedieh es zum höchsten geistigen Genuß und zugleich zu einer seelischen Erschütterung, wie ich sie noch nie in einem Hörsaal erlebt hatte. Das körperliche Gebrechen des Professors verkehrte sich geradewegs in sein Gegenteil; es verstärkte jedes Wort, das gesagt wurde, unterstrich und betonte es, verhalf ihm zu einem unerhörten Nachdruck, machte den oratorischen Gesamteindruck zu einem Erlebnis ohnegleichen.
Treitschke war, wie Kuno Fischer in Heidelberg, die eigentliche »Sehenswürdigkeit« der Berliner Universität. Auch er war, wie jener vordem von mir gehörte Kathederfürst, der geborene Rhetor und Redner, wie sich das im Grunde für einen Universitätslehrer gehört. Denn die akademische Jugend will nicht nur den starken Trunk aus dem Becher des Wissens; sie verlangt mit Recht, daß auch der Becher selbst, mit dem es kredenzt wird, ein wohlgeschliffenes Kunstwerk sei. Treitschke, sobald man sich in seinen Vortrag eingelebt hatte, befriedigte den Geist und die Sinne, Kopf und Herzen auf die gleiche Weise. Was ihn von andern akademischen Zeitgenossen unterschied, etwa von dem mephistophelischen, überaus eitlen Kuno Fischer, das war eben der Mangel an jeder persönlichen Eitelkeit, der unerschrockene Bekennermut zur einmal erkannten, oft anstößigen Wahrheit, und über das alles hinaus eine vulkanische Genialität. Wer sich ihr einmal ergeben hatte, blieb ihr unwiderstehlich verfallen.
Treitschke sprach, wie er schrieb; wie seine deutsche Geschichte geschrieben ist: in großen, majestätischen Sätzen und Perioden, mit Bevorzugung des vollklingenden Ausdrucks, des weithin tönenden Wortes. (Vielleicht hing auch das mit seinem Gehörleiden zusammen.) Er war Rhetoriker, in einem ähnlichen Sinne, wie Schiller es gewesen war, der ja auch das starke Wort, den rhythmischen Schwung liebte, dabei aber auch immer etwas zu sagen hatte, der großen Form auch stets den großen Inhalt verlieh. Nicht anders auch Treitschke. Dieser geborene sächsische Edelmann hatte sich mit all seinem wissenschaftlichen Reichtum und mit dem ganzen Ungestüm seiner Seele der Idee von der geschichtlichen Sendung Preußens in Deutschland verschrieben. Man hatte ihn dieserhalb sogar zum preußischen »Hofhistoriographen« ernannt: eine Ehrung, die der aufrechte und fanatisch wahrheitsliebende Mann nur mit sehr gemischten Gefühlen entgegengenommen hatte. Er scheute auch fernerhin vor keinen Aufrichtigkeiten und Rücksichtslosigkeiten zurück, selbst wenn es sich um gekrönte Häupter, sogar um seinen Heros Fridericus Rex handelte. Seine leidenschaftliche Bejahung des Preußentums machte ihn oft ungerecht, insbesondere gegen die politischen Leistungen der süddeutschen Mittelstaaten, und vor allem natürlich gegen das Habsburgertum. Aber er bekundete doch zugleich auch volles Verständnis für die künstlerische Kultur der deutschen Donau- und Alpenländer. Mir, der ich gerade von München herkam, tat dieser Ton besonders wohl. Man hörte ihn in solcher Unbedingtheit nicht oft in Berlin. Unter seinen Vorlesungen während der drei Berliner Semester war mir die über die Geschichte des Preußischen Staats auch schon darum am wertvollsten, weil ich zum erstenmal darin einer ebenso gründlichen wie liebevollen Schilderung meines heimatlichen Preußenlandes und seiner Deutschordensgeschichte begegnete.
Es waren die letzten Jahre Kaiser Wilhelms I. Der alte Herr, der solange dem Alter getrotzt hatte, fing nun doch an müde zu werden, wenn auch sein Pflichteifer und Verantwortungsbewußtsein ihn nach wie vor den Regierungsgeschäften obliegen hieß. Für Repräsentationspflichten und Reisen ließ er sich mehr und mehr von seinem volkstümlichen Sohn, dem Kronprinzen, vertreten. Es war bekannt, daß das Verhältnis des Thronerben und vor allem das seiner Gemahlin zu Bismarck nicht das beste war. In den weitesten Kreisen wurde davon gesprochen, wie das nach dem Tode des Kaisers werden solle. Er hatte ja die biblischen Grenzsteine des Menschenlebens bereits um ein Erkleckliches überschritten. Einstweilen ließ sich aber der alte Herr in diesen Fragen nichts dreinreden, wiewohl er im stillen vielleicht oft genug gegen seinen Kanzler murren mochte.
Diese letzten Jahre des älteren Wilhelminischen Reichs sahen Bismarck, den »Eisernen Kanzler«, den »Schmied der deutschen Einigkeit« auf dem Höhepunkte seiner Macht. Wer hätte in der Öffentlichkeit ahnen können, was für geheime, aber mächtige Kräfte gegen ihn arbeiteten und wie verhältnismäßig nahe bereits sein Sturz war. Vom Sohne des Kronprinzen, dem Prinzen Wilhelm, wurde noch wenig gesprochen. Er galt für einen unbedingten Gefolgsmann des Kanzlers und seiner Politik. Ich habe Bismarck einige Male aus dem Gartentor des Reichskanzlerpalais an der Königgrätzer Straße ausreiten sehen. Der gewaltige Mann in der gelben Kürassieruniform, damals ein angehender Siebziger, saß in nachlässiger Haltung, aber doch ungebeugt, auf dem schweren Gaul. Es war nichts weniger als eine Denkmalspose, in der er sich den wenigen Zuschauern zeigte, und doch empfand ich ihn bereits als sein eigenes Monument und hätte mir vorstellen können, daß gerade so, gerade in dieser zwanglosen Haltung des Grandseigneurs, der er ja neben allem andern noch war, sein erzenes Bild am treffendsten und menschlichsten auf die nachfolgenden Geschlechter gekommen wäre.
Das Haus in der Rosenthaler Straße, wo ich wohnte, war dem Abbruch verfallen. Es sollte einem großen Neubau Platz machen, den ein ganz in der Nähe befindliches Warenhaus zur Vergrößerung seines Geschäftsbetriebes errichten wollte. Das fragliche Kaufhaus trug den Namen Wertheim. Der Begriff eines solchen Verkaufsmagazins war mir bis dahin gänzlich fremd gewesen, wie er ja auch selbst den Berlinern noch ziemlich neu war. Ich staunte über die Menschenmengen, die sich dort täglich hinein- und hinausdrängten; zumal in den frühen Abendstunden war der Verkehr für meine Begriffe gewaltig.
Ich hatte ein neues Quartier im zweiten Stock der Brunnenstraße 4 gefunden und war am 1. Dezember 1885 dorthin gezogen. Es war ein schönes geräumiges Zimmer mit einer eleganten grünen Plüschgarnitur, dem neuesten »Schrei« damaliger Innenausstattung. Ich hatte es sehr preiswert bekommen, weil ich, wie mir meine neue Wirtin gleich sehr offenherzig erklärte, ihr gut gefiele und sie es überdies auch nicht so nötig habe. Sie hieß Olga H., mochte Anfang der Dreißig sein und war eine tiefbrünette, rassige Erscheinung, offenbar mit slawischer Blutmischung. Sie stammte aus einem der vielen kleinen Landstädtchen der Provinz Posen und war vor Jahren nach Berlin gekommen, um hier, nach dem Beispiel so vieler anderer zugewanderten Mädchen, ihr Glück zu machen. Man konnte auch sagen, daß es ihr gelungen war. Sie hatte als Verkäuferin oder Konfektioneuse, wie man es damals nannte, die Bekanntschaft eines jungen flotten Juristen gemacht, dessen langjährige Freundin sie wurde. Der alleinstehende, sehr vermögende junge Mann, inzwischen Assessor geworden, hatte ihr schließlich die Heirat versprochen. Alles war für die Hochzeit vorbereitet, der Bräutigam hatte noch vorher eine Reise nach München unternommen. Hier war er auf der Dampfstraßenbahn nach Nymphenburg verunglückt und wenige Tage nachher gestorben. In seinem Testament hatte er seine Geburtsstadt zur Erbin des Vermögens, seine Braut als dessen Nutznießerin auf Lebenszeit eingesetzt. Seitdem war es erst wenige Monate her, meine neue Quartiergeberin war noch in Trauer.
Ich hatte das alles schon in den ersten Stunden meines Dortseins erfahren und fühlte mich in dem neuen Milieu gleich so vertraut, als habe mich eine Schicksalshand dorthin gewiesen. Olga H. hatte noch eine neunzehnjährige Nichte, Berta S., die ebenfalls aus dem Osten stammte und vor kurzem ihr Erzieherinnen-Examen gemacht hatte. Sie war in Berlin, teils um ebenfalls dort ihr Glück zu versuchen, teils um ihrer trauernden Tante Gesellschaft zu leisten. Sie war eine kleine, hübsche, zierliche Blondine, wie ein niedliches Porzellanfigürchen anzusehen, und hatte auch etwas von dessen kühler Glätte. Vielleicht war es eben dies, was mir gefiel und mich reizte, obwohl ich schon bald mich von der Hoffnungslosigkeit meiner aufkeimenden Neigung überzeugte. Umgekehrt entdeckte ich bald, daß Olga, die dreißigjährige Tante, mir ein immer wärmeres Gefühl entgegenbrachte, das über bloße Freundschaft sichtlich hinausging. Sie verfolgte das kokette Spiel zwischen ihrer Nichte und mit mir zunehmender Eifersucht. Da wiederum ich die Neigung der reiferen Frau nicht auf die von ihr gewünschte Weise erwidern konnte, so waren wir, vermöge des täglichen wiederholten Beisammenseins, binnen kurzem alle drei in ein fast unentrinnbares Netz gegenseitiger Gefühlsverwirrung verstrickt. Olga hätte mich gewollt, ich hätte Berta gewollt und sie, die blonde Porzellannymphe, nun ja, sie hätte am Ende auch jemanden gewollt, der am liebsten ein gutgestellter, reiferer Gymnasiallehrer mit Pensionsberechtigung hätte sein sollen. Da ein solcher im Augenblick nicht zu haben war, so hatte ihr Herz noch nicht gesprochen und seine Trägerin blieb kühl und ein wenig spitz, wie eben jene Schäferinnen aus Meißener Porzellan es zu sein pflegen.
Es gibt eine Komödie aus meiner Frühzeit, sie heißt »Lebenswende«. (Ein Wort übrigens, das damals noch ganz ungewohnt in die Ohren klang und das ich als eine höchstpersönliche Erfindung gegen meine Freunde verteidigen mußte.) Ich schrieb »Lebenswende« zwischen »Jugend« und »Mutter Erde« und hatte auf dem Theater kein Glück damit Ich erwähne das Stück schon deswegen hier, weil ihm jene Erlebnisse in der Brunnenstraße 4, jene Gefühlsverwirrung und -Verstrickung, zugrunde liegen. Es kommt dort auch noch ein Hauswirt Janke vor, der wiederum die schöne trauernde Olga liebt und eifrig um ihren Besitz wirbt: ein dicker, urfideler, schon beträchtlich angegrauter Mann, der kaum durch die Tür geht, der Typus eines echten Berliner Hausbesitzers vom damaligen alten Schlag. Eine solche Falstaff-Erscheinung war nun auch wirklich auf dem Schauplatz meiner damaligen Erlebnisse vorhanden und trug in Humor und schließlicher Tragik noch das Ihrige zu dem halb komischen Durcheinander unserer Gefühle bei. Er nahm öfters an unserem abendlichen Trio teil, erschien meistens unangemeldet in der Tür, deren Rahmen er vollständig ausfüllte, amüsierte uns mit seinem trockenen Berliner Witz, mit seinem unverfälschten Jargon, und ließ es nie an der nötigen Feuchtigkeit fehlen, indem er aus den Taschen seines umfangreichen Gehäuses ein paar Flaschen guten Weins zum Vorschein brachte.
Eines schönen Apriltages freilich fiel es diesem urkomischen Berliner Original ganz plötzlich und ohne besondere Vorbereitungen ein, zu sterben. Das war ein Witz, auf den keiner gefaßt gewesen war und der uns alle drei traf, als hätte uns jemand mit der Spitzhacke auf den Kopf geschlagen. Unser Falstaff hatte im Hinterhause gewohnt. Die Treppe, die dort hinaufführte, war zu eng und zu gewunden für seinen notwendigerweise sehr geräumigen Sarg. Man setzte also diese allerletzte Behausung des Hausbesitzers auf den Hof nieder, trug die Leiche die Treppen hinunter und bettete sie dann in den unten wartenden Sarg. Aus allen Hoffenstern der vier oder fünf Stockwerke schauten die Köpfe der Hausbewohner auf das düstere Schauspiel hinab. Auch wir standen am Fenster und sahen unseren dickwanstigen Genossen davontragen, der unser Trio zum Quartett gemacht hatte. Tante und Nichte wurden von einem schweren Nervenanfall ergriffen, auch mich packte es an, wenn auch auf andere Art. Es war, als sei die Zündschnur einer im Verborgenen wartenden Pulvermine in Brand geraten und alles, was bisher zwischen uns gewesen war, flöge mit einer einzigen Explosion in die Luft. Von unserem seltsam verbogenen und absonderlichen Dreieck blieb bald nichts übrig als ein Aschenhäufchen verglimmender Gefühle. Berta, die Nichte, verließ das Haus und ging als Gouvernante zu einer reichen Berliner Familie. Ich selbst behielt zwar meine Wohnung bei der leidenschaftlichen Olga einstweilen bei, aber ihre Stimmung gegen mich zeigte sich von da ab gleichsam in herbstlicher Abgeklärtheit, ruhig, freundschaftlich und gehalten. Vielleicht war es auch nur die Außenseite, die ich zu sehen bekam. Olga H. ist wenige Jahre später an der Schwindsucht gestorben. Berta S. habe ich erst spät im Leben wiedergesehen. Mein Schicksalsweg sollte mich weitab von dem ihrigen führen.
Schon bald, nachdem ich in Berlin warm geworden war, hatte Ich meinen Besuch im Hause Marschalk gemacht. Dies war mir auch von meiner Mutter nahegelegt worden, damit ich In der großen Stadt doch einen Familienanschluß hätte und mir nicht allzu verlassen vorkäme. Wenn meine gute Mutter gewußt hätte, auf welchen verschlungenen Pfaden ich meiner weltstädtischen Einsamkeit abzuhelfen suchte und was für Herzensaventüren ich dabei begegnen würde, so wäre sie sicher in noch viel größerer Sorge um ihren Sohn gewesen, als sie es ohnehin schon war. Zum Glück hat sie erst aus diesen Blättern davon erfahren, und jetzt ist ja das Schlimmste vorbei. Im übrigen befolgte ich ihren Ratschlag sehr gern, denn ich hatte jene sommerlichen Begegnungen mit den reizenden Töchtern noch in angenehmster Erinnerung. Inzwischen war manches Jahr vergangen, und ich mußte mir sagen, daß aus den Kindern von dazumal erwachsene Mädchen geworden seien, was ihre Anziehungskraft ja nicht verminderte. Ich hatte mich auch das eine oder andere Mal persönlich davon überzeugen können, wenn ich in Berlin auf der Durchreise war.
Marschalks hatten eine sehr schöne, geräumige Wohnung in der nördlichen Friedrichstraße inne, unweit des Oranienburger Tors. Eine imponierende Zimmerflucht führte von der breiten Straßenfront durch die ganze Tiefe des; Hauses und das unvermeidliche Berliner Zimmer bis nach der rückwärts gelegenen großen Veranda, von wo man noch – hier mitten im alten Berlin – auf große parkähnliche Gärten und dichte Baumwipfel hinabsah und kein anderer Laut sich vernehmen ließ als weltfernes Vogeltrillern. Ich sollte in dieser Wohnung und in diesem Familienkreise während dreier sturmbewegter Berliner Semester viele Stunden der feinsten, kultiviertesten Geselligkeit genießen und gleichsam eine Insel traumhaften Vergessens finden. Darum ist sie mir bis heute unvergeßlich geblieben.
Frau Laura Marschalk war noch die Alte, unverändert Junge; ihre urwüchsige Laune, ihr treffender Witz schienen unversieglich, obwohl schon damals dunkle Wolken über dem Hause standen und die Zukunft sich sehr ungewiß anließ. Ich fühlte das bald, in den Gesprächen fiel dieses oder jenes andeutende Wort. Merkwürdig! Ich fand das alles in meiner damaligen, bis auf den Grund aufgewühlten Stimmung ganz selbstverständlich, ja geradezu notwendig. Es mußte so sein! Es gehörte zum Bilde der Weltstadt! Hier war jedes Menschenschicksal, auch das am festesten gegründete, nur wie die Nußschale in der Wogenbrandung des Meeres. Eben dies war das Abenteuerliche, war die Phantasmagorie, war das Märchen Berlins!
Den Hausherrn sahen wir paar jugendlichen Sonntagsgäste meistens nur kurz bei Tisch. Abends erschien er fast nie. Er war Kaufmann, ein vielbeschäftigter Mann. Mathilde und Lisbeth – wie wäre es anders zu erwarten gewesen – waren ebenso schöne junge Damen geworden, wie sie einst reizvolle Backfische gewesen waren. Jetzt näherte sich die dritte Schwester Gertrud, schlicht Trude gerufen, dem Backfischalter. Auch Margarete, die Jüngste, ein zehnjähriges, aufgeschossenes Mädchen, war bereits munter bei den Erwachsenen dabei und belebte die Unterhaltung durch unerwarteten, spitzbübischen Witz. Sie hatte hierin viel von ihrer Mutter. Trude, die dritte, die spätere Lebensgefährtin und jetzige Witwe von Moritz Heimann, war die Nachdenklichste und Schweigsamste.
Was mich selbst betrifft, so fühlte ich mich am meisten zu Lisbeth hingezogen. Sie hatte ein feines, klassisch geschnittenes Profil, das dunkelbraune Haar fiel wellig in die reine klare Stirn. Klarheit und Reinheit waren auch die tiefsten Wesenszüge des ernsthaften und besonnenen Mädchens. Sie erleuchteten alles, was sie sagte und tat, gleichsam aus einer verborgenen Lichtquelle her. Es war ein großer Einklang, eine schöne Harmonie um sie, die meinem stürmisch bewegten Herzen in jenen Jahren wildester Gärung unendlich wohltat, wie der feine köstliche Duft einer fremdartigen, geheimnisvoll blühenden und unerreichbaren Blume. War dies nun Phantasie? War es Wirklichkeit? Einerlei! Ich erlebte es einmal so und darum besitze ich es bis ans Ende. Ich grüße, über die Ferne der Zeit und des Raums, Frau Lisbeth Strauß, die Gattin von Emil Strauß, dem Dichter, meinem alten Freunde und einstigen Weggenossen. Als wir alle, die dazumal in Berlin jung und im Beginn unserer Lebenspartie gewesen waren, uns schon auf der Mittagshöhe und darüber hinaus befanden, schrieb ich (im Jahre 1909) meine Erzählung »Der Frühlingsgarten«. Sie hat, wenn man nur auf das äußere Gewand sieht, nichts mit dem einstens Erlebten zu tun, und dennoch auf eine poetische, also auf eine niemals gewesene Weise alles.
Auch mit Max Marschalk, der mir von Anfang an ferner stand, wurde die Verbindung allmählich enger und wärmer. Er blieb für mich nach wie vor der Repräsentant eines scharfen, ätzenden Berlinertums, gegen das ich mich schon damals in Güttland gewehrt hatte; seine beobachtende, kritisierende Art reizte mich noch häufig zum Widerspruch. Aber die Gegensätze zwischen uns, die Kanten und Ecken, womit wir aufeinanderstießen, glätteten sich doch immer mehr und schliffen sich ab. Was zuerst kaum mehr als ein Dulden, ein Tolerieren des anderen war, wurde Empfänglichkeit, wurde Aufnahmebereitschaft herüber hinüber. Ein freundschaftlicher und herzlicher Ton wurde vernehmlich, der die Eigenart des anderen respektierte und gelten ließ. Es war wie zwischen zwei Mächten, die oft miteinander die Kräfte gemessen und schließlich den Schluß daraus gezogen haben, daß beide mit Friede und Bündnis besser fahren als mit Kampf. Man nennt das im politischen Sprachgebrauch eine Entente. So wurden wir Freunde und. vertrugen uns gut, bis auf die gelegentlichen Male, wo unsere Naturen doch wieder zusammenstießen. Aber nun waren es nur noch Kabbeleien.
Max Marschalk war damals noch Maler. Er war ohne Zweifel eine vielseitig begabte Natur, auch von starker Empfänglichkeit für das dichterische Wort. In diesem äußerlich so kühlen und kritischen jungen Mann steckte zutiefst eine lyrische Ader, deren eigentlichen schöpferischen Ausdruck er erst später finden sollte, indem er sich der Musik, der Komposition zuwandte, um schließlich als Musikschriftsteller ein reiches Wirken zu entfalten. In seiner damaligen Periode hatte er, wie natürlich, vornehmlich Verkehr mit jungen Malern, von denen er den einen oder den andern auch in den Kreis seiner Familie zog. Einer von ihnen war der Maler Walter Leistikow. Ich lernte ihn dort kennen. Er war Ostdeutscher wie ich. Seine Familie stammte aus Elbing, er selbst war in Bromberg geboren und hatte sich in Berlin in einem privaten Meisteratelier ausgebildet, da ihn die damals noch sehr verknöcherte staatliche Akademie wegen »Talentlosigkeit« abgewiesen hatte. Wir waren beide etwa gleichaltrig und fühlten uns schnell zueinander hingezogen. Auch Leistikow war vielseitig interessiert; seine Neigungen führten ihn besonders zur Literatur. Er las viel und hat später auch selbst einen Roman geschrieben, der jene Berliner Entwicklungsjahre und auch die Familie Marschalk behandelt.
Das war bereits zu einer Zeit, als unsere Wege sich getrennt hatten. In jener Periode, von der ich berichte, verkehrten wir miteinander in guter Kameradschaft, wofern man es nicht Freundschaft nennen wollte. Leistikow hatte, wenn ich mich recht entsinne, schon damals sein Atelier in der Lützowstraße. Ich besuchte ihn dort öfters und machte dadurch meine erste Bekanntschaft mit der modernen Malerei. Ich war ja in München natürlich in den Pinakotheken und in der Schackgalerie, jetzt in Berlin in der Nationalgalerie gewesen und hatte mein künstlerisches Sehen nach Kräften zu steigern versucht. Aber hier war doch eine schwache Stelle in meiner Bildung. Wo hätte auch die Gelegenheit herkommen sollen! Mein ganzer bisheriger Entwicklungsgang war einseitig auf das rein Geistige, auf das Wort, auf den Gedanken gerichtet gewesen. Die Bildkraft des Auges war zurückgeblieben, war vernachlässigt.
Im Atelier von Walter Leistikow lernte ich eine neue Welt kennen: die Welt der Farben und ihren unendlichen Reichtum an Übergängen, wovon ich mir bisher keine Vorstellung gemacht hatte. Leistikow verstand, sich auch theoretisch zu explizieren. Er war ein vortrefflicher Führer und Lehrer. So bekam ich zum erstenmal ein Bild vom Bild: wie es auf der Leinwand entsteht und wird. Leistikows malerische Ideen waren von der modernsten damaligen Note. Die Zeit war nicht fern, wo er in der sogenannten »Gruppe der Elf« als einer der Führer der jungen Malergeneration vor das Publikum hintreten sollte. Sein Ehrgeiz war groß Es hätte ihn zersprengt, im Dunkel bleiben zu sollen. Hierin begegneten sich unsere Gefühle und verschlangen sich dadurch noch um so enger.
Seine stilisierten Grunewaldlandschaften waren um jene Zeit noch nicht gemalt. Leistikow war noch Naturalist, Pleinairist, der auf die modernen Franzosen schwor. Als eine der stärksten Seiten seiner Begabung erschien mir schon damals sein Gefühl für die eigentümliche und besondere Stimmung einer Landschaft in Ton und Licht. Auch hier war ein Einklang unserer Naturen, vielleicht aus einem gemeinsamen Element unserer ostdeutschen Abstammung her. Auch ich träumte davon, jenes unbeschreibliche, undefinierbare Etwas, das man gerade damals angefangen hatte Stimmung zu nennen, jene Valeurs, ebenso im Wort, im Satz, im Klang, in der Melodie zu verkörperlichen, wie ich sie bei Leistikow auf der Leinwand wiedergegeben sah. Ich glaube, daß hier Fäden meiner Entwicklung angesponnen wurden, die bis zum heutigen Tage reichen. Und sicher ist, daß ich von jener Zeit an in ein lebendiges und persönliches Verhältnis zur Malerei und bildenden Kunst überhaupt getreten bin, das vordem nicht bestand. Es sollte im nächsten Jahrzehnt durch den freundschaftlichen Verkehr mit Lovis Corinth noch eine bedeutsame Bereicherung und Vertiefung erfahren.
Meine Münchner Freunde, Scharf und noch ein anderer Westpfälzer, ein junger Jurist, mit dem mich ein sehr herzliches Verhältnis verband, hatten ihre Absicht wahrgemacht und waren ebenfalls nach Berlin gekommen. Wir sahen uns öfters und setzten unsere im Sommer unterbrochenen Redeschlachten, auf welche Weise der Weltordnung ein neues Gesicht zu geben sei, mit heißem Bemühen fort. Nichts, was existierte, blieb vor unserer Kritik bestehen: Kunst, Literatur, Politik, Gesellschaft, auch nicht der liebe Gott, dem das gewiß nicht neu war und der nur leise gelächelt haben wird. Mit Scharf und jenem andern Pfälzer Freunde als Dritten im Bunde hatte ich einen Leseabend, der meistens bei mir in der Brunnenstraße tagte oder nächtigte. Meiner Behausung widerfuhr diese Auszeichnung, weil sie die komfortabelste war, die zur Verfügung stand. Vielleicht hat auch die Anziehungskraft meiner rassigen Wirtin und ihrer blonden Nichte eine Rolle dabei gespielt. Scharf hauste in der Artilleriestraße, es war eine finstere Gegend und ein finsteres Loch, man konnte diese Art von Studentenbude kaum anders bezeichnen. Er stand selten vor dem Nachmittag, manchmal erst am Abend auf und begründete dies zum Teil mit seinem körperlichen Übel, zum Teil mit dichterischer Inspiration. Er hatte bereits jeder Art von juristischem Ehrgeiz entsagt und war entschlossen, seinem dichterischen Genius freie Bahn zu geben. Dieser schien die Nachtstunden für seine Besuche zu bevorzugen, so daß der junge Lyriker sich eben bei Tage ausschlafen mußte. Aus dem solchermaßen urbar gemachten Bohemeboden jener Artilleriestraßenzeit sind auch in der Tat einige der stärksten Gedichte Scharfs entsprossen.
Er trug sie uns zwei bei unseren Leseabenden vor, und wir waren alle drei ehrlich begeistert. Auch ich gab Proben aus meinem nur langsam fortschreitenden dramatischen Erstling zum besten. Ich hatte mir zum Gesetz gemacht, nur dann an dem Werk zu arbeiten, wenn der Augenblick, der Eingebung da war und mich dazu zwang. Da Kopf und Herz mir von sovielen anderen Dingen erfüllt waren, so geschah das nicht allzu oft; oder die große Stunde kam und ich versäumte sie, im chaotischen Wirbel meiner Gefühle; oder ich war auch einfach zu faul; oder ich traute meiner eigenen Kraft noch nicht und wollte es reifen lassen. So wuchs es nur langsam unter meiner tastenden Hand, jedoch es wuchs. Und wenn ich dann und wann eine neuentstandene Szene las, so ergriff es mich selbst und schien auch die beiden Freunde zu ergreifen. Die große Entdeckung dieser Abende war Georg Büchner für uns. Ich trug den beiden anderen »Dantons Tod« vor. Der Eindruck war gewaltig. Wir gingen in jener Nacht lange nicht schlafen. Insbesondere Scharf erklärte, als wir dann endlich schieden, daß er noch seinem Genius opfern müsse und kaum vor dem Morgen ins Bett kommen werde.
Damals war gerade ein Buch erschienen, das uns ebenfalls viel zu schaffen gab. Es trug den Titel »Moderne Dichtercharaktere« und war eine lyrische Anthologie der damaligen jüngsten Generation. Als Herausgeber standen auf dem Titelblatt die Namen von Wilhelm Arent und Hermann Conradi. Am Ende des Buches war ein Anhang, worin jeder der darin vertretenen Dichter eine kurze Selbstbiographie zum besten gab. Aus den Geburtsdaten ging hervor, daß sie fast alle zwischen 1860 und 1864 geboren waren. Die ältesten unter ihnen waren die Brüder Hart, Heinrich und Julius, die noch aus den Fünfzigerjahren stammten. In manchen »Lebensbeschreibungen«, zumal der Achtzehn- und Neunzehnjährigen, war reichlich viel Selbstbespiegelung, die einem den Magen umdrehen konnte. Wenn man dann den Band aufschlug und die Verse gerade dieser Selbstgefälligen las, so stand die Leistung nur zu oft im umgekehrten Verhältnis zur eigenen Meinung des Verfassers von sich. Aber als Ganzes genommen war das Buch doch ein bedeutsames und entscheidendes Zeitdokument und wirkte auch so auf uns, die wir etwa in der gleichen Altersstufe standen, es aber noch nicht bis zum Gedrucktwerden gebracht hatten. Der Reichtum an neuen dichterischen Physiognomien, die Vielgestaltigkeit ihrer Ausdrucksformen, die Gelöstheit ihrer Rhythmik machten die »Modernen Dichtercharaktere« wirklich zu einem Ereignis in jenem Zeitalter dichterischer Erstarrung und Senilität. Wir liehen dem Fanfarenruf dieser Jüngsten unsere Ohren und Herzen, ließen es aber auch nicht an scharfer und rücksichtsloser Kritik fehlen. Eine Anzahl von Namen blieb uns seitdem in der Erinnerung haften. Ich erwähne außer Arent, Conradi, den Harts, noch Henckell und Otto Erich Hartleben, die mir gerade gegenwärtig sind.
Unter den Theatern Berlins stand damals das Deutsche Theater an der Spitze. Die Zahl der reichshauptstädtischen Bühnen erreichte natürlich nur einen Bruchteil von heute. Im Norden der Stadt blühte im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater die klassische Operette jener Tage, nämlich diejenige, die heute klassisch genannt wird. Damals war sie neu. Das Publikum stürmte zuzeiten die Kasse. Man gab die Fledermaus, den Zigeunerbaron, den Bettelstudenten. »Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt!« war das Schlagerlied der Straße. Ich ging gern hin. Ich hatte eine gewisse Schwäche für die Operette, die ich mir damals nicht gern eingestand. Heute bekenne ich mich offen dazu und weiß auch warum. Nicht nur Unterhaltungsbedürfnis und Schaulust, die aber auch ihre Rechte im Menschen haben, zieht mich zur leicht- und leichtestgeschürzten Muse hin. Es steckt noch etwas anderes, etwas Tieferes dahinter: ihre äußere Unwahrscheinlichkeit und Lebensferne. Sie ist es, die der Operette die Flügel verleiht, um uns in die Lüfte zu tragen und in das Reich einer anderen, heitereren und weniger gewichtigen Wirklichkeit zu entführen, als es die unsrige ist. Im Osten Berlins, im Residenztheater in der Blumenstraße, das sieben Jahre später entscheidend für mein eigenes Schicksal werden sollte, blühte zu jener Zeit neben Schwänken meistens französischer Herkunft das französische Sittenstück eines Augier, Ohnet, Dumas, Sardou. Dies war eigentlich die einzige Bühne in Berlin, wo man etwas von den dramatischen Äußerungen des Zeitgeistes vernehmen konnte. Sie kamen fast ausnahmslos aus Frankreich herüber; von Ibsen wußte man noch nicht viel. Aber seine Zeit stand bereits vor der Tür. Im Königlichen Schauspielhaus hatte gerade Wildenbruchs Laufbahn begonnen. Bedeutende Schauspieler und teilweise ein klassischer Spielplan zeichneten es aus. Was sonst gegeben wurde, war Spreu. Es nannte sich deutsches Lustspiel.
Allen voran – ich sagte es schon – war das Deutsche Theater. Seine ursprüngliche Sozietätsperiode war vorbei; ein paar der großen Mimen, die es hatten begründen helfen, wie Barnay und Friedmann, hatten sich bereits in die Büsche geschlagen. L'Arronge herrschte als unumschränkter Diktator, wie es das Gesetz des Theaters verlangt. Der leuchtende Stern dieser Bühne war Joseph Kainz. Mit seinem Carlos hatte er vor vier Jahren Berlin im Sturm erobert. Sein Orest, sein Prinz Heinz, sein Franz Moor, sein Mortimer, sein Romeo waren ebenso viele Meilensteine auf seiner Siegesbahn. Noch fehlte der Hamlet, ich sah ihn erst später in dieser Rolle. Ein unvergeßliches Erlebnis, wie vordem der Carlos. Alles an Kainz, sein federnder Schritt, seine beschwingte Gebärde, sein blitzendes Auge, sein beflügeltes Wort, war verkörperte Genialität. Er beherrschte die Rede, den Rhythmus des Verses, die Gliederung der Sprechprosa mit vollendeter Meisterschaft. Freilich gab es auch Abende, wo es ihm nicht ausging, wo er nicht mochte, einfach nicht wollte! Wo er zum Abschießen war! Wenn ich Kainzens gedenke, so wird mir warm ums Herz: Wir werden nimmer seinesgleichen sehen!
In jenem Schicksalsjahr 1886 fiel Ostern auf den 25. April, auf den spätesten Termin, den es gibt. Da ich mich immer für Zeit- und Kalenderfragen interessiert habe, so ist mir diese Tatsache bis heute in Erinnerung geblieben. Die Zeitungen schrieben viel darüber und wiesen darauf hin, daß das nur in großen Zwischenräumen vorzukommen pflegt. Das letzte Mal war es Ende des achtzehnten Jahrhunderts gewesen. Das nächstemal sollte es erst 1943 wieder sein. Ich rechnete mir aus, daß bis dahin siebenundfünfzig Jahre vergehen würden, also ein unendlicher Zeitraum in die Zukunft hinein, der über jede Vorstellbarkeit für mich damals Zwanzigjährigen hinausging. Heute liegt dieser späteste Ostertermin des zwanzigsten Jahrhunderts bereits hinter uns. Was ist die Zeit? Was ist das Leben?...
Ich sagte vorhin, daß es ein Schicksalsjahr für mich war. Am 7. Juni 1886 – es war ein klarer, kühler Frühsommertag gegen Abend und die Rosen blühten – lernte ich durch einen Zufall ein junges Mädchen kennen. Sie war ungewöhnlich hübsch, hatte ein apartes Madonnengesicht, kastanienbraune Haare und schöne seelenvolle, braune Augen. Sie stammte aus Kreischau bei Torgau, wo ihre Großeltern einen schönen Bauernhof besaßen. Ihr Vater war Schmiedemeister in Jerichow, weshalb ich sie nachmals die Rose von Jerichow zu nennen pflegte. Dieser biblische Anklang hatte sogar eine tiefere Bedeutung, als ich vorerst ahnen konnte. Der Vater war nämlich ein höchst bibelgläubiger Mann, der das Wort Gottes auf seine sehr persönliche Weise auslegte und zur Sekte der Adventisten gehörte; das ist die Sekte derer, die an die Wiederkunft Christi auf Erden und an das Tausendjährige Reich glauben. Ich habe ihn nachmals zum Helden meiner gleichnamigen Tragödie gemacht und ihn auf tragische Weise enden lassen. Das Geschick selbst ist glimpflicher mit ihm verfahren, es hat ihn noch erleben lassen, daß seine Tochter sich verheiratete und daß er seine Enkelkinder heranwachsen sehen konnte.
Es wird dem Leser klar sein, daß ich von meiner Frau spreche, wenn ich hier von dem schönen Mädchen berichte, das ich an jenem kühlen, klaren Frühsommerabend kennenlernte, als die Rosen blühten und es auf allen Plätzen von Berlin große und kleine Sträuße davon zu kaufen gab. Wir nennen diesen siebenten Juni seitdem – und es ist ja ein recht ansehnlicher Zeitraum inzwischen verflossen – unsern Dreirosentag. Dies mag beweisen, daß wir den sinnreichen Zufall, der uns damals zusammenführte, im Grunde unserer Seele niemals bedauert haben. Das Mädchen, das heute und schon seit vielen Jahren meine Frau ist, hieß Luise Christine Heck und war an dem Tage, der sie mir verlieh, noch nicht neunzehn Jahre alt. Sie wurde es aber bald darauf, noch dazu fiel ihr Geburtstag auf ein historisches Datum, auf den 14. Juli, den Tag der Bastillenerstürmung und des gleichzeitigen Anfangs der französischen Revolution. Auch dieser Umstand hat eine gewisse Rolle in unseren jungen Liebestagen gespielt, die damals begannen und mein ganzes Sein und Wesen in Flammen setzten. Aber es würde zu weit führen, dies hier in allen seinen Einzelheiten zu erzählen. Ich überlasse es denjenigen, die etwa später sich einmal die Mühe nehmen sollten, sich mit meinen Erdentagen zu beschäftigen. Es scheint mir nicht recht und billig, meinem Biographen diese ganze Arbeit abzunehmen.
Am Pfingstsonntag 1886 – man schrieb den 13. Juni – unternahm ich den ersten Ausflug mit meiner jungen schönen Luise. Wir benutzten einen der Kremser, die damals vor dem Brandenburger Tor warteten, und fuhren nach dem Grunewald hinaus. Es gab zwischen Halensee, Bahnhof Grunewald und Schmargendorf noch nicht die leiseste Spur von dem, was nachher die Villenkolonie Grunewald werden sollte. Wir pirschten uns auf einsamen Pfaden, fernab vom pfingstlichen Getümmel, durch den märkischen Wald, sahen die roten Kiefernstämme im schrägen Scheine der sinkenden Sonne gleichsam von innen her erglühen und schlugen uns bis zum Abend allgemach und mit manchen Umständlichkeiten bis gen Schmargendorf durch, wo uns ein abermaliger Kremser aufnahm und in drangvoller Enge nach Berlin zurückbrachte. Wir haben nachmals die Stellen wiederzufinden gesucht, wo wir auf dem moosigen Waldboden gesessen und nach unreifen Erdbeeren gesucht hatten. Aber jene Plätze waren verschwunden. Große herrschaftliche Villen standen dort, und die Kiefern, die in der Abendsonne geglüht hatten, waren von hohen Mauern und Zäunen eingefriedet. Nur ihre flederwischartigen Wipfel schauten weit über das moderne Menschenwerk hinweg und flüsterten wie im Traum von der alten Zeit.
Zur selben Stunde, wo wir im Grunewald die Sonne des Pfingstsonntags hinter Wolkenbänken hatten hinabsteigen sehen, war ein wahnsinniger König in den Starnberger See gegangen und hatte einen höchst vernünftigen, eben deswegen vielleicht allzu unbekümmerten Professor der Psychiatrie mit sich in den Tod gezogen. Am nächsten Morgen des Pfingstmontags rasten die Extrablätter, die vom tragischen Tode Ludwigs II. berichteten, durch die Straßen von Berlin. Schon seit Tagen waren die Zeitungen voll von Nachrichten über die Krankheit des Königs, über seine Absetzung und Gefangenhaltung gewesen. Das geheimnisvolle Königsdrama, dessen ahnungsschwere Exposition schon während meiner Münchner Zeit auf den Gemütern gelastet hatte, war zum erschütternden Finale gelangt. Es bleibt in meiner Erinnerung für immer mit unserem wunderschönen Pfingstausflug nach dem Grunewald verbunden.
Zu den Beisetzungsfeierlichkeiten in München war als Vertreter des alten Kaisers sein Sohn, der Kronprinz, entsandt worden. Er erfreute sich auch in Bayern und selbst in München weitgehender Beliebtheit. Dies fiel um so mehr ins Gewicht, als die bayerische, insbesondere die altbayerische Volksmeinung schon drauf und dran war, den Tod des Königs auf allerlei dunkle »preußische« Machenschaften zurückzuführen. Wenn etwas dem entgegenwirken konnte, so war es die strahlende, volkstümliche Erscheinung des Mannes, der 1870 die süddeutschen, die bayerischen Truppen zum Siege geführt hatte. Bereits im Herbst dieses selben Jahres brachten die Zeitungen die ersten, noch sehr vorsichtig gehaltenen Meldungen von einem Halsleiden des Kronprinzen, gegen welches die Ärzte Höhenluft in Südtirol verordnet hätten. Es war die erste Station eines furchtbaren, die ganze Welt in Aufregung versetzenden Leidensweges. Die Zeichen der Zeit waren düster und drohend, deuteten immer sichtlicher auf Abstieg und Ende einer sterbenden Epoche hin.
Am 12. Oktober 1886, in tiefer Nachtstunde, stand ich am Sterbebett meines Großvaters Gabriel Alex in Dirschau. Der dreiundachtzigjährige Mann hatte schon seit dem Frühjahr gekränkelt. Ein quälendes Asthma untergrub seinen bis dahin zäh widerstehenden Lebenswillen. Nun hatte sich eine Lungenentzündung eingestellt und in wenigen Tagen ihr Werk vollendet. Einer der liebsten Menschen meiner Kindheit und Jugend, einer, den ich fast als untrennbar von meinem Leben empfunden hatte, war in unbekannte Räume entschwunden. Als er ausgeröchelt hatte und alles zu Ende war, trat ich einen Nachtmarsch nach Güttland an, um meinem Vater die Nachricht zu bringen. Das Silberhorn des späten Mondes leuchtete matt auf meinen Weg, den ich auf dem Weichseldamm zurücklegte; mir war, als sei der bleiche Schatten hinter mir nicht mein eigener, sondern der des Toten, der mich begleitete.
Für den älteren Studenten, der ich allmählich geworden war, sollte nun doch der »Ernst des Lebens« beginnen. Es war wohl auch zu Erörterungen im Schoß meiner Familie gekommen, ich entsinne mich dessen nicht mehr, es wäre aber nicht weiter zu verwundern gewesen. Verwandte, Freunde, Nachbarn, diese ganze um das Wohl ihrer Mitmenschen so ehrlich besorgte Umwelt, stichelten im geheimen oder drängten sich mit offenen Fragen an meine Eltern heran, was denn eigentlich aus ihrem Sohn geworden sei, der einmal zu so großen Hoffnungen berechtigt habe und jetzt schon seit vielen Semestern studiere, man wisse nicht was. Es war kein leichter Stand, Eltern eines solchen einst »hoffnungsvollen« Sohnes zu sein. Und dieser Sohn war in sich gegangen und hatte beschlossen, dem grausamen Spiel sobald wie möglich ein Ende zu machen. Ein Doktor-Examen in der Geschichte sollte es werden. Und dann ...? Nun ja! Hier stand das große Lebensfragezeichen, auf das es vorläufig noch keine Antwort gab, obwohl ich sie im stillen schon wußte. Aber warum hätte ich sie den andern, den Freunden und Nachbarn und der lieben Verwandtschaft, bereits mitteilen sollen? Ich zog vor, mich in ein geheimnisvolles Dunkel zu hüllen und einmal den Weg der Überraschungen anzutreten.
Es sollte mein letztes Berliner Semester sein. Ich hatte bereits im Sommer bei dem Kirchenhistoriker Löwenfeld gehört und auch seine persönliche Bekanntschaft gemacht. Er war der Bruder von Raphael Löwenfeld, dem späteren Begründer des Berliner Schillertheaters. Wohl möglich, sogar wahrscheinlich, daß auch in meinem Lehrer, dem Privatdozenten für mittelalterliche und Kirchengeschichte, etwas von der Theaterleidenschaft seines Bruders Raphael lebte und daß wir über diese Fragen in ein näheres Gespräch gekommen waren, woraus er Aufschluß über meine Zukunftspläne gewonnen hatte. Jedenfalls muß ich wohl sein Interesse erweckt haben. Er zog mich näher zu sich heran – bis dahin hatte sich noch nicht ein einziger meiner Professoren um mich gekümmert – und veranlaßte mich, in sein historisches Seminar einzutreten. Es waren Übungen in der mittelalterlichen und Kirchengeschichte.
Löwenfeld sah bald, was mir fehlte: die wissenschaftliche Methode. Er führte mich in sie ein und schuf so die Grundlage, auf der ich mit Aussicht auf Erfolg weiterarbeiten konnte. Von ihm ging dann auch die Anregung zu meiner Doktordissertation aus. Ich hatte schon früh besonderen Anteil an der Gestalt Friedrichs II. des großen Staufenkaisers, genommen. Der Streit zwischen Kaisertum und Papsttum, in Friedrichs II. gewaltiger Erscheinung zum höchsten Ausdruck verkörpert, hatte ja durch den Kulturkampf bereits in meine frühe Kindheit hineingespielt und unverwischbare Spuren hinterlassen. Löwenfeld wies mich auf die methodische Erforschung der Quellen hin, ohne welche es kein ersprießliches wissenschaftliches; Arbeiten gebe, und riet mir, zum Abschluß meiner Studien und zur Vollendung meiner Dissertation nach München zu seinem Freunde Hermann Grauert zu gehen.
Grauerts Name war mir wohlbekannt. Als ich noch in München gewesen war, hatte sich um seine Berufung dorthin ein heftiger Weltanschauungsstreit erhoben. Grauert galt als der Vertreter der katholisch gerichteten Geschichtsauffassung. Seine Gegner behaupteten, daß es ein Verrat an der Wissenschaft sei, wenn er den Münchner Lehrstuhl für mittelalterliche deutsche Geschichte bekomme. Trotzdem war er berufen worden.
Ich entschloß mich, dem Ratschlag zu folgen und es wiederum mit München zu versuchen. Ich war Berlins einigermaßen satt geworden. Bereits seit Beginn des Winters hatte ich meine schicksalsreiche Wohnung in der Brunnenstraße aufgegeben und war ans andere Ende der Stadt, nach der Nostizstraße, gezogen. Ich hatte dort Tag für Tag meine mittelalterlichen Chroniken gewälzt, hatte auch in der Königlichen Bibliothek vom Urquell der mittelalterlichen Geschichtsforschung, von den Monumenta Germaniae getrunken und hatte mein Hirn mit deutscher Rechtsgeschichte vollgepfropft. Für meine dramatische Arbeit war wenig Raum übriggeblieben; sie war nicht mehr weit vom Abschluß, aber ich verschob ihn auf einen günstigeren Zeitpunkt.
Was mich in Berlin noch zurückhielt, war im Grunde nur eins, allerdings das Wichtigste: mein Herz. Aber das war wieder einmal geteilt und wußte sich keinen Rat und keine Entscheidung. Es zog mich mit aller Macht zu der einen und dann wieder, mit nicht viel schwächeren Banden, zu der andern hin. Wenn ich in dem gastlichen Hause in der Friedrichstraße weilte, so glaubte ich dort mein Heil zu finden. Und wenn ich dann in die Augen der andern sah, die ich in übermütiger Stunde die Rose von Jerichow genannt hatte, so stand mein Glaube fest, daß hier das wahre Glück meiner warte. Aber wie dem innern Zwiespalt entrinnen? Auf welche Weise zu einer Lösung gelangen? Nur ein Ortswechsel konnte helfen! Mochte man es eine Flucht nennen! Ich sah keinen anderen Weg. Und war es nicht eine entscheidende Probe, um Klarheit über meine Gefühle zu gewinnen, was echt daran war und was erdichtet? Trennung allein konnte mich retten. Trennung von der einen wie von der andern. So war auch mein Herz entschlossen, den Weg zu gehen, den meine Vernunft ihm bereits vorgezeichnet hatte. Ich nahm einen lächelnden Abschied im Hause Marschalk, einen leidenschaftlich bewegten von Luise und fuhr nach München. Auch sie wollte Berlin verlassen und ins Elternhaus zurückgehen.
Wir hatten uns jedoch versprochen, einander zu schreiben. Es war Frühling. Aber die Sonne schien in jenen Tagen sehr trübe.