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2.

Ich war durch den Tod meines Bruders Felix einziges Kind meiner Eltern geworden. Erst kurz vor Vollendung meines zehnten Lebensjahres wurde noch eine Schwester geboren, die den Namen Anna erhielt. Jener Zustand hat also nahezu fünf Jahre gedauert, wodurch natürlich meine Entwicklung entscheidend bestimmt wurde. Einzige Kinder sind Sorgenkinder, so heißt es. Die nächste Folge davon ist, daß sie, zumal wenn sie von schwächlicher Körperanlage sind, unter steter, meist übertriebener Beobachtung stehen und nur allzu leicht verzärtelt, verwöhnt, schließlich auch verzogen werden.

Auch mir wandten sich jetzt alle Angst und Sorge meiner Mutter zu. Sie war durch den Verlust ihres Lieblingskindes bis in die Grundfesten ihres bisher unverbrüchlichen Gottesglaubens erschüttert, haderte mit dem Himmel, mehr noch mit sich selbst, indem sie sich irgendwelcher Unterlassungen beschuldigte, und war lange Zeit ganz untröstlich. Schon wenige Tage nach Felix' Tod mußte Frau Annchen, unsere Kinderfrau, das Haus verlassen. Auch auf ihr lastete, wie meine Mutter es ansah, ein Teil der Schuld an jener vermuteten Erkältung und damit an dem Krankheitsrückfall meines Bruders. Es sollte in Zukunft auch kein fremder Mensch mehr zwischen mir und meiner Mutter stehen. Das Herz ihres jetzt einzigen Kindes sollte ganz allein ihr gehören. Aber dieses Herz – eben das meinige – wollte in diesem Augenblick und noch für längere Zeit nichts von einer solchen Wendung der Dinge wissen. Ich war wie ein Rasender, als ich erfuhr, daß Frau Annchen fort müsse und ihre Sachen packte. Ich schrie zum Gotterbarmen, klammerte mich an Frau Annchens Arm und wollte sie um alles in der Welt nicht weglassen. Die brave, aber natürlich doch vergrämte und gekränkte Person tat auch ihrerseits nichts, mich zu beruhigen, bestärkte mich wohl noch in meinem leidenschaftlichen Schmerz und unbändigen Trotz. Ich warf mich hin, knirschte mit den Zähnen, trommelte mit den Fäusten auf den Boden und verwünschte die Menschen, die mir Frau Annchen nehmen wollten. Wer konnte das anderes als meine Mutter sein!

Aber es half nichts. Frau Annchen mußte fort. Es war der erste Mensch in meinem Leben, den ich unsagbar geliebt hatte. Und unermeßlich war dieser erste Schmerz meines Lebens. Ich habe ihr lange Wochen nachgetrauert und erst nach und nach den Weg zu meiner Mutter finden können. Denn ich sah ja, daß sie sich ihrem Schmerz um Felix ganz ebenso rückhaltlos überließ wie ich dem meinen um den Weggang Frau Annchens. Und ich fühlte mich noch nachträglich wegen meiner Eifersucht auf den Verstorbenen entschuldigt und gerechtfertigt. Ich war der Benachteiligte, der Zurückgesetzte gewesen: jetzt lag es klar zutage! Tag und Nacht weinte meine Mutter um ihn! Wäre ich gestorben und Felix am Leben, so hätte sie gewiß keine Träne um mich vergossen!

So und ähnlich redete meine selbstquälerische Phantasie zu mir, also daß ich störrisch und verschlossen wurde – störrischer noch als vorher – und kein offenes vertrauendes Wort zur Mutter fand. Diese wiederum konnte es mir lange nicht vergeben, daß ich Frau Annchen soviel mehr als sie selbst geliebt hatte, obwohl da auch Stunden kamen, wo sie mit sich selbst rechtete und sich Vorwürfe machte, über dem Toten den Lebenden zu vergessen, ja ihn vielleicht zu Lebzeiten des andern erst recht vergessen und übersehen zu haben.

Der Krieg in Frankreich war zum glücklichen Ende gelangt. Im Juni 1871 fand der Einzug der siegreichen Truppen in Danzig statt. Es war natürlich ein großes festliches Ereignis, das alle Gemüter entflammte. Auch meine Eltern wollten dabei nicht fehlen, zumal da die Onkel ebenfalls unter den Einziehenden sein sollten. Auch ich sollte mitgenommen werden; vielleicht weil man sich mit Recht sagte, daß es ein bleibender und unverwischbarer Eindruck für mich sein werde.

Es gab damals in unserer Danziger Niederung noch keine Chausseen. Aller Verkehr vollzog sich auf holprigen, ausgefahrenen, im Herbst und Frühjahr ganz grundlosen Land- und Triftwegen, teilweise – so nach Dirschau – auf dem hohen, nicht allzu breiten Weichseldamm. Oft genug mußte mit vier Pferden gefahren werden, da man andernfalls in dem unergründlichen Dreck und Morast steckengeblieben wäre. Das merkwürdig feierliche und altertümliche Bild, das diese von vier Pferden gezogenen Verdeckwagen und Kutschen boten, ist mir unvergeßlich geblieben.

Auch wenn man nach Danzig wollte, mußte man diese schlechten Landwege benutzen, sei es, daß man direkt mit dem Wagen hinfuhr, was aber schon in meiner Kindheit fast ganz aus der Mode gekommen war – sei es, daß man von der uns nächstgelegenen Bahnstation Hohenstein der Strecke Dirschau-Danzig das letztere erreichen wollte. Es ist von Güttland anderthalb Wegstunden nach Hohenstein, mit Wagen also etwa die Hälfte der Zeit. Der breite, grasige, von Kuhherden ausgetretene Triftweg führt über das sogenannte »Hinterland«, ein besonders tief gelegenes, von trägen Wasserläufen und zahllosen Feldgräben durchschnittenes Moorgebiet, in dem hier und da auch einsame Höfe – »Ausbauten« – stehen. Die ganze Gegend mit ihren vielen Weiden und Erlen, in ihrer grenzenlosen Verlassenheit und Weltferne, ist von tiefer Melancholie erfüllt. (Der Schauplatz meiner 1896 entstandenen Novelle »Frau Meseck« ist hier zu denken.) Nähert man sich dann Hohenstein, so beginnt ein kräftiger Anstieg des Weges, denn hier befindet man sich auf der Scheide zwischen Niederung und Höhe, zwischen dem Weichseldelta und dem es westlich begrenzenden und um mehrere hundert Meter überhöhenden uralisch-baltischen Landrücken, auf dessen diesseitiger Abdachung die Eisenbahnlinie Dirschau-Danzig entlang läuft und wo auch Hohenstein liegt. Hier verändert sich das Gesicht der Landschaft merklich, was mir schon als Kind jedesmal auffiel, wenn ich diesen Weg fuhr.

Vielleicht war es an jenem heitern Junimorgen, wo wir uns nach Danzig zur Einzugsfeier aufmachten, das erstemal, daß mir jene Beobachtung kam. Ich sah statt der tellerflachen Äcker, Felder und Wiesen des Wenders, die nirgendwo dem Auge einen Anhalt, eine Begrenzung, ein Ende zu bieten schienen, mit einemmal den Blick sich verengen, entdeckte ein Auf und Nieder von Buckeln, Kuppen, Mulden, Hügeln, Schluchten, Anhöhen, die gegen den Horizont hin immer weiter aufstiegen und richtige Berge wurden. Gewiß! Ich hatte diese Höhenkämme, diese Bergzüge, wie sie dem Niederungskind erschienen, zu Hause tagtäglich am westlichen Horizont vor Augen gehabt. Sie hatten häufig ihr Gesicht gewechselt, waren bald näher, bald ferner, jetzt als ein matter Silberstreif, dann wieder als eine dunkelblaue, fast drohende Wand erschienen und hatten nicht selten sich ins Unsichtbare verloren. Immer doch hatten sie meine Kinderphantasie beschäftigt, und diese Phantasie hatte sich etwas sehr Fernes, etwas ganz Unerreichbares unter ihnen vorgestellt. Und nun war es kaum eine Stunde mit dem Wagen zu fahren! Welch eine Enttäuschung für das Kinderherz! Aber ich tröstete mich rasch. Es ging ja noch immer weiter, weiter gegen den Horizont hin ... immer höhere Höhen folgten ... dort fing erst die wirkliche Welt an ... hinter den blauen Bergen... So sind sie es für meine Phantasie geblieben! Eigentlich bis zum heutigen Tage! So oft ich wieder einmal – manchmal nach Jahren – vor meinem Vaterhause stehe und hinüberblicke zu den silbernen Höhenzügen, heute mit grauem Scheitel, wie einstmals mit blondem Knabenschopf: stets kommt es mir vor, als ob da hinten erst wirklich die Welt liege, obwohl ich sie inzwischen doch genugsam kennengelernt habe und genau weiß, daß es dort wie hier, drüben wie hüben stets die gleiche Illusion ist.

In Hohenstein wartete ich mit meinen Eltern auf den Zug nach Danzig, der schon gemeldet war. Es war damals noch ein kleiner Bahnhof mit geringem Verkehr. Die spätere Abzweigung nach der Kaschubei und nach Hinterpommern lag noch in weitem Felde.

Der kleine Wartesaal und der schmale Bahnsteig – damals sagte man Perron – waren voll von Menschen, die nach Danzig wollten. Die großen Herren von den Rittergütern auf der Höhe – stolze Namen und nicht minder stolze Träger – mischten sich mit unsern Werderaner Bauern, die schon damals allgemein Gutsbesitzer hießen und sich als solche fühlten. Jedenfalls nahmen sie es an Selbstbewußtsein mit allen Rittergutsbesitzern der Welt auf. Ich stand an der Hand meiner Mutter da, von allen diesen Eindrücken überwältigt und doch begierig nach immer neuen. Es war meine erste Eisenbahnfahrt; wenigstens erinnere ich mich an keine frühere. Die Bahnhofglocke gab ein erstes gellendes Zeichen. Der Zug fuhr ein, voran ein pustendes, dampfendes, rußiges Ungetüm, dessen Kolben wie Arme ausgriffen und mir besonders unheimlich waren – die Lokomotive. Ihr Schlot war hoch und schlank, ihr Bau noch bei weitem leichter, schmächtiger als heute, aber für meine damaligen Begriffe ein ganz großes einziges Erlebnis, dieses sich selbst fortbewegende, sozusagen lebendige »Dampfroß«, wie man es in jenen Tagen blumig zu nennen pflegte.

Für das heutige jüngere und junge Geschlecht, das schon mit der Technik zur Welt gekommen ist, mag dieses erste Erlebnis der Eisenbahn einen überwundenen Standpunkt bedeuten. Für sie gehören Automobil, Luftschiff, Flugzeug zu den täglichen Selbstverständlichkeiten. Die Häufung aller dieser weltumwälzenden technischen Erfindungen und Überraschungen hat das heutige Geschlecht abgestumpft und blasiert gemacht. Für uns Kinder von 1870 war noch die Eisenbahn das große Elementarereignis, das unsere Phantasie erregte und beflügelte. War es doch erst zwanzig Jahre, daß sie als allgemeine Einrichtung bestand, und sehr viele Menschen lebten, die noch keinen Zug gesehen oder wenigstens benutzt hatten.

Nachdem die Bahnhofglocke zum zweiten und dritten Male geläutet hatte, fuhren wir von Hohenstein ab. Ich stand am Fenster und sah die Landschaft draußen vorüberziehen; Höhenrücken, die sich senkten und wieder anstiegen, die höchsten Punkte von Dörfern gekrönt, die mich an Güttland erinnerten und doch auch wieder anders aussahen, ohne daß ich recht wußte warum. Sie kuschelten sich gleichsam zusammen; die Höfe, Häuschen, Katen schienen mir durcheinander zu purzeln. In Güttland standen sie gradlinig in Reih und Glied wie meine Zinnsoldaten und Dominosteine. Und dann kam etwas, was ich noch nie gesehen hatte: es kam auf einer der Hügelkuppen vor Danzig ein Wald! Wir hatten ja zwar vor unserer Haustür in Güttland jenes mit wohlwollender Übertreibung so genannte »Wäldchen«, das aus ein paar Erlen und Birken und vielen Haselnußsträuchern bestand und mir für meine Räuberspiele als Schlupfwinkel diente. Aber einen echten Wald, so einen, wo der Wolf beinahe das Rotkäppchen gefressen hätte und wo man das Gruseln lernen konnte – Frau Annchen hatte mir oft davon erzählt, wenn sie abends an meinem Bett saß –, nein, einen Wald hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen! Es gab ja, außer den Obstbäumen und der uralten blitzgespaltenen Linde in unserem Garten, weit und breit nur Weiden bei uns. Diese allerdings in sehr großer Zahl und in den seltsamsten Mißbildungen und Verkrüppelungen, da sie jeden Herbst geköpft, nämlich ihrer Krone beraubt wurden und dann im Frühjahr wieder von vorne anfangen mußten, was natürlich zu frühzeitiger Aushöhlung und Erschöpfung ihres Lebensmarkes führte. Zu diesen meinem Auge gewohnten Krüppeln und Zwergengestalten standen die breit ausladenden Buchen und Eichen, die himmelauf ragenden Fichten und Tannen, die ich zum erstenmal aus der Nähe sah, in überraschendem Gegensatz. Ich hatte den Wald für mich entdeckt.

Dem ersten Erleben der Eisenbahn und des Waldes folgte unmittelbar das der großen Stadt. Danzig hatte dazumal erst knapp die Hunderttausendzahl seiner Einwohner erreicht, war also im heutigen Sinne noch kaum eine Großstadt zu nennen. Nach der ruhmreichen stürmischen Geschichte eines halben Jahrtausends lag es gerade damals in einem tiefen Dornröschenschlaf, aus dem es erst in dem nun folgenden Menschenalter wieder erwachen sollte. Handel und Wandel hatten sich noch immer nicht völlig von den Leiden der Napoleonischen Zeit erholen können. Die Kaufleute klagten über schlechte Geschäfte infolge der immer drückenderen Abschnürung des polnischen Hinterlandes durch die russische, in der Wahl ihrer Mittel ganz bedenkenlose Zollpolitik. Der nordsüdliche Handelsweg, der Danzig schon durch den Lauf des Weichselstromes vorgeschrieben ist und der seine ganze bisherige Geschichte bestimmt hatte, war durch die politische Entwicklung der beiden letzten Menschenalter auf das empfindlichste eingeschränkt, beinahe unterbunden. Andererseits war die großzügige Erschließung des preußischen Ostens, insbesondere durch den Bau von Eisenbahnen, die die nächsten Jahrzehnte bringen sollten und die man die westöstliche Verkehrsdominante nennen kann, in jenen Tagen noch kaum in Angriff genommen. Es war in dem Ablauf der geschichtlichen Ebbe- und Flutperioden Danzigs gerade die Zeit des tiefsten Wellentals, oder diese Zeit war wenigstens noch nicht lange vorüber.

So stellt sich, von heute aus gesehen, der Zustand Danzigs in jenen Tagen dar, da ich es zum erstenmal betrat. Für das Dorfkind, das ich war, mußte natürlich der Eindruck dieser himmelhohen Giebelhäuser, dieser sich kreuzenden und querenden, in einem immer dichteren Gewirr sich verlierenden, immer neu sich gebärenden Gassen, mußte erst recht auch der Anblick der sie erfüllenden Menschen und Fuhrwerke ganz überwältigend sein. Es war, aus gelegentlichen Gesprächen der Erwachsenen, auch in meinen Ohren haften geblieben, daß diese Stadt, dieses Danzig, durch dessen enge winklige Gassen ich an der Hand meiner Mutter dahinging, sehr alt sein sollte, schon vor grauer Zeit gewesen war und sehr viel Merkwürdiges sich hier begeben hatte. So sah ich mich denn neugierig, fiebernd, aufs höchste gespannt, nach allen Seiten um, jeden Augenblick den Eintritt von etwas Wunderbarem und Unerhörtem erwartend, das nun freilich nicht kam. So enttäuschend das auch wieder war: der von Anbeginn in mir schlummernde geschichtliche Sinn war nun einmal geweckt und suchte sich auf seine Weise schadlos zu halten. Meine Phantasie spiegelte mir vergangene Männer und Frauen vor, wie ich sie aus Bildern in Geschichtenbüchern kannte. Wenn sie auch längst nicht mehr lebten: ich sah sie leibhaftig durch diese Gassen, an diesen Grachten und Kanälen entlang wandeln, aus den mächtigen roten Ziegelkirchen heraustreten und auf den grasbewachsenen Bastionen vor ihren Geschützen stehen.

Selbst das heutige Danzig, das so viele von seinen altertümlichen Schönheiten dem Moloch Verkehr hat opfern müssen, gehört ja noch immer zu den ehrwürdigsten und getreuesten Zeugen deutscher Vergangenheit. Wie ganz anders freilich wirkte vor zwei Menschenaltern jenes alte Danzig auf den Beschauer, das noch seine Umwallung, seine breiten Festungsgräben, seine Tore, seine Beischläge besaß! Es war wirklich der Geist fremder Jahrhunderte, der hier im hellen Tageslicht, nun gar in bleichen Mondnächten oder im tiefen pfadlosen Winterschnee umzugehen und auch auf die Nachkommen noch etwas von seiner Substanz zu übertragen schien: ein hartes, nüchternes, rechnerisches, skeptisches Geschlecht, dem doch ein merkwürdiger barocker Einschlag und eine derbe Sinnenfreude zu eigen waren.

Nicht umsonst haben die englischen Komödianten, die bald nach Shakespeares Tode seine und seiner Zeitgenossen Stücke nach Deutschland brachten, gerade in Danzig so früh Fuß fassen können. Man verstand sich hier von je auf Witz, Spaß und Schelmerei. Fastnachtsspiel und Mummenschanz hatte nicht einmal der Puritanismus der Reformation diesen urwüchsigen Sinnenmenschen ganz auszutreiben vermocht; das Festefeiern lag ihnen nun einmal im Blut. Festlichkeit atmen bis auf diesen Tag die Langgasse und der Lange Markt, den man die gute Stube von Danzig nennen könnte. Festlich wirken straßauf, straßab die alten Patrizierhäuser mit ihren breiten Steintreppen und den kugelverzierten Geländern, mit ihren geräumigen Beischlägen, Hausfluren, Lichthöfen, Paradezimmern. Niemand, der das Uphagenhaus in der Langgasse betritt, wird sich seiner lichten Heiterkeit und Grazie entziehen können. Immer wieder, wenn ich nach Danzig komme, drängt sich mir, ganz wie in meiner Kindheit, die merkwürdig prickelnde Atmosphäre auf, die diese Stadt und ihre altersgrauen Gassen erfüllt. Da ja auch ich dem gleichen Menschenschlag angehöre, so brauche ich nach den Gründen, warum ich mein Leben lang Freude an Festlichkeit und Narretei gehabt habe, kaum sehr weit zu suchen.

Man kam damals in Danzig von unserer Seite her noch auf dem Bahnhof Lege Tor an. Für die Züge nach Zoppot und weiterhin gab es am anderen Ende der Stadt, unweit des heutigen Hauptbahnhofs, den Pommerschen Bahnhof. Vom Lege Tor, das ja auf der Werderseite Danzigs liegt, war es ein recht weiter Weg nach der Innenstadt. Wenigstens kam es mir als Kind so vor. Meine Großmutter (von Vaters Seite) besaß ein paar Häuser in Danzig, die sie sich nach dem Tode des Großvaters, ihres Mannes, von dem ihr zugefallenen Erbteil erstanden hatte. Zu ihr ging unser Weg, denn wir sollten von einem dieser Häuser den Einzug der siegreich heimkehrenden Truppen mitansehen. Merkwürdigerweise ist mir das Bild dieses Einzuges selbst viel weniger in der Erinnerung haften geblieben als die ihm kurz vorhergehenden Erlebnisse, die Wagen- und Bahnfahrt und der erste Eindruck von Danzig. Ich sehe mich nur am offenen Fenster eines ersten oder zweiten Stockwerkes stehen, von Mutter und Tanten sehr gegen meinen Willen festgehalten, sehe den endlosen Zug von vorbeimarschierenden laubbekränzten Soldaten, höre das Dröhnen ihrer Schritte und das Tschingdara der Trommeln und Pfeifen, sehe bärtige verwilderte Gesichter zu uns heraufwinken – ein paar davon sollten meine Onkel sein –, sehe Blumen niederwirbeln, höre abermals Trommeln, Trompeten, Tschingdara und endlos – längs den hohen schmalen Giebelfronten – sich fortpflanzendes Vivathoch und Hurrageschrei ... Dann ist es dunkel um mich. Der Krieg von 1870/71 war zu Ende.

 

Ich war jetzt sechs Jahre alt. Die Frage eines geeigneten Schulunterrichts für mich trat an meine Eltern heran. In den Anfangsgründen des Lesens, Schreibens und Rechnens hatte meine Mutter mich bereits seit einiger Zeit unterrichtet. Sie litt gerade in jenen Jahren an einem fast ununterbrochenen, äußerst quälenden Herzklopfen, gegen das die Ärzte machtlos zu sein schienen. Es verschlimmerte sich eher noch, ließ sie nicht schlafen und machte ihr das Leben zur Last. Wahrscheinlich tat auch die furchtbare Erschütterung durch den Tod ihres Lieblingskindes noch das Ihrige dazu. Kränklich und überreizt wie sie war, konnte sie trotz allem redlichen Willen das angeborene Temperament nicht immer meistern und griff vielleicht öfter, als gut war, zur Rute oder ähnlichen Zuchtmitteln. Sie erblickte in mir ein unbotmäßiges, störrisches, verstocktes Kind, dessen schlimme Anlagen sie bekämpfen müsse. Daß sie diese damit nur förderte und gerade das Gegenteil von dem erzielte, was sie wollte, übersah sie in ihrem jugendlichen Erziehungseifer. Man darf auch nicht vergessen, daß damals noch das alte Bibelwort galt: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es. Bis zum »Jahrhundert des Kindes« sollten noch ein paar Jahre vergehen.

Ich erinnere mich recht deutlich aller meiner kindlichen Bosheit und Tücke, womit ich auf die Erziehungsversuche der Mutter reagierte, indem ich sie einerseits abzuwehren, anderseits meine Mutter zu immer größerer Strenge aufzustacheln trachtete. Denn je mehr ich sie in Zorn oder Erregung kommen sah, desto mehr empfand ich meinen Trotz als gerechtfertigt und desto wonniger war das Gefühl, zurückgesetzt zu sein und Unrecht zu erleiden. Noch immer stand ja der Schatten des toten Bruders zwischen uns beiden. Meine Mutter konnte ihn nicht vergessen, dessen Bild sich ihr immer mehr verklärte. Ich wiederum konnte ihr nicht vergessen, daß sie den Toten nicht vergessen wollte und darüber den Lebenden vergaß oder zu vergessen schien. Das bittere Spiel des Mißverstehens und der Gefühlsverwirrung zwischen Mutter und Kind ging weiter. Ich hielt es, im Bewußtsein meines Unverstandenseins, für eine erlaubte Kriegslist, sie anzulügen, wo ich nur konnte, und mich auf eine höchst komödiantische Weise zu gebärden. Wenn ich dann Schläge bekam, so bestätigte mir das nur wieder, wie sehr ich im Recht war, meine Mutter im Unrecht.

Eines Tages – es wird wohl wieder beim Abc oder beim Einmaleins gewesen sein – trieb es mich, nach einem solchen Zusammenstoß, soweit, daß ich mich der Länge nach auf den Boden fallen ließ und mich tot stellte. Vielleicht wirkte dabei im Unbewußten das Erinnerungsbild meines toten Bruders mit, wie ich ihn im Sarge hatte daliegen sehen. Jedenfalls spielte ich meine Rolle so gut, daß meine Mutter sich täuschen ließ und einen großen Schreck bekam, der mir unendliche Genugtuung bereitete. Sie rüttelte verzweifelt an mir, schrie entsetzt auf, rüttelte von neuem: umsonst! Ich lag steif wie ein Stück Holz und war endgültig tot. Meine Mutter stürzte hinaus und rief um Hilfe. Ich blieb liegen und überlegte, was nun zu tun sei. Fortlaufen und mich verstecken? Aber wenn man mich fand, so war das Ergebnis vorauszusehen. Ich beschloß also, meine Rolle weiterzuspielen, aber doch langsam wieder zum Leben zu erwachen. Als Mutter, Wirtin, Mägde hereinstürzten und mich von oben bis unten befühlten, mich mit Wasser und Essenz bespritzten, schien allmählich das Bewußtsein in meinen erstarrten Körper zurückzukehren. Ich machte das, wie es scheint, so überzeugend, daß alle sich mehr oder minder täuschen ließen, zum wenigsten an einen Ohnmachtsanfall oder an einen kurzen Starrkrampf glaubten. Ich wurde ausgezogen und ins Bett gesteckt, was freilich auch nicht ganz nach meinem Sinn war. Aber der beinahe unvermeidlichen Tracht Prügel war ich doch entgangen. Daß bald nachher meiner Mutter, als sie in Ruhe war, starke Zweifel an der Echtheit der ganzen Szene kamen, sei der historischen Wahrheit zuliebe nicht verschwiegen. Doch da war der Sturm vorüber. Ich bildete mir etwas auf meinen Triumph ein.

Dem oder jenem von meinen Lesern wird vielleicht bei der vorstehenden Erzählung der Eindruck einer ganz besonderen Nichtswürdigkeit und Verruchtheit meines Kindheitscharakters gekommen sein. Aber weder entspricht dies der damaligen Wirklichkeit, denn ich war gleichzeitig doch ein von Zärtlichkeit und Liebesbedürfnis überströmendes Kind, wie mein Verhältnis zu Frau Annchen und schließlich auch zu meiner Mutter erweisen mag, – noch wird es durch das Bild meines späteren Lebens und Charakters bestätigt. Es wird wohl so sein, daß wir alle – wir Kinder des Sündenfalls und mit der Erbsünde Behaftete – Gut und Böse gleichzeitig als Erbteil in diese Welt der Finsternis und des Lichtes mitbringen; worauf es dann unsere Aufgabe im Leben ist, die Schlacken unseres Wesens im Hochofen des Schicksals nach Möglichkeit auszuscheiden, um uns zu etwas Besserem, Höherem, Edlerem umzuformen. Seine Parallele findet dieser ethische Lehrsatz bekanntlich auf biologischem Gebiet, in unserer embryonalen Präexistenz, die uns die hauptsächlichen Entwicklungsstufen von den untersten Lebewesen bis zur Menschenhöhe in gedrängter Kürze durchlaufen läßt. Wer also als Erwachsener aus den vermeintlich schlimmen, ja bösartigen Anlagen eines Kindes auf dessen spätere Verbrecherlaufbahn schließt, wie es oft genug von Lehrern, Erziehern, ja auch Eltern geschieht, begeht denselben Denkfehler wie etwa ein Physiologe, der aus der Froschform der frühen Menschenfrucht den Schluß ziehen wollte, es könne seiner Lebtag nichts anderes als eine Kröte daraus werden; womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß es nicht auch von vornherein hoffnungslose Fälle, geistige oder seelische Mißgeburten – ebenso wie körperliche – geben kann. Sie werden aber stets nur eine kleine Minderzahl ausmachen und können die Gültigkeit des vorhin aufgestellten Leitsatzes nicht aufheben.

Auch meiner Mutter – ich kann es mir wohl denken – mögen damals manchmal Zweifel an meiner moralischen Vollwertigkeit gekommen sein. Um so ernster mußte sie die Erziehungsfrage dieses ihres einzigen Kindes beschäftigen. Daß sie selbst dieser Aufgabe nicht länger gewachsen war, konnte eine so kluge und gewissenhafte Frau wie sie sich kaum verhehlen. Man hätte mich ja ein paar Jahre auf die Dorfschule schicken können, in der noch der einstige Lehrer meines Vaters, der »alte Marschalk« – ich erzählte früher von ihm –, seines Amtes waltete. Dagegen sprach aber meine Schwächlichkeit und Kränklichkeit, die vielleicht mehr in der Phantasie meiner Mutter bestand, aber eben doch mit dem Gewicht einer wirklich vorhandenen Tatsache wirkte. Gewiß! Ich war ein höchst reizbares Kind, mein Nervensystem war äußerst schwankend, wie ja die Zukunft nur allzusehr erweisen sollte; auch war meine ursprüngliche Anlage sicher sehr zart, ja schwächlich. Dem allen wäre aber durch gesundheitsfördernde Mittel, wie sie der heutigen Zeit zur Verfügung stehen, durch Licht, Luft, Sonne, Wasser, Bewegung, Gymnastik, Turnen, Sport, beizukommen gewesen. Ich habe diese Mittel zwanzig Jahre später noch mit Erfolg angewendet und verdanke ihnen ohne Zweifel meine heutige Rüstigkeit und Lebensfrische. Aber damals waren das allgemein noch böhmische Dörfer. Man hatte sie noch nicht entdeckt! Meine Mutter hätte gewiß die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn man ihr für ihren blassen, schwächlichen, blutarmen Jungen mit solchen Rezepten wie Abhärtung, Luft, Kaltwasser gekommen wäre. Ich wurde im Gegenteil gewissermaßen in Watte gepackt und auf das ängstlichste vor jedem Luftzug behütet, damit das Schicksal meines Bruders Felix nicht etwa auch das meine würde.

Vom Besuch der Dorfschule mit allen ihren Erkältungs- und Ansteckungsgefahren konnte also keine Rede sein. Auch gewisse soziale Gründe sprachen dagegen. Gerade in jener Zeit vollzog sich eine fühlbare Vertiefung des zwischen der Herrenklasse und der Arbeiterschicht im Dorf bestehenden Abstandes. Natürlich war die Dorfschule fast nur von den Kindern der einfachen Leute besucht. Der Ton war dort urwüchsig, volkstümlich, bisweilen auch roh. Dem sehr empfindlichen Geschmack meiner Mutter – ich möchte es nicht gerade Prüderie nennen – widersprach das aufs höchste. Sie wollte ihr Kind solange wie möglich von derartigen Einflüssen fernhalten. Mich nach der Stadt in Pension zu geben und mich dort die Vorschule des Gymnasiums – eine solche gab es damals noch – besuchen zu lassen, erschien wiederum als weitaus zu früh. Man mochte sich seines einzigen Kindes doch nicht eher entäußern, als es unbedingt nötig war. Landeltern sind in dieser Beziehung ohnehin so viel schlechter daran als Stadteltern, denen höhere Schulen zur Verfügung stehen und denen die Kinder daher bis zur Universitätszeit erhalten bleiben.

Es gab also als letztes Auskunftsmittel nur den Privatunterricht durch einen Hauslehrer, der denn auch bald gefunden wurde. Er hieß Engelbrecht und war ein dürrer, bleicher, hohlwangiger Mensch unbestimmten Alters, der eine blaue Brille trug. Wenigstens ist er mir so in der Erinnerung haften geblieben. Er stammte aus Ostpreußen und war wohl, wie ich es mir heute zurechtlege, ein entgleister Kandidat der Philologie, der in Königsberg studiert hatte und aus irgendwelchen Gründen nicht zum Examen gelangt war. Er hatte mich, da ja das Fundament schon von meiner Mutter gelegt war, natürlich vor allem im Lesen, Schreiben und Rechnen weiterzubringen. Auch mit Geographie und Geschichte und mit den ersten Elementarbegriffen des Lateinischen wurde noch unter seinem Regiment begonnen.

Jetzt, wo aus den persönlichen, manchmal allzu persönlichen Lehrstunden bei meiner Mutter ein geregelter Unterricht nach einem richtigen Stundenplan geworden war, stellte sich in Kürze heraus, daß ich sehr schnell auffaßte, spielend leicht lernte und rasch Fortschritte machte. Ich las bald fließend alle Märchen-, Bilder- und Geschichtenbücher, die ich reichlich geschenkt bekam oder die mir sonst in die Hand fielen. Übrigens hatte ich meinen Unterricht nicht allein. Es nahm noch ein um ein Jahr älterer Knabe daran teil, Egon Wannow mit Namen, dessen Vater den großen Nachbarhof am Südende des Dorfes besaß. Ich nenne ihn hier, weil er mein frühester Jugendfreund geworden ist und die Freundschaft mit ihm, wenn ihre Blütezeit auch nur ein paar Jahre dauerte, doch ein wichtiger Wegabschnitt für mich gewesen ist.

Ich glaube, recht starke Freundschaftsanlagen mit ins Leben bekommen zu haben. Vielleicht neige ich, wenn ich mich recht erkenne, auch auf diesem Gebiet zur Übertreibung, Leidenschaftlichkeit, Überschwenglichkeit; natürlich in deren Gefolge auch zu selbstquälerischer Eifersüchtelei. Ich sollte dies alles in der ersten Freundschaftsbeziehung meines Lebens nur zu bald kennenlernen. Es war nämlich auf dem am Nordende des Dorfes, also in entgegengesetzter Richtung zum Wannowschen Grundstück gelegenen Hof noch ein zweiter ungefährer Altersgenosse, wiederum ein Jahr jünger als ich, Edgar mit Vornamen, der bald auch an den vom Kandidaten Engelbrecht gegebenen Stunden teilnahm. So kam schon eine richtige Schulklasse zustande, wenn, auch mit ihren drei Schülern zwergenhaft klein, und schnell entwickelte sich eine Art von Freundschaftsdreieck daraus.

Mit solchen Dreiecken, ob nun in der Liebe, ob in der Freundschaft, geht es fast immer so, daß in dem Augenblick, wo sie entstehen – wo nämlich der Dritte sich zu dem schon vorhandenen Paar hinzugesellt –, das Gesetz der Wahlverwandtschaft zu wirken beginnt und von den bisher verbundenen A und B der eine oder der andere sich plötzlich stärker von C angezogen fühlt und nun mit diesem eine engere Verbindung eingeht, während die ältere sich lockert. Ich habe diesen offenbar zwangsläufig sich vollziehenden Vorgang später im Leben oft genug an mir selbst und andern beobachten können und nach meinem Teil darunter gelitten. Damals, mit sechs, sieben Jahren, erlebte ich ihn zum erstenmal und erfuhr dadurch auch zum erstenmal Glück und Leid der Freundschaft.

Die Schulstunden beim Kandidaten Engelbrecht wechselten in gewissen Zwischenräumen zwischen dem Wannowschen Hof und dem unsern; als Edgar hinzutrat, wurde auch dessen Vaterhaus in den Turnus einbezogen. Im übrigen hatte der Kandidat sein Domizil in unserem Hause. Er bewohnte die bis dahin leerstehende Oberstube, von wo man zu den blauen Höhenzügen am Westhorizont hinübersah, und die später meine Wohn- und Arbeitsstube wurde.

Mein Jugendfreund Egon war der Enkel jenes früher von mir erwähnten Gewaltmenschen, dem mein Großvater und seine Leute mit dem angelegten Gewehr gegenübergetreten waren, als er daranging, seinen Hofzaun ungebührlich in unseren Garten vorzurücken. Seitdem war ein Menschenalter ins Land gezogen. Jener wunderliche Mann mit dem gelben oder grünen Reitfrack und dem grauen Zylinder, als der er noch in meiner Kindheit im Gedächtnis der Leute weiterlebte, war vereinsamt und verbittert gestorben. Über den Streit und Haß der zwei aneinandergrenzenden Höfe war Gras gewachsen. Die Söhne und Nachfolger der beiden verfeindeten Männer, Egons Vater und der meinige, verkehrten gutnachbarlich miteinander; ja, es war eine gewisse Freundschaft zwischen ihnen erwachsen, die nun in den Enkeln, in Egon und mir, sich erneuerte und vertiefte. Ich kam sehr oft auf den Wannowschen Hof, wo wir in dem großen alten Garten uns nach Lust herumtummeln und verstecken konnten. Etwas weniger oft war Egon auf unserm Hof; vielleicht weil es soviel stiller und einsamer bei uns war, was uns Kinder nicht gerade anzog. Bereits in jener Zeit begann das Sonderlingstum und Abschließungsbedürfnis meines Vaters hervorzutreten, das unser Haus dann immer mehr veröden ließ.

Mein Vater war in seinen jungen Tagen höchst vergnügt und lebenslustig gewesen. Er galt als ein sehr unterhaltender und angeregter Gesellschafter, war ein glänzender und ausdauernder Tänzer, dem es auf eine durchwachte Nacht nicht ankam, und hatte vermöge seiner imponierenden männlichen Erscheinung entschiedenes Glück bei Frauen. Ob er davon Gebrauch gemacht hat, mag hier dahingestellt bleiben. Sicher aber ist, daß meine Mutter je länger je mehr in diesem Glauben lebte und berechtigten Grund zur Eifersucht zu haben meinte. Die bereits früh zutage getretene Unvereinbarkeit der beiderseitigen Charaktere verschärfte sich dadurch bis zur Unerträglichkeit. Die häusliche Atmosphäre befand sich eigentlich in fortwährender Spannung, was zu häufigen Gewittern und Entladungen führte. Es waren furchtbare Auftritte, die ich als unfreiwilliger Zeuge mitmachte. Sie haben sich meiner jugendlichen Seele unauslöschlich eingeprägt und meine ganze Folgezeit mitbestimmen helfen. Denn seltsam genug! (Oder vielleicht auch nicht!) Ich nahm nicht Partei in diesem lebenzerstörenden Kampf zweier Menschen, die mir beide gleich nahe standen und die ich beide gleichermaßen lieb hatte. Ja! Dies enthüllte sich meiner rasch wachsenden Beobachtungskraft immer deutlicher: ich liebte meine beiden Eltern in gleichem Maße, wenn auch nicht auf gleiche Weise. Ich glaubte zu erkennen, daß sie beide recht hatten und gleichzeitig beide unrecht; manchmal auch der eine Teil mehr, der andere weniger und das nächstemal umgekehrt. Aber wenn ich das Ganze betrachtete, so konnte ich keinen von beiden verurteilen. Wie ein Richter im Streit der Parteien erwog ich jeden einzelnen Fall für sich, dann wieder alle zusammen, verdammte nicht, beschuldigte nicht: blieb neutral! Wie es auch um mich donnerte und blitzte, ich hielt meinen Kopf kühl und suchte dem Urgrund alles dessen auf die Spur zu kommen. War es nicht wie mit zwei Gewitterwolken, die sich am Himmel zusammenballen und aufeinanderstoßen, daß die Erde in ihren Grundfesten zittert? Es muß so sein! Es ist Schicksal oder so! Denn wenn das Wort auch vielleicht in meinem jugendlichen Sprachschatz noch fehlte: den Begriff fühlte ich deutlich genug!

Es ist kein Zweifel für mich, daß das elementare Kindheitserlebnis, wie es sich mir in dem Zerwürfnis meiner Eltern immer von neuem aufdrängte, und der Zwang zu stetig sich wiederholender seelischer Stellungnahme meine dichterische Phantasie frühzeitig geweckt, erregt, befruchtet und vor allem auch meiner dramatischen Ader heißes Lebensblut zugeführt hat. Denn so kühl auch mein Kopf gegenüber dem allen blieb – mein kindliches Herz litt aufs bitterste, wurde von jedem neuen Konflikt aufs neue zerrissen. Dies aber ist der unerschöpfliche Nährboden alles dichterischen Schaffens und Gestaltens: das Leid. Indem ich Recht und Unrecht beider Parteien gegeneinander abzuwägen suchte und bald erkannte, daß sie im Grunde sich gegenseitig aufhoben, also niemand schuldig war oder beide, ohne daß dies jedoch den Beteiligten etwas nutzte und die Tragik ihres Schicksals auch nur um ein Gran erleichterte – indem mir dies zum Bewußtsein kam und ich die tragische Grundstimmung alles Lebens, die Unlösbarkeit seiner Widersprüche zum erstenmal erfuhr, wurde auch in meine eigene Seele jene tragische Grundstimmung eingepflanzt, die mich seitdem durchs Leben begleitet und mir ebensoviel Glück wie Schmerz geschenkt hat.

Wenn ich die Bedingungen überblicke, die mich zum dichterischen, zum dramatischen Gestalter haben werden lassen, so scheinen mir jene herzerschütternden Konflikte meines Elternhauses an erster Stelle zu stehen. Sie haben mich von früh an jene Objektivität und Unparteilichkeit gelehrt, die das oberste Gebot des Menschenbildners sein muß. Man kann es in die Formel kleiden: Jeder Mensch hat auf seine Weise recht. Wem diese Wahrheit nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, mag zu allem möglichen taugen: ein Seelenkünder ist er nicht! Daß sie mir bereits mit sieben Jahren aufgegangen ist, dies eben ist der Segen, aber auch die Tragik meines Lebens geworden. Denn sie hat mich meine kindliche Unbefangenheit und mein kindliches Glück gekostet – und beides ist unwiederbringlich.

Es war unter diesen Umständen begreiflich genug, daß die Atmosphäre unseres Hauses sich mehr und mehr verdüsterte. In jenem Alt-Güttland der Sechziger-, der angehenden Siebzigerjahre hatte ein reger gesellschaftlicher Verkehr bestanden. Kaffee-Einladungen, Whistpartien, Tanzkränzchen, Lesezirkel, Bier- und Grogrunden hatten von Hof zu Hof abgewechselt und Leben in die langen dörflichen Winterabende gebracht. Denn im Frühjahr, Sommer und Herbst ließen natürlich Ackerbestellung, Erntearbeit, Dreschbetrieb, Getreideabfuhr keine Zeit zu geselligem Verkehr. Man erholte sich höchstens beim Machandel oder beim Tulpchen Grog für eine kurze Dämmerstunde in der Hakenbude oder im Krug oder streckte am Sonntag nach der Predigt die Beine gemeinsam unter den Karten-, den Würfeltisch. Es saß ja auch auf fast allen Höfen junges lebenslustiges Volk, teils solche, die noch nicht lange am Ruder waren und noch ihre Jugend wahrnehmen wollten, teils eben flügge werdende Söhne und Töchter der regierenden Älteren, welche letzteren aber auch keine Spielverderber waren. Zu jenen, zur Gruppe des beginnenden und lebenslustigen Mittelalters, hatten auch meine Eltern gehört und, soweit es die Kränklichkeit meiner Mutter zuließ, häufig bei den winterlichen Unterhaltungen und Gastereien mitgetan.

Dies wurde jetzt langsam anders. Die zunehmende und nicht mehr zu verheimlichende Entfremdung zwischen meinen Eltern warf ihre Schatten nicht nur über unser eigenes Haus. Sie tat auch der allgemeinen Geselligkeit, dem Geist gegenseitiger Zusammengehörigkeit im Dorf immer mehr Abbruch. Natürlich wußte man auf den anderen Höfen nur zu gut, wie es bei uns stand. Schon die Dienstboten trugen es genügend herum, legten manchmal wohl auch noch aus eigenem zu. Nicht minder natürlich, daß Partei genommen wurde für und wider. Klatsch und Zwischenträgerei kreisen in einem so kleinen Lebensbezirk doppelt rasch. Wenn der Unfriede meiner Eltern für das Dorf kein Geheimnis war, so war es für diese wiederum kein Geheimnis, daß das Dorf von allem wußte, über alles sprach, zu allem Stellung nahm. Äußerungen wurden hinterbracht und verletzten die ohnehin wunden, leidenden Seelen. Meine Eltern begannen sich zurückzuziehen. Seltener wurden Gesellschaften bei uns gegeben; noch seltener fremde mitgemacht.

Besonders empfindlich scheint mein Vater durch diese hereinbrechende Atmosphäre von Neugierde, Mitgefühl, Klatsch, Entstellung berührt worden zu sein. Er hatte, wie ich gerade nach den schlimmsten Jähzornsausbrüchen mich oft genug überzeugen konnte, eine sehr weiche, verletzbare Seele. (Eben das war es auch, was ihn mir immer wieder nahe brachte, wenn ich ihn manchmal schon ganz verloren zu haben glaubte.) Seine Fähigkeit, am Leben, vor allem an sich selbst zu leiden, war aufs äußerste entwickelt, wenn dies auch von andern bestritten wurde. Meiner Ansicht nach mit Unrecht. Er war kein Mensch, der aus sich herausging. Immer war es, wie ich schon früher sagte, wie eine unsichtbare Isolierschicht um ihn herum. Aber ich erinnere mich doch – es war viele Jahre später und ich war längst ein reifer Mann –, daß er sich einmal mir gegenüber eröffnet hat, als er auf einem Spaziergang in Zoppot an einem trüben Augustnachmittag mir plötzlich gestand, er sei nicht eine einzige Stunde im Leben glücklich gewesen. Und es schien mir keine bloße Redensart zu sein. Auf seinem verzweifelten Gesicht las ich, daß er die Wahrheit sprach.

Vom Gefühl der Vereinsamung und des Unverstandenseins bis zum Sonderlingstum und schließlich zur Menschenfeindschaft ist es kein weiter Weg. Auch mein Vater hat ihn mit Schicksalsnotwendigkeit zurücklegen müssen. Bereits mit fünfzig Jahren hieß es von ihm, daß er ein wunderlicher Eigenbrötler sei, an den eigentlich kein Mensch herankommen könne und den man seine eigene Straße müsse ziehen lassen. Dies verstärkte sich mit den Jahren immer mehr, so daß mein Vater schon lange vor seinem Ende zur sagenhaften Figur wurde und sich ein richtiger Mythos um ihn bildete. So sah man ihn noch in hohen Jahren, ja bis kurz vor seinem Tode, einmal wöchentlich in einem dunklen Winkel des Danziger Ratskellers sitzen und einsam seine Flasche Rotspon trinken, worauf er wieder nach Güttland zurückfuhr. Wenn sich in solchen Stunden der eine oder andere Bekannte an ihn herantraute – nicht ganz ohne die stille Besorgnis, eine gehörige Abfuhr zu erleiden –, so konnte es geschehen, daß der scheinbar so unzugängliche alte Mann mit der militärischen Haltung und dem gemeißelten Feldherrnkopf plötzlich vollständig auftaute und ein ganz unerwartetes Redefeuer entwickelte, indem er von seiner Jugend, von seinen Reisen, von weiten Eisenbahnfahrten erzählte oder sich in eine politische Debatte einließ. Dann staunte so mancher, der ihn nicht näher kannte, über das Temperament des mythischen alten Mannes. Diejenigen aber, die ihn gut zu kennen glaubten, weil sie seine Unnahbarkeit täglich vor Augen hatten – seine Dorfgenossen –, wunderten sich erst recht und wurden noch weniger klug aus ihm, bis sich schließlich die rettende Formel fand, daß es auf eine Seltsamkeit mehr oder weniger nicht ankomme und eben auch dies zum Bilde eines richtigen Sonderlings gehöre.

Zu jener Zeit meiner Kindheit, in deren Erzählung ich begriffen bin, war es, außer den erwähnten, im beiderseitigen Charakter beruhenden Gründen, auch noch ein Umstand von ganz anderer Art, der die Isolierung meiner Eltern in Güttland vollendete und unser Haus schließlich ganz vereinsamen ließ. Das deutsche Volk, das nach dem Siebziger Kriege endlich politisch geeinigt war, daher nach alter deutscher Art einen neuen Grund zur Zwietracht und Selbstzerfleischung brauchte, war in die Periode des sogenannten Kulturkampfes eingetreten. Der alte, notdürftig und äußerlich verheilte Riß der Konfessionen, dem wir den Dreißigjährigen Krieg mit allen seinen Folgen zu verdanken gehabt hatten, klaffte von neuem durch das deutsche Leben und blutete wie in den schlimmsten Zeiten.

Güttland war evangelisches Kirchdorf. Die gotische Backsteinkirche steht urkundlich seit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Die Reformation war bereits um 1520 hier eingezogen. Sehr streitbare lutherische Pastoren hatten im Laufe der Jahrhunderte in dem altbehäbigen Werderpfarrhof gehaust. Die Pfarrstelle war eine der fettesten und bequemsten des ganzen Danziger Landes. Es galt als besondere Auszeichnung, sie zu bekommen: sei es durch eigenes Verdienst, sei es durch einflußreiche Protektion. Wer sie einmal hatte, behielt sie auch. Man blieb sitzen auf dieser Pfründe, das verstand sich von selbst! Unter den Ulmen und Trauerweiden des Güttländer Kirchhofs zeugen so manche klangreiche theologische Namen von der lebenslangen Anhänglichkeit ihrer einstigen Träger an diese fruchtbare Scholle. Und oft genug schlugen auch Söhne oder Töchter hier Wurzel, indem sie in diesen oder jenen Hof einheirateten und dabei doch immer etwas von der geistlichen Atmosphäre des elterlichen Pfarrhauses mitbrachten. Auch in meiner Jugendzeit sind mehrere solcher Verbindungen geschlossen worden. Man kann bei alledem nicht sagen, daß die Luft in unserem damaligen Güttland geradezu orthodox lutherisch war. Schon die gewisse Wohllebigkeit und Weitläufigkeit, die auf fast allen Güttländer Höfen herrschte, ließ das nicht zu. Aber man war doch fest im Glauben, besuchte sonntags die Predigt, sang fleißig im Gebetbuch mit und ließ nichts auf seine Kirche kommen.

Unter den größeren Besitzern war unsere Familie die einzige katholische im Dorf. Katholische Arbeiter- und Handwerkerfamilien gab es ja mehrere; wohl auch ein paar katholische Eigenkätner und Kleinbauern, die meist von der Höhe zugezogen waren, ähnlich wie unsere Familie auch. Im ganzen stand der katholische Teil doch einer erdrückenden evangelischen Mehrheit gegenüber. Das gleiche Zahlenverhältnis wiederholte sich in der übrigen Niederung, bis auf ein Nachbardorf, das als eine katholische Enklave (dabei aber kerndeutsch) eine bemerkenswerte Ausnahme bildete.

Die starke Übermacht des evangelischen Elements, zumal innerhalb der Besitzerklasse, hatte sich für unsere Familie nie besonders fühlbar gemacht. Die Nachwirkungen der friderizianischien Geisteswelt, überhaupt des Aufklärungszeitalters, waren gerade in unserem stark intellektuellen Osten noch sehr lange, eigentlich bis in die Tage meiner Kindheit lebendig geblieben. Jeder hatte den andern nach seiner Fasson selig werden lassen, was aber – wie vorhin ausgeführt – durchaus nicht mit kirchlicher Lauheit oder gar Ungläubigkeit gleichzusetzen war. Es war im Gegenteil – da jede Konfession doch im übrigen streng auf sich hielt und beispielsweise Mischehen noch selten vorkamen – ein Beweis von erfreulicher Duldsamkeit und Geistesfreiheit. Bezeichnend dafür war, daß seit unserem Einzug in Güttland die Toten unserer Familie ihre letzte Ruhestätte hier und nicht in dem katholischen Mühlbanz gefunden hatten. Die Gräber meiner Urgroßeltern, meines Großvaters und mehrerer im Kindesalter verstorbenen Familienmitglieder sind noch heute auf dem Güttländer Friedhof, unweit der Kirche, vorhanden. Niemand hatte darin etwas Unrechtes erblickt oder deswegen Befürchtungen für das Seelenheil der Verstorbenen gehegt. Derartige »Fortschritte« sind erst der Folgezeit vorbehalten geblieben. Es gehörte uns übrigens bis in diese Tage in der Güttländer Kirche eine eigene Kirchenbank, die mit unserer Hofmarke versehen war, also wohl seit altersher unserem Hof zustand und auf einem dinglichen, nicht auf einem persönlichen Recht beruhte.

Um jene Zeit, von der ich berichte, begann gegenüber dem bisherigen Zustand ein merklicher Umschwung einzutreten. Die Wogen des bald nach dem französischen Kriege sich erhebenden Kulturkampfs brandeten bis in unser Dorf. Mit der schönen konfessionellen Eintracht früherer Tage war es vorbei. Politische Kampfziele griffen in die religiöse Sphäre über, verwirrten und vergifteten den Streit der Kirchen, der Ideen. Als dann der Staat selbst gegen die katholische Kirche auftrat und alle seine Machtmittel gegen sie einsetzte, war des Unheils kein Ende. Beide Parteien sprachen aneinander vorbei, verstanden sich nicht, wollten sich nicht verstehen! Es war wie ein latenter Bürgerkrieg, der nur darum nicht in einen offenen ausartete, weil der Staat, der ihn ja selbst als die eine Partei führte, stark genug war, der gegnerischen Partei den Gebrauch äußerer Machtmittel zu unterbinden. So schlug der Brand nach innen; und wurde um so gefährlicher. Es kam auf katholischer Seite das, was man mit einem späteren Sprachgebrauch den passiven Widerstand oder die passive Resistenz zu nennen pflegt. Die staatliche Politik, ihrer eigenen Kraft allzu gewiß, die der gegnerischen Idee unterschätzend, gefiel sich darin, Märtyrer zu machen. Man drängte die Kirche auf ein Gebiet, auf dem sie unüberwindlich war. Denn was hätte einer Einrichtung, die sich auf den Opfertod Christi und der Heiligen gründete, willkommener sein können, als durch eine Art von modernem Märtyrertum neuerdings ihre göttliche Berufung darzutun?

Konnte über den Ausgang des Ringens ein Zweifel bestehen? Trotzdem schleppte es sich durch Jahre hin und legte einen Teil der besten Kräfte unseres Volkes lahm. Mitbestimmend dafür war, daß auf staatlicher Seite den Kampf derjenige Mann führte, der in kurzer Zeit durch beispiellose Erfolge zum deutschen Nationalhelden emporgewachsen war. Aber was in dem Ringen um die deutsche Einheit die Stärke Bismarcks ausgemacht und ihn zum Siege geführt hatte, seine unbeugsame Ausdauer, seine eherne Konsequenz – das wurde jetzt durch die hartnäckige Verlängerung eines unhaltbaren Unternehmens zu einem schweren politischen Fehler. An ähnlicher Überspitzung und Übersteigerung seiner persönlichen Idee war Napoleon zerbrochen, sein Werk gescheitert. Es zeugt für Bismarcks staatsmännische Genialität, daß er mit einer verblüffenden Wendung schließlich doch noch aus der Wirrnis herausfand und zu einem erträglichen Abschluß des Streites gelangte.

Der Name Bismarck ist zum erstenmal im Zusammenhang mit dem Kulturkampf in meinen Ohren erklungen oder wenigstens darin haften geblieben: bezeichnend genug für die doch streng katholische Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Nicht der Begründer des Deutschen Kaiserreichs, der deutschen Einheit: der Urheber des Kulturkampfs und aller damit verbundenen Bedrückungen der katholischen Kirche prägte sich zuerst meiner Phantasie ein. Man begreift, daß dieses Bild kein sehr sympathisches sein konnte. Ich gewann es ja aus den Gesprächen von Eltern oder geistlicher Verwandtschaft, die gelegentlich zu Besuch kam. Ich gewann es nicht zum wenigsten auch aus der Berliner Zeitung, auf die meine Eltern neuerdings abonniert waren. Es war die »Germania«.

Ich sehe das tägliche Bild jener ersten Siebzigerjahre wieder vor mir erstehen. Es ist eine stille sommerliche Mittagspause, in der die Leute beim Essen sind und die Wirtschaft ruht. Oder in einer frühen winterlichen Abendstunde brennt die Öllampe auf dem ovalen Sofatisch. Lautlose Stille herrscht in der elterlichen Wohnstube. Ich sitze an meinem Kindertischchen mit meinen Märchenbüchern, Spielsachen. Meine Mutter greift nach der Zeitung, die der Postbote vormittags gebracht hat. Mein Vater deutet durch eine schweigende Handbewegung an, sie möge vorlesen. Da ist auch schon eine Spalte, eine Seite, die ihr Auge besonders fesselt. Mit flüssiger, halblauter Stimme beginnt sie zu lesen. Oh! Ich kenne diese wohlklingende, vielleicht ein wenig monotone Stimme gut! Am Sonntag oder Feiertag, wenn einmal die Kirchfahrt nach Mühlbanz unterblieben ist, liest meine Mutter mit der gleichen melodischen, etwas eintönigen Stimme aus dem Gebetbuch vor; fromme Betrachtungen zum heiligen Meßopfer als Ersatz für das ausgefallene Hochamt. Ich wage kaum, es mir in meiner kindlichen Scheu einzugestehen: es ist manchmal schon ein bißchen langweilig oder für mein Gefühl auch ein bißchen zu weichlich oder zu fromm oder zu überschwenglich, was sie aus dem Buch mit dem Kreuz und dem Goldrand liest. Mir sind schon öfter die Augen dabei zugefallen! An Wochentagen, wenn das Gebetbuch ruht und aus der Zeitung vorgelesen wird, passiert mir das nicht! Ich höre mit gespannter Aufmerksamkeit zu, was es wieder gegeben hat in Berlin. Das liegt hinter den »blauen Bergen«! Weit! Ganz weit! Wo die Sonne untergeht, dort liegt Berlin! Und dort ist die Welt! Da trägt sich das meiste von alledem zu, was ich aus dem Munde der Mutter vorgelesen bekomme! Eigentlich darf sie gar nicht merken, wie leidenschaftlich ich bei der Sache bin. Sie liest es ja meinem Vater vor. Von mir nimmt sie an, daß ich mit meinen Spielsachen beschäftigt bin. Sie würde sich wundern, wenn sie wüßte, daß mir Begriffe wie Reichstag, Parlament, Debatte, Zentrum, ultramontan, Rom, Kirche, Papst – daß mir Namen wie Mallinkrodt, Windthorst, Reichensperger, Eugen Richter, Lasker und Bismarck, der »schwarze Mann«, längst geläufig sind. Ich habe sie mir wie die Steine meines Zusammensetzspiels zu einem buntfarbigen, noch kindlichen, aber dennoch sinnvollen Weltbild zusammengefügt. Und es ist nicht so, daß ich alles kritiklos hinnehme, was die Zeitung schreibt und meine Mutter vorliest. Ich höre doch auch, was der Gegner, der Feind redet, vor allem auch, was dieser gruselige »schwarze Mann«, was Bismarck wieder einmal im Reichstag gedonnert hat. Denn es ist ja noch die Maienblüte des jungen deutschen Parlamentarismus; noch horcht das deutsche Volk auf jeden Laut, der von der Rednerkanzel des Reichstags zu ihm dringt, die Blätter drucken die Auslassungen von Freund und Feind spaltenlang und wörtlich ab: das Publikum will es so! Man rauft sich ja auch im Reichstag noch nicht um materielle Interessen wie die Hunde um den Knochen. Es geht im wesentlichen noch um Ideen, um Geist, um Weltanschauung, grob ausgedrückt: um den ewigen Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen Licht und Finsternis, den jede Partei sich natürlich nach ihrem Bedürfnis umdeutet.

Die Menschen jener Tage, die noch kein Auto, kein Kino, kein »Tempo« kannten, dachten langsamer, gingen dafür den Dingen tiefer auf den Grund. Man war noch nicht zum reinen Augen- und Augenblickswesen geworden wie der gegenwärtige Kinobesucher – also die Mehrzahl der heutigen Lebenden –, der nur noch für Bilder, für Momentaufnahmen empfänglich ist, ohne viel nach dem innern Zusammenhang zu fragen. Ganz anders damals! Man hing noch am Wort, am Geist, am Sinn: eben am inneren Zusammenhang. (Es wäre interessant, die Entwicklung des deutschen Menschen von damals bis heute auch in der stilistischen Umwandlung unserer Sprache zu verfolgen. Man denke beispielsweise an das Ausschalten der Partikeln, an die Abwerfung der Bindewörter, die harte übergangslose Aneinanderreihung der Satzbilder im heutigen deutschen Stil; dazu im Gegensatz die weiche, manchmal zu weiche molluske Ineinander-Überleitung der damaligen Satzkonstruktionen.)

Ich bin nur scheinbar vom Thema abgekommen Ich habe den Eindruck jener Kulturkampfzeit auf meine Knabenphantasie und die frühzeitige Erweckung meines politischen Interesses sinnfällig machen wollen. Dieses Interesse hat mich durchs Leben begleitet, hat sicher auch meinem Schaffen den bestimmten weltanschaulichen Hintergrund verliehen und ist mir, besonders auch in Verknüpfung mit einer ausgesprochen geschichtlichen Betrachtungsweise, bis heute wesentlich geblieben. Um so tiefer empfinde ich den Unterschied zwischen der damaligen und der späteren Auffassungsart der öffentlichen wie der geistigen Dinge, des künstlerischen wie des politischen, kulturellen, historischen Denkens.

Ich erwähnte vorhin die kleinen sonntäglichen Andachten in unserer Wohnstube, bei denen ich mit gefalteten Händen dazusitzen hatte, aber manchmal sehr mit dem Schlaf kämpfen mußte. Ich empfand das selbst als einen schlimmen Frevel gegen den lieben Gott, der doch natürlich alles wußte und sah, aber ich konnte mir nicht helfen: es geschah immer wieder.

Im Sommer war es die Regel, daß wir uns nach Mühlbanz zur Kirche begaben. Zwischen neun und zehn vormittags wurde der Verdeckwagen angespannt und fuhr vor dem Hause vor. Meine Mutter hatte gewöhnlich im letzten Augenblick noch etwas ganz Wichtiges zu suchen, was aber um keinen Preis der Welt zu finden war: Taschentuch, Gebetbuch, Handschuhe, Schlüsselbund. Währenddessen saß ich schon längst vorne beim Kutscher und fieberte vor Ungeduld; nicht weil es mich gar so sehr drängte, zur Kirche zu kommen – ich wußte schon, warum nicht! –, vielmehr weil ich mich auf meinem Vordersitz neben dem Kutscher ein bißchen als den Anführer, den Häuptling, den Kapitän des ganzen Unternehmens und darum auch verantwortlich für pünktliche Abfahrt fühlte. Öfters hatten wir auch scheue Pferde, die das Warten ungeduldig machte. Drinnen im Hausflur, dessen Türe offen stand, hörte ich meinen Vater sehr temperamentvoll zum Aufbruch drängen. Im Hintergrunde wurde noch immer gesucht; Türen flogen auf und zu, Mädchen und Wirtin schossen umeinander. Es waren dramatische Augenblicke!

Der Weg nach Mühlbanz führte durch einen etwas abgelegenen und vernachlässigten Teil des Dorfes jenseits der Mottlau, den sogenannten »Hundewinkel«, wo kleine Leute wohnten und wirklich des Hundegekläffs kein Ende war, und wandte sich dann dem Hauptwall zu. Dies war ein nicht gar zu hoher Damm, der als Schutz gegen die das Moorland durchziehenden und häufig austretenden kleineren Wasserläufe unserer Niederung diente. Man konnte auf ihm entlang fahren, aber Vorsicht war geboten. Er war nicht sehr breit; Begegnungen mit entgegenkommenden Wagen waren nicht gerade angenehm. Auf der einen Seite lief dicht neben ihm ein tiefer, sumpfiger Graben entlang. Wer nicht geschickt fuhr, nicht richtig auszuweichen wußte, oder wessen Pferde scheuten, dem winkte die sehr begründete Aussicht, mit Pferden und Wagen in diesen Graben zu fallen. Ob und wie man wieder herauskam, war keineswegs sicher. Man tat also gut, stets auf dem Posten zu sein, um bei einem etwaigen Absturz rechtzeitig abzuspringen.

Es ist auch einmal meinen Eltern – gerade an einem Himmelfahrtstag – ein derartiger Unfall zugestoßen. Die jungen wilden Pferde scheuten vor irgend etwas und rissen den Verdeckwagen vom Hauptwall hinunter in den noch dazu sehr wasserreichen Graben. Meine Eltern hatten das Unheil wohl kommen sehen und im letzten Augenblick das eingeknöpfte Spritzleder aufgesprengt. Meine Mutter, die zum Glück auf der dem Graben abgewandten Seite saß, sprang auf die Böschung des Walls hinaus. Ebenso der Kutscher, als er die durchgehenden Pferde nicht mehr halten konnte. Mein Vater rettete sich auf seiner Seite durch einen mächtigen Sprung über den Graben auf dessen anderes Ufer. Pferde und Wagen landeten gleich darauf im Graben selbst, ohne daß den Pferden etwas geschah. Das Wasser reichte ihnen zwar bis über die Brust, brachte sie aber auch wieder zur Vernunft, so daß sie sich nachher von den beiden Männern ruhig herausziehen ließen. Es war also im ganzen noch gnädig abgegangen. Aber der Verdeckwagen lag umgestülpt im Graben. Wären meine Eltern nicht hinausgesprungen, hätte auch nur das Spritzleder sich nicht so schnell öffnen lassen, so wären sie in der Tiefe des Grabens unter das schwere Gestänge des Wagenverdecks zu liegen gekommen und nach menschlicher Voraussicht ertrunken. Man sieht, auch in jener glücklichen Zeit, die noch von keinen Autounfällen wußte, konnte eine einfache harmlose Wagenfahrt zu einer »Himmelfahrt« werden, wofür ja auch der Name des Feiertags die passende Vorbedeutung abgegeben hätte.

Das eben geschilderte Ereignis fiel noch in meine Güttländer Zeit, in die Tage meiner späteren Kindheit, von denen gerade die Rede ist. Es war nur ein Zufall, daß ich nicht mit dabei war und vorne auf dem Kutschbock saß wie gewöhnlich. Vielleicht verdanke ich ihm mein Leben. Damals sah ich das freilich anders an und bedauerte höchlichst, daß mir das Abenteuer dummerweise entgangen war. Meine Mutter war natürlich entgegengesetzter Ansicht. Ich begriff das nicht, wie ich auch auf unseren jeweiligen Kirchfahrten die fortwährende Aufregung nicht begreifen konnte, mit der sie meine Mutter erfüllten. Sie verfolgte mit ängstlich gespannten Blicken die vor uns liegende Strecke, paßte auf jede Regung der Pferde auf und stieß Angstrufe aus, wenn sich von weitem ein Gefährt näherte. Mein Vater suchte sie zu beruhigen und geriet darüber seinerseits in Aufregung. Ich gab womöglich vom Bock aus auch noch meinen Senf dazu, indem ich alles als höchst harmlos hinzustellen suchte. So war das Drama wieder im besten Gang, wie vorher bei der Abfahrt.

In der Kirche zu Mühlbanz war nur einmal in Monat deutsche Predigt; an den meisten Sonntagen wurde polnisch gepredigt. Da ich nur über einen sehr bescheidenen polnischen Wortschatz verfügte (als letztes Andenken an Frau Annchen), so blitzte mir nur hier und da einmal ein kurzes Licht auf, dem auf weite Strecken tiefe Finsternis und Langeweile folgten. Ich saß auf der Kirchenbank neben meinen Eltern und litt Qualen, weil mir trotz allen gegenteiligen Bemühens fortwährend die Augen zufielen. Wenn ich gerade mal wach war, sah ich meinen Vater einen ähnlichen Kampf kämpfen. Er sprach kein Wort Polnisch. Meine Mutter dagegen hörte andächtig zu. Sie verstand alles und sprach auch ziemlich geläufig Polnisch. Sie konnte sich mit den polnischen oder kaschubischen Schnittern, die im Sommer zu uns kamen, ganz gut in ihrem wasserpolnischen Dialekt, wie man ihn nannte, verständigen und diente meinem Vater oft als Vermittlerin mit ihnen.

Einen ungleich tieferen, ja zuweilen überwältigenden Eindruck machte das Hochamt auf meine kindliche Phantasie. Die brausenden Orgelklänge, die duftenden Wogen fremdartigen Räucherwerks, die leuchtenden Farben der Priestergewänder, die klingelnden Becken und Schellen, die eintönigen und doch merkwürdig einprägsamen Kadenzen der Litaneien, die wohllautenden lateinischen Responsorien und Rezitative des zelebrierenden Priesters am Hochaltar, der einfallende Chorgesang der Gemeinde, das Auf und Ab und Hin und Wider von Gesten, Zeremonien, Gebärden, von Unterwerfung, Verzückung, Triumph, – dieses ganze geheimnisvolle und erhabene Schauspiel der göttlichen Transsubstantiation: es erschütterte mein Herz und berauschte meine Sinne, so wenig ich auch im Innersten noch davon begriff.

Auch die grelle und laute Buntheit, die mich in der dörflichen Barockkirche umgab, wirkte stark auf meine erwachende Einbildungskraft. Da war der Hochaltar mit seinen gewundenen Säulen und Säulchen, mit den buntfarbigen Kapitälen, den im Sonnenlicht aufglühenden Heiligentafeln, den bemalten Apostelstatuen, mit dem goldschimmernden Altarschrein, den prunkenden Meßdecken, der hoch oben thronenden goldenen Strahlensonne, dem Sinnbild des Heiligen Geistes: eine ins Gesicht springende, etwas wilde, exotische, barbarische Pracht. Da waren die gold- und edelsteinverzierten Bilder der heiligen Jungfrau, des heiligen Joseph, der Mutter Anna und anderer Heiligen, die an hohen Festen in feierlicher Prozession unter Weihrauchdüften, Orgelgebrause, Jubelgesang auf den Schultern der Meßdiener vom Hochaltar durch das Kirchenschiff schwankten, während die Gemeinde betend, psalmierend auf den Knien lag. Da waren schließlich, wie in selbstverständlicher Dazugehörigkeit – gleichsam als unentbehrliche Komplementärfarben mit dem übrigen Bild zusammenkomponiert – die bunten, schreienden Röcke, Mieder, Tücher der polnischen (richtiger wohl kaschubischen) Mädchen und Frauen: eine wilde Farbenorgie von Rot, \ Grün, Blau, Violett, Lila, Orange, alles ganz ungebrochen, stark leuchtend, ohne vermittelnde Übergänge.

Wie sehr unterschied sich doch diese grelle, sinnenhafte, erdnahe, malerische, nicht immer aufs beste gewaschene, auch nicht immer Wohlgerüche spendende Triebwelt von unserem nur eine Wegstunde entfernten, ernsten, strengen, zwar etwas nüchternen, etwas verstandesmäßigen, dafür aber gepflegten und herrenmäßigen Güttland! Deutsch und Polnisch, Evangelisch und Katholisch, Intellekt und Instinkt, Bewußtheit und Triebhaftigkeit, Denken und Glauben, Geistmensch und Augenmensch, Wortsinn und Farbensinn, Puritanismus und Sinnlichkeit – im engsten Lebensbezirk meiner Knabenwelt waren diese Kontraste miteinander vereinigt. Dies ist von entscheidender Bedeutung für meine ganze spätere Laufbahn gewesen; denn es hat mich von Kindesbeinen an mit der Vielfältigkeit, Zwiespältigkeit, Unberechenbarkeit, Irrationalität alles Seins vertraut gemacht und hat mich Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Sachlichkeit im Urteil über die Menschendinge gelehrt. Es hat aber daneben auch, wie ich nicht bezweifle, meinem dramatischen Nerv, den ich wohl in die Welt mitgebracht habe, einen starken, frühzeitigen Antrieb gegeben und die Elemente meines nachmaligen Schaffens schon zu jener Zeit vorbereiten helfen.

Frühzeitig genug auch hatte ich am eigenen Leibe, an der eigenen Person die üblen Folgen von Vorurteil, Parteienge, Fanatismus auszukosten. Die Zeit war jetzt da, wo das Gift des Religionszwistes sich bis in die engsten Freundschafts- und Nachbarbeziehungen durchfraß und allenthalben im konfessionell gemischten Deutschland eine Atmosphäre von Haß und Erbitterung schuf. So auch in unserem bis dahin so duldsamen und lässigen Güttland. Alte Familienverbindungen wurden gelöst, weil plötzlich auf jeden Andersgläubigen eine Art von Makel fiel, als sei das ein schlechter, böser, übelwollender Mensch; man habe es nur noch nicht gewußt, jetzt aber sei mit einemmal die Maske gefallen und der Schurke, mit dem man in dreißigjähriger Freundschaft gelebt, sei entlarvt. Es ist, als ob in solchen Zeiten (haben wir sie nicht mit Schrecken wieder in unserer späteren politischen Selbstzerfleischung erlebt?), – es ist, als ob eine Art von geistiger Tollwut zuzeiten die Menschen überfällt und sie zu Bestien voll blinder Raserei macht. Sind diese geistigen, diese seelischen Epidemien von kosmischer Herkunft? Oder woher kommen sie? Sicher ist, daß wir noch keine Religion, keine Philosophie, keine Weltanschauung kennen, in deren Gehege ein Heilkraut dagegen gewachsen wäre. »Wohin ich blick, in Stadt- und Weltchronik – Wahn, Wahn, überall Wahn!«

Das erste Opfer, das dieser damalige Wahn (jede Zeit hat ja einen anderen!), diese damalige Besessenheit von mir forderte, war die Freundschaft mit Egon. Wir hatten uns am besten in der ersten Periode unserer Beziehung verstanden, als wir noch zu zweien in seinem oder meinem elterlichen Garten spielten, Edgar noch nicht zu uns gestoßen war. Egon war ein hübscher, schlanker, nur etwas sommersprossiger Junge mit rötlich-bräunlichen Lockenhaaren, von weicher, gefälliger Gemütsart, mit dem ich schon darum ausgezeichnet auskam, weil er – wiewohl der Ältere – bei unseren meist von mir erfundenen und beherrschten Spielen gewöhnlich der nachgebende Teil war. Ich hing mit aller Leidenschaft einer ersten Knabenfreundschaft an ihm, wie vielleicht auch er an mir, und vermochte mir nicht vorzustellen, daß es jemals anders werden könne.

Als Edgar dann dazukam, der jünger war als ich, und zwischen ihm und dem ihm charakterverwandten Egon das Gesetz der stärkeren Anziehungskraft zu walten begann, während ich mehr und mehr beiseite geschoben wurde, da erfuhr ich zum erstenmal – ich deutete es schon an – alle Bitternis und Eifersuchtsqual einer enttäuschten Knabenfreundschaft. Eine Anlage zur Eifersucht ist mir wahrscheinlich angeboren. Ich muß es offen bekennen. Es haben ja auch weniger andere als ich selbst darunter zu leiden gehabt. Schon die Tragödie mit meinem Bruder hatte es bewiesen. Jetzt überfiel mich dieser Schmerz von einer anderen Seite her, um mich doch an der gleichen empfindlichen Stelle zu treffen. Daß es sich dabei um ein gutes Teil Einbildung und Selbstquälerei handelte, wie gegenüber Felix ja auch, konnte die Bitterkeit nicht lindern, verstärkte sie womöglich noch. Eingebildetes Leid ist meist noch schwerer zu ertragen als begründetes und greifbares. Immer wieder muß gerade der Phantasiemensch an sich erfahren, daß eben das, was ihn als höchste Gabe und Gnade der Gottheit durchs Leben begleitet – die Phantasie –, seine verderblichste, glückmordende Feindin werden kann.

Es liegt im Wesen der Eifersucht, daß sie uns den anderen, um dessen Besitz wir bangen und den wir zu verlieren fürchten, erst recht entfremdet und somit gerade das herbeiführt, was sie abgewendet sehen möchte. Auch in meinem Falle mit Egon ging es nicht anders. Je mehr ich ihn durch Mißtrauen kränkte, durch Schroffheit abstieß, für deren Auslegung als pure Freundschaftsbeweise ihm naturgemäß jedes Verständnis fehlte, desto enger schloß er sich an den dritten an, desto weiter wurde der Abstand zwischen uns. Als ich dann aber meinerseits mit diesem Dritten, mit Edgar, in eine nächste Nähe zu gelangen suchte, um mich an Egon zu rächen und ihm seine Entbehrlichkeit für mich darzutun, mißlang dies erst recht und mußte wohl mißlingen; denn Edgar fühlte mit sicherem Instinkt, weshalb es geschah und daß es eigentlich nicht ihm, sondern dem anderen galt. Sieben- oder achtjährige Menschenkinder handeln nach den gleichen Lebens- und Seelengesetzen wie Dreißigjährige und Vierzigjährige.

In die letzte Zeit meiner Freundschaft mit Egon fällt eine kleine, seltsame Begebenheit, die mir und, wie ich weiß, auch ihm, zeit seines Lebens, unvergeßlich geblieben ist. (Er ist 1915 im Weltkrieg gefallen, aber ich habe noch bei unserer letzten Begegnung, einige Jahre zuvor, mit ihm darüber gesprochen.) Es war ein Spätnachmittag im Herbst, wohl gegen Ende September. Wir beide, Egon und ich, hatten im Wannowschen Garten Verstecken und Fangen gespielt, waren viel hintereinander hergelaufen, hatten uns gesucht, gefunden, von neuem gesucht. Niemand war sonst dabei, auch kein Mensch im Garten, da wir ihn bei unserem Umhertollen dann unbedingt hätten entdecken müssen. Der Garten, mit vielen Obstbäumen, Blumenbeeten, Stachelbeer-, Johannisbeer-, Himbeerbüschen und Fliederhecken, war einer der größten im Dorf. Der Staketenzaun, der ihn einfriedete, stieß auf der einen Seite an das Wannowsche Haus und reichte bis zum Ende der Dorfstraße, wo es auf die Felder hinausging und mehrere Wege an einem Wegweiser sich kreuzten.

Im Eifer des Spiels hatten wir kaum bemerkt, daß der schon herbstliche Tag sich neigte und die frühe Dämmerung herniedersank. Ich hatte Egon mit einemmal aus den Augen verloren und suchte alle Büsche und Verstecke nach ihm ab. Plötzlich hörte ich ihn aus dem entferntesten Teil des Gartens rufen. Seine Stimme klang, als ob er Angst vor etwas hätte, wiewohl er durchaus nicht um Hilfe schrie. Mir rieselte es über den Rücken. Ich lief, so schnell ich konnte, über Blumenbeete und Rasenflächen hinweg in der Richtung, woher ich seine Angstrufe hörte. Ich entdeckte auch bald, indem ich immer weiterlief, von wo sie kamen. Im hintersten Winkel des Gartens, dort wo der Gartenzaun schon an die Felder stieß und außerhalb zwischen den Staketen der Wegweiser am Kreuzweg sichtbar wurde, befand sich eine ziemlich verwilderte Fliederlaube mit einem rohen Holztisch und einer nicht mehr ganz taktfesten Gartenbank. Wir hatten hier manchmal und auch an jenem Nachmittag ein Weilchen gespielt, weil wir uns da nicht mit Unrecht am sichersten vor der Beobachtung durch Erwachsene fühlten. Ich sah Egon wie festgezaubert ganz in der Nähe der Laube stehen und hineinstarren, aber ohne daß er einen Laut von sich gab. Als er mich, der fast atemlos vom Laufen war, in seiner Nähe wußte, winkte er mir mit der Hand über die Schulter nach rückwärts zu, ich möge neben ihn treten. Ich gehorchte und war mit einem Satz neben ihm. Es war inzwischen schon recht schummerig geworden, aber man unterschied doch deutlich die schwarzen Umrisse der Büsche, Bäume, Hecken gegen die bleigraue Dämmerung. Egon packte meinen Arm. »Siehst du das?« keuchte er halblaut in mich hinein. »Siehst du das?« Sein Atem strich heiß, in fieberhaften Stößen, über meine Wange. Ich folgte mit den Augen der Richtung der seinigen und erblickte, während sich mir die Haare sträubten und es eisig am Rückgrat herunterrann, eine weiße Gestalt in der dunklen Fliederlaube. Sie stand ganz unbeweglich und schien uns zwei zitternde Jungen anzusehen. Ich sage: es war eine weiße Gestalt, womit schon zum Ausdruck gebracht ist, daß sich nicht einmal unterscheiden ließ, ob es ein Mann oder eine Frau war. Was wir da mit Entsetzen im Eingang der Laube, aber mehr innen als außen, stehen sahen, schien viel mehr ein ungeschlechtliches, ungreifbares, unirdisches Wesen als ein Geschöpf von Fleisch und Blut zu ein. Es kam auch kein menschlicher Ton aus der Fliederlaube; lautloses Schweigen war um uns. Die Gestalt stand noch immer wie zu Stein erstarrt. Mir war, als stünde sie mit halb erhobenen Armen da, in denen aber keine Bewegung, nicht das leiseste Zucken war. So ein paar Augenblicke, die ewig zu währen schienen. Aber dann packte uns beide plötzlich das furchtbare Grauen der aus dem irdischen Gleichgewicht gebrachten Kreatur und rief uns ins Bewußtsein zurück. Noch ein letzter Blick auf die weißschimmernde Erscheinung, an der sich nichts rührte, und wir waren wie die gehetzten Hasen, einer dicht neben dem andern, auf und davon, um uns erst in der Nähe des Wohnhauses, bei den Astern- und Georginenbeeten, atemlos auf den Rasen fallen zu lassen.

Wir haben nie in Erfahrung gebracht, was es mit diesem merkwürdigen Vorfall für eine Bewandtnis gehabt haben mag. Daß es sich um keine Sinnestäuschung gehandelt haben kann, beweist die Tatsache, daß wir die Erscheinung ja beide gesehen haben, zuerst Egon, dann ich mit ihm. Auch an einen schlechten Scherz, den sich jemand aus der Umgebung mit uns hätte machen wollen, war nach Lage der Umstände kaum zu denken. Es befand sich, wie ich schon erwähnte, während unseres langen Versteckspiels kein Mensch im Garten, wir hätten ihn unbedingt sehen müssen. Auch daß von außen her, an dieser abgelegenen Stelle, jemand über den Zaun geklettert wäre, um uns zu erschrecken, ist mehr als unwahrscheinlich. Er hätte dann schon in voller Verkleidung über den spitzigen Staketenzaun hinüber müssen, was ich für ausgeschlossen halte. Auch war es um die Zeit der herbstlichen Saatbestellung und Kartoffellese, wo alles sich draußen auf den Feldern befand und niemand abkömmlich war.

Es fehlt also an jeder zureichenden natürlichen Erklärung für die Begebenheit. Sie bleibt rätselhaft und im Zwielicht, wie jene herbstliche Dämmerstunde selbst, in der sie sich zutrug. Egon und ich haben jedenfalls ebensowenig an der Realität des Erlebnisses wie an der irdischen Unwirklichkeit der Erscheinung gezweifelt. Wir hatten uns beide die Hand darauf gegeben, daß kein Mensch, vor allem niemand von unseren Angehörigen, etwas davon erfahren sollte. Es war uns zumute, als habe die rätselhafte Erscheinung uns gleichsam den Mund versiegelt. Wir fürchteten wohl auch, man könne bei unseren Spielen künftig ein wachsameres Auge auf uns haben. Der Vorfall ist auch wirklich nicht ans Licht gekommen. Wir hielten unser Versprechen.

Etwa ein halbes Jahr danach starb Egons Vater, noch als ein Vierziger. Das Leichenbegängnis war besonders glanzvoll, wie es dem Besitzer des größten Güttländer Hofes zukam. Ich stand auf dem Beischlag unseres Hauses und sah den Leichenzug vom Wannowschen Hause – einer der beiden früher von mir erwähnten Festungsburgen – sich in Bewegung setzen und die Dorfstraße entlang zum Gottesacker ziehen, während die feierlichen Töne der Totenglocke vom Kirchturm her sich über das Dorf und die Felder hinschwangen. Ich machte mir, wie schon manchesmal vorher – besonders abends vor dem Einschlafen – Gedanken über den Tod und seine völlige Unbegreiflichkeit. Vielleicht floß mir auch in das Bild des heiteren Frühlingsnachmittags mit dem von sechs Männern getragenen gelben Eichensarg jenes andere Bild aus der Herbstdämmerung des Nachbargartens hinein und ließ meine schauende Seele Zusammenhänge ahnen, die dem Verstand stets unerreichbar bleiben werden.

Egons Mutter heiratete in zweiter Ehe einen Sohn des Predigers im Dorf. (Dies war die volkstümliche, allgemein übliche Bezeichnung der evangelischen Pastoren.) So kam auch in diese Familie ein geistliches Element, das den konfessionellen Gegensatz im Dorf verschärfen half.

Aber schon vorher, schon vor dem Tode von Egons Vater, war der endgültige Trennungsstrich zwischen unserem Hause und fast allen unseren Nachbarn, auch der Wannowschen Familie, gezogen worden. Katholisch und Evangelisch wollte nicht mehr am gleichen Tisch sitzen. Es war, als verseuche der Atem des Andersgläubigen die Luft. Man befleckte sich die Hand, die man ihm gab! Meine Eltern, als in der Minderheit, hielten sich für die Verfolgten, die Ausgestoßenen, die Märtyrer ihres Glaubens, lebten sich in ein konfessionelles Pariatum hinein, dem sie nun ihren Bekennertrotz, ihren Glaubensstolz, alle ihre Unentwegtheit entgegensetzten. Das erste war, daß uns Kindern der Besuch beieinander, bald jeder Verkehr überhaupt verboten wurde. Egon, Edgar und ich konnten uns nur noch im geheimen sehen; bald auch das nicht mehr. Der äußeren Trennung war schon die innere Entfremdung des Freundschaftsdreiecks vorausgegangen. Ein tiefer Schmerz ergriff von mir Besitz: ein frühzeitiges Leid am Leben, das mich lange nicht verließ.

Auch unser gemeinsamer Hauslehrer Engelbrecht mußte unter diesen Umständen das Feld räumen. Er war evangelischer Konfession, bis jetzt war das in den Augen der Meinigen kein Hindernis gewesen. Von nun an ließ der sich vertiefende Glaubensgegensatz nicht mehr zu, daß ich von einem Lutheraner erzogen wurde. Aber auch die beiden anderen Familien legten anscheinend keinen Wert darauf, den sonderbaren Mann zu halten, aus dem niemand recht klug wurde. Schmal, bleich, hohlwangig, finster war er das ganze Jahr hindurch, während dessen er uns unterrichtete, umhergeschlichen, hatte sich an keinen Menschen angeschlossen, niemandem von seinem Wesen mitgeteilt und sich einer geheimnisvollen Abseitigkeit ergeben. Man raunte sich im Dorf ganz merkwürdige Dinge über ihn zu. Er sollte imstande sein, sich nach Belieben unsichtbar zu machen. Man wollte beobachtet haben, wie er vor den Augen hinter ihm Hergehender, etwa auf einem Feldweg draußen vor dem Dorf, plötzlich verschwunden sei, als ob ihn der Erdboden verschluckt hätte. Manche schworen darauf, daß er mit dem Gottseibeiuns im Bunde sein müsse. Ganz geheuer war er keinem; auch nicht unseren Eltern oder gar uns Kindern. Als die Frist um war, packte er still seine Siebensachen und verschwand wie ein Nebelstreif aus unserem Gesichtskreis. Man hat nie wieder von ihm zu hören bekommen. Mir aber ist sein gespenstisches Tun und Treiben unvergeßlich geblieben. Spuren davon sind noch in meinem späteren Schaffen zu finden.

Der neue Mann, der auf der Bildfläche erschien, um meinen Unterricht in die Hand zu nehmen, war als geborener Ermländer katholischen Glaubens und hieß Dargel; auch er ein nicht ans Ziel gelangter Lehramtskandidat. Er war in allem das Gegenteil seines Vorgängers: eine breitschultrige, behäbige, bierehrliche Erscheinung, der wahrlich nichts Gespenstisches anhaftete. Seine Umgänglichkeit und Trinkfreudigkeit machte ihn bald zum geschätzten Mitglied der Stammtischrunden im Krug wie in der Hakenbude. Weniger Freude bereitete sein stark entwickelter Geselligkeitstrieb meiner Mutter. Es gab öfters Verdruß über das späte Heimkommen des neuen Hausgenossen. Trotzdem ist Herr Dargel drei Jahre mein Hauslehrer gewesen; erst als ich aufs Gymnasium kam, fand seine Tätigkeit ihren Abschluß. Er hat später auch noch eine Zeitlang meine Schwester unterrichtet und auf verschiedenen Höfen in Nachbardörfern als Hauslehrer gewaltet. Kein Zweifel, daß er viel pädagogisches Talent besessen hat, dem zuliebe man über so manche Schattenseiten hinwegsah. Er entwickelte sich mit den Jahren immer mehr zum Typus des »verbummelten Genies«. Vielleicht lag es nicht wenig auch an unserer Güttländer Luft, die den Hang zum Sonderlingstum, zur Bizarrerie, zum Spleen zu begünstigen scheint. Kandidat Dargel wurde schließlich ein weitbekanntes Original, das mit Ibsens Kandidat Molvik oder Ulrik Brendel wetteifern konnte, und endete durchaus folgerecht, indem man ihn eines Wintermorgens erfroren an der Landstraße auffand. Er hat die Gestalt von Rosmers Hauslehrer in Fleisch und Blut vor meinen Augen gelebt und ihr Schicksal bis zum tragischen Ende erfüllt, noch ehe ich etwas von seinem dichterischen Ebenbild und Gleichnis wußte, ja noch ehe es vorhanden war. Auch er ist mir, wie aus anderen Gründen sein Vorgänger, unvergeßlich geblieben, sowohl als menschliche Erscheinung wie nicht zum wenigsten auch als mein Lehrer: als derjenige Mann, dem ich die eigentlichen und frühesten Grundlagen meines Wissens, ja meiner Bildung zu verdanken gehabt habe.

Zu der Zeit, von der ich hier erzähle, mochte Kandidat Dargel etwa dreißig Jahre alt sein. Trotz so mancher Anzeichen offenkundigen Leichtsinns, der ihm schließlich zum Verhängnis werden sollte, erfüllte er doch seine erzieherischen Pflichten bei mir mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Wahrscheinlich sogar hat das Gefühl seiner pädagogischen Verantwortlichkeit ihm selbst einen gewissen moralischen Halt gegeben und das Abgleiten auf der schiefen Ebene Jahre hindurch aufgehalten, bis endlich auch diese Bremsvorrichtung versagte. Deutsch, Lateinisch, Geographie, Geschichte, auch etwas Französisch, waren die Fächer, in denen er mich für das Gymnasium vorbereitete. Ich sollte bei der Aufnahmeprüfung womöglich die unterste Klasse, die Sexta, überspringen und gleich die Reife für die Quinta mitbringen. Mir fiel das alles, was da in meinen Kopf hinein sollte, nicht schwer. Was blieb mir – vereinsamt wie ich war – auch viel anders übrig, als zu lernen und über den Büchern zu sitzen!

Mit Egon und Edgar kam ich kaum mehr zusammen, höchstens daß wir uns einmal auf der Dorfstraße oder auf der Fahrt nach Danzig begegneten und uns zuwinkten. Manchmal sah ich die beiden an unserem Garten vorüberziehen. Ich stand hinter einem Fliederbusch und sah durch den Staketenzaun, wie sie herblickten, ohne mich jedoch zu entdecken, und sich etwas zutuschelten. Das ging natürlich auf mich! Wie konnte ein Zweifel sein! Und es war gewiß etwas Feindseliges oder Abfälliges oder Spöttisches, was sie tuschelten! So verbitterte und verhärtete sich mein Knabenherz immer mehr.

Der einzige Gefährte und Vertraute, den ich in diesen Jahren hatte, war unser Schweinejunge. Er war mehrere Jahre älter als ich. Körperlich konnte ich blasses, blutarmes Bürschchen es mit dem stämmigen Jungen natürlich nicht aufnehmen. Dafür beherrschte ich ihn geistig und führte das Kommando bei unseren Spielen. Es waren meistens solche von soldatischer Art. Zwei Heere bekämpften sich. Die Anführer waren er und ich. Sehr begreiflich, daß nicht körperliche Kraft den Ausschlag geben durfte, sondern strategische Manöver. Der Geist siegt über die rohe Gewalt! Wie hätte ich Knirps auch sonst gegen den Goliath eine Schlacht gewinnen können! Der große und übrigens ganz gewitzte Junge gehorchte willig, wie ich ihn kommandierte. Manchmal freilich geschah es, daß er bockig war und seinen eigenen Kopf aufsetzte. Dann zankten wir uns und waren einander böse. Aber bald war alles wieder in Ordnung. Ich glaube, meine Mutter sah diesen Herzensbund mit unserem Schweinejungen nicht allzu gerne. Sie fürchtete wahrscheinlich für meine Manieren, für meine Wohlerzogenheit. Aber da ich doch irgendeinen Menschen haben mußte, so beschied sie sich und es blieb wie es war. Wenn in meinen Arbeiten Dorfluft und Erdgeruch zu spüren sind, so wird unser damaliger Schweinejunge, mein einstiger Herzbruder, nicht ganz unbeteiligt daran sein.

Ich sagte eben, daß wir in unseren Spielen Kriege und Schlachten bevorzugten. Dies lag zum guten Teil in der Zeitstimmung, die ja noch ganz in der eben erst abgeschlossenen Periode der deutschen Einigungskriege wurzelte. Es hatte aber auch noch seinen besonderen, nicht ganz alltäglichen Grund. Ich möchte ihn »Die Schlossersche Weltgeschichte« nennen.

Dieses sechzehnbändige Werk war eben damals in Lieferungen erschienen und dadurch breiteren Schichten des deutschen Publikums zugänglich geworden. Auch meine Mutter hatte sich als Abnehmerin eingezeichnet. Die Lieferungen erschienen in schneller Folge, so daß das wertvolle Werk – Gipfel einer damals allerdings bereits überwundenen Geschichtsschreibung – binnen zwei Jahren fertig vorlag. Die Hefte waren der Reihe nach auch in meine Hände gekommen und von mir sofort verschlungen worden; sicher ohne daß die Meinigen etwas davon wußten oder darauf achteten.

Vielleicht mag es heutige Leser wundernehmen, daß ein achtjähriger oder neunjähriger Knabe sich über die ziemlich schwierige Schlossersche Weltgeschichte hermachte, noch mehr, daß er nicht nach der ersten Kostprobe wieder davon abließ. Man darf aber nicht vergessen, daß ich in meiner Einsamkeit und Abseitigkeit kaum etwas anderes hatte. Sport, Turnen, Gymnastik, Technik, alles das, was die heutige Knabenwelt anzieht, beschäftigt und ablenkt, gab es entweder noch nicht oder es war wenigstens für mich noch nicht vorhanden. Ich kannte nur meine Spielsachen und meine Bücher; höchstens daß ich es dann und wann mit Reiten versuchte, ohne es jedoch darin weiterzubringen. (Ich habe es erst als Student richtig betrieben.)

Sicher ist auch, daß ich schon als Kind eine besondere Empfänglichkeit für alles Geschichtliche besaß. Eigentlich war es nur ein Schritt von meinen Bilder- und Märchenbüchern zu diesen Heften mit Weltgeschichte. Ich entdeckte im Grunde gar keinen Unterschied. In beiden geschah soviel Wunderbares und Außerordentliches, beide waren so voll Spannung und Aufregung, daß mir beim Lesen das Herz klopfte und der Atem stockte: nur daß eben hier doch alles sich in Wirklichkeit so begeben hatte, wogegen dort alles nur ein Märchen blieb. Und mein Wissensdurst und Erkenntnisdrang wandten sich jetzt sichtbarlich von der bislang allein mich beherrschenden Traum- und Phantasiewelt ab und den Bezirken der lebendigen Wirklichkeit zu.

In den sechzehn Bänden der Schlosserschen Weltgeschichte war Leben, Tatsächlichkeit, Wirklichkeit in überwältigender Fülle. China, Indien, Ägypten, Babylon, Palästina; Meder, Perser, Griechen, Römer, Araber, Germanen; Alexander und Cäsar, Attila und Theoderich, den ich schon aus meinen Sagenbüchern als Dietrich von Bern kannte, Mohammed und Timur, Karl der Große und Barbarossa und jener andere Karl, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, Kolumbus und Vasko de Gama, Gustav Adolf und Wallenstein, Friedrich und Napoleon und Prinz Eugen der edle Ritter, eine unübersehbare Reihe von Gestalten trat vor mich hin und löste nach unerbittlichem Gesetz einander ab. Auf dieser ungeheuren Weltbühne gab es keine Dauer und keinen Bestand. Die gewaltigsten Reiche erhoben sich wie aus dem Nichts und zerfielen in Staub. Nur ein ewiger Wechsel regierte.

Sehr früh – vielleicht für die Bewahrung meiner Kindlichkeit allzu früh – ist diese Erkenntnis in mein Knabenbewußtsein eingezogen und hat mich durchs Leben begleitet. Sie hat mich auch gegenüber allen den zahllosen Tageserscheinungen in Kunst, Kultur, öffentlichem Leben, die mit dem Anspruch auf ewige Geltung auftreten und manchmal genug Anhänger finden, von Jugend an mit gesundem Skeptizismus gewappnet. Ich gebe zu, daß dieses Gesetz von der Relativität alles Geschehens und Bestehens für denjenigen, dem es aufgegangen, dem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, die Gefahr eines gewissen Quietismus, eines unfruchtbaren Geschehenlassens und Tolerierens in sich birgt und ihn jedenfalls untauglich zum Fanatiker macht, auf welchem Gebiet auch immer. Das letztere muß ich auch von mir aussagen, und ich bin nicht einmal bedrückt darüber. Was aber meine Stellung zum Weltgeschehen im ganzen wie im einzelnen betrifft, so glaube ich, schon durch mein angeborenes Temperament vor dem lauwarmen Geplätscher im Einerseits-Andererseits bewahrt zu sein – allem Relativitätsbewußtsein zum Trotz.

In jener Zeit, von der ich erzähle, waren mir selbstverständlich alle solche Dinge wie Skeptizismus, Relativität und ähnliche Begriffe noch böhmische Dörfer. Ich werde sie auch, soweit sie in der Schlosserschen Darstellung etwa vorkamen, glatt übersprungen haben. Und doch bezweifle ich nicht, daß der ihnen zugrunde liegende Gefühlsinhalt schon damals in mir gekeimt und mich für mein ganzes Leben befruchtet hat; wie ja auch als höchst positiver Wert, ein – pantheistisch zu nennendes – Gefühl von dem unendlichen Reichtum der Welt und des Lebens, ein Bis-zum-Rande-Erfülltsein von ihrer unermeßlichen Gestaltenfülle aus eben dieser Quelle bei mir entstammt.

Ich habe die Schlossersche Weltgeschichte bis zu meinem zehnten Jahr, dem Eintritt ins Gymnasium, zweimal von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Das erstemal in Heften, dann nochmals, als die Einbanddecken, wie damals üblich, geliefert und die fertigen sechzehn Bände vom Buchbinder zurückgekommen waren. Wie hätten also die wichtigsten geschichtlichen Ereignisse und Jahreszahlen meinem noch unbelasteten Gedächtnis nicht unverwischbar sich einprägen sollen! Sie haben in der Tat bis heute vorgehalten und so manche späteren Eintragungen überdauert. Eine der Komik nicht entbehrende Nebenerscheinung davon war, daß ich nachher im Gymnasium sozusagen der Schrecken meiner Geschichtslehrer wurde, indem ich in vielem Tatsächlichen, vor allem in den abseitigen Bezirken, etwa der Araber oder der Sassaniden, aber auch in den inneren geschichtlichen Zusammenhängen, oft besser Bescheid wußte als sie selbst. Ich bin in den höheren Klassen auch kaummehr in Geschichte drangekommen.

Mit meinem Herzbruder, dem Schweinejungen, betrieb ich jetzt also so etwas wie weltgeschichtlichen Anschauungsunterricht. Wir machten vom trojanischen Krieg bis zum noch nicht lange verflossenen Napoleon die größten Kriegshelden und Welteroberer der Reihe nach durch, und da ja zum Kriegführen immer zwei gehören, also jedem Achilles ein Hektor, jedem Hannibal ein Scipio, jedem Friedrich ein Daun oder Laudon gegenüberzustehen pflegt, so war für verteilte Rollen in unseren Kriegsspielen und Schlachten gesorgt. Ich weiß nicht, ob mein Freund bei den wechselnden Rollen, die er auf mein Geheiß zu übernehmen hatte und die ich ihm kurz beschrieb, sich sonst noch viel gedacht hat. Er war aber ein anstelliger, gelehriger Junge und spielte seinen jeweiligen Part, soweit er durch mich davon wußte, mit ganz guter »Einfühlung« – wie man es heute feuilletonistisch ausdrücken würde. Er hatte bald Sieger, noch öfter Besiegter zu sein, so daß unter Umständen, wenn ich Hannibal, er Scipio war, der zweite punische Krieg umgekehrt wie bei Schlosser endigte und die ganze Weltgeschichte ein anderes und zweifellos richtigeres Gesicht gewann. Natürlich sprach bei dem allen auch noch die Tatsache mit, daß mein dreizehnjähriger Herzbruder bereits im Beginn seines Berufslebens stand, eben als Schweinejunge, daher oft genug unabkömmlich und weder als Marius oder Sulla noch als Pompejus (Cäsar behielt ich für mich) ins Feld zu ziehen vermochte, vielmehr zu andern, weniger heroischen Dienstleistungen abkommandiert war. Ich half mir dann auf ziemlich einfache Weise, indem ich beide Feldherrnrollen übernahm und bald auf der einen, bald auf der andern Seite kämpfte oder befehligte. Am Endsieg konnte es mir bei diesem Solospiel niemals fehlen, aber ich kostete doch auch die Niederlagen von Zama, von Chäronea oder von Kunersdorf gebührend aus und blieb dadurch vor Übermut und Hoffart, vor der antiken Hybris bewahrt.

Pazifisten werden über den »militaristischen« Einschlag meiner Knabenspiele entsetzt sein. Aber erstens lag das in der Zeit, wie ich schon sagte, und zweitens scheint es mir überhaupt zu dieser Entwicklungsstufe des Knabencharakters zu gehören. Richtige Jungen dieses Alters müssen nun einmal kämpfen und kriegführen, freilich nicht nur als Generalstabschefs zweier moderner Armeen, sondern wie Hektor und Achilles oder wie Ajax und Patroklus. Daß es mir hieran in meiner Güttländer Knabenzeit im wesentlichen gefehlt hat, ist sicherlich eine bedauerliche Lücke in meiner Entwicklung gewesen. Erst das Gymnasium sollte hierin einiges – wenn auch vielleicht nicht genug – nachholen.

Als ich etwa neun Jahre alt war, begann Kandidat Dargel auch Literaturgeschichte in unseren Stundenplan aufzunehmen. Er ging ganz methodisch in seinem Unterricht vor, indem er Höheres aus dem Niederen, Schwereres aus dem Leichteren entwickelte und mich scheinbar unmerklich, aber doch mit raschen Schritten weiterführte. Natürlich kam mir das damals noch gar nicht zum Bewußtsein. Ich merkte es erst später, als ich schon auf dem Gymnasium war und die Schwerfälligkeit und Umständlichkeit des öffentlichen Unterrichts mit der von meinem Hauslehrer geübten Methode vergleichen konnte. Dieser hatte es ja insofern auch leichter, als er es nur mit einem, noch dazu schnell auffassenden Schüler zu tun hatte, dessen Lerneifer und geistiger Sammlung überdies die ländliche Einsamkeit sehr zugute kam. Hierin liegt natürlich ein großer Vorzug des häuslichen Einzelunterrichts, besonders auf dem Lande: Konzentration und vervielfachte Ausnützung der zu Gebote stehenden Zeit. Es ist aber auch eine Gefahr dabei, nämlich die, daß mangels einer geeigneten Oberaufsicht Lehrer und Schüler sich allzuviel Zeit lassen, weil allzuviel Zeit vorhanden ist, daß also aus dem Zeitüberfluß Zeitverschwendung wird.

Kandidat Dargel schlug abends beim Bier eine gute Klinge und verspätete sich mit dem Nachhausegehen oft beträchtlich. Bei Tage aber hielt er gewissenhaft seinen Stundenplan mit mir ein. Wir hatten vor- und nachmittags Unterricht. Mittwoch und Sonnabend fiel er nachmittags aus. Es war ganz wie in der Schule. Aber was gehörte nicht für Lehrer und Schüler dazu, trotz des vielstündigen täglichen Zusammenseins immer wieder Interesse, Aufmerksamkeit füreinander zu bewahren und nicht gegenseitigem Überdruß zu verfallen! Wenn ich mir heute vorstelle, welch eine geistige Spannkraft und obendrein welch ein Wissen notwendig sind, um einen aufgeweckten und vielseitig begabten Knaben jahrelang für das Gymnasium vorzubereiten und auch wirklich ans Ziel zu bringen, so lüfte ich vor dem Andenken meines braven, wenn auch im Straßengraben geendeten Hauslehrers Dargel respektvoll und dankbar den Hut.

Das Wichtigste war, daß dieser Mann der verkrachten Existenz, der er im Grunde schon damals war, mich mit allem, was er mir vortrug, zu fesseln und zum eigenen Nachdenken anzuleiten wußte, sich also als geborener Erzieher erwies. Mit besonderer Aufmerksamkeit folgte ich dem Unterricht in Literaturgeschichte. Eigentlich war es mehr ein Vortrag oder eine Vorlesung zu nennen, wie man sie in studentischen Kollegs zu hören bekommt, aber natürlich mit Anpassung an mein trotz allem noch knabenhaftes Anpassungsvermögen. Es lag in dieser Altersstufe begründet, daß mich noch mehr die äußeren Lebensumstände der besprochenen Dichter, ja sogar das bloße Zahlengerippe, um das sich ihr Leben aufbaute, interessieren mußte, als ihr Werk, das mir ja noch verschlossen war.

Ich erfuhr auf diesem Wege von Schiller und Goethe, von Klopstock, Lessing und Herder, von Bürger und Wieland, vom Göttinger Hainbund, vom Weimarer Dichterhof. Zu den großen Welteroberern, Feldherren, Tatmenschen, mit denen die Schlossersche Weltgeschichte meine Phantasie erfüllte, traten – gleichsam das bisherige Halbrund meines Weltbildes zur geschlossenen Kreisharmonie erweiternd – die großen Dichter, Denker, Erzieher des Menschengeschlechtes, die Genies der Phantasie und des Geistes. Bis dahin war meine Lage mit der eines Menschengeschöpfes zu vergleichen gewesen, das etwa den Mond nur als Sichel oder als Halbmond gekannt hätte. Jetzt plötzlich entdeckte ich, daß er eine vollbeleuchtete Scheibe oder eigentlich eine Kugel ist. Es war eine Umwälzung von Grund auf.

Was aber das Erstaunlichste war: Kandidat Dargel begnügte sich nicht damit, mir von unserer klassischen Epoche eine Art von Ahnung, einen gewissen ersten Schimmer beizubringen. Er bezog auch die beiden ihr folgenden Zeitalter, Romantik und Beginn des jungen Deutschlands, in seinen Lehrgang ein. In meinem zehnten Lebensjahr waren mir Namen wie Tieck und die Schlegels, Arnim und Brentano, Novalis und Hölderlin, Eichendorff und Chamisso bereits geläufig. Dargels besondere Liebe aber gehörte unserem gemeinsamen Landsmann Hoffmann, von dessen wunderlichem Leben und Tun er mich manches wissen ließ. So kam es, daß nachher auf dem Gymnasium, als ich nun selbst die Dichter zu lesen anfing, Hoffmann einer der ersten war, denen ich mich zuwandte. Und diese Liebe ist mir bis zum heutigen Tag geblieben, vielen Wandlungen zum Trotz.

Weshalb aber war es so erstaunlich, daß mein damaliger Hauslehrer sich nicht auf Schiller und Goethe und ihren Kreis beschränkte, sondern auch noch die Romantik und Späteres dazunahm? Man muß es einem jüngeren Leser von heute vielleicht sagen. Viele von den älteren werden es auch ohnedies verstehen: zu jener Zeit, in der Mitte der Siebzigerjahre, war unsere deutsche Geisteswelt, unser gesamtes deutsches Leben geradezu durch eine Weltenweite vom Geist und von der Gesinnung der Romantik getrennt. Eine der Romantik völlig antipodische Strömung beherrschte jene Epoche. Fünfzig Jahre war es seit Hoffmann und seinem Kreis her, aber es scheint, daß in der Geistesgeschichte das Einmaleins keine Gültigkeit hat und fünfzig Jahre länger als hundert Jahre sind. Ein halbes Säkulum: das entspricht etwa einer halben geistigen Achsendrehung, was gleichbedeutend ist mit der weitesten Entfernung vom Ausgangspunkt, also mit dem totalen Gegensatz. Erst die andere halbe Achsendrehung, die nächsten fünfzig Jahre vollziehen eine neue Annäherung und führen gewissermaßen wieder zum Ausgangspunkt zurück. Nichts wird von uns schneller, leichter, bereitwilliger, gründlicher vergessen als das Gestern. Erst dem Ehe gestrigen wendet sich wieder unsere Liebe, unsere Anteilnahme zu. Es liegt ein tiefer menschlicher Sinn gerade in Jahrhundertfeiern. Als ich in meiner Gymnasialzeit der Siebzigerjahre mit meinen Mitschülern von der Romantik oder etwa von Hoffmann sprach, schüttelten sie den Kopf und wußten nicht einmal die Namen. Heute sind diese jedem Mittelschüler geläufig.

Mein Lebensbericht nähert sich dem Zeitpunkt meines Abschieds von der Stätte meiner Kindheit. Es sollte – im tiefsten Sinne genommen – ein Abschied für immer sein. Denn so oft ich auch, in meiner Schul- und Studentenzeit sowie späterhin, bis zum heutigen Tage, nach Güttland und in mein Elternhaus zurückgekehrt bin: es war für mein inneres Gefühl fortan nur mehr ein Besuch, manchmal von längerer Dauer, gewiß, aber im Unterbewußtsein doch stets begrenzt, gleichsam nur noch ein Urlaub in die Kindheit, der über kurz oder lang ein Ende zu nehmen hatte, im Gegensatz zur scheinbaren Unabsehbarkeit jener Kindheitstage selbst.

Ich werfe, ehe ich den Vorhang über ihnen fallen lasse, noch einmal den Blick auf meine alte Werderheimat zurück und sehe die wechselnden Bilder ihres Jahreskreislaufs wieder vor mir erstehen.

Es ist ein Dezemberabend, der Regen klatscht gegen die Fensterläden, der Nordweststurm pfeift und jault um das Haus, die Gardinen an den Fenstern bauschen sich. Die Lampe brennt auf dem Sofatisch, sie hat ihre Launen, der Docht kohlt, brennt ungleichmäßig, der Zylinder muß abgenommen, die Schere zu Hilfe gezogen werden, es blakt und raucht, tiefe Schatten liegen in den Hintergründen des Zimmers. Wir sitzen unser vier um den Lichtkreis, Vater, Mutter, Tante Lieschen und ich. Manchmal ist auch noch der Inspektor dabei. (Ich erinnere mich an einen, der mit Vornamen Heliodor hieß und einen hochtrabenden polnischen Adelsnamen trug.) Tante Lieschen ist eine entfernte Verwandte von Mutterseite her, die seit ein paar Jahren in unserem Hause weilt, zur Mithilfe in der Wirtschaft, wohl auch zu meiner Beaufsichtigung, wenn meine Eltern verreist oder sonstwie außer dem Hause sind, ein Fräulein in mittleren Jahren, für mein Gefühl natürlich schon alt und grau, in mich ungezogenen Jungen vernarrt, eine biedere, ehrliche, gutherzige Seele und brave Haut, das geborene Familienfaktotum, das schließlich zum unentbehrlichen Inventarstück wird, alle Familiengeheimnisse kennt, von jedem ins Vertrauen gezogen wird, eigentlich nur das Leben der andern lebt, mit allen ihren guten Eigenschaften ein bißchen klatschsüchtig und nicht ganz frei von Neid, ohne es zu wissen und zu wollen, und, wie sich von selbst versteht, geister- und gespenstergläubig über die Maßen.

Die Lampe ist wieder in Ordnung gebracht, Glocke und Zylinder am richtigen Platz, der Sturm heult und tobt mit verdoppelter Gewalt, er kommt geradewegs von der See, in der Stube ist es lebendig, es weht und flattert, in einem Spind, einer alten Kommode knistert und knackt es ... Das Gespräch am Tisch ist am Einschlafen, Wirtschaft, Gesinde, Nachbarschaft sind durchgenommen, der Neuigkeitsstoff ist erschöpft ... Jetzt ist Tante Lieschens Stunde da. Die alte Zeit steigt wieder herauf. Großonkel und Großtanten werden lebendig ... Jedem und jeder ist einmal etwas begegnet ... Der sah im Stall jemand stehen, nach acht Tagen war einer in der Familie tot ... Jene hörte, wie es dreimal an der Tür klopfte, und als man nachsah, war niemand da. Aber man wußte ja, wer es war und was sich gemeldet hatte und auf wen es gemeint war! Ehe der Urgroßvater starb, vierzehn Tage vorher und er war noch kerngesund, hörte man in dem abgeschlossenen Saal deutlich Schritte schlürfen, da stand nachher der Sarg ... Mit gesträubten Haaren, fröstelnd in Mark und Bein ließ ich mich von Tante Lieschen, die das alles mit ruhigem Gleichmut, nur etwas hohler Stimme, halb hochdeutsch, halb plattdeutsch erzählt hatte, in mein Kinderbett bringen, zog die Decke über die Ohren und war im nächsten Augenblick weg.

Die dunklen Adventtage mit ihrem geheimnisvollen, hintergründigen Treiben im Hause und ihrem prickelnden Ahnen, Harren und Bangen sind da. Seit Wochen hat man nicht ins Freie gekonnt. Unergründlicher Schmutz breitet sich auf der Dorfstraße und innerhalb des Gehöfts. Man versinkt mit den Wasserstiefeln bis weit über die Knöchel. Es ist wie ein fetter, glitschiger und doch zäh haftender schwarzer Leim, durch den man watet. Erdklumpen ballen sich um die Stiefel. Kommt man von draußen herein, so bringt man den halben Acker mit. Ich sehe täglich meinen Vater so von den Feldern heimkommen, wo er stundenlang das Pflügen und Umstürzen der Brache beaufsichtigt hat. Selbst im Garten ist es zu naß, um zu spielen. Die Wege sind breiig und schlüpfrig. Alles Leben hat sich im Haus gesammelt, verdichtet. Eines Tages hat es plötzlich nach Pfeffernüssen und Pfefferkuchen und Backwerk geduftet. Es muß gerade frisch aus dem Ofen gekommen sein; man riecht noch die knusprigen Mandeln, den verbruzzelten Honig. Und schon geht das Zauberwort Marzipan um.

Marzipan! Das ist eine Welt für sich. Keiner backt das so gut wie die Mutter. Sie hat ein Rezept, um das schon der Efeu der Sage rankt. Es heißt, sie hat es von ihrer Mutter, die es wieder von ihrer Mutter hatte. Aber man kommt nie so recht dahinter. Es ist ein Geheimnis darum, obwohl doch jeder im Hause weiß, daß es eigentlich ganz simpel sich nur um Mandeln und Zucker und Rosenwasser handelt, und sonst um nichts. Aber wie sie die Mandeln abschält und reibt, jede Mandel gleichsam ein Einzelwesen, und wie sie sie knetet und mischt und mit dem Mangholz walkt und den Zucker darunter mengt – Puderzucker muß es sein, allerfeinster – und wie und was es noch alles an kleinen Kunstgriffen gibt! Und daß nur nicht zuviel Rosenwasser hineinkommt, aber auch ja nicht zu wenig! Die Masse muß sich erst binden, und stehen muß sie so und solange, keine Minute drüber ...

Oh! Der neunjährige kleine große Junge, der eigentlich noch von nichts wissen dürfte, aber auf Tante Lieschens Betreiben stillschweigend geduldet wird – er paßt gut auf, er hat seine Augen überall, hat wohl auch beim Mandelreiben mithelfen dürfen und ab und zu von dem werdenden Teig genascht. Jetzt ist die Masse soweit, daß man sie rollen kann; es gibt einen halbfingerdicken, teils runden, teils ausgefransten Fladen. Die Formen her, Herzen, Halbmonde, Monde, damit man die Böden fein säuberlich aus dem saftigen Marzipanteig ausstechen kann. Dann mit dem Rädchen die Ränder aus der von neuem gerollten Masse herausgeradelt, die Böden vorsichtig ringsherum mit Rosenwasser befeuchtet, die Ränder daraufgesetzt und mit sanftem Fingerdruck befestigt. Siehe da! Die Gebilde sind fertig! Läuft uns nicht allen, die dabeisitzen und helfen dürfen, das Wasser im Munde zusammen? Aber nein! Noch ist des Kunstwerks kein Ende! Edler Stoff braucht auch edle Form, und zur edlen Form gehört die letzte Hand: mit der Stricknadel werden die Ränder der Halbmonde, Monde und Herzen gekerbt, ehe sie in Reih und Glied auf dem. Eichenbrett in den glühenden Backofen fahren. Für wenige Minuten nur! Da heißt es aufpassen! Es darf sich nur goldgelb bräunen! Wehe, wenn es im letzten Augenblick verbrennt ... Das Werk ist getan! Es duftet lieblich, verführerisch durch den Raum. Es duftet nach Märchenzeit. Aber ist wirklich alles getan? Fehlt nicht noch der Zuckerguß, schön mit Rosenwasser angerichtet? Fehlt nicht zu guter Letzt auch die Früchteverzierung, Zitronat, Orangeat, verzuckerte Walnuß und Quitte, alles hübsch in winzige Stückchen geschnitten und mit Gefühl für Farbenwerte zusammenkomponiert? Das ist noch etwas für eine stille Stunde, wenn die Mutter ganz für sich ist, kurz vor dem Fest. Einstweilen wird der ganze Marzipanberg in der »großen Stube«, dem Saal, verstaut. Da ist es schön kalt und abgeschlossen ist sie auch, den Schlüssel bewahrt die Mutter an einem geheimen Platz. Nur der Vater holt ihn sich einige Male und stattet der großen Stube seinen Besuch ab. Er bleibt hübsch lange. Das Knabenherz klopft. Wenn doch schon Weihnachten wäre!

Weihnachten kommt. Reif und Frost kommen mit. Drüben im »Irrgarten« stehen die Birken, Erlen und Haselnußsträucher in blitzenden Mänteln von Reif. Reif liegt auf der Dorfstraße, überzuckert die Klütern und Klumpen, die sich der Frost aus dem Morast zusammengeballt hat: ein Bildhauer des Primitiven, der frei nach der Natur arbeitet. Reif bedeckt die Dächer der Häuser und Katen, jenseits der Mottlau. Eine blutige Riesenmelone, von Nebelschwaden gesprenkelt, will hinter den »blauen Bergen« versinken. Der Tag ist der kürzeste im Jahr. Es ist kaum halb vier. In einer Stunde glotzt schon der Vollmond vom Himmel. Die Dämmerung bleicht. Ich stehe am Fenster und drücke mir die Nase an den kalten Scheiben platt. Was wird der heutige Abend bringen, der Weihnachtsabend? Was wird er mir über zehn Jahre bringen? Ich habe die Großen so oft vom »Leben« sprechen hören. Was ist das, das Leben? Die waren doch auch mal so wie ich? Jetzt sind sie alt! Wie das sein mag, wenn man alt ist? Irgend etwas in mir tut auf einmal weh, als müßte ich zerspringen! Irgend etwas sehnt sich, ich weiß nicht wonach! Vom Hausflur kommen plötzlich Stimmen, schwimmen Töne, Gesang ... Die Dorfkinder mit ihren Weihnachtsliedern sind da, wie alle Jahre an diesem Tag und um diese Stunde, wenn die Sonne herunter ist ... Heiliger Abend! Noch zwei bis drei Stunden und der Weihnachtsbaum brennt ... Und dann ... Dann ist auch das wieder vorbei! Im Hausflur klingt noch immer von hellen Kinderstimmen ein altes Lied. Es ist, als müßte mir das Herz brechen ... Aber zwei, drei Stunden später, unter dem Lichterbaum, ist der frühzeitige Weltschmerz vergessen (verwunden ja nicht!), das Marzipanherz, ganz oben auf dem Teller, schmeckt großartig! Ich habe ja selbst dabei mitgeholfen ...

Wieder eine Woche. Silvesterabend, der zur Rüste geht. Wenn diese gelbe bleiche Wintersonne hinunter ist, wird sie das alte Jahr nie mehr wiedersehen. Das zieht heute um Mitternacht fort in die Ewigkeit. (Was das wohl sein mag, Ewigkeit?) Dann kommt eine neue Zahl. Fernher, vom Ende des Dorfes, schallt Peitschenknallen. Es ist nicht ein einzelner, der knallt. Ganze Salven sind's; wie auf Kommando knattern sie daher, in regelmäßigen Absätzen. Das sind die Knechte von allen Höfen, die das alte Jahr »ausknallen«. Und schon treten sie auf dem Beischlag vor unserm Haus mit dem »Brummtopf« an: ein irdener Topf, Pferdehaare als Saiten darüber gespannt. Wenn man sie zupft, so gibt es dumpfe, murrende, brummende Baßtöne. Sie gehen einem durch Mark und Bein, als stampfe eine Horde von Urzeitmenschen im Takt heran. Rauhe Kehlen singen eine uralte Weise zur Brummtopfbegleitung ... »Wir bringen dem Herrn einen schönen gedeckten Tisch – an allen vier Ecken einen gebratenen Fisch – Wir bringen der Frau eine goldene Kron' – übers Jahr, übers Jahr einen jungen Sohn ...« Rumpedibumm! Rumpedibumm! Im dumpfen Brummtopftakt stampft die dörfliche Schar, nachdem sie ihren Sold eingeheimst, zum Nachbarhof, wo sich das Spiel wiederholt. Rumpedibumm! Rumpedibumm! »Wir bringen dem jungen Herrn ein schönes gesatteltes Pferd ...« Rumpedibumm! Rumpedibumm!

Peitschenknallen und Brummtopfmusik ziehen mir noch heute als alter Heimatklang durch den Sinn, wenn wieder einmal ein Jahresring sich schließt und die Silvestersonne zur Rüste geht. Wie lange noch, so werden ihre letzten Spuren dahin sein und die Melodie der Autohupe herrscht alleinseligmachend in Dorf und Wald und Flur. So sei denn jenen Stimmen der Urwelt, die noch in meine Kindheit klangen, in dieser Erinnerungsecke eine Freistatt gewährt; wie ich ihnen vor mehr als einem Menschenalter in einem meiner Jugendwerke, in »Mutter Erde«, bereits ein Denkmal gesetzt habe.

Seit vielen Wochen knirscht es von Schnee und Frost. Schellengeklingel landauf, landab. Die Schlittenbahn ist gut. Unser nordischer Winter hat einen starken und langen Atem. Die Danziger Bucht ist zugefroren bis gegen Hela hin. Das ist die schmale sandige Dünenzunge, die vom Festland zehn Meilen weit in die See vorstößt und einen natürlichen Vorhafen von gewaltigem Ausmaß für Danzig und Fahrwasser und für die Weichselmündung bildet. Einige Waghalsige sind sogar über die trügerische Eisdecke bis nach Hela gedrungen, so steht in der Zeitung zu lesen. Kopfschüttelnd besprechen es die Meinigen. Aber was wichtiger, vielmehr bedenklicher ist, auch der Weichselstrom ist vollständig zum Stehen gekommen. Es heißt, das Packeis reiche bis zum Grund. Man fährt mit Schlitten, sogar mit vierspännigen Wagen von dieser nach jener Seite hinüber. Gefährliche Stellen sind freilich vorhanden: warme Strudel, an denen die Weichsel reich ist. Weidenruten zeigen sie an. Im übrigen ist das Stromeis meterdick! Das wird einen Eisgang geben, wie anno dazumal, ihr wißt schon, als es durchbrach »nach jener Seite«. Aber vielleicht kommt diesmal »diese Seite« dran. Da ist die Stelle, wo der Strom und der Damm die große Biegung machen ... dort hing es schon einmal, vor ein paar Jahren, an einem Haar! Gewiß! Der Damm ist fest, das Deichamt hält streng auf Ordnung, die Eiswachen sind auf dem Posten. Aber ob sie den Damm im Ernstfall halten können? Unberechenbar ist der Strom! Unermeßlich seine entfesselte Gewalt!

Sechshundert Jahre steht der Damm, seit des Landmeisters Meinhard von Querfurt Tagen. Der hat mit seinen Ordensrittern den wilden strudelnden Weichselstrom eingedeicht bis dorthin, wo die Nogat abzweigt und das Delta beginnt. Fruchtbares Weizenland erwuchs, wo vordem Sumpf, Weidendickicht, Lagune war. Wetterharte Bauerngeschlechter haben den Ordensherren das Werk aus der Hand genommen, haben es fortgesetzt und im Kampf gegen die Elemente es gehalten bis heute. Viele Meilen weit laufen die beiden Deiche rechts und links des Stroms hinunter bis zum Haff und zur See, machen jede seiner Biegungen, seiner Krümmungen mit. Aber eben hier, in den Krümmungen, liegt die Gefahr. Es sind die Punkte des geringsten Widerstandes, wo die Eisschollen, wenn der Strom ins Treiben kommt, sich nur zu leicht aufstauen und mit ihren messerscharfen Randflächen gegen den Damm anrennen.

Das ist, als ob gewaltige Mauerbrecher am Werk wären. Wie oft haben sie im Lauf der Jahrhunderte die Deiche bald rechts, bald links zermürbt, zerschlitzt, durchbrochen! Der Sieg des Menschen über das Element ist noch immer nicht ganz entschieden! Es kann noch ein jüngster Tag kommen, wo der Strom doch das letzte Wort behält. Unausrottbar lebt dieses Gefühl im Volksbewußtsein, wenn auch die Techniker und die Sachverständigen das Gegenteil beweisen. Im stillen zittern auch sie, daß wieder einmal etwas passieren könnte. Ich höre es im häuslichen Kreise, ich höre es von den Leuten. Der Schweinejunge, mein Freund, schwört Stein und Bein, daß es diesmal auf unserer Seite durchbrechen wird. Durch meine wachen Gedanken, durch meine nächtlichen Träume schrillt wie ein Peitschenknall das Wort Eisgang.

Und eines Tages – Fastnacht und die Fastnachtsporzeln sind vorbei! – blicken die Großen ernster als sonst drein, gehen mit sorgenvollen Mienen umher. Der Vater rüstet sich zur Eiswache, gibt Befehle im Stall. Auf jeden Hof, je nach seiner Größe, entfällt eine bestimmte Anzahl von Gespannen, die werden am Damm bereit gehalten, um sofort Sand- und Erdfuhren an die bedrohten Stellen zu schaffen, Kasten zu schlagen, wo es nötig ist, Löcher und Risse zu verschalen, zu verstopfen. Seit gestern hat sich der Strom oberhalb in Bewegung gesetzt, heute wird der Eisstoß auch hier beginnen. Die Luft ist weich und lau und prickelnd. Hoch zu Häupten jagt der Südsturm fahle, zerklüftete Wolkenberge vor sich her.

In der Wachtbude auf dem Weichseldamm ist alles abkömmliche Mannsvolk versammelt, Herren und Knechte. Das lärmt und schreit und poltert im breiten Werderaner Platt durcheinander. Kornus, Machandel und Grog machen die Köpfe heiß. Trotzdem herrschen Ordnung und Zucht und jeder pariert. Die gemeinsame Gefahr sitzt auch dem Trotzigsten im Nacken. Wann geht's los? Wann kommt der Stoß? Es sind Depeschen von oberhalb da. Danach kann man ihn jede Stunde erwarten. Der Deichhauptmann und seine Leute reiten noch einmal den Damm ab, von Wachtbude zu Wachtbude, die jede halbe Meile sich folgen. Meistens sind Wirtschaften darin, die auch außerhalb der Eisgangszeit betrieben werden. Jetzt herrscht Hochsaison. Der Wachtbüdner und seine Frau haben alle Hände voll zu tun. Das wird drei, vier Tage so gehen, bis jede Gefahr vorüber ist. Es sind auch hübsche Töchter da. Derber Spaß fliegt zwischen den Wirtstischen hin und her. Die Mädchen sind nicht auf den Mund gefallen, zieren sich auch nicht lang, wenn es der Richtige ist. An manchen Tischen werden Kartenspiele gedroschen. Man muß sich die Zeit vertreiben! In einer Ecke fällt ein Wort: Jemand will den Schimmelreiter gesehen haben. Jemand hat mit einem gesprochen, der von einem hörte, daß er ihn sah. Wann und wo? Genaueres erfährt man nicht. Aber es spricht sich mit Windeseile herum: der Deichhauptmann auf seinem weißen Schimmel ist wieder einmal erschienen! Und wo er erscheint, bricht der Strom durch! So geht die Sage. Heiß flammt der Disput um den schimmelreitenden Deichhauptmann auf, der im Kartenspiel seine Seele verschwor ...

Ein Knall wie ein Kanonenschuß! Stimmengebrause draußen auf dem Damm! Eisgang! Eisgang! Der Strom ist losgebrochen. Was braucht es noch Geschrei und Signal! Seine donnernde Melodie übertönt alles Menschenwort. Es brandet und brodelt und braust und geifert und zischt und knattert und röhrt ... Der Strom steigt von Minute zu Minute, bald wird er über sein Bett hinaus die ganze Breite der Außendeiche zwischen den beiden Dämmen ausgefüllt haben. Das ist insgesamt eine Viertelmeile! Und die Dämme sind vierzig Fuß hoch. (Zwölf Meter, nach der Erhöhung heute sogar vierzehn.) Alles das ist Überschwemmungsgebiet. Spielraum genug, so sollte man meinen, damit der plötzlich zum Riesen gewordene Strom sich recken und tummeln und mit den Eisschollen Fangball spielen kann. Es sind manche darunter, die viele Geviertmeter Umfang haben und sich in Haushöhe übereinander türmen, um plötzlich donnernd zusammenzustürzen. Ist es nicht, als ob das alte Chaos wieder seinen Einzug halte, wenn man von der Dammhöhe diese springenden, strudelnden, kollernden, donnernden, gischtenden Riesenschollen in unwiderstehlichem Prall vorüberbranden sieht? Wehe, wenn irgendwo stromab eine Hemmung, eine Verstopfung auftritt! Dann zeigt es sich, daß der der Willkür des Elements preisgegebene Spielraum noch immer nicht ausreicht, es zu bändigen. Im Nu steigt die entfesselte Flut vor der Eisbarre, die sich ihr in den Weg stellt, bis zur Höhe der beiderseitigen Dammkrone. In rasendem Ansturm werfen sich die Eisschollen gegen den Damm, schlagen ihre Pranken tief in seine Eingeweide und zerreißen ihn wie morschen Zunder.

Ein solcher Durchbruch war es, dem vor einem Jahrhundert zur Zeit der Urahne – ich erzählte davon – ein großer Teil unseres besten Landes zum Opfer fiel. Manche andere, an andern Punkten des Stromgebietes, bald nach rechts, bald nach links, sind ihm im Lauf der Zeit noch gefolgt: einer der schlimmsten am Ausgang meiner Studentenzeit, im Frühjahr 1888, der zwar unsere Seite verschonte, dafür aber die Marienburger und Elbinger Niederung meilenweit überschwemmte, Bäume und Wohnhäuser wie mit dem Rasiermesser abschnitt und viele Bauern ins Unglück stürzte. (Aufnahmen, die ein erschütterndes Bild der damals hereingebrochenen Eiswüste vermitteln, sind noch in meinem Besitz.) Seit jener Zeit sind Katastrophen von solchem Ausmaß nicht mehr vorgekommen. Die vor einem Menschenalter begonnene und inzwischen zu Ende geführte Regulierung des Weichselstroms und seiner zahlreichen Nebenarme von der Montauer Spitze bis hinunter zum Haff und zur See hat das Deltagebiet bisher vor neuem Schaden bewahrt. Aber erst vor einigen Jahren war wieder ein Eisgang, bei dem der Strom etwas von seiner alten Urkraft zeigte und nicht sehr viel an einem Durchbruch wie in früheren Zeiten fehlte. Seitdem ist die Volksstimmung wieder unsicher geworden. Man traut dem vielleicht nur scheinbar gebändigten Element wieder alles mögliche zu.

Mein Frühwerk »Eisgang«, mit dem ich zum erstenmal die Bühne betrat, ist ganz von diesen Jugenderinnerungen erfüllt. Ihren endgültigen Niederschlag haben sie zehn Jahre später in meinem Drama »Der Strom« gefunden, der neben »Jugend« mein meistgespieltes Stück ist.

Wer zum erstenmal in meine Heimat kommt, dem wird sie sich am schönsten um die Wende des Frühlings zum Sommer zeigen. Er findet sich in der Regel spät bei uns ein, der Frühling, die Baumblüte fällt manchmal erst in den Juni, und kurz währt sein Reich; schnell ist der Sommer da. Am schönsten ist diese Zeit, ehe die heißen Tage kommen. Ein silberblauer Himmel spannt sich über die unabsehbare Niederung; der Seewind hat ihn blank gefegt. Nur tief am südlichsten Horizont ballt sich noch weißes Gewölk wie die Schneefirnen unendlich ferner Berghäupter, auf die die Sonne scheint. In prangendem Grün, wohin das Auge sich wendet, breiten sich die Weizenfelder und Zuckerrübenäcker, die Wiesen und Fluren des lichtbeglänzten Stromlandes. Zahllose Gräben, von Buschwerk gesäumt, durchziehen kreuz und quer das fruchtschwere Land. Silbergraue Weiden stehen überall in Gruppen verstreut; ihre runzligen Stämme, ihre struppigen Häupter erinnern an Gnomengestalten, die sich zu Beratungen versammelt haben. Sie sind die phantastische und zugleich eigentümlich südländische Note in dieser Landschaft, denn sie rufen uns mit ihren schmalen, länglichen, gummiartigen Blättern die Ölbäume der lombardischen Ebene ins Gedächtnis, die ja auch ihre nahen Verwandten sind.

Anders – man braucht es kaum zu betonen – wird dem Sohn des Flachlandes, der Tiefebene, der Niederung, sein Weltbild sich in innerster Seele formen; anders demjenigen, dessen Kinderaugen hügelan, hügelab, über Talwindungen, Schluchten, Waldwiesen blickten oder an thronenden Burgtrümmern hingen. Hier ist der Reiz der Enge, der Begrenztheit, der Heimlichkeit, der gebrochenen Linie, der sich der Seele mitteilt und sie mit Bildern der Anmut, der Lieblichkeit erfüllt: Lyrik erblüht aus solchem Boden. Nicht umsonst hat lange Zeit das Schwabenland mit seinen Kuppen und Bergen und Rebenhügeln, mit der strömenden Fülle seiner landschaftlichen Schönheit als die Heimat der Lyrik gegolten. Unter dem großen malerischen Nordlandshimmel, angesichts der weiten unbegrenzten Horizonte meiner Kindheit, mußte naturgemäß eine ganz andere Seelenstimmung, ein von jenem süddeutschen Wesen durchaus verschiedenes Weltgefühl in mir großgezogen werden. Ich möchte es, der Form nach, als eine malerische oder balladeske, dem Temperament nach als eine melancholische Grundstimmung bezeichnen, was ich von meiner Heimat empfing. Die mehr zeichnerische, konturierte, plastische Wesensart der süddeutschen Landschaft und die stärkere Leuchtkraft ihrer Sonne wie ihrer Farben, mit der sie ihre Kinder beglückt, habe ich stets als starken Gegenpol zu mir selbst empfunden, eben darum aber auch schon früh als willkommene, vielleicht unentbehrliche Ergänzung meines Wesens ersehnt und gesucht.

Am Vorabend des Johannistages wurde nach uraltem Brauch das Sommersonnwendfest in Danzig gefeiert. Jung und alt zog nach Jäschkental hinaus, einem vor den Toren der Stadt gelegenen anmutigen Bergtal, das die Festwiese stimmungsvoll umrahmte. Danzigs bauliche Schönheit, der Zauber seiner altersgrauen Kirchen, Tore und Gassen wird bekanntlich durch seine wundervolle Lage, durch die Fülle seiner landschaftlichen Reize beinahe noch übertroffen. Bis auf Kilometernähe streichen im Westen und Norden die buchengekrönten Kämme und Höhen des uralisch-baltischen Landrückens an den schöngeschwungenen Strandsaum der blauen Ostsee heran. Der mächtige Weichselstrom und der in sie mündende Hafenfluß, die Seeschiffe tragende Mottlau – sie schließen südlich und östlich, gegen die an Holland gemahnende Niederung hin, den Raum ab, auf dem Danzig steht. Wald und Berg und Tiefland und Meer umgürten in seltenem Verein die alte türmereiche Stadt. Steht man auf einer der die Stadt westlich überhöhenden und beherrschenden Kuppen, auf dem Bischofsberg oder Hagelsberg, den einstigen uneinnehmbaren Festungsbastionen, so taucht der Blick fast unmittelbar hinter dem Häusermeer der Stadt und den ragenden Schiffsmasten des Hafens in die hyazinthblauen Fluten der Ostsee. Von Thüringen nach Holland ein Schritt: eine in ihrer Vielfältigkeit und Gegensätzlichkeit fast unwahrscheinlich anmutende Komposition, wie man sie manchmal auf spätmittelalterlichen Landschaftstafeln deutscher Meister findet. Aber hier schuf sie die Meisterin aller Meister, die Natur selbst! Und wahrlich! Das scheinbar Unmögliche, hier wird es Ereignis! Das ewig Unvereinbare – man empfindet es als schöne und selbstverständliche Harmonie!

Zahlreiche Schluchten und Quertäler durchschneiden die der Meeresküste entlang streichenden Waldberge – sie sind es, die uns an Thüringen erinnern – und entsenden ebensoviele Rinnsale und Strandbäche in die nahe See. Auch Jäschkental, unweit des heute zum großen Vorort erwachsenen Langfuhr, ist eine von diesen sich ausweitenden Schluchten, mit denen die Berg- und Hügelkette sich nach dem Meere hin erschließt. Hier wurde zur Zeit meiner Kindheit noch ebenso wie in den Tagen von Eberhard und Konstantin Ferber (um 1520) das eben erwähnte Volksfest abgehalten, zu dem hoch und niedrig, jung und alt hinauspilgerte. Alle die alten Volksbelustigungen, Ball-, Turn-, Lauf- Fangspiele, vollzogen sich unter großem Jubel und derbem Spaß der hinausgeströmten Tausende auf dem waldumkränzten grünen Plan, während der rote Feuerball der Mittsommersonne langsam hinter den Waldhöhen versank und schon die ersten Johannisfeuer wie Fackeln in der weißen Sommernacht aufflammten. So oft ich den Vorhang über der Meistersingerwiese bei Nürnberg aufgehen sehe, muß ich an unser altes Danziger Julfest oder Johannisfest denken. Unser heutiges junges Geschlecht, das den Sport erst entdeckt zu haben glaubt, übersieht nur zu leicht, daß vieles davon schon in den Bewegungsspielen der Altvordern angedeutet war und von ihnen mit Lust betrieben wurde.

Diese Besuche in Danzig und seiner reizenden Umgebung waren für meine Eltern fast die einzige Erholung und Zerstreuung in der Abgeschiedenheit ihres ländlichen Daseins, da ja der nachbarliche Verkehr von Haus zu Haus so gut wie ganz aufgehört hatte. Sie wurden daher während der günstigen Jahreszeit beinahe jeden Sonntag unternommen und ich durfte gewöhnlich mit. Wir hatten in Danzig Verwandte väterlicherseits, Onkel und Tante Kullmann, deren Sohn Paul etwa gleichaltrig mit mir war, als Stadtjunge mir aber an Gewandtheit und Weitläufigkeit, wenn man so sagen darf, um verschiedene Pferdelängen voraus war. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb ich ihn nicht besonders mochte. Ich fühlte mich von ihm tyrannisiert und in den Schatten gestellt, ohne eine Berechtigung dazu zu erkennen. Am liebsten hätte ich an diesen Sonntagsausflügen gar nicht teilgenommen, hätte meine einsame und doch innerlich sehr belebte Welt in Güttland vorgezogen. Da ich das aber doch nicht sagen durfte, so kam ich durch die häufige Begegnung mit Vetter Paul in eine frühzeitige Berührung mit einer gewissen Art großstädtischen Wesens, die mich zwar abstieß, aber mit ihrer Selbstsicherheit und Kaltschnäuzigkeit doch auch Eindruck auf mich machte. Ich konnte mich in diesem Für und Wider lange nicht zurechtfinden und wurde fast mit Gewalt auf den himmelweiten Unterschied zwischen Dorfmensch und Stadtmensch gestoßen, wie er sich in uns zwei Jungen verkörperte. Was damals meine Knabenseele bedrängte und quälte, wurde, als die Zeit sich erfüllt hatte, ein wesentlicher Quell meines Schaffens. Ist es nicht wirklich, als liege allem unserem Erleben und Erleiden eine geheime Zielstrebigkeit zugrunde, deren Sinn uns nur manchmal und oft lange genug verhüllt bleibt? Drum, liebe Seele, gedulde dich und lerne, es wachsen zu lassen, wie es deiner Natur gemäß ist!

Unsere Ausflüge mit der Familie Kullmann, denen sich öfters auch andere Teilnehmer aus deren großem Bekanntenkreis anschlossen, gingen zu jener Zeit gewöhnlich in die Wälder von Langfuhr und Oliva. Ich hatte ja, wie ich schon erzählt habe, in meiner frühen Kindheit keinen Begriff davon gehabt, was ein Wald ist. Bei unsern oft stundenlangen Wanderungen unter dem dichten Laubdach der uralten Buchenwipfel, über moosigen Waldboden, an flüsternden Bächen, durch lehmige Schluchten, zu aussichtsreichen Anhöhen und Bergkanzeln hin, wurde mir das Gesicht des Waldes bekannter, vertrauter, ohne jedoch seine ursprüngliche Fremdheit ganz für mich zu verlieren. Vielleicht lag es daran, daß ich ihn nicht ein einzigesmal ganz allein für mich erlebte, ihn immer nur in Gesellschaft, unter ablenkendem, oft nichtigem Redegeplätscher meiner Umgebung zu Gesicht bekam. Das eigentliche Geheimnis des Waldes, seine Heimlichkeit wie seine Unheimlichkeit, das tausendfältige Orchester seiner Stimmen, der hörbaren wie der unhörbaren, sollte sich mir erst in meiner Studentenzeit erschließen – in Heidelberg und München, auf tagelangen, wochenlangen einsamen Wanderungen im Odenwald und Schwarzwald, im Spessart und auf der Rhön, wie nachher in den Bergwäldern zwischen Isar und Etsch.

Aber vielleicht wird der Sohn des Tieflandes und der Meeresküste stets in einem andern Verhältnis zum Walde stehen als derjenige, dessen Wiege sich etwa in einem Försterhause befand, wie beispielsweise Ludwig Thoma. Man könnte den Unterschied der beiden Betrachtungsarten frei nach Schiller als die sentimentale und die naive definieren, womit alles Grundsätzliche zum mindesten angedeutet ist.

Die eigentliche Seele dieser Sonntagsunternehmungen, ihr belebender, witzsprudelnder Mittelpunkt war Onkel Kullmann, Pauls Vater. Er war seines Zeichens Kaufmann, wenn ich nicht irre, Getreidemakler an der Danziger Börse, wo ja das Getreidegeschäft von jeher eine maßgebende Rolle gespielt hat. In seinem vornübergebeugten, von der Schwindsucht ausgemergelten Körper wohnte ein sieghafter fortreißender Humor. Oft befielen ihn langandauernde Hustenkrämpfe, so daß man meinen konnte, er werde seine Seele dabei aufgeben. Aber kaum war er notdürftig wieder zu Atem gelangt, so entfloh ihm irgendein keckes, behendes, ins Schwarze treffendes, manchmal auch wie aus der Unterwelt emporschnellendes Witzwort, daß die eben noch zu Tode erschrockene Gesellschaft sich vor Lachen schüttelte, während es sie zugleich überlief. Was war es, das uns alle – die Erwachsenen wie auch mich Knirps – an dem vom Tode gezeichneten Mann so bezauberte? Im Grunde genommen, wenn auch uns unbewußt, nichts anderes, als daß hier der Geist über sein brüchiges Gehäuse triumphierte – daß die Flamme dem herannahenden Dunkel Trotz bot. Onkel Kullmann hat es auch noch manches Jahr auf dem bedenklich schmalen Grenzrain zwischen Leben und Sterben so weitergetrieben, im zähen Stellungskampf mit dem Tode immer nur schrittweise zurückweichend, bis er ausgangs der Vierziger doch unterlag. Es ist seitdem weit über ein Menschenalter her, aber ich sehe noch die hohlwangigen, spitzknochigen Züge des Schwindsüchtigen und höre seinen beißenden Totengräberwitz, womit er sich gleichsam auf den Rand seines Grabes setzte und die Beine hinunterbaumeln ließ. Züge von ihm sind in die Gestalt des Julius Schwarzwald übergegangen, der in meinem Roman »Stobäus« den Titelhelden ironisierend und hustend begleitet.

Ich erwähnte Langfuhr und Oliva als unsere üblichen Sonntagsziele. Man fuhr mit der pommerschen Eisenbahn hinaus, deren zweistöckige Wagenungetüme jedesmal von dem Danziger Publikum gestürmt wurden. Steile, schmale Wendeltreppen führten zum oberen Stockwerk dieser vorsintflutlichen Gefährte empor. Die Menschen drängten sich und saßen einander auf den Knien oder auf dem Schoß, was aber das allgemeine Vergnügen nur erhöhte und die angeborene Danziger Witzbereitschaft der zusammengepferchten, eingepökelten, affenmäßig schwitzenden Menge schnell entfesselte. Die Höhe des Jubels wurde jedesmal erreicht, wenn etwas länger geratene Menschenexemplare, die womöglich noch den damals in Danzig sehr landesüblichen Zylinder des »ehrbaren Kaufmanns« trugen, damit gegen die runde Wölbung der niedrigen Wagendecke stießen. Im Punkte Volksseele, Volkswitz, Volkshumor war für einen dereinstigen Dramatiker und Menschengestalter gar mancherlei aus diesem Elementarunterricht zu gewinnen.

Zoppot, das heute im Danziger Ausflugsverkehr an der Spitze steht, wurde in jenen Siebzigerjahren noch weniger besucht. Vielleicht lag es doch an der Schwierigkeit und Unbequemlichkeit der Beförderung. Jedermann war froh, wenn er der Bruthitze dieser den venezianischen Bleidächern gleichkommenden Schwitzkasten so rasch wie möglich entrinnen konnte, und bis Zoppot, als dem äußersten Punkt, war es immerhin eine halbe Stunde zu fahren. Zoppot war – kurz gesagt – noch nicht in Mode. Dies sollten erst die Achtziger- und Neunzigerjahre bringen, in zunehmendem Maße noch, unter der Sonne der kaiserlichen Gunst, das halbe Menschenalter zu Beginn des Jahrhunderts, ehe der große Krieg seinen blutigen Schatten über diese ganze Pracht und Herrlichkeit breitete. Welch eine Stätte der Verödung – ich will nicht sagen, des Verfalls! – für den, der es dann in diesen Kriegsjahren wiedersah! Heute ist Zoppot wieder große Mode geworden. Die Spielbank an der azurnen Küste hat ihr vielbesuchtes Gegenstück in dem Zoppoter Kurkasino gefunden, das sich in den blauen Fluten der Ostsee spiegelt.

Welch eine Wendung und welch ein Weg, seitdem ich – an der Hand meiner Großmutter – Zoppot und seinen Strand vor nahezu siebzig Jahren zum erstenmal sah! Es erinnerte mit seinen zahlreichen Fischerkaten, den kleinen ebenerdigen Landhäuschen, die nur das Primitivste an Wohnungskultur boten – man trat von der Straße direkt in die Stube ein –, und mit den überall aufgespannten Netzen noch sehr lebhaft an das dürftige Fischerdorf, das es bis vor kurzem gewesen war. Meine Großmutter – dieser unruhige Geist –, die in Danzig Hausbesitzerin war, hatte in jener Zeit auch in Zoppot eines von diesen bescheidenen Häuschen besessen, deren Hauptstolz eine Glasveranda war. Ich wurde, wenn ich mit meinen Eltern zu Besuch nach Danzig kam, von der Großmutter öfters nach Zoppot mitgenommen, begleitete auch meine Mutter in einem Sommer auf einige Wochen zur Kur dorthin.

Unvergeßlich, wie beim ersten Schritt, den wir aus dem Zuge hinaustaten, uns der salzige Atem des Meeres anblies und die Lunge mit einer Art von Unendlichkeit erfüllte. Schon vom fahrenden Zuge aus hatte ich hinter dem sonnenblinkenden Strandsaum den fast unwahrscheinlich blauen Meeresstreifen auftauchen und sich zu einer dunkelhyazinthenen Glocke wölben sehen. Ein unbegreifliches, beinahe körperlich schmerzhaftes Sehnen hatte mir die kindliche Brust zersprengen wollen. Jetzt stand ich am Strande selbst, sah die Wellen silbern heranzüngeln und meine Schuhe lecken, ein unermüdliches, unendliches Kräuseln, Zischeln, Gischten über dem blanken Treibsand ... Aber hinter dem kleinen Gelispel und Gemurmel der weithin im Abendlicht opalisierenden Flut: war es nicht, als hörte ich groß und ruhig und stark den Atem der urewigen Salzflut gehen? Und jenes weiße Wölkchen am fernsten Horizont, war es ein Schiffssegel, das von unbekannten Häfen sich näherte? War es ein heraufsteigender Sturm, der bald die See zu donnernder Brandung aufpeitschen würde? Auf dem Strandsaum, dort mitten im Meer – es sollte Hela sein – brannten ein paar rote Ziegeldächer im Schein der untergehenden Sonne ... Dann alles grau, tot, erloschen ... Von Fahrwasser her, wo der Strom, die Weichsel, sich ins Meer ergießt, geistert das Licht des Leuchtturms über die beinahe schlafende Flut ...

Ich rechne es zu den ganz entscheidenden Vorbedingungen meiner späteren Entwicklung und Tätigkeit, daß das ewig sich wandelnde und doch stets sich selbst getreue Element des Meeres schon sehr frühzeitig, wie man sieht, in meine Vorstellungswelt eingezogen ist und ihr etwas von seinem Rhythmus des Grenzenlosen mitgeteilt hat. Tiefland und Meer sind der landschaftliche Hintergrund für die meisten von meinen dramatischen und erzählenden Arbeiten geworden. Ja, mehr noch: sie haben ihnen leitmotivisch ihre eigentliche Farbe gegeben.

 

Es ist August. Hochsommerzeit. Ein glühendheißer Erntetag geht zur Neige. Schon schweift der Blick landauf, landab über gelbe Stoppelfelder. Raps, Roggen, Gerste sind eingefahren. Aber die Hauptfrucht des Stromlandes ist der Weizen. Davon steht noch viel auf den Feldern. Seit Wochen sind die polnischen Schnitter und Schnittermädchen dabei, den Weizen zu schneiden (es geschah damals noch mit der Sichel), ihn in Garben zu binden, die Garben in Hocken zusammenzustellen. Kommt jemand von der Herrschaft aufs Feld, so flechten flinke Mädchenfinger aus Weizenähren ein strohernes Band und binden damit dem mehr oder minder überraschten Besucher, der sich nicht sträuben darf (das wäre gegen den Brauch!), die Hände zusammen. Erst wenn er ein Lösegeld zahlt, fällt die Fessel aus Stroh, er wird wieder frei. Aber das ist nur flüchtige Kurzweil in der sauren und harten Fron langer Erntewochen. Von morgens um vier, wann die Sonne aufgeht, bis abends um acht, wo sie als eine riesige Blutapfelsine versinkt, dauert solch ein Erntetag. Der Himmel ist blaßblau, beinahe grau, mit einem fedrigen Dunst überzogen, wiewohl wolkenlos. Seit langem ist kein Tropfen Regen gefallen. Ausgezeichnetes Erntewetter! Aber die Blumen im Garten und die Gemüsebeete verdursten.

Ein solcher Augustabend ist es. Ich sehe mich mit meinen Eltern am Mottlau-Ufer stehen. Die Mägde schöpfen Wasser in Eimern aus dem Fluß, tragen die vollen Kübel über den Weg in den nahen Garten, kehren mit den leeren Eimern wieder zur Mottlau zurück und beugen sich barfüßig über die Böschung (man sieht ihren gewölbten Rücken, ihre nackten Füße und Waden), um von neuem Wasser zu schöpfen. Auf der Dorfstraße kommt ein hochbeladenes Weizenfuder, von vier flinken Gäulen (ostpreußische Zucht) gezogen, in einer Staubwolke dahergerattert. Für heute wird es das letzte sein. Und morgen ist Sonntag, wohlverdienter Ruhetag. Ich sehe meine Eltern in nachdenklichem Gespräch beieinanderstehen, aber ich höre nicht, was sie sprechen. Mich beschäftigt der Gedanke, wann eingeerntet werden wird. Es ist Ehrensache, wer zuerst im Dorf zum Einernten kommt! Wird es der Vater, wird es einer von den Nachbarhöfen sein? Mein Ehrgeiz verlangt, daß zuerst bei uns eingeerntet wird. Ich weiß, der Vater ist rasch von Entschluß, ist von morgens bis abends auf den Beinen, aber es müßte alles noch viel schneller vonstatten gehen, so stelle ich es mir in meinem jugendlichen Ehrgeiz vor. Wir müßten allen den Nachbarn weit voran sein!

Ich höre im Geiste bereits das letzte Fuder (meist sind es Erbsen, Bohnen, zuweilen auch Hafer) von der Trift heranrollen, heranjagen. An den Rädern sind Klappern angebracht, die kündigen es schon von weitem an. Obenauf schwankt eine Gestalt, einer Vogelscheuche gleich, eine Strohpuppe, mit alten Fetzen bekleidet. Schnitter und Schnitterinnen sitzen rings um sie herum in den Garben. Auf den Pfosten des offenen Hoftores hocken Knechte, Mägde mit vollen Wassereimern, um sie über den einfahrenden Erntewagen und seine Insassen auszuschütten. Das Fuder jagt herein, Peitschen knallen, die Gäule schäumen, die geschwungenen Eimer klirren, Jubel und Halloh, um so gellender, je besser mit den Wasserkübeln gezielt wird und je gründlicher Fuhrknecht und Schnittervolk durchnäßt werden ... Der Wagen rast über den Hofraum zur offenen Scheune, wo sich Geplansch und Geschrei noch einmal ausgiebig wiederholen. Gießende und Begossene, alle triefen von Wasser. Der Wettergott, dessen Puppe hoch oben jetzt melancholisch die ausgestopften Arme sinken läßt, hat sein Dankopfer erhalten, weil er es gnädig mit Regen abgehen ließ. Am Abend aber werden die bis auf die Haut Durchnäßten mit Fleisch, Speck, Keilchen, Schnaps wieder ins Leben zurückgerufen, die Erntekrone aus Weizenähren, mit bunten Bändern durchzogen, wird im Hausflur an Stelle der verdorrten vom Jahr zuvor aufgehängt, und nicht lange, so spielt eine Harmonika eine fremde Weise zum Tanz auf ...

Ungeduldig, wie es Knabenart, ist meine Phantasie der Wirklichkeit vorausgeeilt. Ich schrecke aus meinem Traum auf, sehe die Mägde noch immer im emsigen Hin und Her mit ihren Eimern zwischen Fluß und Garten, aus dem die Levkojen duften, und bemerke, daß das halblaute Gespräch meiner Eltern, während ihrer beider Augen auf mir ruhen, ganz besonders ernsthaft und nachdenklich zu sein scheint. Die Dämmerung des heißen Augustabends sinkt hernieder. Ich werde bald ins Bett geschickt.

Am andern Morgen, ziemlich in der Frühe, erwache ich in einem fremden Zimmer, im andern Flügel des Hauses, begreife nicht, wie ich dahingekommen bin. Aber Tante Lieschen erscheint bald und bringt mir für all das Seltsame der letzten Zeit die Erklärung, die mich in Staunen versetzt: Es ist heute nacht eine kleine Schwester angekommen! Der Storch – wer denn sonst! – hat sie gebracht.

Nicht ganz zwei Monate später, am 4. Oktober 1875, wurde ich zehn Jahre alt. Meine Zeit im Elternhause, und damit meine Kindheit im engeren Sinne, war zu Ende. Kandidat Dargel erhielt seine Entlassung in allen verdienten Ehren. Über mich war beschlossen worden, daß ich von jetzt ab das Gymnasium in Marienburg besuchen sollte. In wenigen Tagen, sowie die Herbstferien vorbei sein würden, sollte ich die Reise dorthin antreten.


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