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Es war in der zweiten Aprilhälfte, als ich meine nun schon gewohnte Reise von Dirschau nach Berlin antrat, um mich von hier nach München weiterzubegeben. In Berlin war jetzt eine kleine Kolonie von Marienburger Schulfreunden, die mich während der paar Tage ganz mit Beschlag belegten. Am letzten Abend feierten wir in einer längst verschollenen Ungarweinstube unweit des Bahnhofs Friedrichstraße einen sehr reichlich bemessenen Abschied, so daß ich meine Fahrt um einen Tag verschieben mußte und zu meiner nicht geringen Überraschung am nächsten Nachmittag noch in meinem Berliner Hotel aufwachte. Ich ärgerte mich über den verlorenen Tag, häufte alle möglichen Beschimpfungen auf mein sündiges Haupt und hatte das Gefühl, daß das Semester unter einem ungünstigen Stern beginne. Dies sollte sich auch bewahrheiten.
Ich fuhr also erst vierundzwanzig Stunden später, als vorgesehen war, von Berlin ab, diesmal ohne weitere Feierlichkeiten und in recht kleinlauter Stimmung. Man reiste damals noch vornehmlich über Leipzig–Hof–Regensburg nach München. Die Strecke über Probstzella war noch nicht gebaut. Wer über Nürnberg fahren wollte, hatte den Umweg von Hof über Bamberg zu nehmen. Aber mich trieb es mit aller Macht und ohne jeden weiteren Verzug nach Isar-Athen, wie es im Sprachgebrauch jener Spät-Biedermeierzeit beliebterweise hieß. In der Frühe des nächsten Morgens kamen wir bei Regensburg über die Donau. Welch eine weltgeschichtliche Grenzlinie ich damit überschritt, kam mir, trotz meiner historischen Vorkenntnisse, in diesem Augenblick noch nicht entfernt zum Bewußtsein. Es war ein Fluß wie andere, dessen Brückengitter ich an meinen Ohren vorüberrasseln hörte; gewiß ein Fluß von einer weiten Perspektive in Geschichte und Sage, aber solche bedeutenden Ströme gab es manche in deutschen Landen, wie hätte sich, so schien es mir, in dieser Hinsicht die Donau mit dem Rhein messen können!
Die Erfahrungen vieler Lebensjahre in München, in Südbayern, auf uraltem keltischen und römischen Kulturboden, und überdies die gewaltigen Neuschichtungen eines damals noch ungeborenen Zeitalters gehörten dazu, um mir die schicksalhafte, jahrtausendalte Bedeutung der Donaulinie, des einstigen Limes des Römerreiches, zu voller Klarheit zu bringen. Man sprach damals allgemein nur von der Mainlinie. Sie schied Norddeutschland von Süddeutschland, Bayern von Sachsen und Preußen, von letzterem nur auf einer kurzen Grenzstrecke. Um die Mainlinie war es 1866 gegangen, es war ja noch nicht so lange her. Die Mainlinie hatte die politische Geschichte Deutschlands während des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt; die Donaulinie war ganz in Vergessenheit geraten. Und doch hatte es Jahrhunderte hindurch, eigentlich bis 1800 hin, nur eine Donaulinie gegeben; eine Mainlinie höchstens sekundär. Diese war so recht erst ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, war im Grunde dynastischen Ursprungs, die Folge neuerer politischer Kräfteverlagerung. Jene, die Donaulinie, war von altersgrauer Herkunft, hatte in der politischen Geschichte und in der Geistesverfassung unseres ganzen Kontinents als weltentrennende Grenzscheide mitgespielt, hatte als Fundament geistiger Mauern gedient, über die es Menschenalter lang kein Herüber noch Hinüber gab. Man denke an die Unübersteiglichkeit dieses geistigen und religiösen Walls für die Reformation: ihre südwärts vordringende Woge kam dort zum Stillstand. Seine Wichtigkeit für die künstlerische und religiöse Barockkultur der Donauländer kann gar nicht überschätzt werden. Die Donaulinie ist gleichbedeutend mit dem Bestehenbleiben des Katholizismus auf deutschem Boden. Ihre historische Funktion steht unsichtbar hinter vielem, was noch zu sagen sein wird.
Durch den ungewollten Reiseaufschub in Berlin traf es sich, daß ich wieder an einem 23. April, diesmal des Jahres 1884, einen neuen und wichtigen Lebensabschnitt begann, indem ich eben am Vormittag jenes Tages in München eintraf. Es regnete gerade. Auch in jener Weihnachtszeit hatte es geregnet, dazwischen allerdings auch geschneit. Mir schien hier ein Dauerzustand vorzuliegen, wenn ich mich auch inzwischen längst von meinem Irrtum überzeugt habe. Aber wie mir, so erging es und ergeht es ja unzähligen Fremden, die München eigentlich nur unter der Perspektive des Regenschirms kennen ...
Einen tiefen inneren Zusammenhang entdeckte ich schon damals, da ich München zum ersten oder zweiten Male sah, zwischen seinem Klima und seinem Bier. Genauer: zwischen seinem Klima und seinem Kultus des Biers. Denn Bier ist für den Münchener von altem Schlag nicht ein beliebiges wohlschmeckendes Genußmittel, wie für die Deutschen der andern Gaue; es ist ein hieratischer Begriff für ihn; und wenn er es trinkt, so ist es ein kultischer Akt. Diese Art von kindlicher Ehrerbietung, die etwas Rührendes für mich hat – es fällt mir nicht ein, mich lustig darüber zu machen –, erstreckt sich nicht etwa nur auf Salvator oder Maibock oder sonstigen hochwertigen Stoff. Man braucht nur im Hofbräuhaus oder im Mathäser einen Mann des Volks, etwa einen Dienstmann oder Chauffeur, seine Maß einfachen Lagerbiers prüfend an die Nase halten, ihn in den weißen Schaum sich vertiefen, die ersten Tropfen davon wegblasen und das Gefäß an den Mund setzen zu sehen, während seine Blicke sich gen Himmel richten, und man weiß, daß es die Idee des Bieres an sich ist, der dieser Opferakt gilt.
Begreiflich genug! Und hier komme ich wieder auf meinen Zusammenhang zwischen Bier und Klima zurück: das Münchner Bier hat die magische Eigenschaft, je nachdem abzukühlen oder zu erwärmen. Das erstere versteht sich ja von selbst, aber nur, wer je eine richtige Kellermaß im Sommer trank, vermag ganz zu ermessen, welch ein Hochgenuß in solch einem kühlen Labetrunk steckt. Noch bedeutsamer und geheimnisvoller ist aber die gegenteilige Wirkung, die das Münchner Bier auch im Winter und in der Regenkälte des Sommers so einladend und bekömmlich macht: der Magen erkältet sich nicht daran, eine wohltuende Wärme durchrinnt ihn, das Leben zeigt sich wieder von einer besseren Seite!
Als ich in jenen regenfeuchten Frühlingswochen Anno Domini 1884 meinen gänzlich unfeierlichen studentischen Einzug in die Isarstadt hielt, war gerade der Maibock angegangen. Es regnete tagelang, was vom Himmel herunter wollte. Es regnete Schnürl oder Spagat, wie der Münchner zu sagen pflegt. Auf den damals noch makadamisierten (chaussierten) Straßen – Steinpflaster war noch wenig vorhanden –, spritzten, wenn ein Wagen vorbeifuhr, was ja vorkam, Schlamm und Kot springquellartig gen Himmel; man plantschte bis an die Knöchel im Wasser. Hier war selbst für« den wissensdurstigen Fremden, der hinter jeder Straßenecke das Wunder erwartete, kein langes Bleiben. Wohin trieb es ihn also wie durch Naturgesetz? Zum Bockfrühschoppen ins Platzl und, wenn der Abend kam, in den »Affenkasten« beim Augustiner, Spaten oder Pschorr. Im Platzl beim Maibock erklang aus Hunderten von Kehlen das Lied vom »Alten Peter«, von der grünen Isar und von der Gemütlichkeit, die in der Münchner Stadt nicht ausstirbt. Es war schon damals uralt, der älteste Bierkieser hatte es bereits in seiner Jugend gesungen, und so singt man es noch heute, nach aber fünfzig Jahren. Auch ich sang es damals mit, aus begeistertem Herzen, wenn auch nicht gerade mit besonderer Tonreinheit, denn Singen war niemals meine starke Seite gewesen. Aber keiner achtete auf meine falschen Töne, es war alles eine einzige Harmonie.
Ich hatte in der Theresienstraße 5 ein behaglich möbliertes Zimmer gefunden, im ersten oder zweiten Stock. Unten war ein Kolonialwarenladen, der mich an meine Pensionszeit in Marienburg erinnerte. Dort war ein ähnlicher Laden im Hause gewesen. Wenn ich aus dem Fenster sah, so fiel mein Blick auf ein weiß und blau gestrichenes Wägelchen, das mir heute wie aus einer Spielzeugschachtel vorkäme. Es war ein Gefährt der Münchner Straßenbahn, die man damals, wie auch heute noch, Trambahn nannte. Das Wort ging; darauf zurück, daß ein englischer Unternehmer zuerst die »Tram« (englisches Wort für Schienen) in München eingeführt hatte, Die Linie, die an der Ludwigstraße, dicht vor meinem Hause, endigte, war die spätere Ringlinie und führte zu jener Zeit über den Bahnhof nur bis zum Isartorplatz. Außerdem gab es noch die Dampftrambahn nach Nymphenburg und, soweit ich mich entsinne, schon die grüne Linie vorn Bahnhof bis zur Universität. Alle zehn Minuten tauchte so ein weißblaues Wägelchen vor meinem Fenster auf, bremste geräuschvoll, hielt knirschend an, worauf der geduldige Braune umgespannt wurde. Nach einer ausgiebigen Pause, während welcher Maßkrug und Brotzeit keine geringe Rolle spielten, trollte sich das; Gefährt wieder von dannen, dem »fernen« Bahnhof und dem noch ferneren Isartorplatz entgegen. Ein idyllischer Anblick, wenn ich ihn mir heute zurückrufe. Damals kam er mir nicht wenig großstädtisch vor.
Jenes München der Achtzigerjahre war freilich noch eine sehr friedliche und geruhsame Großstadt, wenn es überhaupt schon eine war. Seinem äußern Umfang nach hatte es natürlich berechtigten Anspruch auf diesen Titel. Seine Einwohnerzahl betrug damals zweihundertfünfundzwanzigtausend, kaum ein Drittel von heute. Aber selbst heute hat ja München noch manches von einem Dorf oder von einem lebhaften Marktflecken des Oberlandes, während es zugleich bereits sehr wesentliche internationale und weltstädtische Züge aufweist. Man könnte von einem weltstädtischen Dorf oder Marktflecken sprechen, wenn diese Synthese nicht doch wieder ein falsches Bild gäbe, da es ihm an den vermittelnden Übergängen und Zwischenschattierungen fehlt. Um wieviel mehr mußte natürlich vor mehr als fünfzig Jahren der dörfliche und ländliche Grundriß hervortreten, während andererseits die großstädtische, die internationale Seite sich erst in andeutenden, doch schon sichtbaren Linien zeigte! An manchen heutigen Verkehrsmittelpunkten der Stadt, die es auch schon damals waren, sah man noch im wörtlichen Sinne Gras wachsen; man konnte es mit seinen Fingern gemächlich aus dem Boden zupfen, wenn man Lust dazu hatte, und wäre gewiß nicht überfahren worden.
München befand sich gerade im ersten Abschnitt jenes Entwicklungsweges, der es aus dem Zustande einer stillen, behaglichen Residenzstadt von äußerlich großstädtischem Anstrich in den Kreis der bereits in Deutschland vorhandenen wirklichen Großstädte hinüberführen sollte. Noch herrschten Hof, Beamte und Militär. Das Bürgertum, bis auf das nicht sehr zahlreiche Patriziat, stand zurück; nicht weil man dies von oben verfügte, sondern weil es selbst es so wollte. Man baute seine Häuser, möblierte seine Wohnungen im Feststil der deutschen Renaissance, die gerade in Mode kam, und war im übrigen für Einfachheit, Schlichtheit, Bürgerlichkeit, Unauffälligkeit, nicht zuletzt auch in politischer Hinsicht. Für politische Geltung nach außen sorgte Bismarck; die Zeit war vorbei, wo man bei ihm statt beim Teufel schwor, wenn auch Dr. Sigl im »Bayerischen Vaterland« noch immer die alten Register zog: es war schon zum Witzblatt geworden. In der inneren Politik war natürlich Hader und Fehde genug, die »bayerischen Belange« bestanden schon damals zurecht, nur ohne das Wort dafür, aber von heute gesehen war das doch alles nur Kleinkram. Das Leben der Zeit war unpolitisch, war privat bis in die Zehenspitzen hinein.
Eine eigene Note brachte die Künstlerschaft in die weißblaue Palette der Stadt. Sie verlieh ihr die grellen oder feierlichen Töne, das aufreizende Rot oder Gold, das tragische Violett. Da bei einer ungefähren Zahl von dreitausend Angehörigen der bildenden Kunst jeder siebzigste Mensch in München ein Maler oder Bildhauer oder Zeichner war und ein ähnliches Zahlenverhältnis bereits seit zwei Menschenaltern bestand, so konnte es nicht ausbleiben, daß das gesamte Münchner Leben gleichsam mit Kunst imprägniert und durchtränkt war. Wieviele Münchner und Münchnerinnen waren nicht mit zugereisten Malern, darunter so manchen »Schlawinern« vom fernen Balkan her, verheiratet, verlobt, verwandt, verschwägert, von den Bindungen leichterer, flüchtigerer Art gar nicht zu reden; oder sie standen ihnen in der Rolle des Hausherrn, Gläubigers, Geschäftsmanns, Lieferanten gegenüber, die nicht in allen Fällen beneidenswert war! Bürger und Künstler hatten in den sechzig Jahren, da dies nun so ging, Zeit und Gelegenheit genug gehabt, voneinander abzufärben.
Ein besonders wirksames Bindemittel zwischen Volk und Malertum war das Modell, versteht sich, das weibliche. Sie zwitscherten in den Ateliers, brachten Leben in die Bude, waren ebenso anziehend wie ausgezogen. Ein Parfüm von Leichtsinn und naiver Verderbnis umwitterte ihre blonden oder brünetten Persönchen. Höhere Töchter erröteten, wenn man von ihnen sprach, und machten ihnen ganz insgeheim, so daß niemand es merkte, Gelegenheitskonkurrenz. So manches kleine Modell war nachher Frau Kunstmaler oder gar Frau Professor geworden; die andern tauchten, wenn ihre Zeit vorbei war, wieder in den Vorstädten unter, aus denen sie eine glückliche Welle emporgehoben hatte, heirateten, wurden Zimmervermieterinnen, wußten je länger je mehr zu erzählen, wie sie noch Modell beim Lenbach, beim Kaulbach gewesen waren, denn das Modell kam ja überall herum, darin gab es keinen Rangunterschied zwischen den Malern. So trugen auch sie in ihren Kreisen dazu bei, die Kunst noch immer volkstümlicher zu machen.
Es waren die letzten Jahre Ludwigs II, die ich in München sah. Die Menschenfeindschaft und Geistesverdüsterung des Königs war nicht mehr weit von ihrer Krisis. Tragische Vorahnungen erfüllten die Atmosphäre von Stadt und Land, obwohl gewiß noch keiner sich ein Bild von der Lösung der immer dringlicheren Königsfrage machen konnte. Auf dem Lande, zumal im Oberlande und in den Bergdörfern, war der König ohne Zweifel beliebt, trotz seiner Absonderlichkeit, die vor aller Augen lag. Er baute dort seine Schlösser, fuhr ein und aus, wenn auch meistens bei Nacht, und brachte Geld unter die Leute. Aber eben dieses Geld entzog er seiner Haupt- und Residenzstadt, die doch den ersten Anspruch darauf zu haben glaubte. Der König war in München ebenso unbeliebt, wie man ihn auf dem Lande verehrte. Er erschien nur noch selten in seiner Residenz, fuhr stets im geschlossenen Wagen, vierspännig oder sechsspännig, aus. Ich habe ihn des öfteren so durch den Hofgarten oder durch den dazumal ganz menschenverlassenen Englischen Garten jagen sehen, als sei er von bösen Geistern gehetzt. Hinter ihm schauten die Leute finster drein und manche schüttelten die Fäuste, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe.
Es ist eine spätere Legende, erst nach dem tragischen Tode des Königs entstanden, daß man ihn gerade in München so besonders geliebt habe. Nach meinen Beobachtungen ist das Gegenteil der Fall. Richtig mag sein, daß in diesem so offen geäußerten Haß auch eine gute Portion von gekränkter Liebe enthalten war. Denn das damalige Münchnertum war monarchistisch bis in die Knochen und hatte ja auch gute Gründe dafür. Der Bajuware überhaupt hat die monarchische Idee im Blut, und vielleicht ist es noch eher das Stammesherzogtum als das Königtum, das ihn mit ihr verbindet. Der so viel verlästerte und angefeindete König hätte sich mit einer einzigen volkstümlichen Geste alle Herzen zurückgewinnen können. Man sprach so viel von seiner unglücklichen Verlobungsgeschichte; sie beschäftigte besonders die Phantasie der Frauen. Jene Prinzessin konnte man täglich im Nymphenburger Park sich zu Pferde tummeln oder lustwandeln sehen. Hätte der König auf diesem Gebiet noch einen glücklichen Schritt getan, er war ja erst vierzig Jahre alt, so hätte das Volk alles andere verziehen und vergessen. Daß er ihn nicht tat, seiner Natur nach nicht tun konnte, war sein Verhängnis. Aber wer kann wider das Schicksal!
In der Beurteilung des Königs durch die Münchner Öffentlichkeit spielte auch ein Gefühlskomplex mit, der noch immer die Gemüter beschäftigte: das Verhältnis zur Reichsidee und zum Preußentum. Viele konnten es dem König auch damals noch nicht verzeihen, daß er Anno Siebzig den Anschluß an Preußen und an das Reich vollzogen hatte, noch dazu als Urheber und Träger der Idee, wie es damals von ihm hieß. Man weiß ja heute, wie es in Wirklichkeit darum bestellt war. Er hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, war schließlich nur dem Zwang der Verhältnisse gewichen. In jenen Tagen las man's noch anders. Wäre der richtige Sachverhalt bekannt gewesen, so hätten weite Teile des altbayerischen Volkes den König sicher noch bis zuletzt als ihren Schildhalter gegen das Preußentum gefeiert, wie es ja später in der Erinnerung an ihn auch wirklich geschehen ist.
Norddeutsch und Süddeutsch: ich kannte das Problem schon aus Heidelberg. Jetzt trat es noch viel gegenwärtiger und brennender an mich heran. Hier in München war der eigentliche Herd alles jenes lodernden Hasses, der sich da und dort in deutschen Landen der Reichsidee und dem Preußentum entgegenwarf. Ich lernte diesen Haß, diesen Widerwillen gegen alles, was norddeutsch, was preußisch war, sogleich und aller Ecken und Enden kennen. Es würde hier zu weit führen, seine verschiedenen Schattierungen abzuschigern. Oft genug war es komisch und manchmal war es um aus der Haut zu fahren! Wollte man dieser Frage auf den Grund gehen, so gäbe es ein ausgewachsenes Buch, das gleichbedeutend wäre mit einem Abriß der ganzen deutschen Geschichte. Aber da so viel vom bayerischen Preußenhaß die Rede ist, so verlangt die geschichtliche Unparteilichkeit, daß man das Problem auch einmal von der andern Seite betrachtet.
Natürlich wäre es sinnlos, von einem Preußenhaß gegen Bayern zu reden, da eher das Gegenteil zu verzeichnen ist. Aber es gibt etwas anderes, was die Seele vielleicht noch empfindlicher trifft als der Haß: die Geringschätzung, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen. Ich bitte das folgende nicht mißzuverstehen. Es betrifft mich selbst und uns alle mit, die wir geborene Norddeutsche sind und den Verlauf der deutschen Geschichte, insbesondere in ihrer geistigen, künstlerischen, kulturellen Verästelung, durch unsere Brille sehen, weil wir es leider nicht anders gelernt haben und es eben so sehen müssen. Auch ich habe ja während meiner ganzen Entwicklungsjahre diese Brille aufgehabt und sie erst in Heidelberg, entscheidend in München abgelegt, vielleicht auch nur mit andern Gläsern vertauscht.
Als sichere Erfahrung, die ich aus dem veränderten Sehwinkel gewonnen habe, scheint mir das eine festzustehen: Wir unterschätzten im Norden, zur Zeit meiner Jugend, den Anteil des bajuwarischen Stammes, also des südlich der Donaulinie wurzelnden Deutschtums an der Hervorbringung des gesamtdeutschen Kulturguts von 1500 bis 1800. Das ist das gesamte Barock und Rokoko, soweit es sich auf bayerischem Boden abgespielt hat; und hier war ja ihre schönste Blüte von allen deutschen Landen. Unsere Lehrbücher wußten nichts von Pracht und Glanz des bayerischen Barocks und Rokokos in Kirchen und Klöstern (siehe Die Wies, siehe Ettal und unzählige andere), wußten auch nichts von der Blütezeit des Barocktheaters und der Rokokomusik auf bajuwarischem Boden, obwohl doch eigentlich Namen wie Haydn und Mozart genügendes Zeugnis dafür ablegten. Unsere Schulbücher waren einseitig nach rein geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten orientiert, waren rationalistisch puritanisch gefärbt. So kam es, daß die norddeutsche Bildung den eminent künstlerischen Emanationen der bajuwarischen Seele während eines großen Zeitraums unserer Geschichte verständnislos gegenüberstand; daß sie Licht und Schatten in dem Urteil über die geschichtliche Sendung unserer deutschen Stämme ungerecht verteilte.
Ziehen wir das Fazit der Rechnung, so könnte in groben Umrissen die Formel folgendermaßen lauten: Der Bayer (der Altbayer) kann den Norddeutschen, den »Preußen« als Typus nicht leiden und ärgert sich über ihn. Er spricht ihm, schon rein äußerlich, zu laut, zu hell und zu schnell. Aber im stillen hat er Respekt vor ihm, nämlich vor seiner Leistung. Umgekehrt: Der Norddeutsche, der »Preuße«, mag den Bayern als Typus gern. Er findet, schon rein äußerlich, Gefallen an seiner Sprache, ihr Klang und Tonfall behagen ihm. Aber im stillen nimmt er den Bayern, nämlich das, was er leistet, nicht ganz für voll. Ist die Fehlerquelle auf beiden Seiten ersichtlich? Ich denke, ja. Aber wenn dies der Fall ist, so sollte man meinen, daß sie sich auch ausbessern ließe. Diese Mahnung richtet sich ebenso sehr an meine Münchner Wahlheimat wie an meine nordische Urheimat. Freilich lassen sich Fehler in Zahlenexempeln sehr viel leichter in Ordnung bringen als Fehler in Lebensexempeln.
Damals, 1884, war Ludwig I. erst sechzehn Jahre tot. Seine Abdankung lag allerdings noch um zwanzig Jahre weiter zurück. Er war ja so recht eigentlich erst derjenige gewesen, der Altbayern und München wieder in den Kreis der gesamtdeutschen Geistesbewegung miteinbezogen und dem kulturellen Anschluß an unsere vornehmlich jenseits (nördlich) der Mainlinie wurzelnde Klassizität den Boden geebnet hatte. Gerade damals und nicht zum wenigsten unter der Nachwirkung der dynastischen Politik der Wittelsbacher war ja die Mainlinie erst zu ihrer Wichtigkeit gelangt, die Donaulinie ebensosehr in den Hintergrund getreten. Ludwig I. hatte die geistige Mauer, die sich im Zuge der Donaulinie zwischen Altbayern und dem übrigen Deutschland erhoben hatte und die schon eine chinesische Mauer zu werden drohte, mit dem Aufgebot aller seiner Kraft niederlegen helfen, soweit es überhaupt möglich war. Hier lag das historische Verdienst des genialen Mannes, eines seiner mannigfachen Verdienste. Nicht umsonst steht die Walhalla bei Donaustauf, die Befreiungshalle bei Kelheim gerade am Donaustrom; und beide stehen sie nördlich des Stroms. Der nordwärts erhobene Zeigefinger ist unverkennbar. Ich bezweifle nicht, daß der König, dem historischer Weitblick zu eigen war, diese Zusammenhänge klar übersehen hat.
Man weiß heute, daß Ludwig I. gleichsam der zweite Erbauer Münchens gewesen ist. Man weiß auch, daß er das meiste davon nur im Widerspruch mit seinen eigenen Landeskindern und besonders mit den Münchnern selbst geschaffen hat, für die es doch geschah. München sollte eine Stadt werden, die jeder gesehen haben mußte, der Deutschland gesehen haben wollte. Auch dieses Verdienst kann keine Nachwelt ihm streitig machen. Man hätte meinen sollen, daß man gerade in München schon damals, in meiner Studentenzeit, so gedacht hätte. Aber dies war ganz und gar nicht der Fall. Man zollte wohl der Persönlichkeit des Königs und seinen Verdiensten um die künstlerische und geistige Hebung Bayerns und Münchens die gebotene Anerkennung, aber man lächelte über das Werk, das er hinterlassen hatte, soweit es äußerlich sichtbar vor aller Augen stand. Der antikisierende Baustil des Königs, jene ludovizianische Monumentalität, deren Zeugen die Pinakotheken, die Glyptothek, die Feldherrnhalle, die Propyläen und so vieles andere sind, fand damals, in den Achtzigerjahren, vor dem Urteil der Zeitgenossen wenig Gnade. Ich sagte bereits, daß man schon mitten in der deutschen Renaissance und gar nicht weit vom Barock stand, das dann ja der herrschende Baustil Münchens werden sollte. Wer mit diesen Augen die Welt sah, dem mußten freilich die Propyläen unter dem Münchner Himmel ein bißchen komisch vorkommen.
Und nun erst die Ludwigstraße! Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß wir jungen Leute, die aus dem Norden an den Isarstrand gepilgert kamen, oft über die Ludwigstraße gelächelt haben; und den »Eingeborenen« erging es nicht anders, nur daß sie sich schon an das Bild gewöhnt hatten. Auch wir bekamen es nun täglich zu Gesicht, auf dem Wege zur Universität. Aber eben dort war auch schon die Welt zu Ende. Gleich dahinter war alles schon »Gegend«, war sogar schon richtige Umgegend, war Schwabing, wohin man Ausflüge, Landpartien unternahm wie heute nach Planegg oder Starnberg. Und hierin lag eben der Witz für uns: daß eine mächtig breite Monumentalstraße, eine Straße von römischen oder Florentiner Palästen plötzlich auf einer Wiese zu Ende war, denn hinter dem Siegestor, wie gesagt, lagen Wiese und Bach und freies Land, soweit das Auge nur reichte. Erst in silberner Ferne deutete eine schlanke Turmspitze das Vorhandensein des Dörfchens Schwabing an.
Ja, wir lachten, wir naseweisen Studenten von dazumal! Lachten, wenn wir oft zwischen Feldherrnhalle und Universität keine Menschenseele erblickten: was hätte man auch dort zu tun gehabt, falls man nicht gerade Student war! Aber der König und seine Straße hatten ja Zeit zu warten und ließen uns unsern Dünkel. Beide schienen tot und lebten! Heute ist die Ludwigstraße der große Boulevard, der nach Schwabing mit seinen hunderttausend Einwohnern führt, ist eine der blutreichsten Verkehrsadern von ganz München. Wenn der Geist des Königs in gewissen Nächten seine Gruft in der Basilika verläßt und seine Ludwigstraße besucht, so lächelt jetzt er!
Große Namen leuchteten damals über den Lehrkanzeln der Universität. Zumal die Zahl der berühmten Mediziner war stattlich. Ich nenne nur Zelebritäten wie Nußbaum und Pettenkofer. Besonders Nußbaum war höchst populär, nicht nur durch seine chirurgischen Wundertaten, sondern auch durch seine originelle Persönlichkeit. Liebig war noch nicht lange tot, die Spur seines Wirkens war noch lebendig. Sein Schwiegersohn war Moritz Carrière, der bekannte Ästhetiker der Universität. Über ihn lief ein Witzwort um, das ich hier wiedergebe, da es doch auch den Mann bezeichnen mag. Carrière, so hieß es, war mißliebig und machte keine Karriere. Da heiratete er Miß Liebig und machte Karriere. Man sagte übrigens, daß eine ganze Anzahl von jungen Carrières vorhanden, das Witzwort also auch in dieser Hinsicht zutreffend sei. Ich hörte ein Kolleg über Ästhetik und sittliche Weltordnung bei dem beredten Mann, dem vor Wonne über diese »beste aller Welten« das Wasser im Munde zusammenlief und öfters auch von den Lippen tropfte. Er hatte bei uns Studenten einen Spitznamen, der mit »Wonne« zusammengesetzt war und dessen zweiter Teil sich hier nicht recht wiederholen läßt. Seine Gedanken gaben mir nicht viel. Sie erschienen mir weichlich und verschwommen. Aber vielleicht lag dies an mir und nicht an Carrière. Ich befand mich schon weit voran auf der Bahn eines radikalen Materialismus. Freund Schneyer war nicht mehr an meiner Seite, um bremsen zu helfen. Er hatte vor kurzem sein theologisches Examen bestanden und war irgendwo auf der Rhön Einöd-Predigtamtskandidat. Wir schrieben uns noch oft, aber sein aufrichtendes und tröstendes Wort fehlte mir doch sehr. Das Gefühl des gänzlichen Verlassenseins in meinem neuen Lebenskreise drückte schwer auf meine Seele.
Was für Heidelberg Bunsen war, das war für München damals Ignaz von Döllinger: eine ragende Säule aus grauer Vorzeit. Als scharf umrissene Persönlichkeit von historischem Ausmaß wandelte er unter seinen Professoren-Kollegen und unter uns jungen Studenten und rief die Erinnerung an ein längst vergangenes Zeitalter wach, an das stockige Deutschland der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Damals war Döllinger einer der streitbarsten und durch sein gelehrtes Rüstzeug gefürchtetsten Kämpen der Kirche gewesen. Jetzt, nach fünfzig Jahren, war dieser selbe Mann dem Bann der Kirche verfallen, war einer der geistigen Väter der altkatholischen Glaubensspaltung, die damals noch bedrohlich genug erschien, war ihr weithin leuchtender Fackelträger geworden! Welch eine unerhörte Wandlung in der geistigen Physiognomie eines Menschen! Meine Augen verfolgten ihn scharf, als ich ihn am Stiftungstage der Universität in seinem lila Talar, mit der goldenen Kette um den Hals, die Aula betreten sah. jedermann wußte, dies war Ignaz von Döllinger! Das Alter hatte den Rücken des kleinen, zusammengeschnürten Mannes wie einen Türkensäbel gekrümmt. Tiefe Falten zeichneten sich um die vorstehenden Backenknochen und die längliche Fuchsnase ab. Alles an diesem Gesicht war länglich und spitz, alles erschien scharfsinnig und unendlich gescheit. Was mich aber am meisten in Erstaunen versetzte, war dies, daß der abtrünnige, im Bann befindliche Priester Seite an Seite mit seinen rechtgläubigen Kollegen von der Fakultät dahinschritt und auch, wie man sagte, der geistliche Berater des doch streng katholischen Hofes geblieben war.
Mir ist vor nicht langer Zeit ein Universitäts-Almanach jener Achtzigerjahre in die Hände gefallen. Ich blätterte darin und las, nicht ohne Rührung, die Namen aller jener Professoren, die zu meiner Zeit an der Münchner Universität gelehrt hatten. Die meisten davon waren mir entfallen und kehrten für einige Augenblicke in meine Erinnerung zurück. Mit manchem von ihnen verband sich ein einst gehabtes persönliches Bild, das vom Staub der Jahrzehnte zugedeckt war und plötzlich wieder lebendig wurde. Und wie ich langsam so ihre Geburtsdaten aus dem vergilbten Büchelchen ablas, entdeckte ich, wiederum nicht ohne Rührung, was mir damals in meiner Jugendzeit gar nicht so zum Bewußtsein gekommen war: daß ein beträchtlicher Teil jener meiner einstigen Professoren zwischen 1810 und 1820 geboren gewesen war, die Universität also, im heutigen Sinne, an Überalterung ihres Lehrkörpers gelitten hatte. Man glaubte damals noch nicht an den heutigen Lehrsatz, daß es nach dreißig mit dem Menschen bergab geht und daß man mit sechzig sich begraben lassen sollte.
Ich habe noch nicht erwähnt, daß ich mit dem neuen Semester »umgesattelt« und bei der philosophischen Fakultät belegt hatte. Den Entschluß dazu hatte ich schon während meiner letzten Heidelberger Zeit gefaßt: ich ertrug es nicht länger als Jurist. Ich wollte es mit Germanistik und Literaturgeschichte versuchen. Auch Geschichte stand bereits zur engeren Wahl. Ich hatte während der Osterferien meinen Eltern die Zustimmung zu dem geplanten Schritt abgerungen. Es war ihnen nicht leicht gefallen. Sie sahen mich schon auf dem Wege des Verbummelns. Auch mein Großvater trauerte sehr um die verlorengegangene Hoffnung, seinen Enkel noch dereinst seine Prozesse führen zu sehen. Ich konnte, so leid es mir tat, keine Rücksicht darauf nehmen. Jus war mir bis in die Seele verhaßt geworden. Würden Gotisch, Alt- und Mittelhochdeutsch meine uneingestandene Sehnsucht nach Wort, Bild, Gestalt befriedigen können? Der Versuch mußte schon um meiner Eltern willen gewagt werden. Sie hätten mir unter keinen Umständen bereits den Weg in die Freiheit zugestanden, den ich entschlossen war über kurz oder lang einzuschlagen. Ich belegte also Germanistik bei Brennert und ging regelmäßig morgens von sieben bis acht in sein Kolleg. Ich begreife es heute selbst nicht mehr!
Der Mann, von dem ich während dieser ersten Münchner Semester die reichste Befruchtung erfuhr, war W. H. Riehl. Riehl gehörte eigentlich der staatswissenschaftlichen Fakultät an und las über Staatslehre und staatsrechtliche Fragen. Er war nicht aus dem Kreis der zünftigen Gelehrten, vielmehr aus der Journalistik hervorgegangen, dann von Max II. kurzerhand zum Universitätsprofessor ernannt worden, was innerhalb der Zunft allgemeines Kopfschütteln hervorgerufen hatte. Man hatte den neugebackenen Professor in der staatswissenschaftlichen Fakultät untergebracht, wo alles hinkam, was sich sonst nicht recht einordnen ließ. Die Fakultät selbst war ja auch so ein schwer bestimmbares Mittelding zwischen Jurisprudenz und Philosophie; es gab sie zu jener Zeit erst an wenigen Universitäten. Riehl hatte zu jenem engeren Kreise Max' II. gehört, den der ehrgeizige, aufklärungsfreundliche König meist jenseits der weiß-blauen Grenzpfähle hergeholt hatte. Sie hießen die »Nordlichter«, womit ja für den Eingeborenen alles gesagt war. Riehl selbst war geborener Nassauer, er stammte aus Biebrich am Rhein und sprach auch in seinen Kollegs oft mit Stolz von seiner rheinischen Abkunft; man konnte ihn also wirklich nicht zu den »Nordlichtern« zählen. Aber für das Altmünchnertum jener Tage hatte es ja schon genügt, daß einer etwas weiter als von Ingolstadt oder Regensburg her war, um ihn als »Preußen« zu verschreien. Auch Heyse, Geibel, Dingelstedt und so manche andere, die auf den Ruf des Königs nach München gekommen waren, hatten von dieser Altmünchner Krähwinkelei ein Liedchen zu singen gewußt. In ihren Briefen und Erinnerungen steht viel Erbauliches darüber zu lesen.
Darüber waren nun dreißig Jahre ins Land gegangen. Das heimliche Grollen der Zunft und das offene Geschimpfe der Stammtische war gleichermaßen verstummt. Riehl war eine der Zierden der Universität geworden, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, sollte bald auch die Leitung des Nationalmuseums zu seinen übrigen Ämtern und Würden übernehmen. Die Studenten drängten sich zu seinen Vorlesungen, von denen die wichtigste wohl die über deutsche Kulturgeschichte war. Auch dieses Fach war ja eine Neuerung im Universitätsbetrieb, war damals noch sehr jungen Datums und wurde von einem älteren Geschlecht noch vielfach als wilder, als illegitimer Schoß im streng behüteten Gehege der Wissenschaft angefeindet. Die klassische Geschichtsschreibung, deren größte Vertreter wie Ranke, Giesebrecht, Sybel noch alle unter den Lebenden weilten, hatte sich vornehmlich den großen staatspolitischen Zusammenhängen zugewandt, Kultur- und Sittengeschichtliches nur als gelegentliche Würze eingestreut, um den manchmal etwas nüchternen Teig genießbarer zu machen. Die neuentstandene Disziplin erhob zum Selbstzweck, was bisher nur Mittel zum Zweck gewesen war. Wilhelm Heinrich Riehl, als einer ihrer ersten Begründer und Erfinder, wußte sie uns jungen Studenten in der anziehendsten und schmackhaftesten Form darzubieten. Sein Vortrag war klar, anschaulich, fesselnd; ein Schimmer von klassischer Schönheit umfloß die wohlgebauten Sätze seiner Rede; niemals war sie ermüdend, niemals bloßes Wortgeklingel. Wir folgten seinem Kolleg vom ersten bis zum letzten Satz in gleichmäßiger Gehaltenheit und Spannung. Riehl hatte eine kleinmeisterliche Freude am Detail. Er hatte weite Fußwanderungen durch die deutschen Gaue gemacht und liebevoll tausend kleine Einzelheiten gesammelt, die er uns in seiner bildhaften Weise vortrug. Er war nach Form und Inhalt ein Meister.
Das damalige Universitäts- und Studentenleben unterschied sich in einem grundlegenden Punkt von seiner heutigen Gestalt: die Frauen waren noch nicht in die geweihten Räume der Alma mater eingezogen. Die Studentin fehlte, es mangelte das weibliche Element. Das studentische Tun und Treiben, unser ganzer damaliger Ton war von rein männlicher Art, was natürlich nicht ausschloß, daß auch schon damals und gerade damals das Verhältnisleben blühte, wobei die filia hospitalis die Hauptrolle spielte. Aber in freundschaftlicher, kameradschaftlicher Hinsicht waren wir ganz und gar auf den Verkehr unter uns Mannspersonen angewiesen. Wir entbehrten auch jeder engeren Verbindung mit unsern Lehrern, den Professoren, wie sie der heutigen Lebensform der Universitäten zu eigen ist. Ich bin während meiner ganzen Studentenzeit nicht ein einziges Mal im Hause eines meiner Universitätslehrer gewesen, habe, bis auf die letzten Semester, nicht einmal die persönliche Bekanntschaft eines von ihnen gemacht. Der Geist der Universitäten jener Tage steckte noch in den spanischen Stiefeln einer verknöcherten Scholastik und einer vielfach überlebten gesellschaftlichen Konvention.
Lag es an der damaligen Art und Weise des studentischen Lebens, die dem geselligen Anschluß, außerhalb des Verbindungs- und Vereinswesens, nur wenig förderlich war, lag es an mir selbst, an meiner eigenen Ungeselligkeit, an angeborenem Absonderungsdrang: ich ging wochenlang umher, ohne eine Menschenseele zu finden, mit der ich mich anfreunden konnte.
Seit kurzem las ich Hebbel, ich hatte ihn aus der Staatsbibliothek entlehnt, da man ihn sonst ja nicht bekam. Die Schutzfrist von dreißig Jahren seit seinem Tode war gerade verflossen, aber noch war kein Verlag unternehmungslustig genug, seine Werke zu einem erschwinglichen Preise der deutschen Leserschaft zugänglich zu machen. Hebbel war noch kein Geschäft für den deutschen Verleger. Diese Zeit kam erst zehn Jahre später. Es war, als habe der Dichter der »Judith« und der »Nibelungen« niemals gelebt. Für mich wirkte seine Dramatik als eines von jenen Elementarereignissen, wie sie uns nur selten auf unserem Wege zuteil werden. Ich empfand sie als ein Gehirnfeuerwerk von phänomenalem Ausmaß. Man hätte auch an jene Protuberanzen denken können, die sich während einer Sonnenfinsternis als ungeheure Fackeln über den Rand der Corona erheben. Ihr feuerflüssiges Licht schien mir die fahle Dämmerung des Zeitalters mit seinen tragischen Blitzen zu erhellen.
Die gewollte – vielleicht auch nicht anders gekonnte – Nüchternheit seiner dramatischen Phrasierung, das Epigrammatische in Wort, Satz, Dialog empfand ich als titanischen Heroismus; mir kamen die Tränen dabei in die Augen.
Ich machte Ausflüge ins Isartal, das damals, mangels jedes Verkehrsmittels, noch schwer erreichbar war, aber sogar bis ins Weichbild der Stadt hinein noch die Wildheit und Unberührtheit der ungebändigten Natur erstreckte, oder fuhr mit der Dampfbahn nach Nymphenburg, erging mich zwischen den geschnittenen Hecken und den steinernen Nymphen des Parks, deren lebendige Urbilder, die Hofdamen aus der Max-Emanuel-Zeit, einst nichts weniger als steinern gewesen waren, trank die süße Melancholie der Vergänglichkeit und erholte mich davon im Controllor, einem zum beliebtesten Biergarten und Tanzplatz gewordenen ehemaligen Kavalierhaus des Schlosses.
Die Weinstube von Neuner war mein gewöhnlicher Treffpunkt mit einem sehr merkwürdigen Menschen, den ich damals, auf eine mir nicht mehr erinnerliche Weise, kennengelernt hatte. Dieser Mann war der Schwabe Gottreich Christaller, sicher eine der geistig bedeutendsten Persönlichkeiten, die meinen Lebensweg gekreuzt haben. Christaller war eines von etwa fünfzehn Kindern eines schwäbischen Heidenmissionars, war von seinem streng orthodoxen Vater in das Tübinger Stift gebracht worden und hatte dort einen Freiplatz gehabt. Das verpflichtete ihn dazu, nach bestandenen Examina die theologische Laufbahn einzuschlagen, also evangelischer Pfarrer zu werden. Im Weigerungsfalle hätte sein Vater die im Laufe der Jahre angewachsenen Erziehungskosten zurückerstatten müssen, was natürlich seine Kräfte weit überstieg. Christaller fühlte sich daher moralisch verpflichtet, die noch bevorstehende Staatsprüfung abzulegen, empfand dies aber zugleich als schwere Gewissensbelastung, da er nach seiner innersten Überzeugung ein radikaler Freigeist, ja im Grunde genommen Atheist war.
Das schmale, hagere, damals Ende der Zwanziger stehende Männchen mit den ungemein klugen braunen Augen, mit dem nach geistlicher Weise zurückliegenden welligen Haupthaar, den spitzigen Backenknochen und dem braunen Vollbart, stets im geschlossenen Jägerrock einherwandelnd, in der äußeren Erscheinung an einen weltfeindlichen Asketen gemahnend, war das Gefäß eines blendenden, leuchtend klaren Geistes und nichts weniger als lebensabgewandt. Leider fehlten ihm die äußeren Mittel, um seine kleinen sybaritischen Neigungen zu befriedigen, die sich auf ein oder zwei Schöppchen Wein und ein bescheidenes warmes Abendbrot beschränkt hätten. Weiter hätte sich seine angeborene und an erzogene Mäßigkeit gewiß nicht verstiegen. Aber es mangelte meistens auch hieran. Er gab Unterrichtsstunden in ein paar wohlhabenden Familien, wodurch er sich notdürftig über Wasser hielt. Einmal in der Woche langte es doch zu dem erwähnten Exzeß bei Neuner. Wir saßen in dem getäfelten Zimmer, Christaller hatte sein Viertel Tiroler vor sich, das für den ganzen Abend ausreichte, und erzählte mit leiser Stimme von seinem Leben im Stift, und wie er allmählich ein Abtrünniger geworden und zu seinem jetzigen Weltbild gelangt war.
Man konnte die Essenz seiner Weltanschauung mit dem Schlagwort »Aristokratie des Geistes« kennzeichnen. Der Gegensatz seiner Ideen zu denen des demokratischen Sozialismus, zu dem Gedanken von der Besitzergreifung der politischen Macht durch die proletarischen Massen, der das Zeitalter immer mehr zu beschäftigen begann, war Christaller vollauf bewußt. Ich weiß nicht, ob er schon damals mit Nietzsches Gedankenwelt bekannt war. Bei unseren bescheidenen Symposien kam er jedenfalls nie auf sie zu sprechen; mir selbst war Nietzsche in jener Zeit noch ganz fremd. Als ich später in seinen Zauberkreis trat, würde mir bewußt, daß ich vieles schon von Christaller gehört hatte, dem allerdings das dithyrambische Pathos Nietzsches vollkommen mangelte; der vielmehr durch die unerbittliche Schärfe seiner Logik wirkte. Zwischen den Welten Christallers und Nietzsches, des schwäbischen und des sächsischen Pfarrersohnes, bestand aber ohne Zweifel eine nahe geistige Verwandtschaft, mag sie nun auf einer bewußten Anlehnung des Jüngeren beruht haben oder nicht.
Die Darlegungen des absonderlichen Theologiekandidaten im dürftigen Jägerröckchen machten auf mich einen tiefen und nachhaltigen Eindruck; manches von dem, was Christaller sagte, ist durchs ganze Leben bei mir hängen geblieben. Er trug es mit einer so vollendeten Klarheit, mit einer so gar nicht lauten, aber um so eindringlicheren Überzeugungskraft vor, daß keiner seiner Zuhörer sich dem entziehen konnte. Ich erinnere mich nicht, jemals eine Persönlichkeit von so zwingender Schlüssigkeit der Beweisführung kennengelernt zu haben. Das verhungerte Männchen kam mir wie die Inkarnation der Logik selbst vor. Manchmal erinnerte er mich in der radikalen Überspitzung seiner Gedanken, nur mit umgekehrter Zielrichtung, an Robespierre. Wie dieser, so scheute auch Christaller nicht vor den letzten terroristischen Konsequenzen zurück und hätte um ihretwillen, davon bin ich überzeugt, wenn es ihm beschieden gewesen wäre, sie praktisch zu verwirklichen, ebenso wie der Advokat von Arras das Blut von Tausenden vergossen, um wahrscheinlich auch wie dieser zu endigen. Noch heute sehe ich, wenn ich mir Robespierre vorstellen will, ihn in Christallers Gestalt. Ein Fanatiker der Idee!
Der spätere Lebensweg von Christaller, sein vorübergehender – ich betone, sein vorübergehender – Kompromiß mit Kirche und Staat mutet fast wie eine Widerlegung des eben Gesagten an, aber es ist nur der äußere Anschein so. Allerdings muß gesagt werden, daß dieser glänzende und leuchtende Geist nicht das erfüllt hat, was man sich in seiner Jugend Maienblüte von ihm versprechen mußte. Das Buch, das er damals unter der Feder hatte und das bald darauf unter dem Titel »Die Aristokratie des Geistes als Lösung der sozialen Frage« ans Licht trat, ist doch seine stärkste Emanation geblieben. Es erschien bei Wilhelm Friedrich in Leipzig, dem aufsteigenden verlegerischen Stern unserer damaligen jungen Generation, ist längst vergriffen und vergessen und dürfte zu den ganz großen Seltenheiten der Büchersammler gehören.
Im Hoftheater stand das Gestirn Possarts auf der Scheitelhöhe seines Ruhms. Ein ganzer Sack von Anekdoten über ihn ging um und füllte sich noch jeden Tag mehr. Er war noch ganz Schauspieler, der große Mime, dessen Name bereits in die neue Welt hinüberhallte. Seine Intendantenzeit sollte erst kommen: der große Organisator. Dieses andere Hälfte seiner starken und vielfältigen Begabung war, wie die unbeleuchtete Seite des Mondes, noch nicht in Erscheinung getreten. Sein Richard III., sein Franz Moor, sein Mephisto, sein Nathan, sein Rabbi Sichel entfalteten aber von der bereits bekannten und beleuchteten Seite seines Talents eine so reich schattierte Farbenskala, daß seine zahllosen Verehrer in München ihn unter die größten Schauspieler aller Zeiten erhoben und auch die Widerstrebenden vor manchen dieser Leistungen den Hut zogen. Auch ich muß mich schuldig bekennen, zu den Widerstrebenden gezählt zu haben, kann es auch heute noch nicht so ganz revidieren. Possart war für mich die Verkörperung einer rein äußerlichen Deklamation, was mir gleichbedeutend mit Unnatur erschien. Ich stand mit dieser Ansicht ja nicht allein unter uns Jungen; sie wurde von fast allen meinen Freunden geteilt. Nur Ludwig Malyoth, Possarts Schüler, den ich erst gegen Ende meiner Münchner Zeit kennenlernen sollte, schwärmte für den großen Meister der Rede. Wir konnten uns trotz stundenlanger Debatten darüber nicht einig werden und sind es nie ganz geworden, wenn ich auch, in Hinsicht auf die nachmals eingetretene Sprachverwilderung der deutschen Bühne, gern geneigt bin, dem unerhörten Rhetoriker einiges abzubitten.
Im Hof- und Nationaltheater, auf dessen erster Silbe noch die weitaus stärkere Betonung lag, wurden Oper und Schauspiel noch nebeneinander gespielt. Im Residenztheater waren nur ein paar Vorstellungen in der Woche: Shakespearesche Komödien, Molière, Björnson, dessen »Fallissement« mit Ibsens »Stützen der Gesellschaft« und mit »Nora« die äußersten Vorposten der anrückenden Moderne auf der Münchner Hofbühne waren. Daneben blühten Sardou, Dumas, Ohnet, Pailleron, Benedix, Moser und was des kleinen deutschen Unterhaltungslustspiels mehr war. Die Sterne dieser vornehmlichen Lustspielbühne waren Keppler und die Heese, die als Benedikt und Beatrice, als Petrucchio und sein widerspenstiges Käthchen, wohl auch im »Hüttenbesitzer« und in vielen gleichartigen Rollenpaaren den Mitlebenden unvergeßlich geblieben sind. Der große Charakterspieler Häusser, groß auch in kleinen Rollen, bot besonders den Kennern Kostbarkeiten seiner ebenso erlesenen wie lapidaren Kunst. Rüthling war schon tot; keiner seiner Nachfolger im Heldenfach erreichte ihn, so hieß es bei allen, die ihn gekannt hatten. Schneider war schwerer Heldenvater, unübertrefflich sein Erbförster, sein Meister Anton. Ihm hatten es Hebbel und Otto Ludwig zu verdanken, daß ihr Name, ihr Werk wenigstens noch auf der Münchner Hofbühne fortlebten – sonst nirgendwo in einem Theater deutscher Zunge. Mir waren es Erlebnisse von fortzeugender Bedeutung. Eine Mutter, rührend, groß, schlicht, vornehm, wie es die Rolle gerade verlangte, war die Dahn-Hausmann. Sie hat noch am Ende ihrer Laufbahn, als eine ihrer letzten Gestalten, die »Tante Klärchen« in meiner »Mutter Erde« gespielt: herzbewegend und unvergeßlich. Aber dies steht eigentlich erst auf einem späteren Blatt. Zuletzt – aber wahrlich nicht als die letzte unter diesen leuchtenden Sternen des Münchner Theaterhimmels – sei Maria Ramlo genannt, die genialste Nora, die meine Augen gesehen haben. Wir werden ihr, der späteren Gattin Michael Georg Conrads, auch als Gestalterin meiner eigenen Rollen, noch einmal begegnen.
Die Münchner Opernbühne beherrschte der Genius Richard Wagners. Zu den Vorstellungen des Ringes und des Tristan drängte sich vor allem die studentische Jugend, während das große Publikum noch die Wagnerschen Frühwerke, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin bevorzugte. Von den Meistersingern will mir scheinen, daß sie noch nicht die heutige Popularität besaßen. Galerie und Stehparterre des Hoftheaters waren, wenn die tragischen Klänge des Rings ertönten, von der Jugend der verschiedenen Hochschulen und Akademien bis zum letzten Platz gefüllt, ja meistens überfüllt. Da die Vorstellungen bereits um fünf begannen, wie etwa heute die Festspiele des Prinzregententheaters, so stellte man sich bereits um zwei Uhr auf, um dann, sobald geöffnet wurde, die fünf Treppen zur Galerie und die damals noch nicht numerierten Plätze dort oben im Sturm zu nehmen.
Während des langen Wartens war gute Gelegenheit, Bekanntschaften zu machen, da ja auch immer viel weibliche Jugend dabei war. Es gab zwar noch keine Studentinnen, aber doch schon die Musik- und Gesangsschülerinnen des Odeons; auch die Bürgermädchen waren ja noch nicht berufstätig wie heute und hatten Zeit genug zum Theaterbesuch und zu den damit verbundenen Abenteuern. Wenn es dann nach fünfeinhalb Stunden aus war, so stürzte alles zum Franziskaner hinüber, um noch etwas zum Essen zu bekommen. Dort begann dann erst die geistige Verarbeitung des Gehörten, endlose Debatten spannen sich an und wurden bis zur Polizeistunde fortgesetzt, oft genug auch auf den nächsten Abend vertagt. Noch brachte kein Fußball die Gemüter in Wallung, erhitzte kein Schmeling und Nurmi die Geister einer neuen Jugend. Die neue Jugend von damals beschäftigte sich ganz simpel nur mit der Kunst.
Im Theater am Gärtnerplatz war die Blütezeit des Volksstücks Ganghoferscher Prägung. Die Leute liefen zum Herrgottschnitzer. Auch Anzengruber konnte man sehen, den Meineidbauer und den Gwissenswurm, während der Pfarrer von Kirchfeld seines kirchlichen Themas wegen noch recht umstritten war. Dreher und Brummer waren die Komiker dieses Theaters und schon große Kanonen. Sie wirkten zusammen so etwa wie Pat und Patachon, zwerchfellerschütternd für die große Menge, aber nicht nur auf sie. Brummer starb in jener Zeit plötzlich während einer Vorstellung in der Theatergarderobe. Der Tod schnitt dem Komiker seinen letzten Witz vor dem Munde ab. Dreher, sein überlebender Partner, blieb ein Liebling der Münchner.
In Binders Volkstheater, das sich in der Senefelderstraße befand, war der Genius der unfreiwilligen Komik zu Hause. Sie füllte dem Direktor die Kasse. Es wurden Räuber- und Gespensterstücke gespielt von Darstellern, die meistens auf ähnlicher künstlerischer Höhe standen. Bürger und Studenten, namentlich die letzteren, versammelten sich in dem kleinen Musentempel, den noch die Kulissenluft einer vergangenen Theaterepoche durchschwängerte, und nahmen tätigen Anteil an dem Spiel auf der Bühne: je grausiger und grusliger es dort zuging, desto stärker brauste der Jubel des Publikums, öfters wurden Leute hinausgeschmissen, dann erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Zur selben Zeit saß auf seinem angestammten Fensterplatz im Caf6 Maximilian ein einsamer Mann mit einer schon bleichenden Löwenmähne und eisgrauen Bartkoteletten, las eifrig die politischen Nachrichten der Tageszeitungen und fixierte dazwischen die vorübergehenden Flaneure der Maximilianstraße, wie diese ihn. Denn er war ja eine stadtbekannte Erscheinung, man hätte etwas im Bilde der Stadt vermißt, wenn man ihn nicht auf seinem Platz hätte sitzen sehen. Es war Henrik Ibsen, der um diese Zeit etwa gerade mit seinen »Gespenstern« umging. Es waren zwei sehr verschiedene Arten von Gespenstern, die von der Bühne der Senefelderstraße und die von dem Mann am Kaffeehausfenster der Maximilianstraße, aber sie repräsentierten beide auf ihre Weise den Geist der Stadt.
Ich habe noch nicht von einer Bekanntschaft gesprochen, die ich gleich zu Anfang meines Münchner Aufenthalts gemacht hatte. In einer Bierwirtschaft war ich auf einen österreichischen Offizier getroffen, der sich mir als ein weitgereister Mann zu erkennen gab und jedenfalls über alle möglichen Dinge dieser Welt zu sprechen wußte. Er trug einen Bart wie der Kaiser Franz Joseph, nur in jung, obwohl ja der Kaiser auch noch längst nicht in seinem späteren Patriarchenalter stand. Mein neuer Bekannter hatte mir in der Einsamkeit dieser ersten Münchner Wochen über manche langweilige Stunde hinweggeholfen. Wir kamen auch nachher noch öfters zusammen und unterhielten uns immer vortrefflich. Ich schätzte ihn als einen erfahrenen und beschlagenen jüngeren Mann und wunderte mich nur, was er eigentlich in München zu tun haben mochte, da er ja aktiver Offizier war und die Armee seine Dienste doch unmöglich so lange entbehren konnte. Das Geheimnis sollte sich mir schließlich enthüllen, wenn auch auf unerwartete Weise.
Eines Abends – wir hatten etwa einen Monat miteinander verkehrt – eröffnete mir mein militärischer Freund, daß er sich leider in Geldverlegenheit befinde. Die Post aus Österreich war ausgeblieben. Mißverständnisse lagen vor, man hatte wohl in der Zahlmeisterei seine Adresse verlegt; kurz, es handelte sich nur um einen geringfügigen Betrag, etwa hundert Mark. Ich war wohl etwas erstaunt, meine Zuversicht gegenüber der neuen Bekanntschaft hatte sich gerade darum so gefestigt, weil sie bisher so ganz selbstlos und fern jedem Pumpversuch gewesen war. Dennoch! Ich gab die Summe her, es war ja noch in der ersten Hälfte des Semesters, und in der Brieftasche hatte ich den gesamten Wechsel bis zum Schluß. Aber es riß doch ein mächtiges Loch. Mein Bekannter erschien jetzt seltener, nur noch einmal kam er auf meine Bude. Es traf sich, daß es gerade wieder regnete, was nur herunter wollte. Mein Oberleutnant hatte leider seinen Mantel vergessen. Da lieh ich ihm den meinen, einen schönen neuen Wintermantel, den ich noch ins Semester mitgebracht hatte. Ich konnte ihn jetzt im Sommer ja leicht entbehren. Ich habe ihn nie wiedergesehen. So wenig wie meinen Oberleutnant. Er war ein Hochstapler, ein entgleister Buchhalter aus einer österreichischen Provinzstadt, der sich meine Unerfahrenheit zunutze gemacht hatte. Als mir dies endlich zum Bewußtsein kam, ging ich hin und zeigte ihn an. Er wurde verhaftet und bekam eine längere Gefängnisstrafe. Es waren ihm noch mehr solche Gimpel ins Garn gegangen wie ich.
Mein Selbstvertrauen und mein Glaube an die Menschen hatten einen gehörigen Stoß erlitten. Ich belegte mich mit den lieblichsten Kosenamen und schwor mir, nie wieder einem Menschen zu trauen. Was half es! Mein Geld war fort, das Semester dagegen noch mitten im Gange. Da ich zu stolz war, an meinen Vater zu schreiben und meine Dummheit einzugestehen, so blieb nur der Weg der Selbsthilfe übrig. Ich zählte den Rest meiner Barschaft zusammen, es war keine große Mühe, und dividierte die Summe durch die Zahl der Tage bis zum Semesterschluß. Nach dem sich ergebenden Quotienten bestimmte sich die äußerste Grenze meiner jeweiligen Tagesausgabe. So klein der Betrag auch war, ich beschloß, mich Streng danach zu richten und die nächsten sieben bis acht Wochen den Schmachtriemen anzuziehen.
Ich kann mir das Zeugnis ausstellen, daß ich, obwohl doch bisher an eine opulente Lebensführung gewöhnt, meinen Wirtschaftsplan getreulich durchgeführt habe. Ich aß nur einmal am Tage, meistens des Abends und kalt. Der Morgenkaffee war ja in der bereits erlegten Miete mit einbegriffen. Am Sonntag leistete ich mir ein warmes Mittagessen in einer kleinen Kutscherkneipe der Königinstraße, nahe der Veterinärschule. Man bekam dort einen trefflichen Nierenbraten für dreißig Pfennig, dazu ein Brot und eine Halbe Bier, insgesamt mit Trinkgeld eine halbe Mark. Etwas mußte doch auch noch für den Luxus übrig bleiben, für den Schoppen roten Tirolers mit Christaller bei Neuner. So kam ich durch, wenn es mir auch nicht gerade leicht fiel. Meine Ahnung, so schalt ich mich aus, hatte mich also doch nicht getrogen: das Semester hatte schon gleich nicht gut angefangen und stand unter einem schlechten Stern. Ich hätte es mir sollen zur Warnung dienen lassen! Jetzt war es zu spät. Ich hatte immerhin die Genugtuung, meinen Willen durchgesetzt zu haben. Mein moralisches Selbstvertrauen begann sich wieder zu heben. Auch die Schlankheit meiner körperlichen Linie hätte selbst die höchsten Ansprüche von heute befriedigt. Die damaligen überbot sie bei weitem.
Ich habe, wie man mir ohne weiteres glauben wird, selten dem Eintreffen des väterlichen Geldschiffes mit solcher Spannung und Erwartung entgegengesehen wie am Schluß jenes ersten Münchner Sommersemesters. Es lief auch pünktlich und ohne jede Havarie ein, seine Fracht bestand in dem üblichen Reisegeld zur Heimkehr nebst einem ausreichenden Zuschuß für die Ferientour. Ich beschloß, sie ganz zu Fuß zurückzulegen, wenigstens bis auf weiteres. Ich ging also von München über Großhadern, Planegg, durch das Würmtal, dann am Ostufer des Starnberger Sees entlang, nach Wolfratshausen hinüber, weiter über Königsdorf, Tölz, den Bauern in der Au zum Tegernsee bis zum Dorf Kreuth. Meine Absicht dabei war gewesen, gewissermaßen das Gebirge langsam auf mich zukommen zu lassen und solcherweise seinen Atem von Stunde zu Stunde mächtiger und gewaltiger mir entgegenwehen zu fühlen. Was ich wollte, gelang mir auch vollauf, nur mit dem kleinen Unterschied, daß nicht das Gebirge auf mich zukam, sondern ich auf das Gebirge, was in Hitze und Staub und Sonnenbrand jenes italienisch glühenden Augusts ein recht mühsames Geschäft war. Und doch bedauere ich nicht, es unternommen zu haben; ich habe auf diese Weise das Gebirge erst wahrhaft erlebt, indem ich es in seiner ganzen Wucht und Erhabenheit langsam vor mir emporwachsen sah.
In dem damals noch ganz ländlichen Wirtshaus von Dorf Kreuth richtete ich mich für eine Reihe von Tagen häuslich ein. Hier habe ich meine erste dramatische Szene niedergeschrieben. In diesen letzten Monaten und Wochen äußerster finanzieller Dürre war vor meinem inneren Auge die Handlung einer bäuerlichen Tragödie aufgestiegen, deren Gedanken und Gestalten sich aus den Eindrücken und Bildern meiner ländlichen Kindheit losgelöst hatten und deutlich greifbar auf mich zutraten. Die geistige Patenschaft übernahmen, wie sich das von selbst verstand, Hebbel und Otto Ludwig, vor allem jener. Die epigrammatische Kürze, Knappheit, Schlagkraft des Ditmarschener Häuslersohns hatte mich ganz in Bann geschlagen. Seine Art von dichterischem Realismus – man würde ihn heute als »magischen Realismus« bezeichnen – schwebte mir als unerreichbares Ideal vor. Das Stück, dessen erste Szene – die Szene eines steinalten Totengräbers mit der Frau meines bäuerlichen Helden – ich auf den Felsblöcken der springenden, rauschenden Weißach in einem unendlichen Gefühl von Ergriffenheit und Weihe niederschrieb, hat, als es drei Jahre später fertig wurde, den Titel »Ein Emporkömmling« erhalten und ist meine erste dichterische Arbeit, die zum Druck, wenn auch nicht auf die Bühne gelangte.
Jene Ferienreise endigte – nicht anders, als vorher das Semester – mit einer vollständigen Pleite. Mein Reisegeld reichte nicht aus. Ich hatte in München noch etwas an einen Freund verborgt, was ich dann nicht rechtzeitig zurückbekam, mochte wohl auch im Gefühl des neuen Reichtums mich etwas übernommen haben. In Imst in Tirol saß ich plötzlich mit der Barsumme von M. 5.50 fest. Erst in Augsburg konnte ich eine neue Postsendung erwarten. Es blieb nichts übrig, als den Weg von Imst dorthin zu Fuß nach Handwerksburschenweise zu machen, was mir auch auf dem Wege über den Fernpaß, Nassereith, Reutte und Füssen innerhalb zwei Tagen gelang. Es waren 120 Kilometer, die ich vom Samstag in erster Morgenfrühe bis Sonntag nachmittags unter den Strahlen einer geradezu wütenden Augusthitze zurücklegte. In Oberdorf-Biessenhofen bestieg ich den Zug nach Augsburg und hatte, nachdem ich den kleinen Betrag für das Billett erlegt hatte, noch etwa zwei Mark in der Tasche. Mein Verbrauch während des ganzen Marsches, Nachtquartier einbegriffen, hatte ungefähr die gleiche Höhe erreicht. Man konnte damals noch billig wandern, nämlich wenn man es mußte und außerdem das Glück einem hold war, wie in diesem Falle mir. Denn in einem Grenzwirtshaus zwischen Reutte und Füssen hatte die Posthalterin sich des armseligen, verstaubten Bürschchens erbarmt, hatte ihm reichlich Essen und Trinken und gutes Quartier geboten und für dies alles nur fünfzig Kreuzer gleich fünfundachtzig Pfennig berechnet. Den wenige Tage später heimkehrenden Sohn erkannten die Eltern in Güttland kaum mehr wieder. Er war leicht wie eine Feder geworden.
Als ich im späten Oktober nach München zurückkam, fand ich im ersten Stock des Hauses Türkenstraße 49, Ecke der Schellingstraße, neues und angenehmeres Quartier als bisher. Das Zimmer war recht komfortabel, der Blick auf die damals schon lebhafte Türkenstraße voll Abwechslung. Noch lebhafter ging es manchmal am späteren Abend zu, ein paar kleine, verkommen aussehende Häuschen standen gegenüber, in denen verdächtiger Besuch verkehrte. Ich erlebte einige sehr geräuschvolle Auftritte und konnte mir keinen rechten Begriff machen, was drüben vor sich gehe.
Meine Wirtsleute hatten eine gutgehende Konditorei, die gerade unter meinem Zimmer lag. Der Mann war aus Schwaben gebürtig und sprach urschwäbisch, wie man es auch in Reutlingen oder Biberach nicht besser zu hören bekommt. Ich habe mich mit dem urwüchsigen Konditor oft und gern unterhalten und bin durch ihn tief in die Geheimnisse des schwäbischen Dialekts und des Kuchenbackens eingedrungen. Außer seiner jungen Frau waren auch deren beide noch nicht zwanzigjährige Schwestern da und halfen viel in der Konditorei mit. Sie waren alle drei echte lebenslustige Münchnerinnen, zwei von ihnen brünett, die eine, neunzehnjährige, Frieda mit Namen, blond. Begreiflich genug, daß es mich oft ein Stockwerk tiefer hinabzog, in die lustige Mädchengesellschaft. Und doch war auch hier die Tragik nicht weit. Die Konditorin und ihre eine Schwester waren mit dem Keim der Schwindsucht behaftet, einer, wie sich dann herausstellte, schon sehr weit vorgeschrittenen. Die unverheiratete Schwester starb noch, während ich dort wohnte, die Frau bald nach meinem Weggang von München. Sie hatten es beide geahnt und waren trotzdem lustig, als sollte es ewig dauern.
Nur die eine, die meine, sie, die eigentliche, die es mir angetan hatte, die blonde Frieda, war aus festerem Holz geschnitzt und widerstand dem Keim des Familienübels. Ich glaube mich zu erinnern, daß sie meinem Herzen sehr nahe gestanden hat. Gerade auch der kommende Frühling und Sommer sollte uns noch enger verbinden. Mein bevorstehender Abschied von München warf bereits seine Schatten voraus. Sie war ein verständiges, lebenskluges Mädchen, das die Dinge nahm, wie sie sind. Wir waren vergnügt und traurig in einem Atemzug, sahen den Tag herankommen, der uns trennen würde, und schlossen solange die Augen vor dem Unvermeidlichen. Ich erinnere mich eines Ausflugs nach Planegg. Dort standen wir vor der Wallfahrtskapelle von Maria-Eich. Sie betete zur Gottesmutter und ich betete ihr zu Gefallen mit. Und dann tollten wir unter den uralten Tannen und Fichten, bis uns beiden ein bißchen die Sinne vergangen. Ich war gerade damals auf Liliencrons Adjutantenritte gekommen. Sie waren erst vor kurzem erschienen, eine vollständig neu entdeckte Welt für mich. Und hier erlebte ich meinen Liliencron! Erlebte ihn auf die persönlichste Weise. Kurz ist der Frühling.
Wenn ich durch den Umgang mit Christaller stark in das Fahrwasser eines aristokratischen Individualismus – ja, man hätte in letzter Konsequenz von einem Anarchismus sprechen können – hineingeraten war, so wurde mir jetzt Gelegenheit, von der entgegengesetzten Parteiseite her Eindrücke und Erfahrungen lebendigster Art zu sammeln und so eine kräftige Gegenwirkung zu schaffen. Ich hatte einen jungen Juristen kennengelernt, der gerade das Rechtspraktikanten-Examen gemacht hatte. Er hieß Julius Hillebrand, war der Sohn eines kürzlich verstorbenen Professors der Medizin und der Neffe des berühmten Essayisten und Italienfahrers Karl Hillebrand, der damals wohl noch in Gießen lebte. Um den jungen Rechtspraktikanten war eine sehr spürbare geistige und künstlerische Atmosphäre, das Erbteil von Vater und Oheim. Er war auch nur dem Zwang gehorchend Jurist, wollte sobald wie möglich die Fessel abwerfen und sich rein dem schriftstellerischen, dem dichterischen Beruf widmen. Ein dramatisches Erstlingswerk »Nero« lag bereits vor und zeugte in seiner dichterischen Eigenwilligkeit von offenbarem Talent. Seiner politischen Gesinnung nach war Hillebrand Sozialist, stand auch schon in Verbindung mit dem einen oder andern Führer in der Münchner Parteibewegung. Dieser junge Dichter hatte etwas von einem Schwärmer; auch sein Äußeres entsprach sehr dem Bilde, das man sich von einem Dichterjüngling schlechthin zu machen pflegt: ein edel geschnittenes Gesicht, es mochte an Georg Büchner erinnern, der denn auch Hillebrands Heros und Vorbild war. Mit seinem bewunderten Helden, den er im übrigen nicht entfernt erreichen sollte, hat Hillebrand das Schicksal eines frühen Todes gemeingehabt. Er starb mit sechsundzwanzig Jahren an der Schwindsucht.
Durch Hillebrand – sein Dichtername war Julius Brand – kam ich in Fühlung mit dem Akademisch-Philosophischen Verein und wurde bald dort Mitglied. Hillebrand selbst mußte München verlassen, er wurde als Rechtspraktikant nach Hof versetzt; ich habe ihn nur in Urlaubszeiten wiedergesehen. Jener studentische Verein bestand in seiner überwiegenden Mehrheit aus linksstehenden, meist sozialdemokratisch gesinnten Mitgliedern. Der damalige Redakteur und spätere Reichstagsabgeordnete Schönlank spielte eine Hauptrolle in der Vereinigung. Man erzählte sich in München allerlei Histörchen von ihm, wie er, der geborene Norddeutsche, der »Preuß«, sich bei seinen gut münchnerischen Parteigenossen populär zu machen suchte, indem er sein frugales Abendessen, Regensburger oder Geselchtes, auf den Treppenstufen der Staatsbibliothek in der Ludwigstraße verzehrte und sich die Brotscheiben dazu mit dem grifffesten Messer abschnitt. Ich weiß nicht, ob es wahr gewesen ist. Seine eigenen Genossen berichteten es, sie liebten ihn nicht sehr. Seine »koddrige Schnauze« war gefürchtet, dazu trat noch erschwerend der Berliner Tonfall. Auch ich bekam manche Pröbchen davon zu spüren, obwohl ich mich meistens im Hintergrund hielt; dieses ganze politische sektiererische Treiben war doch noch sehr neu und fremd für mich. Ich gehörte zu der an Zahl immerhin ansehnlichen Minderheit der Rechtsstehenden, die vom linken Flügel als eine einzige reaktionäre Masse in den gleichen Topf getan wurde, aber doch aus sehr verschieden gerichteten Elementen bestand.
Der Führer dieses rechten Flügels war der Graf Reventlow aus dem bekannten Holsteinischen Geschlecht, dessen Schwester Franziska zehn Jahre später eine beispielhafte Erscheinung der Schwabinger Boheme und nachmals deren berühmte Chronistin werden sollte. An den Vereinsabenden wurden Vorträge über Politik, Literatur, Kunst, Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialpolitik gehalten, woran sich gewaltige Debatten und grundsätzliche Beschlußfassungen zu den einzelnen Vortragspunkten knüpften. Hier prallten die Weltanschauungen hart aufeinander und am Ende wurde Rechts immer von Links niedergestimmt, da hier eben die »mehreren« waren. Dann schleuderte Schönlank seine schnoddrigsten und giftigsten Invektiven zu uns herüber und Reventlow antwortete mit seinem forschen aristokratischen Witz. Auch Spitzel drangen als Hausierer verkleidet bei uns ein: es war noch die strenge Zeit des Sozialistengesetzes. Wir alle miteinander waren üblen Geruches bei der Polizei wie beim Akademischen Senat, auch wir von rechts. Man warf uns vor, daß dieser Philosophische Verein sich mit allem abgebe, nur nicht mit Philosophie. Der einzige »Philosoph« unter uns war eigentlich Christaller, ich hatte ihn für den Verein gekeilt; und dieser Philosoph konnte uns in den Augen der hohen Obrigkeit, bei Gott, nicht herausreißen.
Unter den Mitgliedern des Vereins war auch eine Anzahl von Pfälzern. Ihr lebhaftes Temperament, ihr aufgeschlossener Geist, bestes pfälzisches Stammeserbe, fühlte sich offenbar von dem höchst bewegten, ja stürmischen Treiben unseres Vereins angezogen. Sie gehörten übrigens wohl alle, obgleich durchweg demokratisch gesinnt, unserem rechten Flügel an. Die Grenzlinie zwischen Demokraten und Sozialdemokraten schied damals die Geister noch streng, zum mindesten in den Reihen unseres Vereins. Ein nachmals sehr bekannter Rechtsanwalt in Frankenthal führte unter seinen Landsleuten das große Wort. Man hörte seine dröhnende Stimme in allen Debatten erschallen. Ihm wie so manchem andern von uns dienten diese Erörterungen und Auseinandersetzungen, diese Diskussionen und Resolutionen, diese Anträge zur Geschäftsordnung und Übergänge zur Tagesordnung als willkommene Übungskurse in der Dialektik, als Vorschule für eine spätere juristische oder parlamentarische Praxis, als Seminar für angehende Reichstagsabgeordnete.
Die Pfälzer unterschieden untereinander scharf die Vorderpfälzer und die Westricher. Erstere waren die immerfort Aufgeregten, ohne daß eine erkennbare Ursache vorgelegen hätte, die Lauten, die Dröhnenden, sie hatten die Beredsamkeit gleichsam in Erbpacht. Sie bemitleideten jeden, der nicht aus der Pfalz, vor allem nicht aus der Vorderpfalz her war, als einen armen Hund, der nun eben sein Schicksal tragen müsse. Von ihnen stammte das Wort, daß einmal ein Pfälzer, natürlich ein Vorderpfälzer, über den Rhein ins Badische oder Hessische ausgewandert und dort erfroren sei Wie wäre es auch anders möglich gewesen! Die andern, die Westricher, waren die Stilleren, die Gesetzteren, wie es der kargeren, bergigen Natur ihrer Heimat entsprach. Sie glühten mehr nach innen, konnten aber auch plötzlich ihren Furor bekommen und dann das Getöse eines Vulkans entwickeln.
Von dieser Westpfälzer Couleur war Ludwig Scharf, den ich damals im Akademisch-Philosophischen Verein kennenlernte und mit dem mich eine fünfzigjährige Lebensfreundschaft verbunden hat. Scharf war ein Beamtensohn, in der Vorderpfalz geboren, aber durch Geblüt und Erziehung (Gymnasium Zweibrücken) typischer Westricher und Saarländer. Sein Vater war tot, seine Mutter lebte in Blieskastel, wo sie ein Haus besaß. Ich habe die höchst temperamentvolle und geistesbewegliche Frau bei meinen verschiedenen Besuchen in Blieskastel aufrichtig liebgewonnen, wenn ich mit ihr auch manchen harten Strauß wegen ihres Sohnes Ludwig auszufechten gehabt habe. Er war ihr Sorgenkind, und man kann nicht behaupten, daß ihre Sorge grundlos gewesen wäre. Als ich mit Scharf bekannt wurde und gleich eine dicke Freundschaft mit ihm schloß, studierte er zwar dem Namen nach Jura, war aber schon damals entschlossen, als Dichter, lyrischer Dichter, sein Heil in der Welt zu versuchen. Da er schon von der Schule an kränklich war und mit einem Fußleiden zu schaffen hatte, so lag auch Grund genug vor, sich körperlich zu schonen und alle Aufregungen zu meiden, wozu im weiteren Sinne ja auch das Berufsstudium gehörte. Wenigstens war dies seine eigene Meinung von der Sache. Seine Mutter war entgegengesetzter Ansicht, was der sich sorgenden und hitzigen Frau durchaus nicht zu verübeln war. So entstanden im Laufe der Zeit recht wesentliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und Sohn, zu deren Behebung ich ein paarmal, wie schon erwähnt, habe beitragen können; es war aber nie von Dauer. Wie hätte die gute Frau es auch im prophetischen Gemüte haben können, daß ihr halb oder ganz verlorengegebener Sohn einmal in einem ungarischen Magnatenschlosse residieren und mit dem magyarischen oder kroatischen Hochadel verschwägert sein werde.
Lebensläufe im Zickzack! Selten in der Geschichte hat ein Zeitalter dieses Wort so sinnfällig in die Wirklichkeit umgesetzt und variiert wie das unsere. Und selten hat ein Leben, ein Dichterleben, so merkwürdige und abenteuerliche, so gänzlich unwahrscheinliche Wandlungen im Sinne jenes Wortes erfahren wie das von Ludwig Scharf. Das Traumhafte, das Märchenhafte unserer Existenz, wovon in den einführenden Worten dieser Lebensbeschreibung die Rede war, tritt mir gerade an diesem Punkt meiner Reise, der mich zu dem Charakterbild und dem Lebensschicksal Ludwig Scharfs führt, wieder besonders ergreifend vor die Seele. Der junge, am Stock gehende Student und Dichter mit dem schwarzen üppigen Wollhaar, der etwas eingedrückten breiten Nase, der dunkel olivenen Gesichtsfarbe und den kohlschwarzen brennenden Augen – eine Beethovenmaske, ins Negroide übertragen – hatte damals von dein für ihn in den Sternen geschriebenen »Lebenslauf im Zickzack« noch so wenig eine Ahnung wie ich oder ein anderer von seinen Freunden. Er hielt es für das einfachste Ding von der Welt, sich als lyrischer Dichter durchs Leben zu schlagen. Für das nötige Kleingeld werde der liebe Gott schon sorgen, obwohl er dessen Existenz ja eigentlich bestritt. Scharf hatte eine höchst eindrucksvolle Art, seine Verse vorzutragen. Es dröhnte, wie wenn Hammerschläge auf eine Erzplatte fallen, Schlag um Schlag, langsam, nachdrücklich, eine Pause nach jedem Schlag. Seine Rhythmik war schwer, wuchtig, zyklopisch; seine Thematik wurzelte zu allertiefst in der Abstraktion. Scharf war der geborene Gedankenlyriker, kein stärkerer Gegensatz als etwa der zwischen ihm und Liliencron. Der ursprünglichen Wurzeltiefe seines Talents entsprach keine gleich große Fülle und Spannweite; so sind es der dichterischen Seelendokumente dieser merkwürdigen und einmaligen Zeiterscheinung nicht viele geworden.
Zu Weihnachten 1884 erschienen an den Münchner Anschlagtafeln grelle Plakate, in denen das Erscheinen einer neuen Wochenschrift angezeigt wurde. Sie sollte den Titel tragen: »Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.« Als Herausgeber zeichnete Dr. M. G. Conrad. Es war Michael Georg Conrad, der hier zum erstenmal als Vorkämpfer und Standartenträger einer neuen Generation auf die Zeitbühne trat. Wir standen vor den Anschlägen und hatten sofort das bestimmte Gefühl, daß es unsere eigene literarische Zukunft sei, deren Geburtsstunde hier angekündigt wurde. Unser ganzer Kreis abonnierte sich auf die neue Wochenschrift. Das erste Heft brachte einen einführenden Aufsatz von Conrad, der in tönenden Worten der »Tyrannei der höheren Töchter« und der »alten Weiber beiderlei Geschlechts« sowie dem »journalistischen Industrialismus«, diesem »größten Schaden unserer nationalen Literatur und Kunst« Krieg ansagte. »Fort«, so heißt es an einer Stelle, »ruft unsere ›Gesellschaft‹ mit der geheiligten Backfischliteratur, mit der angestaunten phrasenseligen Altweiberkritik, mit der verehrten kastrierten Sozialwissenschaft! Wir brauchen ein Organ des ganzen freien humanen Gedankens, des unbeirrten Wahrheitssinnes, der resolut realistischen Weltauffassung!« Unter den Mitarbeitern, die der Artikel nennt, ist außer Conrad selbst eigentlich kein einziger vertreten, der auf die Nachwelt gekommen ist oder später eine Rolle in der Bewegung spielen sollte, denn Theodor Vischer, der sich merkwürdigerweise darunter befindet, kann kaum zu diesem Kreise gerechnet werden, du Prels Bedeutung liegt auf einem andern Gebiet als dem rein literarischen, und von dem ohne Zweifel bedeutenden Christaller, über den ich vorhin gesprochen habe, weiß ja das heutige Geschlecht auch nichts mehr.
In einer der letzten Sitzungen unseres Debattierklubs, Akademisch-Philosophischer Verein genannt, hielt ich einen Vortrag über die »Revolution im modernen Drama«. Das Programm, das ich entwickelte, fußte vornehmlich noch auf einem dichterisch gebändigten Realismus, im Zeichen Kleists, Hebbels, Otto Ludwigs, erschien aber nicht nur mir, sondern auch dem Kreise meiner Zuhörer als ganz radikal und revolutionär. Einer war darunter, den ich schon aus dem Kolleg von Ansehen kannte und über den ich mich schon öfters geärgert hatte, weil er mir besonders eifrig ad verba magistri zu schwören schien. Dieser ungebetene und unerwünschte Gast rief mir jedesmal, wenn ich mit Emphase donnerte, wer denn heute etwas von Kleist, von Hebbel, von Otto Ludwig wisse, mit süffisantem Lächeln in meine Rede hinein: »Ich!« Und wiederum: »Ich!« Und abermals: »Ich!« Das war mir denn doch zuviel! Ich schäumte innerlich, verbiß aber meinen Ärger und ging hinaus ... An diesem Ort erschien auch sofort jener Gast, jener Ich-Rufer; wir faßten uns beide ins Auge, kamen in Rede und Gegenrede und waren nach fünf Minuten ein Herz und eine Seele. Der Mann, der alles ebenso gut und noch viel besser wußte als ich und mit: dem ich an jenem Abend und an jenem Ort einen Freundschaftsbund fürs Leben schloß, hieß Ludwig Malyoth. Er ist vor kurzem achtzigjährig gestorben. Es dürfte keinen wissensreicheren Erforscher der Theatergeschichte und keinen gewiegteren Kenner des Theaters selbst gegeben haben als ihn.
Am Morgen nach diesem Vortrag – es war der Tag nach Lichtmeß – unternahm ich eine Winterreise zum Walchensee. Der Gedanke schien allen, denen ich von ihm erzählte, von äußerster Perversität zu sein. Auf einen Winterbesuch im Gebirge, mitten in Schnee und Eis, zu verfallen, dies sei wirklich nur einem solchen Sonderling und Querkopf vorbehalten gewesen wie mir: so erging der gemeinsame Chor der Freundesstimmen. Ich kümmerte mich nicht darum und fuhr meiner Wege. In der reinen klaren Winterluft des Walchensees las ich Hebbels »Herodes und Mariamne« und fühlte mein Herz in tragischer Erschütterung schmelzen, während die weißen Firne des Karwendels durch winterliche Fenster in die kleine Urfelder Gaststube schauten. Als ich an einem herrlichen Sonnentage im Schnee der Walchenseestraße stapfte, rief eine vorübergehende Bäuerin im höchsten Schrecken aus: »Jessas! Jetzt kommen s' gar schon im Winter naus!«
Schon Ende dieses Wintersemesters ging ich mit dem Plan um, München zu verlassen. Ich wollte meine Studien in Berlin fortsetzen, um nicht zu sagen: beendigen, denn ich sah ja auf lange hinaus noch kein Ende ab. Meine Zukunft erschien mir in manchen Stunden doch recht dunkel und ungewiß. Die Semester rückten vor und lösten einander in beängstigend rascher Folge ab, während ich durch die Fakultäten und Disziplinen wanderte, bald hier, bald da abschweifte, überall etwas auflas und herumpickte, wie ein über ein Weizenfeld irrendes Huhn, und doch zu keiner ernstlichen Sammlung für das nun einmal unvermeidliche Ernteziel gelangte, das sich Examen hieß. Schon auf die Frage, welcher Art dieses Examen sein solle, ob Staatsprüfung mit dem Zweck einer Anstellung, ob nur ein allgemeinwissenschaftlich abschließendes Doktor-Examen, wußte ich mir durchaus keinen Bescheid. Ich mußte mir schon jetzt eingestehen, daß mein germanistisches Unternehmen wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt sei. Es erfüllte mich nicht, trieb mich nicht an, lieh mir keinen Mut und keine Hoffnung. Wenn aber dieser Weg zu nichts führte, so blieb mir, soweit mein Studium in Frage kam, nur noch das Geschichtsfach übrig. Ich konnte darin meinen Doktor machen, nachher würde man weiter sehen. Wenn aus meinem Dichterberuf nichts werden sollte, an dem ich aber doch in tiefster Seele nicht zweifelte, so schwarzes Gewölk sich auch manchmal über jener Ferne auftürmte, dann konnte ich die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und auf einen Lehrstuhl der Geschichte hinarbeiten. Mir schwindelte manchmal, wenn ich auf die Wege und Stege blickte, die in meine Zukunft führten. Sie kamen mir vor wie Klettersteige im Gebirge, an schroffen Felswänden entlang, neben dunklen Abgründen hin.
Eines aber stand schon jetzt für mich fest: Wenn ich weiter wollte, wenn überhaupt noch etwas aus mir werden, wenn ich einen neuen Antrieb bekommen sollte, so war ein Luftwechsel erstes Gebot. Die Münchner Atmosphäre, vordem so beschwingt und beschwingend, beengte mir mit einemmal die Brust, drückte mit Zentnerlast auf meine Seele. Ich fühlte mich in Gefahr, zu verbummeln. Fort, fort! so rief ich mir zu, ehe du das Schicksal aller der andern teilst, die du in den Kaffeehäusern herumlungern und dem Herrgott den Tag wegstehlen siehst! Ein furchtbarer Widerwille gegen meine ganze Umgebung, gegen all mein bisheriges Leben erfaßte mich, schüttelte mich. Widerwille und Angst zugleich. Nur noch eines war da, was mich hielt; allerdings mit fast unzerreißbaren Banden hielt: ein blondes lächelndes Mädchengesicht in der Konditorei. Auch diese Fessel mußte fallen, das schwor ich mir zu. Aber sie war doch die Ursache, daß ich nicht schon zu Ostern ging, sondern noch über das Sommersemester in München blieb. Mochte dann mit dem Herbst in Berlin das neue Leben beginnen. Ich hatte am Ende auch meine nächsten Freunde so weit, daß sie mit mir gingen: Scharf und Christaller wollten bald folgen.
Aber dann wurde es doch schwer genug, das Scheiden in der Konditorei. Es war ein Abschied, der fast an den in Griebenau – wie lange war das schon her! – gemahnen wollte. Bei Neuner mit den Freunden floß roter Tiroler in gehörigen Mengen. Die Nacht, diese letzte Nacht in München, war kurz, der Kopf war wüst, das Herz war schwer. Eine Rheinreise sollte das Semester beschließen. In Heidelberg traf ich mit Binder zusammen, dem alten Freund aus Marienburger Schülertagen. Er hatte sich ein bißchen auf dein Gymnasium verspätet, stand erst jetzt am Ende seines ersten Semesters, das er, meinen Spuren folgend, in Heidelberg verjubelt hatte. Auch unser Pilgerzug den Rhein hinab, mit einem Abstecher nach Limburg und Runkel (o Mondscheinfahrt auf der Lahn mit Gläserklang und silbernem Lachen!) war eine einzige Wein- und Jubelreise, in deren Wogen ich um so lieber untertauchte, als sie mich, wenigstens für Stunden, Vergessen lehrte. Von Köln fuhr ich nach Emden. Von Emden zu Schiff über die Nordsee nach Hamburg. Von Kiel wieder zu Schiff über die Ostsee nach Danzig. So kam ich endlich zu Hause an. Es war für die damalige Zeit schon eine kleine Weltreise. Aber auch meiner Seele war zumute, als sei sie weit um die Welt gefahren.