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Es mochte gegen Mitte Januar sein, als wir die Nachricht erhielten, daß sich in Mariampol ein russischer Gouverneur an der Spitze einer regelmäßigen Verwaltung befinde, und nun litt es meinen völlig genesenen Kameraden nicht länger unter dem dürftigen, aber gastlichen Dach, welches uns aufgenommen. Von Tag zu Tag stieg seine Ungeduld höher, und endlich erklärte er mir, daß er aufbrechen würde, um womöglich eine günstige Veränderung unserer Lage herbeizuführen. Dieser Entschluß war aber leichter gefaßt als ausgeführt, da er keine andere Kleidung besaß als den schmutzigen Schafpelz, den er trug. Doch trat unser Herr von Corries unsern Beratungen helfend bei, indem er erklärte, daß er ein Paar Kniehosen, das Prachtstück seines Bräutigamsstaates, zu dem guten Zwecke opfern wolle. Gesagt, getan; er opferte und der arme Märtyrer von C..... nicht minder; denn er, ein junger kräftiger Mann von 9–10 Zoll, mußte sich in die winzigen Unaussprechlichen von gelbem Plüsch zwängen, die bis dahin einem kleinen Manne gehört hatten, welcher kaum das Maß hatte. Die unglücklichen Kniehosen erreichten kaum die Knie, und während sie knapp bis zur Hüfte hinaufgingen, ließen sie den Oberleib frei, der in schreckhafter Länge aus denselben hervorragte. Um den Hals befestigte man, wie um das übriggebliebene Beinstück, ein altes Tornisterfell mit Bindfaden, und an die Füße kamen ein paar gefundene Schuhe, von denen der eine, weil zu groß, mit etwas Stroh ausgestopft, der andere, am entgegengesetzten Fehler leidend, etwas aufgeschnitten war. Eine Feldmütze, um welche etwas Tuch gebunden wurde, da sie gleichfalls zu eng und darum etwas aufgeschnitten werden mußte, krönte diesen preiswürdigen Aufzug, in welchem C..... vor mich hintrat. So schmerzlich mir sein Scheiden war, vermochte ich bei diesem Anblick nicht ernsthaft zu bleiben, sondern brach in erschütterndes Lachen aus, dem mein Kamerad ebenso herzlich beistimmte.
Als wir uns etwas erholt hatten, kam ein wichtigeres Thema zur Sprache, nämlich – das nötige Reisegeld. »Nun, Herr von Corries,« sagte ich, mich an diesen wendend, »seien Sie so gütig, meinem scheidenden Freunde einen von meinen doppelten Napoleons zu geben, er ist bereit, uns zu verlassen!« – »I wat Kindeken,« erwiderte der Alte, »wo denken Sie hin; ich habe meine Berechnung noch nicht gemacht, und ehe die nicht gemacht ist, gebe ich keinen Pfennig her!« – »Aber Herr von Corries, Sie können doch nicht all das Ihnen übergebene Geld für unsere einfache Bewirtung behalten wollen, besonders da Sie wissen, daß es unser letztes Mittel ist, weiterzukommen!« – »Dat will ich auch gar nich, Herzensfreundeken, aber erst muß ich alles berechnen, von die Napoleons gebe ich keinen heraus, alles, watt ich tun kann, is, daß ich dem jungen Herrn all das Silbergeld geben will, was ich im Hause habe!« – Ich konnte zureden, was ich wollte, es war vergebens. Ich wurde heftig; es half nichts, so daß ich endlich auf sein Versprechen hinsichtlich des Silbergeldes zurückkommen mußte. Der ganze Vorrat davon betrug, nachdem alle Schiebladen des altmodischen Schrankes durchsucht waren, ungefähr zwölf Groschen, und mit diesen in der Tasche begab sich nach einem sehr herzlichen Abschied der letzte meiner bisherigen Gefährten auf den Weg!
So war ich denn nun ganz verlassen, und obschon ich sicher auf das Versprechen meines Freundes rechnen konnte, mich so bald wie möglich aus meiner damaligen peinlichen Lage befreien zu wollen, so wußte ich doch nicht, ob das Glück ihn in dem Grade begünstigen mochte, daß er in diese glückliche Möglichkeit versetzt würde. Andererseits fiel mir seine Abwesenheit schmerzlicher auf, als ich es mir gestehen mochte; seine heitere Laune, seine Zuversicht auf bessere Zeiten hatten mich in meinen Leiden erhoben, und seine Märchen, die er mit so glaubwürdiger Miene dem alten Corries vortrug, so manche trübe Stunde unseres traurigen Lebens erheitert. Jetzt, allein meinen wahrlich nicht heiteren Gedanken überlassen, erhielten diese einen niederdrückenden Einfluß auf meinen Geist, welcher nachteilig auf meine Gesundheit wirkte, den letzten Rest der mir gebliebenen Kraft erschöpfte. Dazu verschlimmerten sich meine Fußwunden bedeutend, die Nächte, immer schlaflos, dünkten mich länger als je, und auch mein Wirt war wortkarger als sonst; denn auch ihm fehlte mein munterer Kamerad.
Einst war der Erdkreis gegen uns erbittert,
Europas Boden hat vor uns gezittert.
Schaut nun mit Grausen, mit Entsetzen hier:
Ein warnend Jammerbild sind wir.
Gott sei es gedankt, dieser entmutigende Zustand dauerte nicht lange! Ein reitender Bote brachte mir nach wenigen Tagen einen Brief meines Freundes, den ich schnell erbrach und der mit folgenden Worten anfing: »Hier ist gut sein, hier laßt uns Hütten bauen!« In der Freude meines Herzens konnte ich anfangs nicht weiterlesen; doch als ich es vermochte, erfuhr ich, daß von C..... in Mariampol sehr wohl aufgenommen sei, und man sich beeifert hätte, ihn auf die freundlichste Weise mit neuen Kleidern und sonstigen Bedürfnissen zu versehen. In den Ausdrücken der höchsten Freude teilte er mir mit, daß in gleicher Weise für mich gesorgt sei, und daß ich mich bald in ebenso guter Pflege befinden werde wie er selber, dem sein Wirt, ein polnischer Edelmann höheren Ranges, eine Kost biete, die alle Prüfungen der Corriesschen Küche vergessen ließ.
Wie man glauben wird, säumte ich nicht lange, dem an mich ergangenen Ruf Folge zu leisten; mein Wirt wurde in Kenntnis gesetzt und abermals um Geld angesprochen. Ich erhielt etliche Taler, begleitet mit der Entschuldigung, daß die Rechnung noch nicht gemacht sei; doch ließ er es sich nicht nehmen, mich bis Preny zu begleiten, wo mich ein deutscher Apotheker, namens Wansboter, mit seinem Schlitten erwartete und mich noch am nämlichen Tage nach Mariampol brachte. Mein Abschied von dem alten Corries war herzlich und nicht ohne innige Rührung; nur ihm hatten wir die Erhaltung unseres Lebens zu danken, das ohne seine gastfreundliche Bereitwilligkeit an jenem gräßlichen Abend des 21. Dezember verloren gewesen wäre, und wenn seine Genauigkeit uns auch manchmal erboste, so gab er doch auf der andern Seite das, was ihm zuwuchs, herzlich gern. Vor allen Dingen aber gebührt der innigste Dank jener alten Tante der Familie, die mit wahrhafter Selbstverleugnung sich unser und namentlich meiner bei meinen Schmerzen angenommen, die mütterlich für uns sorgte, und deren unermüdlicher Pflege und Sorgsamkeit mein Freund von C.....nur die Erhaltung seines Lebens verdankte.
In Mariampol fand ich mich sehr unwohl bei meiner Ankunft. Mein erstes Bedürfnis war daher Ruhe, und diese ward mir in einem köstlichen Bett, nachdem meine Fußwunden nachgesehen und kunstgerecht verbunden waren. Man hatte die freundliche Rücksicht gehabt, mich der besseren Pflege halber bei dem Arzt des Städtchens einzuquartieren. Ich war so froh, meinen Kameraden wiederzusehen, daß schon dieser Umstand glücklich auf mich einwirkte und ich mit Dank und Freude erfülltem Herzen einschlief. Als ich ziemlich spät am andern Morgen erwachte, fand ich vor meinem Bett einen durchaus neuen, sehr schönen Anzug nebst der saubersten Wäsche, eine Aufmerksamkeit, die ich, wie ich später erfuhr, dem Kassierer Jürgens, ebenfalls einem Deutschen, zu danken hatte, und die, wie man sich denken kann, von mir mit großer Freude aufgenommen ward. Ein sehr gutes Frühstück erwartete mich, mir doppelt angenehm durch die Gegenwart meines lieben v. C....., von dem ich nun die einzelnen Züge seiner letzten Tour erfuhr.
Nach seiner Abreise von Corries war er auf seinem öden, traurigen Wege tapfer zugeschritten, lange ohne ein Wirtshaus zu finden, wo er sich etwas hätte stärken können, bis er endlich an eine öde Judenschenke gelangt war, in welcher gleichfalls wenig mehr als Schutz gegen die fürchterliche Kälte zu finden gewesen. Sich nur eine kurze Rast gestattend, war er bald, nachdem er sich etwas erholt, wieder aufgebrochen. Doch hatte der frühe Winterabend eine so strenge Kälte mitgebracht, daß der arme Wanderer mit Sehnsucht einem Obdache entgegengesehen. Lange war diese Hoffnung vergebens. Doch endlich, als das Bedürfnis nach Wärme und Ruhe aufs höchste gestiegen, entdeckt er zu seiner großen Freude einen Edelhof von ziemlichem Umfang, von welchem ihm aus den Fenstern des Wohnhauses her heller Lichtglanz entgegenströmt. Ohne Bedenken tritt er ein und bittet den ersten Diener, welchem er begegnet, ihn zu dem Herrn des Hauses zu führen. Dieser, ein junger artiger Mann, erscheint auf der Stelle und fragt auf die freundlichste Weise nach seinem Begehr. Ohne Verzug teilt ihm von C..... in der Kürze seinen Stand und Namen, sein erlittenes Unglück mit und bittet um ein Unterkommen für die Nacht. Der Hausherr gewährt dies auf die höflichste Weise, behandelt seinen Gast nach dessen Stand und nicht nach seinem Aussehen, und führt von C..... bei der Hand in die Nebenstube, in welcher er zu seinem größten Schrecken eine zahlreiche Gesellschaft von Herren und Damen findet.
Der Hausherr stellt seinen glänzenden Gästen den Neuhinzugekommenen als einen gefangenen westfälischen Hauptmann vor und weist diesen zu einem Kreis junger Leute, die ihn verbindlich begrüßen. Obwohl nun sein Aufzug in jedem Lustspiel das Entzücken der Galerie gewesen wäre, erlaubte sich doch keiner der Anwesenden, wohl in Rücksicht auf das Trauerspiel, dem er entlehnt war, die geringste beleidigende Miene oder ein verletzendes Lachen; man sah, daß man einen Mann von Bildung und Erziehung vor sich hatte, und behandelte ihn danach. Gesellschaftliche Spiele folgten einer vorläufigen Erfrischung, in denen die jungen Herren und Damen sich beeiferten, es einander an Höflichkeit gegen den unerwarteten Gast zuvorzutun, und das Behagliche seiner Umgebung, die prächtige Bewirtung sowie die glänzende Helle und milde Wärme um ihn her versetzten meinen Freund in eine so heitere Stimmung, daß er zu dem geselligen Vergnügen so viel beitrug, als er empfing. Als die Gesellschaft sich in ihre Zimmer zurückzog, trat der Hausherr entschuldigend zu ihm mit der Bitte, es sich gefallen lassen zu wollen, in das Zimmer der übrigen jungen Herren einquartiert zu werden, indem sein Haus nur klein sei und der Raum ihm nicht gestatte, seinem neuen Gast ein eigenes Zimmer anzuweisen.
So weit war nun alles gut gegangen; aber als man sich im Schlafzimmer entkleidete und unser Reisender nach Ablegung des alten Schafpelzes in den kurzen gelben Plüschhosen des weiland Bräutigams Corries erschienen war, ohne andere Kleidungsstücke, welche die herkulischen Verhältnisse seines Körpers gemäßigt hätten, war ein so schallendes, einstimmiges Lachen der Brust seiner Schlafgenossen entstürmt, daß der Wirt und seine übrigen männlichen Gäste von diesem Ausbruch lauter und hinreißender Fröhlichkeit herbeigelockt, dem schuldlosen Gegenstand ihrer Belustigung die gleiche Ehre erwiesen. Es war nicht nötig, daß derselbe gute Miene zum bösen Spiel machte und darum in ihr Lachen einstimmte; er fand seinen Aufzug so spaßhaft wie jene und lachte von Herzen mit, und die ganze Gesellschaft hörte nicht eher damit auf, als bis die gelben Plüschhosen samt ihrem derzeitigen Besitzer in die wärmenden Decken eines guten Bettes versenkt waren. Aber selbst da kamen noch einige Ausbrüche der eben stattgehabten Fröhlichkeit zum Vorschein, je nachdem dem einen oder dem andern der komische Vorfall mit neuer Lebendigkeit vor die Seele trat.
Am andern Morgen erhielt von C..... auf seine Bitten einen Schlitten, der ihn bis auf den halben Weg nach Mariampol brachte, welches er denn ohne Anstrengung noch am Abend desselben Tages, erreichte, und wo er ebenfalls die freundliche Aufnahme gefunden, deren er in seinem Briefe erwähnt.
Sein gütiger Wirt, ein Herr von Bronsky, ruhte selbst nicht eher, bis er auch mich, der ich fast immerwährend krank und bettlägerig war, auf sein Gut übergesiedelt hatte, auf welchem wir wie die Herren vom Hause behandelt und verpflegt wurden. Wir erhielten unseren eigenen Bedienten, ein geräumiges Quartier und den Befehl über Küche und Keller. Da auch ein Arzt im Hause war, konnte mein Fuß gut behandelt werden, so daß allmählich die Nachwehen der erduldeten Strapazen verschwanden, und wir, unterstützt von der Kraft unserer Jugend, zu neuem Leben erstarkten.
Dennoch kam, trotz unserer glücklichen Verhältnisse, die alte Ungeduld und das Streben nach erneutem Lebenszweck zum Vorschein. Hier zeigten sich jedoch trübe Aussichten. Am 30. Dezember hatte York mit Diebitsch bei Tauroggen einen Vertrag abgeschlossen, welcher Neutralität der Preußen auf die Dauer von zwei Monaten feststellte. Nachdem diese Frist verstrichen war, erfolgte die Kriegserklärung des Königs von Preußen an Frankreich, und mein sehnlichster Wunsch ging nun dahin, den Fahnen zuzueilen, unter denen zu dienen seit langen Jahren mein eifriges Bestreben gewesen, denen ich auch als geborener preußischer Untertan verpflichtet, und dennoch durch ein mächtigeres Wollen, als menschlicher Wille ist, bis jetzt entzogen worden war. Doch noch war dies ersehnte Ziel nicht erreicht; ich war Kriegsgefangener, und da für diejenigen, die als Fremde in preußischen Dienst treten wollten, die Elbe als Grenze bestimmt wurde, ich aber jenseits des Rheins geboren war, mußte für jetzt mein Eintritt noch unterbleiben.
Damit schließt der wackere Veteran seine Erinnerungen. Man kann sich denken, welchen Eindruck solche Gestalten und Berichte im deutschen Vaterlande machen mußten. Zu der Trauer um die verlorenen eigenen Verwandten gesellte sich der heilige Zorn gegen den Urheber alles dieses Elends, der von Gott so sichtbar gerichtet worden war. Am mächtigsten gibt diesen Eindruck, aus dem die Befreiungskriege geboren wurden, das Lied wieder, das ein preußischer Primaner im Dezember 1812 gedichtet hat.
So hat sie Gott geschlagen.
Mit Roß und Mann und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.
Es irrt durch Schnee und Wald umher
Das große, mächtge Franzosenheer;
Der Kaiser auf der Flucht,
Soldaten ohne Zucht,
Kranke ohne Wagen:
So hat sie Gott geschlagen.
Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen,
Jäger ohn Gewehr,
Kaiser ohne Heer,
Heer ohne Kaiser;
Wildnis ohne Weiser.
Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.
Trommler ohne Trommelstock,
Kürassier im Weiberrock.
Ritter ohne Schwert,
Reiter ohne Pferd.
Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.
Fähnrich ohne Fahn,
Flinten ohne Hahn,
Büchsen ohne Schuß,
Fußvolk ohne Fuß.
Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.
Feldherrn ohne Witz,
Stücklaut ohn Geschütz,
Flüchter ohne Schuh,
Nirgends Rast und Ruh.
Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.
Speicher ohne Brot,
Allerorten Not;
Wagen ohne Rad,
Alles müd und matt.
Kranke ohne Wagen,
So hat sie Gott geschlagen.