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Es gibt wenige Ereignisse in der Weltgeschichte von so folgenschwerer, erschütternder Bedeutung wie Napoleons unglücklichen Feldzug gegen Rußland. Der Günstling des Glücks erlebte hier, nachdem er bis zur Sonnenhöhe des Ruhmes emporgestiegen war, einen niederschmetternden Mißerfolg, der den gänzlichen Zusammenbruch seines Reiches nach sich zog. Es war keine unmögliche Aufgabe noch die Übermacht der Elemente, die den Eroberer zugrunde richtete, sondern er selbst beging im Laufe des Feldzuges eine Reihe verhängnisvoller Fehler, die sein Heer um den Erfolg betrogen und schließlich dem Verderben auslieferten. Er selbst vernichtete die Waffe, mit der er bisher die Völker unterjocht hatte. Zu allen Mißerfolgen kamen dann zuletzt noch die Schrecken des russischen Winters hinzu, und was dem Schwerte entronnen war, wurde von Kälte und Hunger hinweggerafft. So vollendete sich bei den Zeitgenossen der Eindruck eines ungeheuren Gottesgerichtes, das den frechen Verächter göttlicher und menschlicher Gebote auf den Schneefeldern Rußlands ereilte, und dieser Glaube gab den Befreiungskriegen ihre religiöse Weihe. Es wäre heilsam, wenn er auch in der Nachwelt lebendig bliebe. Wir wollen in dieser Schrift die Erinnerung an das Jahr 1812 wieder wachrufen und ein Gemälde der großen Tragödie entwerfen, das durch die persönlichen Erlebnisse eines Mitkämpfers an Lebenswahrheit gewinnen wird.

I. Die Schicksale der großen Armee.

Vergl. besonders v. d. Osten-Sacken und v. Rhein, Der Feldzug von 1812. Berlin 1907.

Napoleon hatte bereits im Jahre 1807 mit Rußland die Waffen gekreuzt, als es mit dem schwerbedrängten Preußen verbündet war. Im Frieden zu Tilsit überließ er dem Zar Alexander das schwedische Finnland und ein Stück von Preußisch-Polen, das dem neugebildeten, Herzogtum Warschau verloren ging. Dafür trat Rußland der Kontinentalsperre bei und hielt Frieden, während er sich mit Spanien und Österreich auseinandersetzte. Als Napoleon aber auf der Höhe seiner Macht stand, schwand die Rücksicht auf seinen russischen Freund, dessen Machtstellung seinem Ehrgeiz unerträglich war. Überdies wurde sein Ansehen durch Mißerfolge gegen England und Spanien vor dem eigenen Volke und dem Ausland erschüttert. Das trieb ihn zu der neuen Unternehmung, die allen bisherigen Ruhm überstrahlen sollte. Im Dezember 1810 verjagte Napoleon ohne jeden Grund den Herzog von Oldenburg aus seinem Lande, obwohl er mit dem Zaren eng verwandt war. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Alexander hob die Kontinentalsperre auf. Er war für immer mit Napoleon fertig.

Das Jahr 1811 verlief auf beiden Seiten mit gewaltigen Kriegsrüstungen. Auf diplomatischem Gebiet ließ Napoleon sich mehrere Vorteile entgehen: Schweden, der natürliche Feind Rußlands, wurde vom Zaren durch die Zusicherung Norwegens gewonnen. Die Türken, nicht minder feindselig gesinnt, schlossen im Mai 1812 mit Rußland Frieden. So wurden im Laufe des Feldzuges zwei bedeutende russische Heere gegen die Franzosen frei. Überdies zahlte England seit dem Juli 1812 bedeutende Hilfsgelder.

Doch Napoleon trotzte auf die Stärke seines Heeres. Abgesehen von den bedeutenden Streitkräften, die er in Spanien, Frankreich und Italien zurückließ, brachte er etwa 600 000 Mann, wovon zwei Drittel Verbündete der Franzosen waren, zum Kampfe gegen Rußland auf. Diese ungeheure Masse wälzte sich im Frühjahr 1812 der russischen Grenze zu. Proviant für vierzig Tage wurde auf 6000 Fahrzeugen nachgeführt. In Rußland sollte dann die weitere Verpflegung aus Magazinen stattfinden, die von Danzig und Thorn aus womöglich auf dem Wasserwege gefüllt werden konnten. Wegen der ungeheuren Menge von Pferden (330 000), die zur Hälfte unterwegs aus Deutschland einfach weggenommen worden waren, wurde der Feldzug hinausgeschoben, bis im Mai die Grasfütterung begann. Doch waren bereits an der Grenze zahllose Reiter unberitten: ein böses Vorzeichen für die kommenden Strapazen. Die Russen brachten während des ganzen Krieges nur 430 000 Mann ins Feuer, die zum großen Teil nicht einmal militärisch ausgebildet waren. Indessen ersetzten sie diese Mängel durch glühende Vaterlandsliebe und den gemeinsamen Glauben. Auch bekamen sie im eigenen Lande bessere Verpflegung und bedeutende Verstärkungen, während das französische Heer rasch zusammenschmolz.

Am 12. Juni kam Napoleon von Dresden, wo er alle »verbündeten« Fürsten noch einmal um sich versammelt hatte, in Königsberg an. Sein Heer war bis zum Njemen vorgerückt, der die Grenze zwischen Rußland und dem Herzogtum Warschau bildete. Er wußte, daß die Russen seinen Angriff in Litauen erwarteten und in einem sehr verfehlten Kriegsplan zwei sog. Westarmeen gebildet hatten. Die erste, unter dem Kriegsminister Barclay de Tolly, einem Livländer (110 000 Mann), stand bei Wilna, der alten Hauptstadt von Litauen, und konnte sich bei einem Angriff hinter die Düna in das befestigte Lager von Drissa zurückziehen. Die zweite viel kleinere Westarmee unter dem Fürsten Bagration (40 000 Mann) stand zwanzig Meilen weiter südlich bei Wolkowisk und sollte den Franzosen in den Rücken fallen. Die übrigen Heere waren noch in der Sammlung begriffen oder weit entfernt in Finnland und an der Donau. So waren die russischen Streitkräfte in gefährlicher Weise zersplittert und einer ungeheuren Übermacht preisgegeben.

Napoleon gedachte seine Vorteile auszunutzen. Er selbst übernahm den Oberbefehl über das Hauptheer, das aus den Kaisergarden unter Lefebvre, Mortier und Bessières, dem I., II., III. Armeekorps unter Davout, Oudinot und Ney und aus den ersten beiden Kavalleriekorps unter Nanfouty und Montbrun zusammengesetzt war. Mit dieser Heeresmacht wollte er den Gegner bei Wilna schlagen und sich wie ein Keil Zwischen die beiden russischen Heere schieben. Sein Stiefsohn Eugen Beauharnais, der Vizekönig von Italien, befehligte das IV. Armeekorps. Außerdem war ihm Gouvion St. Cyr mit dem VI. (bayrischen) Korps und Grouchy mit dem III. Kavalleriekorps zugeteilt. Dieses kleinere Heer sollte den Kaiser unterstützen und seine rechte Flanke decken. Noch weiter rechts rückwärts bei Warschau stand sein Bruder Jérôme mit dem V. (polnischen), VII. (sächsischen), VIII. (westfälischen) Armeekorps und dem IV. Kavalleriekorps, die von den Generälen Poniatowski, Reynier, Vandamme und Latour-Maubourg befehligt wurden. Dieses Heer stand in der Erwartung eines russischen Angriffs weit zurück und sollte später gegen Bagration Verwendung finden. Das IX. Korps des Marschalls Victor war noch in der Bildung begriffen. Den linken gegen die Festung Riga bestimmten Flügel bildete Macdonald mit dem X. Korps, zu welchem die Preußen gehörten. Endlich auf dem rechten Flügel des Riesenheeres in der Gegend von Lemberg befehligte Fürst Schwarzenberg die Österreicher.

General Barclay de Tolly. (Nach einem Original im Historischen Museum Napoleonstein, Leipzig).

Am 24. und 25. Juni überschritt Napoleon auf mehreren Brücken bei Kowno den Njemen, den sechs Monate später nur die wenigsten wiedersehen sollten, und rückte in Eilmärschen auf Wilna. Doch die Russen, in deren Mitte der Zar weilte, warteten die Schlacht nicht ab, die ihr sicherer Untergang gewesen wäre, sondern zogen sich noch rechtzeitig zurück und retteten sich vor der drohenden Umklammerung. Nun hoffte Napoleon, wenigstens Bagration abfangen zu können. Davout eilte nach Minsk, um ihn im Osten abzuschneiden; Schwarzenberg näherte sich von Süden, und Jérôme wurde von Westen gegen die zweite Westarmee gehetzt. Allein als er den Befehl erhielt, hatte er noch nicht einmal Grodno erreicht, dann kam er nicht rasch genug vorwärts. Kurz, es gelang Bagration, nach Bobruisk zu entkommen, Napoleons Zorn war groß: Jérôme verließ gekränkt das Heer, nachdem der tüchtige Vandamme ihm bereits den Gehorsam gekündigt hatte und dem unfähigen Junot gewichen war. So endete Napoleons erste groß angelegte Unternehmung mit einem völligen Mißerfolg. Dazu kam, daß infolge der glühenden Hitze und nachfolgender endloser Regengüsse sich die französischen Reihen außerordentlich gelichtet hatten. Die riesigen Entfernungen stellten an die Kräfte der überanstrengten Soldaten unerhörte Anforderungen. Außerdem fehlte es an Verpflegung, weil die Proviantwagen auf den schlechten Wegen den rasch vordringenden Truppen nicht folgen konnten. Auf der Straße nach Wilna waren allein 10 000 Pferde liegen geblieben, auch mußten in dieser Stadt 80 Geschütze zurückgelassen werden.

Fast drei Wochen hielt sich Napoleon in Wilna auf, wo er als Befreier mit einem festlichen Empfang begrüßt worden war. Der größte Teil von Litauen samt Kurland, Wolhynien und Podolien gehörte ja erst seit 19 bezw. 21 Jahren zu Rußland, während der Teil jenseits der Düna und des Dnjepr mit der Hauptstadt Witebsk schon bei der ersten polnischen Teilung 1772 russisch geworden war, Napoleon hegte natürlich den Wunsch, diese Bevölkerung zum Abfall von Rußland zu bewegen; allein er wollte auch dem Freiheitsdrang der Nationalitäten nicht zu weit entgegenkommen, da sein eigenes Reich ja eine Fremdherrschaft ohnegleichen bedeutete. Als daher der polnische Reichstag in Warschau feierlich die Wiederherstellung Polens und die Wiedervereinigung mit Litauen beschloß, fand die polnische Gesandtschaft mit diesen Beschlüssen bei ihm kein besonders gnädiges Gehör. Auch wollte Napoleon es nicht ganz mit Alexander verderben, auf dessen Friedensliebe er baute. Er gab daher den Polen eine ausweichende Antwort und dämpfte so den Eifer seiner neuen Freunde.

Als die Zeit verstrich und der Zar nichts von Friedensanerbietungen hören ließ, raffte sich Napoleon zu einem zweiten Vorstoß auf. Sein Plan war, die erste Westarmee von ihren Verbindungen abzuschneiden und womöglich zu vernichten. Die Russen hatten ursprünglich die Absicht gehabt, sich im Lager von Drissa zu behaupten; aber zu ihrem Glück ließen sie an der Düna nur ein kleines Heer unter Wittgenstein zurück, wahrend die Hauptarmee über Polozk nach Witebsk zurückging, wo sie Bagration erwartete. Der Zar aber verließ das Heer und eilte nach Moskau, der am meisten bedrohten alten Hauptstadt seines Reiches. Dort begeisterte er die Bevölkerung, Adel und Bürgerschaft, zu den größten Opfern für das Vaterland; dann eilte er nach Petersburg. Der Krieg wurde nun erst recht ein Volkskrieg, und in Scharen strömten die Rekruten, größtenteils Leibeigene, zu Alexanders Fahnen, um Rußlands heilige Erde zu schützen. Napoleon, der auf den Beistand des unzufriedenen Moskauer Adels und der auf niedrigster Stufe stehenden Klassen gerechnet hatte, bekam es mit beiden zu tun. Wie sollte er die entfesselten nationalen und religiösen Leidenschaften des jungen, kräftigen Volkes überwinden? Indessen, noch stand das russische Hauptheer auf litauischem Boden bei Witebsk und brannte, des beständigen Rückzuges müde, ebenso auf die Schlacht wie Napoleon, der in Eilmärschen von Westen heranzog. Da erhielt der russische Feldherr die entscheidende Nachricht, daß Bagration bei Mohilew nicht zu ihm habe durchbrechen können. Nun gab Barclay die Schlacht auf und ging zum Ärger Napoleons, gerade als er ihn erreicht hatte, weiter über die alte russische Grenze nach Smolensk zurück.

Ohne Zweifel verdankten die Russen ihre späteren großen Erfolge diesem beständigen Rückzuge; denn vereinzelt und vielleicht auch vereinigt wären sie, solange noch die kolossale Übermacht Napoleons bestand, geschlagen worden. Diese ging aber in den ersten Monaten des Feldzuges unrettbar verloren. Denn während die Feinde Napoleons sich täglich verstärkten, kostete ihm jeder Marsch in diesen öden Gegenden, in die er immer mehr hineingelockt wurde, bei der übermäßigen Hitze und dem schlechten Trinkwasser Tausende von Soldaten und zahllose Pferde. Die Proviantwagen waren weit zurückgeblieben, und Magazine gab es nicht in diesen endlosen Waldungen, Und doch durfte Napoleon nicht in Witebsk stehen bleiben und sich mit der Eroberung Litauens begnügen. Abgesehen davon, daß die Düna und der Dnjepr im Winter zufroren und keine Verteidigungslinie für seine Winterquartiere geboten hätten, verlangte der Ruf des großen Schlachtenkaisers glänzende Siege und Vernichtung des Feindes. Stillstehen wäre für ihn eine Niederlage gewesen. Eigentümlich erscheint es uns jetzt, daß die Russen gar nicht ahnten, wie klug ihre Taktik war, sondern über den Fremden an ihrer Spitze murrten, der es nicht zur Schlacht kommen ließ und tatsächlich auch nur die Vereinigung der beiden Westarmeen erstrebte. Im letzten Grunde ist also auch nicht Barclays kluge Überlegung, sondern die fehlerhafte Aufstellung der Russen in zwei weit getrennten Heeren die Ursache ihres Rückzuges gewesen, durch den sie unbewußt ihren besten Bundesgenossen, die ungeheure Ausdehnung des Kriegstheaters, zur Geltung brachten.

Napoleon folgte seinem Gegner, der ihm zum zweitenmal entronnen war, nicht auf den Fersen, sondern er ließ die beiden so lange getrennten russischen Heere sich westlich von Smolensk vereinigen und ihm zur Schlacht entgegenrücken. Inzwischen umging er in weitem Bogen ihre Flanke, indem er nahe bei Orsza über den Dnjepr ging und, durch den Fluß von dem nichts ahnenden Feinde getrennt, auf Smolensk eilte. Er wollte sich also zwischen den Feind und Moskau schieben, um ihn von allen Seiten zu erdrücken und des weiteren Rückzuges zu berauben. Doch dieser geniale Plan wurde vereitelt. Eine russische Division war nämlich bei Krasnoi auf dem linken Ufer zurückgeblieben und zog sich beim Herannahen der Franzosen langsam auf Smolensk zurück, in das sich nun auch andere Truppen hineinwarfen. Noch hätte Napoleon vor der Ankunft der russischen Hauptkräfte die Stadt nehmen können, doch verlor er einen ganzen Tag (den 16. August) mit unnützem Warten auf seine Verstärkungen. Auch am folgenden Tage zögerte er, weil er ein Hervorbrechen der Russen erwartete. Erst als die zweite Westarmee abzog, begann er den Sturm auf die südlich vom Fluß gelegene Festung – die breite Furt oberhalb der Stadt fand er nicht. Der Angriff wurde abgeschlagen. In der Nacht räumte Barclay die Zitadelle, brach die Brücken ab und folgte mit seiner Armee, obwohl diese auf den Kampf brannte, Bagration nach. Tiefer, aufs höchste über Barclays vermeintliche Feigheit erbittert, der Rußlands heilige Grenze preisgab, war auf der Moskauer Straße am nördlichen Flußufer abgezogen, ohne sie irgendwie zu sichern. Die zurückgebliebene erste Westarmee war durch diesen Verrat in Napoleons Hand gegeben. Aber obwohl er die Schlacht so lange gesucht hatte und sein Schicksal davon abhing, wagte er nicht, oberhalb der Stadt den Dnjepr zu überschreiten und Barclay abzuschneiden. Vielmehr ließ er den 18., der ihn in den Besitz der brennenden Stadt brachte, verstreichen und erst am folgenden Tage seine Truppen bei Smolensk übersetzen. Die abziehenden Russen waren immer noch in gefährlichster Lage; sie hatten falsche Wege eingeschlagen und wurden nur durch Barclays Geistesgegenwart gerettet. Ihre Nachhut entging mit Not in einer engen Schlucht bei Walutina-Gora auf der Moskauer Straße dem Untergang. Napoleon war diesem blutigen Gefecht ganz fern geblieben. Der Sieg war ihm bei Smolensk aus den Händen gewunden, und er hatte zum dritten Male das Nachsehen.

Smolensk, die alte russische Grenzfestung gegen das Polenreich, stellte den kühnen Eroberer vor die folgenschwere Entscheidung: Sollte er bleiben oder gegen Moskau vordringen? Für das erstere sprachen alle militärischen Gründe: die Not seines zusammengeschrumpften Heeres, das, anfangs dreifach überlegen, jetzt den Feind nur wenig übertraf, der nahe Winter, das Vordringen der russischen Flügelheere – Wittgenstein an der Düna und Tormassow am Bug –, die Bedrohung seiner Magazine und der Rückzugslinie. Für den Vormarsch sprachen lediglich politische Erwägungen, daß ein Sieg notwendig und in Moskau von dem willensschwachen Zaren der Friede zu holen sei, Als daher Murat meldete, daß der Feind eine Schlacht suche, brach er von Smolensk auf, wo er eine Woche geweilt hatte. »Der Wein ist eingeschenkt,« sagte er, »er muß ausgetrunken werden.«

So zog ihn sein Schicksal immer weiter von seinen Hilfsquellen hinweg in das unendliche Rußland hinein. Auf einer einzigen Heerstraße folgte sein Heer dem Feinde über Dorogobusch, Wjäsma, Gschatsk, immer auf den Kampf gefaßt und immer wieder von einem entschwindenden Phantom genarrt. Noch ehe es vor den Toren Moskaus zur Schlacht kam, wurde auf russischer Seite der unbeliebte und unverstandene Barclay auf allgemeines Verlangen durch den 67jährigen Vollblutrussen Kutusow ersetzt, der soeben den Krieg mit den Türken beendet hatte. Der 7. September brachte endlich die von beiden Teilen ersehnte Schlacht bei Borodino, nahe von Moschaisk nn der Moskwa, wo die Russen endlich eine passende Stellung gefunden hatten. Die Gegner waren ungefähr gleich stark und kämpften mit unerhörter Heftigkeit. Endlich wurden die russischen Verschanzungen genommen, wobei Bagration die Todeswunde erhielt. Bei den Franzosen war Ney der Held des Tages, Kutusow dagegen hielt sich untätig im Hintergrund. Doch Napoleon nutzte seinen Sieg nicht aus. So weit von Paris entfernt, wollte er die Garden, das letzte noch unversehrte Korps, nicht auch noch daransetzen. Und doch hätte er durch einen letzten Vorstoß das stark erschütterte russische Heer aufreiben und damit den Krieg entscheiden können. So entgingen die Russen der Vernichtung und behaupteten sogar einen Teil des Schlachtfeldes. Ja, Kutusow konnte dem Zaren nach Petersburg einen Sieg melden. Die Verluste dieser furchtbaren Schlacht waren ungeheuer: 28 000 Franzosen, darunter 19 Generale, 52 000 Russen.

Kutusow sah sich außerstande, Moskau zu schützen; schweren Herzens mußte er die ehrwürdige Hauptstadt des Landes preisgeben. Einen ganzen Tag (13. September) währte der Durchzug des Heeres, dem sich fast die ganze Bevölkerung, über 200 000 Menschen, anschloß. Außer zahlreichen Verwundeten blieben nur die Fremden, meistens Franzosen, und die Hefe der Bevölkerung zurück. In der Eile wurden große Vorräte und Mengen von Lebensmitteln zurückgelassen. Am Nachmittage des 14. September hielt Napoleon seinen Einzug in Moskau. Welcher Unterschied gegen seine früheren Eroberungen! Hier kam ihm keine Abordnung mit den Schlüsseln der Stadt entgegen, niemand zeigte sich auf den leeren Straßen. Dennoch glaubte Napoleon, im Besitze Moskaus, daß der Zar um Frieden bitten würde. Sein Heer aber, das kaum noch 100 000 Mann betrug, hatte nach den ungeheuren Märschen und Entbehrungen nur das eine Verlangen nach Ruhe, Erholung und Beute.

Doch bereits am selben Abend brach an mehreren Stellen der Stadt Feuer aus. Man glaubte an Zufall und versuchte zu löschen. Allein in der Nacht erneuerte sich das Feuer mit doppelter Wut. Kein Zweifel, daß die lichtscheuen Gestalten der Sträflinge, die man hie und da erkannte, die angestellten Brandstifter waren. Der Gouverneur Graf Rostopschin hatte beim Abzug den großartigen Plan entworfen, ein glänzendes Zeugnis seiner Vaterlandsliebe, und nun überredete er die flüchtigen Bewohner, die von weitem den Untergang ihrer Stadt beobachteten, daß die Franzosen die Urheber seien. Die unglücklichen Eroberer, so grausam um den Erfolg aller ihrer Mühen gebracht, gaben sich nun dem Plündern der Überreste hin. Kein Kommando vermochte der wilden Unordnung Einhalt zu tun und die maßlose Vergeudung der Lebensmittel zu hindern. Napoleon sah vom Kreml ohnmächtig auf die Zerstörung der herrlichen Stadt und die beginnende Auflösung seines Heeres. So lange die Feuersbrunst währte, mußte er außerhalb der Stadt Wohnung nehmen. Endlich am 20. erlosch das Feuer, nachdem der größte Teil der Stadt zerstört war. Von 4000 steinernen Häusern standen noch 200, von 8000 Holzhäusern 500. Von den 1600 Kirchen waren nur 100 unbeschädigt geblieben, aber auch mehr als 20 000 Verwundete sollen verbrannt sein.

Einmarsch der Franzosen in Moskau. (Nach einem Original im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig)

Napoleon befand sich in einer trüben Lage. Das feindliche Heer stand in der Nähe von Moskau, an seine Vernichtung war nicht mehr zu denken. Die Hauptstadt selbst nützte ihm nichts: er konnte hier unmöglich überwintern. Und doch durfte er sein Heer nicht rasch nach Smolensk zurückführen (was er noch gut gekonnt hätte); denn damit hätte er seinen Mißerfolg eingestanden und seine europäische Stellung erschüttert. So blieb er denn in Moskau und ließ die kostbaren Wochen bis zum Anbruch des Winters verstreichen. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß der Zar doch Frieden schließen würde.

Die Einnahme von Moskau hatte auf Alexander wirklich tiefen Eindruck gemacht. Er war erzürnt auf Kutusow, der seinen Vorgänger Barclay in keiner Weise übertraf. Indessen wurde im russischen Volke die Siegesnachricht von Borodino geglaubt und die Einäscherung von Moskau den Franzosen zur Last gelegt. Man vertraute weiter auf Kutusow und die gute Sache, und der Zar war klug genug, jeden Gedanken an Frieden zurückzuweisen. »Napoleon oder ich, ich oder er!« das war sein felsenfester Entschluß. Der Freiherr vom Stein war hierin sein treuer Berater. Im Lager aber stand dem alten Feldherrn der geniale Oberst von Toll zur Seite. Er überredete Kutusow, südlich von Moskau die Moskwa zu überschreiten und bei Tarutino auf der alten Straße nach Kaluga, wo große russische Magazine waren, sich aufzustellen. So schützte das Heer die reichen südlichen Provinzen und schädigte durch zahllose Kosakenschwärme die französischen Transporte zwischen Smolensk und Moskau empfindlich. Dazu hatte Kutusow Muße genug, sich außerordentlich zu verstärken und seine Soldaten mit Wollsachen und Proviant für den Winterfeldzug auszurüsten. Vor allem hoffte er auf den Winter, der Napoleon von selbst aus Moskau vertreiben würde. Wittgenstein sollte von Norden, Tschitschagow, der Tormassow abgelöst hatte, von Süden an der Beresina zusammentreffen, um ihn dort abzufangen.

Napoleon wartete vergebens auf die Friedensgesandten seines Gegners; einen Vorstoß gegen Petersburg hielt er für zu gewagt; schließlich versuchte er selbst Unterhandlungen – vergeblich. Seine Stellung in Moskau war nicht zu halten. Nur in Moschaisk und Smolensk waren stärkere Abteilungen zurückgeblieben, denen überlegene feindliche Heere gegenüberstanden. Die ungeheure Rückzugslinie wimmelte von Kosaken und bewaffneten Bauern, die zahllose Gefangene machten und, erbittert über selbst erlittenes Unrecht, aufs grausamste ermordeten. Die französische Kavallerie war in ihrem elenden Zustande diesem Treiben gegenüber machtlos. Auch das Hauptheer in Moskau litt infolge des Brandes an Mangel und Zuchtlosigkeit. Dennoch zögerte Napoleon in eiteln Friedenshoffnungen – er schrieb sogar persönlich an den Zaren – noch einige verhängnisvolle Tage. Am 15. Oktober fiel der erste Schnee, der Vorbote des russischen Winters, der in diesem Jahre außergewöhnlich spät eintrat. Drei Tage darauf wurde Murat mit seiner Vorhut überfallen und empfindlich geschlagen. Jetzt erst ordnete Napoleon den Rückzug an. Noch hätte er ohne allzu große Opfer Smolensk erreichen und dort stehen bleiben können, wenn er den nördlichen, noch ganz unberührten Weg über Bieloi eingeschlagen hätte, oder wenigstens den geraden Weg über Moschaisk. Allein noch jetzt war sein Hochmut so groß, daß er gerade den südlichen, vom Feinde bedrohten Weg über Kaluga wählte.

General Kutusow. (Aus »Schulze, Franzosenzeit in deutschen Landen«, Leipzig. Voigtländer.)

Am 19. Oktober setzte sich das französische Heer in Bewegung. Obgleich in der Schnelligkeit seine einzige Rettung lag, wurde es von einem ungeheuren Troß nachfolgender Beutewagen und flüchtender Landsleute, Männer, Frauen und Kinder, begleitet und nahezu gelähmt. Proviant mangelte, Munition war nur für eine Schlacht vorhanden, auch fehlte es den Soldaten an Fußzeug und Winterkleidung. Napoleon hoffte, da die Russen noch auf der alten Straße bei Tarutino standen, sie auf der neuen Straße zu überflügeln und ihnen in Kaluga zuvorzukommen. Doch bei der Langsamkeit seines Heeres mißlang dieser Plan; die Russen schoben sich rechtzeitig auf der neuen Straße dazwischen, und so kam es am 24. bei Malo-Jaroslawetz zu einem heftigen, achtzehnstündigen Kampf. Noch einmal lächelte das Glück dem Kaiser; denn Kutusow ging auf Kaluga zurück, und Napoleon, der die Schlacht nicht fortsetzen wollte, hätte kühn auf dem kürzesten Wege durch unberührte Gegenden nach Westen marschieren können. Statt dessen entschloß er sich nach reiflicher Überlegung am 26. für den Rückzug auf Moschaisk, wo das VIII. Korps noch lag. Aber der Winter war angebrochen, die Vorräte verzehrt, die Marschroute nach Smolensk bereits auf dem Herweg völlig ausgesogen. Napoleon hatte den Untergang seines ihm noch verbliebenen Heeres selbst besiegelt.

In einer acht Meilen langen Kolonne bewegte sich das Heer der Heimat zu. Am 29. Oktober wurde das Leichenfeld von Borodino überschritten. Die entsetzlichen Verwesungsgerüche zwangen zu einem weiten Umwege. Das Thermometer war bereits auf vier Grad R. Kälte gesunken und fiel in drei Tagen abermals um vier Grad. Hunger und Kälte lichteten die Reihen und vermehrten die Zahl der Nachzügler. Wehe denen, die von den Kosaken und Bauern ergriffen wurden: sie empfingen die Rache dafür, daß Napoleon die Tausende von russischen Gefangenen auf seinem Rückzuge erschießen oder verhungern ließ und alle Städte und Dörfer verbrannte.

Am 1. November langte Napoleon mit der jungen Garde in Wjäsma an; dort mußte er einen Tag warten, da die Nachhut unter Davout noch zwölf Meilen zurück war. Zwar rettete der tapfere Marschall seine Truppen durch einen kühnen Gewaltmarsch; aber man war mit ihm unzufrieden, weil er zu langsam und pedantisch vorging. Die Russen, die sich erst spät zur Verfolgung angeschickt hatten, standen seitwärts und bedrohten die Rückzugsstraße. Doch Napoleon setzte seinen Marsch fort und überließ es seinen Marschällen, sich aus der Klemme zu ziehen. Mit großen Verlusten schlugen sich diese am 3. nach Wjäsma durch und überließen fortan dem tapferen Ney die Nachhut. Die russische Hauptmacht hatte sich vom Kampfe ferngehalten: sie ahnte nicht, daß die Franzosen in vierzehn Tagen auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren! Nacht für Nacht mußten die armen Truppen bei starker Kälte in Schnee und Eis biwakieren. Pferde- und Hundefleisch, fast roh gegessen, bildete die einzige Nahrung. Nur die Garden hatten etwas Mehl erhalten. Niemand wagte die Straße zu verlassen, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. Unterwegs, in Michailewska, erhielt Napoleon beunruhigende Nachrichten aus Paris, die ihn mit Sorgen für seinen Thron erfüllten. Außerdem erfuhr er, daß Marschall Victor vor Wittgenstein bis Senno zurückgegangen sei. Er befahl ihm, auf jeden Fall bis an die Düna zu gehen, und deutete ihm zum ersten Male den Zustand seines Heeres an, während er Macdonald und Schwarzenberg über seine Not völlig in Unkenntnis ließ. Wie wertvolle Hilfe hätten sie ihm leisten können!

Am 9. November erreichte Napoleon Smolensk; aber in welchem Zustand! Seine Verluste waren bereits ungeheuer: 44 000 Mann und 138 Geschütze. Von dem Rest waren 35 000 Mann waffenlos, und in Smolensk mußten abermals 140 Geschütze aus Mangel an Pferden und Munition zurückgelassen werden. An ein Bleiben war trotz der dortigen Verstärkungen und Magazine nicht mehr zu denken; denn die Nachrichten von der Beresina klangen zu beunruhigend. Hätte man wenigstens an alle Flüchtlinge Waffen und Lebensmittel ausgeteilt! Allein die Magazine wurden schlecht verwaltet, und die Mehrzahl der Soldaten ging bei der Verteilung leer aus, weil sie nicht mehr in Reih und Glied marschierte. Dann brach er vom 11.-14. staffelweise bei scharfer Kälte auf dem südlichen Dnjepr-Ufer auf. Ein weiter Umweg Eugens über Duchowtschina hatte den Marsch verzögert. Napoleon wähnte Kutusow auf dem Wege nach Witebsk, das Wittgenstein in Händen hatte. Allein das russische Hauptheer, auch stark zusammengeschmolzen, aber in guter Verfassung, stand bei Krasnoi und hatte das Schicksal der weit auseinandergezogenen französischen Kolonne in Händen. Doch Napoleons Anwesenheit lähmte den russischen Feldherrn, und sein Genie rettete das Heer, allerdings mit gewaltigen Verlusten (6000 Tote und 26 000 Gefangene, sowie 200 Kanonen). Das Korps des Marschalls Ney, der erst am 16. November nachts Smolensk verlassen hatte, wurde abgeschnitten und entging nur durch einen kühnen nächtlichen Übergang über die Eisschollen des Dnjepr der gänzlichen Vernichtung.

Alexander I., Kaiser von Rußland.

Als Napoleon bei Krasnoi dem Verderben entronnen war und auf Orsza zueilte, um den Dnjepr zu überschreiten, erhielt er die Hiobsbotschaften, Schwarzenberg sei allzu weit entfernt und könne ihm nicht mehr helfen, Minsk mit seinen großen Magazinen befinde sich in russischen Händen und Victor stehe bei Smoliany, ohne gegen Wittgenstein etwas ausgerichtet zu haben. Sofort befahl er dem General Dombrowsky, der mit etwa 5000 Mann bei Borisow stand, die nahe Brücke über die sumpfige Niederung der Beresina unter allen Umständen zu halten. Oudinot sollte ihm mit 13 000 Mann von Victors Armee zu Hilfe kommen, dieser Wittgenstein möglichst zurückhalten. In Orsza sammelte Napoleon die Trümmer seines Heeres – es waren nur noch 18 000 Mann in Reih und Glied. Mit Mühe errichtete er sechs Batterien. Die meisten Adler wurden verbrannt, die beiden in Orsza vorgefundenen Pontontrains mit 60 Fahrzeugen zerstört. Zum Glück für die Armee bewahrte General Eblé, der Kommandeur des Brückentrains, zwei Feldschmieden, zwei Wagen mit Kohlen und sechs Wagen mit Instrumenten und Eisenzeug vor der Vernichtung.

Am 19. und 20. November ging das französische Heer bei Orsza über den Dnjepr, nur Davout mußte noch auf Neys Rückkehr warten. Erst am nächsten Tage folgte er, nachdem bereits auf dem rechten Flußufer der verloren geglaubte Ney sich wieder eingefunden hatte. Doch dieser Lichtblick wurde durch die niederschlagende Meldung verdunkelt, daß sich der Brückenkopf von Borisow in den Händen der Russen befinde und die Brücke über die Beresina von den Feinden zerstört worden sei. Am 23. gelangte Napoleon nach Bobr, und als er erfuhr, daß eineinhalb Meilen oberhalb von Borisow bei dem Dorfe Studienka die Reiterei den Fluß durchritten habe, sandte er General Eblé mit allen Pionieren an diese Furt, um einen Übergang herzustellen. Eingekeilt zwischen drei russischen Heeren, während sein eigenes Heer in völliger Auflösung begriffen, halb wahnsinnig vor Hunger und Angst die weiten Waldungen zwischen Bobr und der Beresina durchirrte, versuchte Napoleon das Unmögliche.

Die verfolgenden Korps der ganz zurückgebliebenen russischen Hauptarmee standen noch sieben Meilen zurück, weit hinter Bobr. Wittgenstein war nur zwei Meilen von Studienka entfernt, wußte aber nicht, ob und wo er angreifen sollte. Tschitschagow stand auf dem westlichen Ufer der Beresina, gegenüber von Borisow, eine starke Abteilung unter Tschaplitz bewachte die Furt von Studienka. Doch das Glück war Napoleon hold. Von Oudinot getäuscht, zogen die Russen nach Süden ab, im Glauben, Napoleon wolle unterhalb Borisow übergehen. Selbst Tschaplitz räumte seine Stellung bei Studienka. Dort begann nun am 25. eine fieberhafte Tätigkeit. Das Dorf wurde niedergerissen, Bäume gefällt, Napoleon feuerte persönlich die Soldaten zur Eile an. Sie arbeiteten mit der größten Aufopferung, stundenlang bis an den Hals im Wasser stehend. Endlich, am 26. November wurden die beiden Brücken fertig, um 1 Uhr die kleinere für Fußgänger, um 4 Uhr die größere für Fuhrwerke und Reiter. Sie standen jede auf 23 Böcken im Wasser und bogen sich unter der Last bis unter den Wasserspiegel, so schwach waren sie. Die Brücken waren ohne Geländer und lagen 195 Meter auseinander. Die Fahrbrücke hatte nur die Breite eines Geschützes. Der Untergrund war schlammig, die Breite des mit Eis gehenden Flusses war bei dem vorangegangenen Tauwetter auf 108 Meter angewachsen, die Tiefe betrug zwei Meter. Zum Glück waren die sumpfigen Ufer gefroren und passierbar.

Als erster ging Oudinot mit seinen Truppen über, bei der Dunkelheit folgte ihm Ney – doch brach die größere Brücke zweimal in dieser Nacht. Am folgenden Morgen passierten die ersten Nachzügler, darauf gegen Mittag Napoleon mit seinen Garden. Auf dem östlichen Ufer standen noch Victor, Eugen und Davout mit zusammen über 13 000 Mann. Dazu kam die ungeheure Menge Nachzügler und der ganze Rest der Bagage, der sich bis hierher durchgeschlagen hatte, selbst Frauen und Kinder aus Moskau. Inzwischen rückten Tschitschagow und Wittgenstein von beiden Seiten gegen die Beresina vor – eine ganze Division mußte bei Borisow die Waffen strecken. Der Übergang dauerte fort, um 4 Uhr stürzte die Fahrbrücke zum drittenmal ein. Nach zwei Stunden war sie wiederhergestellt, Napoleon war entschlossen, sie noch am 28. November zu halten, um die Nachzügler und den Troß zu retten. Während der Nacht ging niemand über, da die Unglücklichen ihre wärmenden Feuer nicht verlassen wollten. Der dritte Übergangstag brachte die entsetzlichen Greuel, die für alle Zeiten diesem Fluß eine grausige Berühmtheit verschafft haben. Während auf beiden Ufern tapfer gekämpft wurde, gingen zahllose Menschen in dem fürchterlichen Gedränge bei den Brücken und in den eisigen Fluten zugrunde. Am 29. November brach Napoleon um 6 Uhr auf, um 7 Uhr ging die Nachhut Victors über und um 9 Uhr wurden die Brücken verbrannt. Im ganzen mögen die Franzosen bei diesem dreitägigen Übergang an 30 000 Mann verloren haben. Doch auch die geretteten 40000, von denen noch 14 000 in Reih und Glied marschierten, waren ihrem Schicksal nicht entronnen. Ja, das Grausigste stand ihnen noch bevor: die Kälte!

Das letzte Glück für Napoleon war, daß die Brücken über die Gaina-Sümpfe von den Kosaken nicht zerstört worden waren. So entkam er nach Zembin und am 3. Dezember nach Malodeczno auf dem Wege nach Wilna. Er hatte noch gehofft, mit Hilfe der 20 000 Mann, die um Wilna standen, die Flucht dort zum Stehen zu bringen. Allein sein Heer war völlig aufgelöst: kaum ein paar tausend Mann bildeten noch seinen Schutz oder die Nachhut. Alle andern verdarben vor Hunger und Kälte. Das nächste Magazin war erst in Oszmiana. Die Kälte betrug 16 Grad und stieg bald auf 27 Grad! Da war an Sammlung und Widerstand der armen von den Kosaken gehetzten Truppen nicht zu denken. So beschloß Napoleon, der seinen Heerestrümmern nichts mehr nützen konnte und in Paris dringend nötig war, die Trennung von seinen Leidensgefährten. Er verließ am 5. Dezember heimlich das Heer und ließ Murat als Stellvertreter zurück. Im neunundzwanzigsten Bulletin gab er in seiner Weise der Welt die Kunde von seinem über alle Maßen großen Mißgeschick. Das denkwürdige Schriftstück ist datiert: Malodeczno, den 3. Dezember 1812. Folgende Sätze sind besonders bemerkenswert: »Die Wege wurden mit Glatteis bedeckt, die Pferde der Cavallerie, der Artillerie und des Trains kamen alle Nächte nicht hundert- sondern tausendweise um, besonders die aus Deutschland und Frankreich. Mehr als 20 000 Pferde fielen in wenig Tagen, und unsere Cavallerie befand sich ganz zu Fuß, und unsere Artillerie und Fuhrwerk ohne Bespannung. Wir mußten einen guten Teil unsrer Kanonen und unsere Kriegs- und Mundvorräte verlassen und vernichten. Diese am 6. so schöne Armee war am 14. ganz verändert: ohne Cavallerie, ohne Artillerie, ohne Fuhrwerk ... Diejenigen der Leute, welche die Natur nicht gestählt hatte, um allen Veränderungen des Zufalls und des Glücks zu trotzen, schienen erschüttert, verloren ihre Heiterkeit und gute Laune, und träumten nur von Ungemach und Unglück: andere aber, welche sich über alles dies erhaben geschaffen fühlten, behielten ihre Heiterkeit und gewöhnliches Benehmen bei und sahen in den verschiedenen zu überwindenden Schwierigkeiten nur neuen Ruhm. ..... Die Gesundheit Sr. Majestät ist nie besser gewesen.« In schneller Fahrt, von wenigen begleitet, gelangte er über Wilna, Warschau, Glogau, Dresden, Erfurt, Mainz in der Nacht vom 18. Dezember nach Paris.

Marschall Neys heldenmütige Verteidigung der Nachhut im Hohlweg von Ponari. (Nach einem Original im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

Indessen vollendete sich der Untergang seines Heeres. Bei der entsetzlichen Kälte lösten sich auch die von Wilna nahenden Verstärkungen völlig auf und vermischten sich mit den entgegenkommenden zerlumpten und erfrorenen Flüchtlingen. Vom 8.-10. dauerte der Aufenthalt in Wilna. Die nichts ahnende, friedliche Stadt war mit einem Schlage der Schauplatz himmelschreienden Elends. Murat, der seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen war, verlor vollständig den Kopf. Statt die Tore und Magazine zu öffnen, blieben diese geschlossen, da nach dem Reglement nur geordnete Truppenverbände eingelassen und verpflegt werden durften. Dennoch war die Stadt im Augenblick mit wandelnden Leichen angefüllt, die bald auf allen Gassen und Höfen vor Hunger und Kalte dahinstarben. Schon am 10. überließ Murat die Stadt den Russen. In dem Hohlweg von Ponari verteidigte Ney, der eigentliche Held dieses elenden Rückzuges, mit der Waffe in der Faust persönlich die Trophäen und Bagagen. Umsonst, alles fiel in die Hände der Feinde. Am 14. Dezember erreichten die letzten Trümmer bei Kowno den Njemen und gelangten über das Eis auf das polnische Ufer; aber erst an der preußischen Grenze war die Verfolgung zu Ende. Sie hatte sich über 115 Meilen erstreckt und fast zwei Monate gedauert. Im ganzen kamen von diesem Feldzuge etwa 40 000 Mann zurück, die aber größtenteils nicht in Moskau gewesen waren, sondern zu den Verstärkungen gehört hatten, darunter 1000 in Reih und Glied, und neun Kanonen. Mehr als eine halbe Million war umgekommen oder in Gefangenschaft geraten, 300 000 Pferde und 1000 Geschütze waren verloren. Noch war Napoleons Macht nicht gebrochen: denn die Russen waren selbst hart mitgenommen und mußten an der preußischen Grenze stehen bleiben: auch waren durch Kutusows Schuld Napoleon, sämtliche Marschälle und zahlreiche Offiziere entkommen, die ihm seine neuen Truppen ausbilden konnten. Es bedurfte noch gewaltiger Anstrengungen, um den Unterdrücker völlig zu Boden zu werfen. Doch die ungeheure Niederlage hatte seine Stellung erschüttert und den Völkern Europas neue Hoffnung und neuen Glauben erweckt, so daß der neue Frühling 1813 die Auferstehung und Befreiung vor allem im deutschen Vaterlande wurde.


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