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II. Die Erlebnisse eines Mitkämpfers.

Die nachfolgenden Schilderungen sind einem Buche entnommen, das ich der Güte des Herrn Pastor E. Holscher in Barterode bei Dransfeld verdanke. Es heißt: »Eram (= Ich war). Skizzen aus den Jugendjahren eines Veteranen. Mit einem einleitenden Vorworte von Ludwig Rellstab, Berlin 1845.« Der Held der Erzählung ist der aus Cleve gebürtige nachmalige preußische Stabsoffizier Fritz Naumann. Er stand zunächst in hessischen Diensten, dann nach der Einrichtung des Königreichs Westfalen unter Jérôme, der in Cassel residierte. Er schildert seine Erlebnisse 1812 auf S. 80-222. Einige geschichtliche Ungenauigkeiten sind von mir berichtigt worden, desgleichen habe ich den Text an manchen Stellen lesbarer gemacht.

Auf dem Marsche nach Moskau.

Unser glänzendes Residenzleben in Cassel ward im Frühjahr des Jahres 1812 durch Gerüchte von dem Wiederbeginn des Krieges unterbrochen, und bald wurden sie durch die Nachricht bestätigt, daß der Kaiser Napoleon den Krieg an Rußland erklärt habe, wir also als seine natürliche Bundesgenossen daran teilnehmen würden. Im März avancierte ich zum Rittmeister. Unsere Armee wurde zusammengezogen, und bald darauf marschierten wir durch die Lausitz über Groß-Glogau nach Warschau. Dort fand die Organisation der großen Armee statt, wobei wir als achtes Korps unter dem Befehl des Generals Vandamme standen. Unser Regiment wurde in Praga einquartiert, und ich erhielt meine Wohnung bei einer alten Starostin, welche mit ihrer Dienerschaft ein eigenes, hübsches, kleines Haus bewohnte und eine sehr liebenswürdige Wirtin war. An den schönen Frühlingsabenden traf ich mich mit mehreren meiner Kameraden in ihrem kleinen Gärtchen, wo auch sie sich oft befand. Wir sprachen dann über unsern Marsch und unsere fernere Bestimmung, von welcher sie nicht viel Gutes für uns erwartete. Vielmehr prophezeite sie uns, daß wir unsern Untergang in Rußland finden würden, eine Vorhersagung, die sich nicht schlimmer erfüllen konnte, als es geschehen. Von Warschau ausging für uns ein eigentliches Nomadenleben an. Wir kamen nicht mehr in Quartiere; denn die wenigen, die sich vorfanden, wurden für die Generale in Beschlag genommen. Auch waren die Truppenmassen zu groß im Vergleich zu dem wenig bevölkerten Land, so daß wir, mit seltenen Ausnahmen, während sieben Monate im Biwak blieben. Die Verpflegung war daher auch sehr schlecht, schon in Warschau fütterten wir grün, dadurch litten natürlich unsere Pferde sehr, und wir verloren von Tag zu Tag.

Am 24. Juni überschritten wir den Njemen, und der Mangel an Lebensmitteln und Futter vergrößerte sich mit jeder Strecke, die wir tiefer in Rußland eindrangen; es entstand daher das System der Selbstverpflegung, das schädlichste für Freund und Feind.

Beinahe jedes Regiment bestimmte einzelne Kommandos zur Herbeischaffung des Nötigen, und ich wurde fast immer zum Führer dieser Abteilungen von seiten unseres Regiments ernannt. So gefährlich und mühsam dieser Zweig des Dienstes nun auch war, so führte ich doch immer ein besseres Leben als meine Kameraden, die in geschlossenen Korps marschierten. Man erhielt zu solchen Kommandos eine Anzahl Mannschaften und eine offene untersiegelte Ordre, welche den Zweck der Detachierung enthielt, und war danach sich selbst überlassen. An Landkarten gebrach es uns durchaus, Wegweiser waren selten zu finden, und man wählte daher den ersten besten befahrenen Seitenweg, der zu einem Dorf oder Pachthof zu führen verhieß. Immer aber mußte man sich solchen Orten mit großer Vorsicht nähern; denn gewöhnlich entflohen die Bewohner derselben bei unserer Annäherung und hielten sich dann in den Wäldern versteckt. Zuerst suchte man bei solchen Gelegenheiten Wagen und Pferde zu erhalten, da wir auch diese nicht mitbekamen. Dann suchte man einige Leute beritten zu machen, um eine kleine Kavallerie zum Patrouillieren und Vortrab zu bilden, von den übrigen Leuten war ein Teil zu Fuhrleuten bestimmt. War man dann so glücklich, etwas Bedeutendes zusammenzubringen, so mußte man aufs Geratewohl dem Korps nacheilen, und es wieder zu erreichen suchen. Auf diesen Streifzügen leistete mir ein kleiner Schornsteinfegerjunge die wichtigsten Dienste. Er war in Polen lange Zeit neben meinem Wagen hergelaufen und hatte mich flehentlich gebeten, mich seiner anzunehmen, da er einem sehr bösen Herrn entlaufen sei. Ich hatte ihn damals mitgenommen, ihn als Bedienten im nächsten Städtchen eingekleidet, und seine Treue und Anhänglichkeit an meine Person hat mich diesen Akt des Mitleids nie bereuen lassen. Der Junge sprach vortrefflich polnisch, auch etwas russisch, was mir bedeutende Vorteile gewährte; er war mir immer zur Seite, litt nicht, daß mich ein anderer bediente und folgte mir nicht allein bis Moskau, sondern auch wieder zurück; aber leider kam er mir auf dem Rückzuge abhanden, und ich habe nie wieder von ihm gehört.

In der vorbeschriebenen Art bewegte sich der Zug bis Orsza, der Verlust an Menschen und Pferden dauerte fort, und namentlich schmolz die Kavallerie und Artillerie immer mehr zusammen. Eine große Masse Pulverwagen blieb aus Mangel an Pferden schon hier stehen, und bei dem Gros der Armee fehlte es so sehr an Lebensmitteln, daß hier schon angefangen wurde, Pferdefleisch zu essen; an Branntwein herrschte gänzlicher Mangel. Die Schlacht von Witebsk, persönlich vom Kaiser geleitet, wurde bekanntlich gewonnen, und nach derselben konzentrierte sich die Armee bei Orsza, wo sie ebenfalls unter Leitung des Kaisers den Dnjepr passierte. Darauf marschierte sie nach Smolensk, das am 17. August gestürmt wurde. Der Kampf war lebhaft und lange unentschieden. Nachdem die Oberstadt des Nachts von den Russen geräumt war, stritt man sich sehr heftig um den Besitz der jenseits des Dnjepr liegenden Unterstadt, welche von den Russen hartnäckig verteidigt wurde. Die Oberstadt ist mit einer sehr alten steinernen Mauer umgeben, durch welche Löcher für die Geschütze gebrochen waren, um über den Dnjepr auf die Unterstadt feuern zu können. Ich hatte eine Meldung an Davout zu machen und fand den Marschall, wie er, bei einer dieser Kanonen stehend, einesteils die Arbeit der französischen Pioniere beobachtete, welche unter uns die Pontonbrücke schlugen, andernteils den Übergang der Grenadiere über dieselbe beaufsichtigte. Es war ein imposanter Anblick, diese Helden, welche zum Stürmen kommandiert waren, mit der unerschütterlichsten Ruhe, Gewehr im Arm, vortreten zu sehen, sobald die Bohle gelegt worden, auf der sie ihren Platz einnehmen sollten. Das mörderische Feuer der russischen Kanonen lichtete fortwährend ihre vordersten Reihen; aber über die Leiber ihrer gefallenen Kameraden, ihnen lieb und wert, traten sie in diesem Augenblick ohne Bedauern, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken, an die freigewordene Stelle; sie verbargen ihre Trauer, wie ihre Freude, dem Feind entgegenzugehen, und nur der unerschütterlichste Ernst thronte in den Zügen dieser in so mancher Schlacht geprüften Soldaten.

Die Russen gaben infolge der Operationen, welche unsere Armee während der Zeit am andern Ufer weiter oberhalb vorgenommen, die Stadt auf. Der Besetzung von Smolensk folgte am 19. die Schlacht gleichen Namens, die gleichfalls gewonnen wurde, ohne allzu große Anstrengungen von seiten der Verbündeten. Man sah, daß den Russen nicht viel an der Behauptung des Platzes lag, wie es sich später auch auswies. Von hier aus fanden wir auf unserm Marsch sämtliche Einwohner entflohen, die Wohnungen niedergebrannt, ja selbst die bedeutenden Städte Dorogobusch, Wjäsma und Gschatsk fanden wir in vollen Flammen. Doch gelang es nach der Erstürmung immer unsern Soldaten, unter denen damals noch vollkommene Ordnung herrschte, des Feuers Meister zu werden und einen Teil der Häuser zu Wohnungen einzurichten. Die ganze Umgegend wurde nach Lebensmitteln abgesucht, und was dann von den Reserven verschont geblieben, von unseren Soldaten gleichfalls angezündet, wodurch unser späterer Untergang vorbereitet und veranlaßt wurde.

So bewegte sich die Armee gegen Rußlands alte Hauptstadt, – die Russen stritten für den heimatlichen Herd, wir für unsere Existenz, eine entscheidende Schlacht war nicht zu vermeiden, es stand das Schicksal zweier Völker auf dem Spiele! –

Unter den nur vielfach aufgegebenen Beutezügen, die ich bis dahin mit Glück ausgeführt, erwähne ich hier einen in der Gegend von Wjäsma, fünf Tage vor der Schlacht von Moschaisk. Sie erklärt den schweren Stand der einzelnen Truppenteile, wie sie genötigt waren, zu ihrer notdürftigsten Existenz und bei den drohendsten Gefahren Expeditionen vorzunehmen, welche die Kräfte des Ganzen schwächten und immer große Opfer kosteten.

Mit siebzig Infanteristen, gesammelt aus Nachzüglern verschiedener Regimenter, und ungefähr zwanzig sogenannten Kavalleristen, die aus eben solchen Leuten bestanden und mit schlechten Bauernpferden mit und ohne Sattel beritten gemacht waren, erhielt ich von meinem Divisionsgeneral den Befehl, links der Straße von Smolensk nach Moschaisk auf Requisition zu gehen. Da die Landbewohner schon damals bewaffnet waren oder bei Annäherung unserer Abteilung flüchteten, erhielt ich 25 Wagen zu meiner Verfügung, das heißt kleine Fahrzeuge, einspännig und nicht viel größer als ein Schubkarren, – dazu aber keine Fuhrleute, sondern die Infanteristen mußten außer ihren Waffen auch noch die Peitsche führen: sie saßen mit abgelegtem Tornister, mit umgehängtem Lederzeug, das geladene Gewehr neben sich, auf den Wagen.

Mit diesen schwachen Mitteln trat ich meinen Marsch unter den gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln an. Auf die Entfernung von zwei bis drei Meilen war nichts zu finden: die vormarschierenden Korps sowie die Avantgarden hatten schon aufgeräumt. Wollte ich dem mir gewordenen Befehl entsprechen, mußte ich weiter gehen, und dies beschloß ich denn auch, da ich es mir zur Ehrensache gemacht hatte, Erfolg zu haben und meinen darbenden Kameraden, deren viele mich um mein Kommando beneideten, einen Festtag zu bereiten. Immer weiter nach Norden vordringend, fanden sich die Anzeichen, daß diese Gegend noch nicht ganz von Vorräten entblößt sei. Wir hielten gute Mahlzeiten, die Pferde wurden tüchtig gefüttert, und obwohl wir in steter Spannung waren, befanden wir uns doch nach so langer Entbehrung vortrefflich. Am Abend des zweiten Tages, nachdem ich nur langsam und mit der größten Vorsicht – das Gelände wechselte zwischen Wald, Ebene und Heideland – vorgerückt war, erreichte ich das Schloß eines russischen Grafen.

Es war dies ein herrliches Gebäude, im Viereck erbaut, und so eigentlich vier Paläste bildend, in deren mittlerem Hofraum die prächtige Kapelle und die herrlichsten Gartenanlagen sich befanden. Sicher hatte man in einer so abgelegenen Gegend eine Expedition dieser Art nicht erwartet; denn ich fand den Haushofmeister, einen Deutschen, im höchsten Grade bestürzt, und der Zustand des ganzen Gutes bewies, daß man durchaus nicht vermutet hatte, eine feindliche Abteilung bis hierher vordringen zu sehen. Die Landwirtschaft bestand ohne Störung, das ganze reiche Mobiliar schmückte die prächtigen Zimmer, ja selbst das Silbergerät war nicht einmal beiseite geschafft worden. Nachdem ich den Platz nach meinen schwachen Kräften bestmöglich besetzt hatte, ließ ich von Posten zu Posten fleißig patrouillieren. Dann machte ich den Verwalter mit meinen Wünschen bekannt, die darin bestanden, Lebensmittel und Fourage, so viel ich deren fortbringen konnte, zu fordern. Bei dem durch den raschen Überfall verursachten Schrecken, welcher natürlich auf alle Bewohner wirkte, wurden mir alle Bestände zur Verfügung gestellt, und ich wählte unter den reichen Vorräten nur das, was dem Regiment am nötigsten war.

Das Wichtigste von meinem Auftrage, Beute an Pferden zu machen, war nicht ausführbar. Ich fand nur wenige unbrauchbare Tiere, die besseren waren von dem Besitzer des Gutes mitgenommen worden; sonst erhielt ich alles Verlangte: Mehl, Hafer, Branntwein, und vor allen Dingen, nach etwas sorgfältigerer Nachsuchung, einen unbezahlbaren Fund, der in damaligen Zeiten wohl zu den seltensten und kostbarsten Gegenständen gehörte, bestehend aus einigen hundert Flaschen des edelsten, feurigen Weines.

Wenn unsere Pferde in ihren prächtigen Ställen gehörig gepflegt und gefüttert wurden, so ließ ich es auch mir selbst und meiner Abteilung an nichts fehlen. Nach so langer Entbehrung aßen wir mit doppeltem Vergnügen die wohlschmeckenden Speisen, die uns bereitet wurden, und tranken ebenso gut dazu. Der Geringste erhielt von meinem Tisch; denn im Kriege, und vorzüglich in bedrängter Lage, liegt in der kameradschaftlichen Teilung der größte Genuß, und wo es gilt, ißt, unbeschadet dem Range, Offizier und Soldat aus dem nämlichen Feldkessel, der Verwöhnte wie der Bescheidene mit gleichem Anteil wie Appetit.

Daß ich auf meiner Hut war und trotz unseres Wohllebens und anscheinenden Vertrauens meine Pflicht nicht versäumte, rettete mir und meinen Untergebenen das Leben, wie sich aus Nachstehendem ergeben wird.

Zu meiner Unterstützung bei einer so gemischten und unregelmäßigen Abteilung war der Furier Lippe kommandiert. Es war ein junger, gewandter, mutiger Mann, der, wäre er am Leben und die damaligen Verhältnisse länger geblieben, gewiß jetzt einen bedeutenden Rang besäße, da er schon damals durch seine außerordentliche Bravheit und besondere Brauchbarkeit die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen hatte. Diesen Lippe schickte ich abends mit einigen Leuten auf Patrouille, – ich war überzeugt, daß er meine Aufträge pünktlich und mit Umsicht ausführen würde. Ich selbst hatte schon das umliegende Gelände genau besichtigt und war äußerst ermüdet, da ich seit zwei Tagen und ebenso vielen Nächten nicht geruht hatte und mich meiner Pferde nicht bedienen konnte, die ebenfalls aufs äußerste angestrengt und ermüdet waren.

Nachdem ich diese Anstalten getroffen, überließ ich mich der Ruhe und dem Schlaf, aus welchem mich aber der Verwalter aufstörte, der, wie er sagte, kam, um seine Geschäfte mit mir abzumachen. Im Verlauf des Gespräches riet ich ihm wohlmeinend, die wertvollen Gegenstände und namentlich das kostbare Silbergerät zu bergen, da ich unter den obwaltenden Umständen bei dem besten Willen nur für mich, nicht für meine Leute bürgen könnte. Er dankte mir im Namen seines Herrn wie aus eigener Erkenntlichkeit für die Schonung, die ich bewies und – der wirkliche Dank blieb nicht aus.

Gegen 11 Uhr abends, nachdem ich einer flüchtigen Ruhe genossen hatte, kam Lippe mit der Meldung, daß sich in der Nähe verdächtige Bewegungen zeigten. In dem naheliegenden Walde hinter den Höhen wurden kleine Trupps bemerkt, auch Bewegungen von Pferden gehört. Als ich eben im Begriff stand selbst hinauszugehen, um das Nötige anzuordnen, erschien still und heimlich mein Verwalter. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß wir uns allein befänden und er sich also keiner Gefahr durch Verrat seiner Mitteilungen aussetze, sagte er: »Ich komme, Sie zu warnen, mein Herr Offizier! Sie sind mein Landsmann, Sie haben nur getan, was Sie mußten, und unterlassen, was Sie ungestraft hätten tun dürfen. Ich erkenne das mit dem lebhaftesten Dank an, darum teile ich Ihnen mit, daß der Fanatismus meiner Untergebenen Ihnen und Ihren Leuten den Untergang bereiten wird. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, nehmen Sie diese Warnung von einem deutschen Landsmann an, bedenken Sie aber auch, daß ich Rußlands Brot esse und nicht weiter gehen darf.« Sofort nahm ich etliche Infanteristen, patrouillierte und fand sowohl Lippes Meldung bestätigt, als auch Grund für die Warnung des Inspektors. Mit wenigen Leuten schlich ich an einem mit Buschwerk bewachsenen Bach entlang und näherte mich dem naheliegenden Walde. Nach kurzem Lauern bemerkte ich deutlich größere Trupps, jedoch ohne das dem erfahrenen Soldaten bemerkbare Glitzern von Schießwaffen. Ich konnte daraus leicht folgern, daß unsere Gegner mit den uns schon bekannten Piken bewaffnet sein mochten, und fand mich allerdings für den Augenblick beruhigt. So leise, wie ich vorgeschritten war, ging ich auch wieder zurück, weckte in aller Stille meine übrige Mannschaft und ließ anspannen, da ich vorsichtigerweise schon früher die Wagen hatte beladen lassen. Bei dem auf meinem Rückzuge als bestimmt anzunehmenden Widerstand war mein erstes Augenmerk darauf gerichtet, so viel Leute wie nur irgend möglich für den Kampf frei zu haben. Deshalb mußten von der Infanterie die gewandtesten Leute ein jeder vier Wagen führen, indem sie, auf dem ersten sitzend, die Pferde der folgenden Fahrzeuge an den vorausfahrenden Wagen befestigten, wodurch ich bedeutend an meinen Streitkräften gewann.

Auf diese Weise konnten im Notfall drei Viertel der zu den Wagen kommandierten Mannschaften dem Feinde entgegentreten. Ebenso hatte ich die in allen Verhältnissen nötige Bildung einer Wagenburg vorläufig angeordnet, und vervollkommnete sie während des Marsches am folgenden Tage. So vorbereitet ließ ich um 3 Uhr, weit vor Sonnenaufgang, eine verhältnismäßig starke Vorhut aufbrechen, welcher ich die Richtung, die unser Rückzug nehmen mußte, nur oberflächlich angeben konnte, da mir sowohl Boten als genaue Kenntnis der Gegend fehlten. Es blieb mir demnach nur der Versuch übrig, sobald wie möglich die große Straße zu erreichen, wo ich hoffen konnte, Unterstützung oder Sicherheit zu finden. Ich selbst blieb bis Tagesanbruch mit meiner stärkeren Nachhut in größerer Entfernung zurück. Nach unserm Übergang ließ ich die Brücke über den schon oben erwähnten Bach, welcher etwa 5 bis 6 Meter breit war, abwerfen. Überhaupt suchte ich den Verfolgern so viel Hindernisse wie nur irgend möglich in den Weg zu werfen, und hatte auch die Freude, gegen anderthalb Meilen meinem Ziele näher gekommen zu sein. Doch plötzlich änderte sich die Szene.

Unser Weg führte durch ein Dorf in der Ebene. Als wir uns näherten, wurde meine Vorhut aus den ersten Häusern mit Flintenschüssen empfangen, und dieser voreilige Angriff war abermals mein Glück! Hätte der Gegner mich mit meiner Kolonne bis in die Mitte des Dorfes kommen lassen und mich dann mit der Übermacht, die ich nur zu bald kennen lernen sollte, angegriffen, so unterliegt es keinem Zweifel, daß wir alle gänzlich verloren gewesen wären. So aber wurde ich durch das, was mein Verderben sein sollte, gewarnt. Schnell ließ ich etliche Kavallerie-Plänkler vorrücken, um seitwärts das Dorf zu umgehen; ich selbst bog mit dem übrigen Trupp querfeldein, ließ die in der dortigen Gegend üblichen Einzäunungen zerhauen, und gelangte so auf die jenseitigen Ebenen, immer mich möglichst von den Gebäuden und dem Rande des Waldes entfernt haltend. Auf dieser Fläche sammelte ich meine ganze Abteilung, ordnete die Stellung der Wagen so, daß schnell ein Karree gebildet werden konnte, und ließ dann Menschen und Pferde ein wenig rasten.

Eben als ich mich nach kurzem Aufenthalt wieder in Marsch setzen wollte, wurde mir die Größe der Gefahr, in welcher ich schwebte, durch eine neue Erscheinung außer Zweifel gestellt. Aus der links vorspringenden Waldspitze rückten im Trabe etwa sechzig bis siebzig reguläre Dragoner vor – daß sie reguläre Truppen waren, zeigte ihr Manöver, – aus allen Ecken drängten, wie aus dem Boden gewachsen, bärtige Russen mit Piken bewaffnet nach, und mir gerade gegenüber erblickte ich einen schönen Mann in russischer Nationaltracht, der, seiner Kleidung und Haltung nach zu urteilen, der Anführer unserer Feinde sein mußte. Dieser Mann war außerordentlich schön beritten und umgeben von einem Schwarm Landkosaken, die auf seinen Ruf in Schußweite von uns halt machten, hierauf sprengte er etwas vor und redete uns erst in französischer und auf die Antwort, daß wir Deutsche seien, fertig in unserer Sprache an. Er forderte uns auf, die Waffen niederzulegen, versprach uns, da wir Deutsche seien, eine gute Behandlung und setzte hinzu, daß er recht gut wisse, wie wir nur gezwungen unsere Waffen gegen die Russen richteten, und was der Reden mehr waren. Diese verführerische Aufforderung, angesichts so augenscheinlicher Gefahr des Unterliegens, war von der größten Bedeutung für meine Expedition. Ich bemerkte, daß mehrere meiner Leute schwankten, obwohl ich ihnen mein Wort gab, daß der Augenblick ihres Übertritts auch der ihres Todes sein würde; denn ich wußte nur zu wohl, daß an Pardon von seiten des russischen Landsturms nicht zu denken wäre. Ihnen galt es gleich, ob ihr Feind Deutscher oder Franzose war: jeder fremde Krieger hieß »Franzus«, und solchem war der Tod unwiderruflich geschworen. Auf obige Aufforderung erfolgte die Erklärung von meiner Seite, daß es mein fester Entschluß sei, mich, nicht zu ergeben.

Dennoch bewilligte mein Gegner eine Viertelstunde Bedenkzeit, die ich dazu benutzte, meine Leute aufzufordern, alle ihre Kräfte an unsere Befreiung zu setzen. Ich sprach ihnen meine feste Überzeugung aus, daß unser Untergang gewiß sei, wenn wir das Unglück hätten, in die Hände der Russen zu fallen, und daß wir also lieber vereint bis auf den letzten Mann fechten und mit den Waffen in der Hand sterben wollten. Außerdem hatten wir keine Infanterie gegen uns, und gegen Kavallerie konnte ich mich, wenn meine Leute aushielten, wohl verteidigen.

Ein trauriger Umstand kam meiner Bedrängnis zustatten und sprach beredter für die Wahrheit meiner Behauptung, als ich es durch weiteres Zureden vermocht hätte. Ein Sergeant von meiner Infanterie, namens Koch, wie ich nachträglich erfuhr, schon immer als ein Feigling bekannt, war unterdessen unter einem Wagen durchgekrochen und lief zu dem russischen Haufen über. Zu seinem Unglück traf er auf Landsturm und im nämlichen Augenblick, indem wir seine Flucht bemerkten, war er von Piken durchbohrt und mit Knüppeln erschlagen. Tiefes schreckliche Ereignis geschah vor unseren Augen. Ich brauchte um die größte Kraftanstrengung meiner Untergebenen nicht mehr besorgt zu sein. Von allen Seiten erhielt ich die laute einstimmige Versicherung, unbedingt bei mir aushalten und meine Befehle aufs pünktlichste vollziehen zu wollen. Die kurze mir noch übrige Zeit benutzte ich, meine Infanteristen hinter den im Viereck aufgestellten Wagen so zu postieren, daß sie, selbst gedeckt, von allen Seiten freien Schuß hatten, – in der Mitte stand die Reserve und die abgesessenen Kavalleristen in üblicher Art. So vorbereitet, ließ ich schnell zur Stärkung einige Flaschen Wein die Runde machen die vortreffliche Wirkung taten und nicht geschont wurden.

Als unsere Gegner sahen, daß wir, statt uns zu ergeben, Vorbereitungen zur Verteidigung trafen, erscholl der Befehl zum Angreifen. Zuerst umschwärmten mich die irregulären Kosaken, doch etliche Flintenschüsse reichten hin, diese feige Bande in gehöriger Entfernung zu halten. Der Landsturm zu Fuß wagte kaum vorzurücken, man hatte dort den nämlichen Respekt vor regelmäßigem Infanteriefeuer, nur die Dragoner standen mir fest gegenüber und machten auch mehrere Schwarm-Attacken. Mehrere meiner Leute, leider unter ihnen mein armer Lippe, wurden durch Karabinerschüsse verwundet, – doch stand unser Verlust mit dem unserer Gegner in gar keinem Verhältnis: sie litten bedeutend, was die Wut ihres Anführers auf die höchste Spitze trieb. Immer heftiger feuerte er seine zurückweichenden Trupps zu fernerem Angriff an, meine Lage wurde immer kritischer. Da ergriff ich, mit Widerstreben, das letzte Hilfsmittel – nicht ohne peinlichen Kampf mit mir selber, – ich bot einige Goldstücke demjenigen, welchem es gelingen würde, den feindlichen Anführer vom Pferde zu schießen, überzeugt, daß mit seinem Fall die Wut des Angriffs nachlassen würde, und diese Berechnung war nur zu richtig. Ein paar Minuten reichten hin – die wohlgezielten Schüsse taten ihre Wirkung – der schöne Russe sank auf dem Pferde zusammen! Kaum bemerkten seine Untergebenen seine Verwundung, als sich auch alles in einem dichten Schwarm um ihn sammelte und mit ihm dem Walde zuzueilen suchte. Dieser Moment wurde benutzt: ein scharfes Feuer der Plänkler und der Reserven in diesen unregelmäßigen Klumpen hatte Wirkung, er stob auseinander: die Dragoner zogen sich ebenfalls in den Wald zurück.

Nun ließ ich schnell aufbrechen. Alles lag jetzt daran, bei dem eintretenden Abend eine sichere Aufstellung zu finden. Mit wenigen Leuten ritt ich in geringer Entfernung den übrigen voraus und ließ, da die Nacht bereits eingebrochen war, auf einer kleinen Erhöhung abermals eine Wagenburg bilden. In Eile wurde aus einem benachbarten Bache getränkt und die Feldkessel gefüllt, und dann von den Ecken des Karrees aus Doppelposten auf dem Boden liegend angeordnet, kurz, jede Maßregel getroffen, um gesichert zu sein. So mußte ich mein Schicksal erwarten; Patrouillen auszuschicken wäre Unsinn gewesen, sie wären nur unnötig geopfert worden, da ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht allein beobachtet, sondern auch von neuem aufgegriffen zu werden erwarten mußte. Ebenso würde ich gegen alle Vorsicht gehandelt haben, wenn ich hätte Feuer anmachen lassen, da dies nicht allein unsere Stellung verraten, sondern auch dem feindlichen Schusse ein sicheres Ziel verschafft haben würde. Den dritten Teil meiner Leute ließ ich abwechselnd ruhen, die andern stets im verteidigungsfähigen Zustand bleiben: doch überzeugte ich mich bald, daß nur sehr wenige sich dem Schlaf überließen, die Spannung war zu groß, die Ruhe floh uns alle. Ich für meine Person, verantwortlich für das Leben so vieler, wurde außerdem noch durch die fortwährenden Meldungen wach erhalten und dadurch veranlaßt, selbst den Grund oder Ungrund derselben zu untersuchen. Mein armer Lippe konnte mich dabei nicht unterstützen, da er, durch eine Kugel am Bein verwundet, schwer leidend auf einem Wagen lag, und doch hätte ich seiner Unterstützung wohl bedurft; denn bald wollten die verschiedenen Posten hier oder dort eine verdächtige Bewegung bemerkt, bald von jener Seite auffallendes Geräusch gehört haben. Mitternacht war längst vorüber, und gegen meine Erwartung war ich noch nicht gefährdet worden; aber das uns bekannte System der Russen in jener Zeit, selten oder nie die Nacht zu kriegerischen Operationen zu benutzen, bewährte sich auch hier. Man konnte immer nur kurz vor Anbruch des Tages mit Bestimmtheit auf irgend einen Angriff rechnen. Jedenfalls mußte der Fall des feindlichen Anführers einen regelmäßigen Plan zerstört haben, sonst wäre es mir unerklärlich geblieben, daß ich die Nacht in einer solchen ungünstigen Aufstellung so ruhig hätte zubringen können. Und dann hatte den rohen Haufen auch die schon oftmals erwähnte Abneigung, gegen Schießwaffen zu fechten, verscheucht. Dies erklärt sich dadurch leicht, daß die Landleute als Leibeigene keine derartige Waffe führen durften. Daher war ihnen der Gebrauch derselben sowie deren Wirkung fremd und unbekannt und flößte ihnen einen heillosen Schrecken ein. Als kleinen Beleg für diese Behauptung erzähle ich hier einen Vorfall, der sich wirklich zugetragen hat. Ein Hoboist der französischen großen Armee hatte sich auf dem Rückzuge in einem seitwärts liegenden Dorfe so verspätet, daß er, obwohl es schon heller Tag war, dennoch versuchen wollte, die auf der großen Straße sich bewegende Armee zu erreichen. Plötzlich wurde er von vier bis fünf Kosaken, ebenfalls Landsturm, angegriffen. Mit kaltem Blute brach er das Mundstück seines Instruments, eines Fagotts, ab, postierte sich in einen Graben und zielte auf seine Gegner; im Nu machten diese kehrt, und unser Hoboist erreichte glücklich die Straße.

Morgens 3 Uhr, nachdem ich etliche Schleichpatrouillen in der Richtung meines ferneren Weges geschickt hatte und nichts Verdächtiges gemeldet wurde, brach ich möglichst stille auf, immer in der Erwartung, auf den Feind zu stoßen und in dieser Voraussetzung mit dem zunehmenden Tage meine Aufmerksamkeit vergrößernd. Doch schon waren wir beinahe eine Meile vorwärts gekommen, nichts Verdächtiges hatte sich gezeigt; schon begann ich freier zu atmen, als ich von der Vorhut her die Meldung erhielt, daß in einem vor uns liegenden Dorfe Bewegungen bemerkt wurden, die unbezweifelt auf militärische Besatzung desselben hindeuteten. Natürlich konnte ich nur glauben, daß mir während der Nacht der Rückzug vom Feinde abgeschnitten worden sei. Eine Besichtigung war unter diesen Umständen unerläßlich. So ging ich denn mit meinen berittenen Leuten und der Hälfte der Infanterie vor, um, auf jeden Ausgang gefaßt, Gewißheit unsers Schicksals zu erlangen. Einem Unteroffizier hatte ich die näheren Verhaltungsbefehle in bezug auf den Transport sowie der nötigen Signale hinterlassen. An der Spitze meiner Abteilung kam ich in tiefster Stille in die Nähe des Dorfes und – hier endeten meine Besorgnisse, wie die Erzählung meines kleinen Abenteuers; denn mit unbeschreiblicher Freude hörte ich an den Ausrufen, die in italienischer Sprache mir zu Ohren drangen, daß wir, statt auf Feinde zu stoßen, Verbündete vor uns hatten. Rasch ritt ich mit einer kleinen Bedeckung vor, wodurch ein gewaltiger Lärm bei dem italienischen Detachement entstand, da sie ebenfalls einen feindlichen Überfall befürchteten. Gegenseitig wurden wir auf die angenehmste Weise enttäuscht, und da die kleine Abteilung ebenfalls auf Beute ausging, nahm ich mir nur Zeit, ihrem Anführer Glück zu seiner Unternehmung zu wünschen und kameradschaftlich ihm einen Teil meiner Vorräte abzulassen, worauf ich mit meinen Leuten vorwärts eilte und gegen Abend den glücklichem Erfolg meines Auftrages meinem General melden konnte. Er bezeugte mir seine Zufriedenheit, da die mitgebrachten Vorräte wirklich bedeutend waren und nur in den Weinflaschen eine ansehnliche Verringerung eingetreten war.

Als ich mich dem Biwak meines Regiments genähert hatte, hörte ich schon in weiter Entfernung Kanonendonner, der jedoch bald verstummte, und bei meiner Ankunft erfuhr ich, daß von uns zwei vorspringende russische Feldschanzen genommen seien. Auch eine andere Neuigkeit erwartete mich: Napoleon hatte durch eine Proklamation die Schlacht zum 7. September angekündigt, und da ich am fünften abends zu meinem Regimente zurückkehrte, fand ich bis dahin genug zu tun, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.


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