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Heliade war in Rom. Sie machte dort eine Erfahrung, die sehr alltäglich ist und die doch Jedem, dem sie begegnet, immer unerwartet kommt: sie heißt: keine Vollkommenheit auf Erden. Heliade hatte sich den Aufenthalt in Rom wie den Vorhof des Paradieses vorgestellt – und er hätte es sein können, wenn nicht Rom auf unserer Erde läge. Lady Arran war schwer erkrankt. Die Aerzte sagten, sie habe ein Herzleiden, von dem sie nicht herzustellen sei, obschon sie noch längere Zeit damit leben könne, wenn sie vor jeder Gemütsbewegung, jeder Aufregung, jedem Kummer bewahrt bleibe. Dies brachte eine große Veränderung in Heliadens Leben hervor, das so angenehm, so genußreich, so friedlich in Rom begann und nun so voll Bekümmerniß und Sorge war.
Sie hatte ihre Großmutter als die Vorsteherin einer kleinen Genossenschaft von Convertiten in dem Häuschen am Fuß des Monte Celio gefunden, das noch immer für genügsame fromme Seelen groß genug war. Nur hatte es eine gar liebliche Nachbarschaft bekommen, indem eine kleine Capelle angebaut war, wo täglich die Messe gelesen wurde und wo immer der verborgene Gott im Tabernakel weilte.
»Du lebst, wie einst die heilige Wittwe Marcella lebte, liebe Großmutter,« sagte Heliade entzückt.
»Nur Alles im bescheidensten Vergleich, mein Kind!« sagte die milde Frau. »Die reiche Marcella lebte in einem jener prächtigen Paläste der alten römischen Familien; – ich in einem Gartenhäuschen. Die zum Christenthum bekehrten vornehmen Römerinnen fanden bei ihr einen Mittelpunkt für alle christlichen Interessen und einen Heerd aller christlichen Tugenden; – zu mir kommen Neubekehrte, die eben keine andere Zuflucht haben, wenn ihre Familie sie verstößt oder enterbt, und wir üben uns gemeinschaftlich in unserer Armseligkeit mit geringen Werken der Barmherzigkeit. Marcella glänzte wie durch Tugend und Frömmigkeit, so auch durch Geist und seltene Bildung; – ich bin der Unvollkommensten und Unwissendsten Eine. Marcella's Seelenführer war der große heilige Hieronymus, der gelehrteste Mann seiner Zeit; – der meine ist nun schon seit zwanzig Jahren mein demüthiger, unscheinbarer, aber gottseliger Pater Pius. Du siehst also, mein Kind, daß zwischen uns kein anderer Vergleich besteht, als der zwischen zwei Wittwen, die Gott zu lieben und zu dienen suchen.«
»Also genau in der Hauptsache besteht die Aehnlichkeit!« rief Heliade und küßte zärtlich Mistriß O'Connor's Hand. Diese sagte ablenkend:
»Als Dein Großvater starb und ich fern von meinen beiden Kindern fortleben mußte, gab mir Gott den Gedanken, mir eine Familie von recht verlassenen Wesen zu bilden. Jedes Menschenherz hat ja Mitleid mit fremder Noth – aber die schmerzlichste Noth ist immer die, welche die Seelen betrifft; und es ist wohl die allerbitterste, wenn sich Jemand durch den Rücktritt in unsere heilige Kirche seiner Existenz beraubt findet – und verstoßen, oder brodlos, oder beides zugleich wird. Für einen solchen Fall ist eine sichere Zufluchtsstätte eine namenlose Wohlthat . . . und so bin ich die Mutter dieser Waisen um des Glaubens willen geworden. Damit sie aber nicht vergessen, daß Jeder, der in die Kirche zurücktritt – unter das Kreuz tritt, so üben sie sich in diesem Häuschen im Gehorsam, in der Demuth, in der Armuth. Unser Leben ist nach einer Regel geordnet, für deren Befolgung ich einzustehen habe, wie die Mutter für die Ordnung in ihrer Familie – und so lange man unter meinem armen Dach ist, das weiter nichts gewährt als die Nothdurft des Daseins, steht man in einem töchterlichen Verhältniß zu mir. Einige dieser Töchter sind von ihren Familien wieder zu Gnaden angenommen; Einige fanden ihr Fortkommen in der Welt; Einige folgten dem klösterlichen Beruf; Einige hielten nicht aus unter dem Kreuz. Da alle Fäden dieser Schicksalsentwickelungen durch meine Hand und mein Herz gehen, so begreifst Du, daß es mir in keiner Beziehung an Arbeit und Mühsal fehlt – wofür ich dem lieben Gott sehr dankbar bin.«
»Wie erfinderisch ist die christliche Liebe, die für Alles sorgt . . . sogar für den Antheil am Kreuz,« sagte Heliade sinnend.
»Ja Kind, wenn das Kreuz fehlte, so wäre sie eben nicht christlich,« entgegnete Mistriß O'Connor. »Mit dem Rücktritt zum alten Glauben beginnt erst das Gnadenleben, in welchem der alte Mensch ersterben soll – und das ist eine langsame Prozedur, wie wir Alle wissen. Da gibt es also oberflächliche und hochmüthige Convertiten, die sich einbilden, es gereiche der Kirche zur größten Ehre, so ausgezeichnete Leute gewonnen zu haben. Diesen Irrthum muß man ihnen benehmen unter dem Kreuz der Demuth! Wenn ganz England katholisch würde, so wäre das keine Ehre für die Kirche, wohl aber für die Vernunft und die Charakterstärke der Engländer. Das muß man den Convertiten einprägen: Die Kirche kann euch Alle entbehren; sie bleibt, was sie ist, die göttliche Gnadenanstalt für ewige Zeiten, mögen Millionen abfallen, mögen Millionen zurückkehren! aber ihr braucht die Kirche, um eure Seelen zu retten. In diesem Sinn behandele ich meine Neophyten – und es sind, Gott Dank! doch nur die Wenigsten, die nicht darüber zur Einsicht kommen.«
Dann ließ sich Heliade viel erzählen von der Jugendzeit ihrer Mutter und ihres Onkels Reginald, des Dominicaners – und von Irlands früheren Schicksalen, die ihre Großeltern in die Verbannung trieben – wenn man Rom für Katholiken einen Verbannungsort nennen kann. Und mit all den schönen Gedanken, den edlen Eindrücken, welche sie aus der Gegenwart wie aus der Vergangenheit ihrer Familie schöpfte, kehrte sie zu ihren theuern Pflegeltern zurück und machte mit ihnen und an der Hand der Geschichte, der Kunst und der Religion Wanderungen durch die Jahrtausende und durch die übereinander gethürmten Welten, die zusammengenommen jene wunderbare, jene erdeneinzige Stätte ausmachen – die Rom heißt. Das währte einige Wochen; – dann kam Lady Arran's Erkrankung und das genußreiche Leben hörte nicht nur auf, sondern machte einem sorgenvollen und peinlichen Platz. Der Tod, der seine theure Magdalene so nah bedrohte, erinnerte Lord Arran an den eigenen und nahen Sonnenuntergang seines Lebens und lebhafter denn je wurde der Wunsch in ihm rege, sein Vermögen und seinen Namen auf Heliade, die geliebte, die edle Heliade, die sich immer schöner und liebenswürdiger unter seinen Augen entwickelte, zu übertragen. Aber dieser Wunsch war fest verschmolzen mit dem zweiten: die Häuser Arran und O'Connor auf's Engste zu verbinden. Das war irisch, das war katholisch, das entsprach allen höheren Forderungen – und folglich mußte Heliadens Glück daraus hervorgehen: dies war Lord Arran's Ansicht. Seit jener schmerzlichen Erklärung in Arran-Castle war nicht die leiseste Andeutung von Seiten Heliadens gefallen, daß sie sich irgendwie durch irgend einen flüchtigen Gedanken mit diesem entsetzlichen Violinspieler beschäftige. Das wäre doch unmöglich, wenn die Sache eine tiefe Wurzel hätte. Er war so klug – Lord Arran, und kannte die Menschen, nicht bloß die Welt, so gut, daß er wohl hätte wissen können, daß man schweigend lieben kann, wenn die schönsten Hoffnungen über die Erde hinausgehen. Aber er hing nun einmal an seinem Lieblingsplan und wollte ihn sich durchaus nicht entreißen lassen. Ein Violinvirtuose paßte nicht in diesen Rahmen hinein: darum nahm er an, daß Heliade ihn notwendigerweise fallen lassen müsse und werde. Mit Lady Arran durfte er nicht diesen Gegenstand besprechen, da er wohl wußte, wie innig er ihr Herz berühre und jede Gemütsbewegung von dem Arzt als schädlich bezeichnet war. Sie war daher auch nicht im Stande, ihren Mann zurückzuhalten und durch ihre Vorstellungen zu beschwichtigen. Er machte es sich zur Aufgabe, Heliade zu besiegen und erwarb zu diesem Zweck Mistriß O'Connor zur Bundesgenossin, jedoch ohne ihr das traurige Geheimniß von dem Violinspieler mitzutheilen. Er fand dasselbe so beschämend für Heliade, daß er, in seiner großen Liebe für sie, nichts sagen wollte, was sie in den Augen der Großmutter hätte herabsetzen können. Heliade gerieth aber in ein Kreuzfeuer von Vorstellungen und Bestürmungen, dem sie nichts entgegen zu setzen hatte, als ihren ablehnenden Willen. Mochte sie dies nun auch in der demüthigsten Weise thun, so war es doch immer ein Widerstand gegen die liebevollen Wünsche derjenigen Personen, an denen sie mit Verehrung, Dankbarkeit und Liebe hing – und ihrem strengen Pflichtgefühl, das den Gehorsam so hoch schätzte, wurde dieser Widerstand namenlos schwer.
Sie machte täglich weite Spazierritte in der römischen Campagna mit Lord Arran – in der ersten Zeit zu ihrem größten Vergnügen, jetzt – zu ihrer größten Qual; denn in diesen Stunden war er so recht ungestört mit ihr allein und er benutzte das, um wieder und immer wieder mit seinen Wünschen und Plänen hervorzutreten und sie so lieblich und lockend wie möglich auszumalen. Dadurch bewirkte er denn, daß ihr Bryan O'Connor unerträglich wurde, obschon sie sich eingestehen mußte, sie thue ihm dadurch Unrecht. Schweigend und traurig ritt sie an Lord Arrans Seite dahin – und während Alle, die sie sahen, sie bewunderten und Manche sie beneideten, dachte sie über die schmerzliche Eigenthümlichkeit ihres Schicksals nach, welches sie zweimal nöthigte, den Wünschen ihrer Eltern in Bezug auf ihre Verehlichung auf's Entschiedenste entgegen zu treten. Aber ihre muthige Energie ließ sie nicht in Verzagtheit untergehen. Habe ich den ersten Kampf bestehen können – sprach sie zu sich selbst – und war dessen Preis die Bekehrung meines Vaters: so werde ich auch im zweiten ausharren . . . und der Preis wird sein – was Gott will.
Es war der 25. Januar, Pauli Bekehrung. Das ist so schön in Rom, daß man das wunderbare Jahr der Kirche, in welchem jeder Tag ein heiliger Denkstein ist, nicht bloß gottesdienstlich feiert, sondern in lebendigsten Anschauungen durchleben kann. Da sind tausend Erinnerungen an die Heiligen, deren Andenken der Tag bewahrt und ehrt. Da hat die Kunst ihnen herrliche Gotteshäuser gewidmet und ihr Leben und Sterben durch Meißel und Pinsel verherrlicht. Da hat die Andacht ihre Reliquien gesammelt und auf schönen Altären, in prächtigen Schreinen, zu frommer Verehrung ausgestellt. Da ist die Barmherzigkeit ihren Schritten nachgegangen oder ihrem Anstoß gefolgt und hat unter ihrer Fürbitte und ihnen zu Ehren Denkmale der christlichen Charitas errichtet. Da hat die Geschichte – oder die Tradition, die eine nicht geschriebene Geschichte ist – auf gewisse Stätten einen Namen oder eine That oder einen Moment niedergelegt, welche wie Riesenmonumente durch die Jahrtausende fortbestehen.
Ueber die majestätische Basilika von St. Paul wohl eine Stunde hinaus, tief in der Campagna, liegt zwischen nahen Hügeln oder eigentlich in einer etwas tieferen Senkung des gewellten Bodens, welche durch eingesunkene Katakomben entstanden ist, die alte Cisterzienser-Abtei alle tre Fontane oder ad Aquas salvias – eine Stätte für's beschauliche Leben, wie man sie sich nicht einsamer, nicht weltabgeschiedener vorstellen kann. Die niedern Hügel sind gerade hoch genug, um jede Aussicht, jeden Blick in's Freie abzuschneiden. Das enge Thal ist gerade weit genug, um für eine größere Kirche und zwei Kirchlein den Raum auf einem unregelmäßigen Platz zu gewähren. Der Boden und die Abhänge der Hügel sind mit dem reichen Graswuchs der Campagna einförmig bedeckt, ohne Abwechslung von Gesträuch und Bäumen. Es ist eine Stätte, auf welcher das Auge sich unwillkürlich zum Himmel wendet. Die Feuchtigkeit des Bodens, die auch der Basilika von St. Paul so schädlich ist und von der Nähe der sumpfigen Ufer der Tiber herrühren soll, hat die Cisterzienser aus der Abtei vertrieben und es wohnen nur noch ein Paar Brüder als Wächter in den ehemaligen Klostergebäuden. Auch die Kirchen sind verödet, ihre Wände feucht, ihre Malereien zerstört. Die kleinste, im Hintergrunde des Thales, gab der Abtei den Namen »zu den drei Quellen.« Sie ist auf dem Platz erbaut, wo nach der Tradition St. Paulus enthauptet wurde und wo – wie die Legende weiter erzählt, – sein abgeschlagenes Haupt, den Boden berührend, jene Quellen hervorrief.
Dahin war Lord Arran mit Heliade geritten. Sie standen in dem letzten Kirchlein und dachten an das merkwürdig großartige Leben, das hier zu Ende ging. Lord Arran sagte:
»Dieser »Gefesselte um Christi willen« – wie St. Paulus sich selbst nennt – hat mehr für die Freiheit des Menschen gethan, als Alle, die ihm in der langen Reihe von achtzehn Jahrhunderten gefolgt sind; denn wenn sie die wahre christliche Freiheit lehrten, so bauten sie auf seinem Fundament. Er faßt den Menschen so recht in der Tiefe seiner gefallenen Natur als den »Sohn der Nacht und der Finsterniß« auf, stellt ihn mitten hinein in die Arena des Lebens und lehrt ihn, streitend und kämpfend, unter unendlichen Nöthen und Mühsalen, immer angefochten und nie überwunden, gebadet im Blut Jesu und im eigenen Herzblut, gezogen von der Gnade und getragen vom Glauben, jene wunderbare Umbildung in »ein Kind des Lichtes und des Tages« erstreben, deren Vollendung »die Krone des Lebens« gewährt.«
»Zu welcher göttlichen Freiheit ist der Christ berufen,« sagte Heliade, »und was machen wir aus uns? – Niedrige Sklaven niedriger Leidenschaften! . . . O! wenn je ein Mensch – so durfte St. Paulus mit seinem Herrn und Meister sprechen: »Ich habe die Welt überwunden;« – und zwar lange bevor er auf dieser Stelle mit seinem Martertode seinen Sieg beschloß. Und er war doch, dem Wesen nach, ein Mensch, wie wir Alle sind, d. h. gebrechlich.«
»Aber mit einem immensen Maß der Gnaden!« sagte Lord Arran. »Er ist ein geistiger Säulensteher, der die ganze Menschheit überragt und durch Lehre und Leben erschüttert. Und sinkt sie auch immer wieder in den Murmelthierschlaf der Lauheit und Gleichgültigkeit – oder in den Taumel der Sinnlichkeit zurück: so verstummt die Stimme dieses Wächters auf der Höhe doch nie und die Paulinischen Briefe sind so recht der mahnende Weckruf, den die Kirche von ihren Kanzeln herab erschallen läßt.«
Sie gingen zu den Pferden zurück, die am Eingang des Thales warteten. Als Heliade aufstieg, trat ein Mann ihr gerade gegenüber unter die Thür des Kirchleins von S. Maria scala coeli. Heliade sah nicht scharf genug, um ihn zu erkennen, und ihr Pferd machte eine lebhafte Bewegung und zwang sie, den Blick sogleich von der Erscheinung abzuwenden; aber diese Gestalt! aber diese Haltung! konnte das Jemand anders sein, als Peregrin? Ihr Herz stand still vor Spannung. Doch als sie nach ein Paar Secunden wieder hinschaute – war er verschwunden. Hatte sie sich getäuscht? . . . War er wirklich in Rom? . . . Und wenn er da war – und wenn er Mariano Torrigi war . . . weshalb hörte sie nichts von seiner Anwesenheit? Lord und Lady Arran sahen täglich so viel Leute und erfuhren durch dieselben so ausführlich und genau Alles, was man in der Gesellschaft that und trieb und wofür man sich interessirte, daß die Anwesenheit des berühmten Virtuosen gewiß nicht unerwähnt geblieben wäre. War er aber erst kürzlich angelangt, wie unwahrscheinlich, daß er sich dann ganz allein nach dieser abgelegenen Stätte begeben werde; d. h. unwahrscheinlich für Mariano Torrigi, nicht für Peregrin. Diese Gedanken durchwirbelten sich bei Heliade. In sich versunken ritt sie dahin und fuhr erschreckt aus, als Lord Arran plötzlich sagte:
»Sieh, wie schön das ist!«
Sie hatten jene tiefere Senkung des Bodens hinter sich gelassen und einen freien Punkt erreicht, wo sie die ganze, weite Landschaft überschauten. Vom Gebirge im Osten bis zum Meer im Westen breitete sich die Campagna mit ihrer geringen Abwechselung des Bodens wie ein stiller, weiter, grüner See aus. Im Vordergrunde lag die Basilika von St. Paul, aber erst als unvollendeter Bau und daher ruinenmäßig. Im Hintergrunde lagerte die ewige Stadt mit ihrer Masse von Kuppeln und Thürmen und Palästen – alle überragt von der einen Masse der Peterskuppel. Die Aquaducte mit ihren schönen Bogenstellungen von rötlichem Stein liefen in zarten, gebrochenen Linien wie Tausendfüßler von höheren Punkten der Stadt zu. Die Sonne stand tief im Westen und hauchte einen glühenden Farbenton über Himmel und Erde, soweit ihre untergehenden Strahlen die Glut des Abendroths nährten, während über dem Gebirge im Osten ein blauer Duft, der Bote der Nacht – und in ihm die goldene Leuchtkugel des Vollmonds schwebte. Es war ein wunderschönes Bild voll hoher Poesie, aber durch keinen Pinsel wiederzugeben. Der Zauber der verschmelzenden Farben –vom zarten grünlichen Schleier an, der den Mond umzittert, bis zu den Rosenflammen, in welchen die Sonne ausglüht – ist nicht in den Rahmen eines Gemäldes zu bannen.
»Wie schön!« wiederholte Lord Arran.
»Daß die Schwermuth so schön sein kann!« rief Heliade.
»O Kind,« sagte Lord Arran, »wenn wir dastehen zwischen dem Untergang unserer Sonne und den ansteigenden Schatten der Nacht; auf dieser Erde, die ein von Gräbern gewellter grüner Kirchhof und mit tausend Ruinen besäet ist – wie sollte da nicht eine stille Schwermuth über die unerhörte Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge das Herz übermannen, welches sich selbst aus seinen eigensten Tiefen das Lied von der Vergänglichkeit vorsingen muß. Das ist eine schöne Schwermuth, die der Mensch nur kennt, welcher sich als der fremde Pilger auf dem Wege zum Vaterhause fühlt; – und ich liebe Rom auch deshalb sehr, weil es mir diese sanfte Melancholie anhaucht – zugleich aber auch den Pharus vor Augen stellt, dessen Licht den Trübsinn, diese unchristliche Schwermuth, verscheucht: das ist das Kreuz über St. Peters Kuppel, über dem Grabe des Galiläischen Fischers.«
Nach einer Pause sagte er:
»Und doch will sich auch immer der häßliche Trübsinn einschleichen, wenn nicht Alles nach meinen Wünschen geht!«
»O verleumde Dich nicht selbst, lieber Vater!« rief Heliade; »Du bist ja vollkommen ergeben in Deinem Kummer um das Leiden der lieben Mutter.«
»Nicht immer und nicht ganz, Heliade. Ich bin es in Bezug auf die Gegenwart – nicht auf die Zukunft. Der Gedanke, sie zu verlieren, ist mir fast unerträglich. Ich muß es bekennen, obschon ich damit meinen Egoismus bekenne. In einer so langen Reihe von Jahren ist mir das intimste Leben zu Zweien dermaßen zum Herzensbedürfniß geworden, daß mir die Vereinzelung schmerzlicher ist, als der Tod. Und darum wäre mir der Gedanke, wenigstens Dich, als mein Kind, bei mir zu behalten, Dich an Irland zu fesseln, Dir Alles zu übergeben, was mein ist – mein Vermögen, meinen Namen, meine Pflichten – das Alles dereinst auf Dich zu vererben – Heliade! das wäre ein Trost, den ich gar nicht müde werde mir auszumalen . . . . wenn ich auch weiß, daß Du ihn mir nicht gönnen willst.«
»O mein lieber Vater!« seufzte Heliade; »wüßtest Du, wie weh Du mir thust . . . . Du würdest nicht so sprechen!«
»Und was wünschen wir denn von Dir?« fuhr er fort; – »ist es denn etwas so Schweres für Dich, daß Du dich nennst Heliade O'Connor, Gräfin von Arran?«
»Ich müßte sein, wie ich mich nenne, lieber Vater! und Heliade geht nicht zusammen mit O'Connor.«
»Aber doch noch viel weniger mit Torrigi!« rief er in einer Aufwallung von Ungeduld.
»Es scheint so!« sagte sie sanft.
»Kind, laß uns einmal ganz kaltblütig von dieser Sache reden,« versetzte Lord Arran gefaßt. »Du behauptest, Dein Herz wäre nicht mehr frei wegen dieses Torrigi, der Dich vielleicht oder vielmehr sehr wahrscheinlich längst vergessen hat. Bist Du denn wirklich gesonnen, Dein ganzes Lebensglück an ein Traumbild zu verschwenden? Sage mir nur aufrichtig, was Du denkst, was Du vorhast, damit ich Dein fabelhaftes Verfahren einigermaßen begreifen könne.«
»Nun wohlan, mein lieber Vater!« sagte sie entschlossen: »der höchste Wunsch meines Herzens ist der, daß Mariano Torrigi unserer heiligen Kirche sich anschließen möge – denn das war es, das allein, was uns getrennt hat.«
»Dich . . . und den Violinspieler!« rief Lord Arran grenzenlos erstaunt.
»Das allein!« wiederholte Heliade. »Ehe ich darüber eine Gewißheit habe, ist es mir nicht möglich, mich für einen andern Mann zu interessiren, und könnte ich es, so dürfte ich es nicht. Meine Seele ist auf seine Seele gerichtet! Sage selbst, ob es edel wäre, inferiore Gedanken und Empfindungen einem Andern zuzuwenden.«
»Gewiß nicht! nein, Heliade! Aber ich sage, Du solltest Deine Seele von einem Gegenstand ablösen, der ihrer nicht würdig ist. Bete für ihn, empfiehl ihn anderer frommer Fürbitte und erfülle den Wunsch Deiner Pflegeltern: das zieht vielleicht große Gnaden auf ihn herab, weil es Dich ein Opfer kostet und Gott jedes Opfer segnet.«
»Meinst Du, ich hätte mir das nicht schon hundertmal gesagt?« rief Heliade schmerzlich: »nicht hundertmal das Für und das Wider erwogen, und vor Gott geweint und gefleht um Erkenntniß! Meinst Du, es wäre mir leicht, mir, die ich über Alles fürchte, durch Verletzung einer Pflicht Gott zu beleidigen – den Wünschen geliebter und verehrter Pflegeltern zu widerstehen, gegen welche ich die heiligsten, die theuersten Pflichten habe? Meinst Du, es läge kein Reiz, keine Verlockung in der Vorstellung, daß die arme Heliade Gräfin von Arran werden könnte und daß es ja nicht gerade Bryan O'Connor, sondern auch ein anderer edler Ire sein dürfte, der ihr zur Seite stände! – O, lieber Vater! wenn Du das meinst, so kennst Du mich nicht. Aber durch all meinen innern, heimlichen Jammer klingt fort und fort ein und dasselbe Wort: »Harre aus!« In den jammervollen Zeiten, welche der Bekehrung meines Vaters vorausgingen, sprach eine Stimme zu mir: »Harre aus!« In der schweren Zeit, die auf seinen Tod folgte und die ich bei der Baronesse Ruffach zubrachte, sprach eine Stimme zu mir: »Harre aus!« Und jedes Mal folgte meinem Ausharren – namenlose Gnade! sie brachte meinem Vater das ewige Leben – und sie brachte mich zu einem zweiten Vater . . . . zu Dir! – Und jetzt, da ich zum dritten Mal dieselbe Stimme, denselben Ruf vernehme: »Harre ans!« . . . jetzt sollte ich ihr nicht folgen? Nein, mein geliebter Vater, die Stimme ist von Gott, denn sie hält mich unter dem Kreuz fest! . . . und deßhalb muß ich ihr gehorchen.«
»Bist Du denn aber ganz sicher, daß sich kein Eigenwille, keine feine Selbstsucht, kein Stolz – mit einem Wort: keine Regung Deiner Natur, die durch ihre große Energie große Gefahren hat, – in Deinen Entschluß mischt?«
»Wer wäre davor ganz sicher, lieber Vater? ich Armselige gewiß nicht! Deshalb bitte ich Gott immer, daß er Seinen Willen mir ausspreche und mich befähige, ihn zu verstehen und zu befolgen. Zeigt er mir klar und deutlich, daß Mariano Torrigi einen Weg einschlug, der in den Abgrund führt – oder daß er mich nicht als Werkzeug brauchen kann, um Mariano Torrigi für die ewige Wahrheit zu gewinnen: so hoffe ich ihn auch dann zu verstehen und dann mich zu besinnen, wie ich auf andere Weise seinem Willen dienen könnte.«
»Gesetzt aber den höchst unwahrscheinlichen Fall, daß Mariano Torrigi Dich nicht vergessen habe, katholisch geworden und ein guter Mensch . . . aber freilich ein Violin-Virtuose sei – was würdest Du thun, Heliade?«
»Wenn nichts uns trennt . . . . so sind wir verbunden,« entgegnete sie sanft.
»Entsetzliche Vorstellung! schauerlicher Gedanke!« rief Lord Arran.
»Ich sagte Dir nur, was ich denke und empfinde,« erwiderte Heliade gelassen: – »ob das nun aber der Wille Gottes ist – weiß ich nicht und was ich auch fühlen möge – sein Wille ist die Richtschnur meiner Handlungen.«
»Kind, wie kann man nur so fromm und zugleich so romanesk sein!« rief Lord Arran, der nicht mehr wußte, wie und wo er sie angreifen solle; – und sein Pferd in scharfen Trab setzend, erreichten sie schnell die Stadt.
Abends versammelten sich immer einige Personen bei Lady Arran. Da sie seit ihrer Krankheit nicht ausgehen durfte, so war ihr das besonders wegen ihres Mannes und Heliade sehr lieb. An diesem Abend sprach man viel von einem großen Concert, das zum Besten der Armen unter Mitwirkung mehrerer Künstler stattfinden sollte. Heliade dachte an den Mann in der Cisterzienser-Abtei und bereitete sich im Stillen darauf vor, daß man jetzt unter den Künstlern Mariano Torrigi nennen würde und daß sie keine Verlegenheit äußern dürfe. Doch Niemand nannte diesen Namen und sie begann zu glauben, ihre Kurzsichtigkeit habe sie getäuscht durch eine flüchtige Aehnlichkeit.
Als sie spät ihr Zimmer betrat, fühlte sie sich müde und betäubt von den vielen Stimmen und dem Wirrwarr des Gesprächs, welches alle mögliche Gegenstände oberflächlich berührt und behandelt hatte. Sie wollte noch einen frischen Athemzug in der Nachtluft thun, öffnete ein Fenster und trat auf den Balcon. Er ging auf den kleinen Garten, der zu dem Hause gehörte und ein linder Nachtwind durchrieselte das Laub der Orangenbäume und des Granaten- und Oleandergesträuches und stieg kühlend zu ihr hinauf, während die Sterne mit schimmerndem Blick auf die träumende Welt herabschauten. Es war Alles so schön und so ruhig; aber Heliade empfand das nicht. Durch das Gespräch mit Lord Arran war sie so lebhaft in Hoffnungen und Wünschen für Peregrin gewesen! . . . und jene Aehnlichkeit! . . . und die grenzenlose Ungewißheit über Alles, was ihn betraf! . . . und das Zweifelhafte einer glücklichen Lösung seines räthselvollen Schicksals! . . . und ihre eigene unsichere Zukunft! . . . das Alles beklemmte sie bis zu Thränen.
Da erklang durch die stille Nacht ein unaussprechlich reiner, süßer, vibrirender, langsam anschwellender Ton, so klagend und zugleich so glühend, als ob eine Menschenbrust ihn nicht zu fassen vermöchte; und ging dann, nachdem er lange über jener geheimnißvollen Tiefe schwebte, wo selige Freude und intensiver Schmerz in einander verschmelzen – in vielfache Modulationen über, aus denen endlich eine Melodie sich entwickelte und sich auf ihnen wiegte, wie ein Schwan auf dem stillen See.
So wie der Ton anhub, legte Heliade beide Hände auf die Brust, hob den Kopf empor, stand regungslos und lauschte. Dann, als die Melodie einsetzte, sprach sie unwillkürlich halblaut den Text derselben: »Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten, Adelaïde« – – und die Beklommenheit ihrer Seele wich vor diesem Genuß, der über die Kluft der Jahre der Schicksale, der Trennung zu ihr flog. Ah . . . er ist's! . . . er war es doch! . . . wer? . . . Peregrin? Mariano? – Sie dachte nichts weiter. Aber das war schon genug, ja, zu viel! – Er war da! er war allein, ernst und einsam da! Lag darin nicht eine ganze Welt von Hoffnung? – Als die Violine verstummte, sank Heliade auf die Knie und bat Gott inbrünstig, sie auf den Pfad zu führen, der zu seiner Ehre und zum Heil ihrer und anderer Seelen sei.
Am andern Morgen machte sie sich Vorwürfe, daß sie sich zu einer so stürmischen Aufregung habe hinreißen lassen. Wir sind vielleicht gerade so getrennt, wie zu jener Zeit, da er bei uns die Adelaïde spielte, sagte sie zu sich selbst. Habe ich denn so wenig Selbstbeherrschung? . . . Ich muß den lieben Gott recht darum bitten! – – Sie hatte die Erlaubniß, in den ersten Morgenstunden mit einer Kammerfrau der Gräfin, einer älteren Person, welche alle Reisen ihrer Herrschaft mitgemacht hatte, in eine beliebige Kirche zur Messe gehen zu dürfen. An diesem Morgen sagte Heliade:
»Heute, Miß Bridget, wollen wir unsere heilige Messe in Santa Maria Maggiore hören und dann zur Scala santa gehen. Ich will sie ersteigen.«
»O ich auch!« sagte Miß Bridget erfreut.
An dem immensen Lateranischen Platz liegt ein uraltes Gebäude, ein Ueberrest des ehemaligen, von den Päpsten der früheren Jahrhunderte bewohnten Lateranischen Palastes, welcher in der alten Kaiserzeit der römischen Familie der Laterani gehörte und mit dem Christentum an Kaiser Constantin kam. Erstürmungen und Verheerungen durch Feuer und Schwert, die seit anderthalb Jahrtausenden von Zeit zu Zeit über Rom einbrachen und ganze Quartiere in Schutt und Asche legten oder in Ruinen verwandelten, haben auch den alten Palast und die alte Basilika vom Lateran – diejenige, deren Thürme nie geschlossen, sondern bei Nacht wie bei Tage immer offen standen, längst zerstört. In ihrer jetzigen Gestalt ist die Basilika im siebzehnten Jahrhundert von dem Baumeister Boromini vollendet; die Façade jedoch im Jahre 1734 von Alessandro Galilei hinzugefügt. Jenes uralte Gebäude trägt eine Besiegelung seines Alterthums in der Mosaik auf Goldgrund aus dem achten Jahrhundert, die eine seiner Außenwände schmückt. In dem Gebäude selbst, das den Namen Sancta Sanctorum führt und dessen Kapelle und Gottesdienst den Passionisten übergeben ist, befindet sich eine der größten und ergreifendsten Reliquien Roms: die Scala santa – die heilige Treppe, die unser göttlicher Erlöser in der Nacht seines bittern Leidens betrat, als er zweimal zu Pilatus und zweimal hinweggeführt wurde – und die jetzt von keinem menschlichen Fuß betreten, nur auf den Knien erstiegen wird. Zur Rechten und Linken liegen Treppen für den gewöhnlichen Gebrauch. Oben ist eine kleine Kapelle mit einem uralten, dem heiligen Lucas zugeschriebenen Christusbilde und ein Oratorium mit den vierzehn Kreuzwegs-Stationen; und das Ganze ist mit einem Portikus überbaut. Die Scala santa besteht aus neunundzwanzig Stufen von Marmor, der im Laufe der Zeit ergraut ist. Ihre obere Fläche ist mit Holz bekleidet. Auf einigen Stufen sind Spuren des heiligsten Blutes: da hat man im Holz einen Ausschnitt gemacht und ihn durch eine kleine, in Messing gefaßte runde Glasscheibe geschlossen. Es gibt keine Stätte in Rom, die mehr zur Andacht aufforderte und stimmte, als diese. Hier, gerade hier auf diesen Stufen ist Der gewandelt, der vom Himmel kam und zum Himmel ging und zu uns Allen sprach: »Folge mir nach.« Und wohin zunächst? – Wir blicken auf. Da liegt vor uns die Basilika von Santa Croce, welche die heiligen Reliquien der Passion, das wahre Kreuz, einen Nagel, einige Dornen aufbewahrt: das sind Siegestrophäen über die Welt und den Tod und die Sünde; – aber eines Sieges, der nur auf Golgatha errungen wurde und wird. Bang und scheu, im Bewußtsein unserer Armseligkeit, die den Thabor dem Calvarienberg vorzieht, wenden wir unsern Blick ab. Und worauf fällt er nun? – Auf den Platz, wo Tausende und aber Tausende ihr Golgatha fanden und für den Sohn Gottes starben, der für sie gestorben ist und der zu ihnen, wie zu uns gesagt hat: »Folget mir nach« – auf das Coliseum. So gewaltig ragen diese gigantischen, übereinander gethürmten Arcaden gen Himmel, als sollten sie bis zum Ende der Zeit wie mit einem unüberwindlichen Zaubergürtel jene Arena schützend umgeben, die das Blut der Martyrer in Strömen trank. Aber die Martyrer sind unsers Geschlechts! Nur verstanden sie den Zuruf. »Folget mir nach,« besser als wir; und weil sie ihn so gut verstanden, errangen auch sie eine Siegestrophäe: den Lateran! Ja, auf die Basilika vom göttlichen Erlöser oder von St. Johannes im Lateran – richtet sich nun der Blick mit ich weiß nicht was für eine übernatürliche Freude. Sie ist das Prototyp der »Mater Ecclesiae,« die Mutterkirche der Christenheit, die Metropolitankirche der katholischen Welt. Ihre Fundamente sind gekittet mit dem Blut der Martyrer und von ihren Kuppeln und Gallerien steigen gewaltige Bildsäulen der Heiligen in den blauen Himmel hinein, sinnbildend die triumphirende Kirche, welche über der streitenden wacht und betet. Es gibt keine Stätte auf Erden, die der Seele so mit einem Blick das ganze Bild ihrer Geschichte, ihrer Bestimmung entrollte – von dieser Scala santa an, über die das Blut des Gottmenschen zu ihrer Sühne und Erlösung floß – zu dieser Arena, wo sie im Marterthum sich heiligt – zu diesem Lateran, in welchem sie, weltbesiegend, triumphirt. – –
Auf der Scala santa wird es nie leer von Betenden – zuweilen sind es Einzelne, zuweilen Viele, zuweilen so Viele, daß auf allen Stufen Einige knien. In letzterem Fall ist es mühselig, sie zu ersteigen, weil man sich etwas nach seinen Nachbarn richten muß und dadurch zerstreut wird. In großer Stille, den schmerzhaften Rosenkranz betend, oder auf jeder Stufe ein Pater oder Ave, oder in Betrachtung des bittern Leidens, setzt Jeder seinen Weg fort. Höchstens vernimmt man zuweilen ein schwaches Flüstern, das Rauschen der Gewänder, einen Seufzer, ein ersticktes Gesu mio. Auf den begnadeten Stufen der Scala santa hat nie die Neugier sich bewegt und gegafft, hat nie der Weltsinn seine Glossen gemacht, nie der Unglaube gehöhnt, nie der Irrglaube geprahlt. In jedem andern Heiligthum, kein einziges ausgenommen, kann das geschehen; aber vermöge ihres köstlichen Privilegiums, nur kniend erstiegen zu werden – nicht auf der Scala santa! Zu diesem äußern Act der Demuth entschließt der Weltgeist sich nicht. Wer da kniet, wer da betet, ist ein gläubiger Katholik, der da weiß, daß die Tropfen des göttlichen Blutes auf diesen Stufen seiner Seele in besonderer Weise zu gut kommen, denn es liegt ein Ablaß auf der Ersteigung der Scala santa und der Ablaß besteht ja eben nur darin, daß die Mutter, die Kirche, ihren heilsbedürftigen Kindern aus ihrem Gnadenschatz ein Tröpflein vom Blut Jesu zuwendet, das für die Strafe der Sünde genug thut.
Als Heliade das Sancta Sanctorum betrat, war es fast einsam; nur zwei Männer knieten auf den oberen Stufen. Sie freute sich dieser Einsamkeit, welche die innere Sammlung begünstigt, kniete auf der Vorstufe nieder, die noch nicht zur Treppe gehört, faltete die Hände und verrichtete ein Vorbereitungsgebet. Dann wollte sie sich erheben und ihren andächtigen Weg beginnen. Aber sie blieb wie gebannt aus ihrem Platz, denn indem sie ihren Kopf aufrichtete, fiel ihr Blick unwillkürlich auf die beiden Männer da oben. Der Eine trug die Tracht, die Jacke, die Schuhe des römischen Volkes; – aber der Andere – o Gott! wer war der Andere? – Und dieser Andere beugte sich so eben zu der einen Stufe herab und küßte, wie die Andacht es zu thun pflegt, das kleine Glasmedaillon über dem heiligen Blut. Bei dieser Bewegung neigte er sich seitwärts und Heliade sah sein Profil. Es war Peregrin. Sie empfand eine so unermeßliche Freude, daß sie bewußtlos für alles Uebrige nur Auge war . . . . nur Auge, um sich zu überzeugen, ob keine Aehnlichkeit sie täusche. Er hatte die oberste Stufe erreicht. Er stand auf. Er mußte nun seitwärts gehen, sei es in's Oratorium, sei es zu den hinabführenden Treppen. Da sah sie deutlich sein Profil, seinen Gang, seine Haltung – kein Zweifel mehr! es war Peregrin!
Nun wohlan! frohlockte Heliade in stiller Extase, er ist gerettet! nun ist mir Leben und Sterben ganz gleichgültig . . . . denn höheres Glück gibt es nicht auf Erden! – Und in einem unentwirrbaren Gemisch von Jubel und Thränen, das sie bald wie auf Flügeln über sich selbst zu erheben und bald alle physischen Kräfte zu lähmen schien – und das in einem Dankgefühl sich ausfluthete, für welches sie keine irdischen Worte fand: erstieg Heliade die Scala santa.
Miß Bridget war früher am Ziel angelangt und bereits im Oratorium. Als Heliade eintreten wollte, trat Peregrin heraus. Ahnungslos, überwältigt von ihrer unerwarteten Erscheinung, rief er, wie damals vor neun Jahren in Dresden, ganz leise:
»Heliade!«
Und noch viel leiser, so daß nur sein Ohr sie vernehmen konnte, sagte Heliade den katholischen Gruß:
»Gelobt sei Jesus Christus.«
»In Ewigkeit!« antwortete er fest.
Sie verschwand im Oratorium und er verließ die Gnadenstätte. – –
»Miß Bridget!« sagte Heliade, als beide nach einiger Zeit sich entfernten, »ich habe meine Großmutter in zwei Tagen nicht gesehen. Ich bin hier in ihrer Nähe. Bitte, begleiten Sie mich zu ihr und sagen Sie zu Hause, ich würde bei ihr frühstücken und den Vormittag bleiben, bis man mich abholt.«
Sie war von den Erlebnissen der letzten vierundzwanzig Stunden so erschüttert, daß sie sich in dem stillen Häuschen am Celio etwas erholen wollte – vielleicht auch der Großmutter sich anvertrauen. Nur trat ihr überall das Gorm'sche Familiengeheimniß störend entgegen und hemmte jede vollständige Mitteilung über ihr Verhältniß zu Mariano. Ach! sprach Heliade endlich zu sich selbst – hat Gott die Dinge bis jetzt in solche Verkettungen hinein und wieder herausgeführt, um durch sie verherrlicht zu werden: so wird er auch noch das letzte Räthsel. das letzte Kettenglied lösen und den wahren Zusammenhang von Peregrin's und Mariano's Schicksal enthüllen. Gibt es ein Wesen auf Erden, das an Führung durch Gnade und an himmlische Fügungen nimmer zweifeln darf: so bin ich es . . . . ich! die glückselige Heliade!
Miß Bridget begleitete Heliade pünktlich bis in den Weingarten, der das Häuschen umgab und kehrte dann aus der Via di S. Clemente nach der Via Sistina zurück, während Mistriß O'Connor ihre Enkelin noch liebreicher wie gewöhnlich empfing.
»Ich habe eine unaussprechliche Freude,« sagte sie. »Mein Reginald, der seit vielen Jahren in Amerika war – Dein Onkel, Heliade, der Dominicaner! – er ist vorgestern nach seinem Kloster von S. Clemente zurückgekehrt. Daß meine alten Augen noch das Glück haben sollten, ihn wiederzusehen, nachdem ich ihn aus ganzem Herzen und im vollen Ernst seinem apostolischen Beruf geopfert hatte – o das ist eine Freude, die mein schwaches Mutterherz wahrlich nicht verdient.«
Heliade wünschte der Großmutter Glück zur Rückkehr ihres Sohnes und sagte:
»Gott Dank, daß in unserer Familie ein Priester ist. Der Priester kommt mir vor, wie ein lindes balsamisches Oel, das zwischen die Haken, die Schneiden und Schärfen, die es in jeder Familie gibt, mild sich legt und verhindert, daß sie sich nicht gegenseitig zerreiben.«
»Ja! so ist mein Reginald . . . . so recht wie ein balsamisches Oel!« sagte Mistriß O'Connor.
Dann ging sie ihren Geschäften nach und Heliade blieb allein in dem kleinen Zimmer von zellenhafter Einfachheit, in welchem sich das so unscheinbare Leben ihrer Großmutter zu concentriren schien und doch, vor der Welt verborgen, in so weiten Kreisen wirkte.
Wie das schön ist, dachte Heliade, wie sie begnadet ist . . . die gottselige Frau! Andere Frauen sind zärtliche Gattinnen und vortreffliche Mütter, und haben sie diese Pflichten treu erfüllt, so ist schon ihr Leben köstlich vor Gott. Aber in meiner Großmutter ist eine solche Fülle von übernatürlicher Liebe, daß sie sich in einem Alter, wo gewöhnlich die Menschen nur nach Ruhe verlangen, einen neuen Kreis von frommen Pflichten schafft. Bin ich auch werth, ihre Enkelin zu sein? – – Mit solchen Betrachtungen suchte Heliade ihre Gedanken, die wie ein Wildbach aus den Ufern traten, in ihr altes Bett zurückzuführen.
Während dieser Zeit war Pater Reginald O'Connor bei seinem Freunde, der zugleich der Jugendfreund seines Vaters war – bei Lord Arran. Im Beginn seiner geistlichen Laufbahn hatte Pater O'Connor einige Jahre in Irland gelebt und in den so unendlich drückenden Verhältnissen immer Trost, großmüthige Unterstützung und möglichste Förderung der katholischen Interessen bei Lord Arran gefunden. Innige Dankbarkeit verstärkte seine hohe Achtung für den vortrefflichen Mann, der in keiner Lage seines Lebens je auch nur um ein Haarbreit von den edelsten katholischen Prinzipien gewichen war. Bei seiner Rückkehr aus Amerika war er jetzt auch in Irland gewesen, hatte seinen Vetter Bryan O'Connor, den Convertiten, besucht, und ihn ermuntert, ein beharrlicher Streiter für Irlands Glauben und Recht zu werden; – und hatte von ihm erfahren, daß Lord Arran in Rom sei. Von Heliade schwieg Bryan, begreiflicher Weise – daher glaubte Pater O'Connor, sie sei längst bei seiner Mutter, wie das nach Horburg's Tod beschlossen worden war. Seine Correspondenz mit seiner Mutter war immer sparsam, in den zwei letzten Jahren aber durch seine Reisen in Nordamerika ganz unterbrochen gewesen; und so erfuhr er denn erst jetzt durch sie, daß Heliade die zärtlich geliebte Pflegetochter von Lord und Lady Arran sei. Auf seine Frage:
»Und wie bist Du mit ihr zufrieden?« entgegnete Mistriß O'Connor.
»Sie ist ein gutes, liebes Mädchen, durchdrungen von Frömmigkeit und Pflichtgefühl; allein sie macht dennoch mir und ihren Pflegeltern Sorge: sie will sich nicht verheirathen.«
»Wenn das ihr einziger Fehler ist, liebste Mutter,« entgegnete Pater O'Connor lächelnd, »so sind wir gewiß, daß sie ihn ablegen werde, wenn der Rechte kommt . . . . Oder glaubt sie den Beruf zum Ordensstande zu haben?«
»Das scheint nicht so! . . . und doch ist sie im zweiundzwanzigsten Jahr: da pflegt man doch mit sich selbst über die Standeswahl einig zu sein. Genug – in dieser Beziehung macht sie mir große Sorge wegen ihrer ungewissen Zukunft. Lord Arran muß siebenzig Jahre zählen; Lady Arran und ich sind nicht weit davon entfernt; unsere Tage sind gemessen. Was wird aus Heliade, wenn Gott uns abruft? . . . wenn sie jung und ohne Vermögen, verlassen in der Welt bleibt! Könnte sie sich entschließen, Bryan O'Connors Bewerbung anzunehmen, so würden Lord und Lady Arran sie sogleich adoptiren.«
»Ist sie davon unterrichtet?«
»Gewiß, mein Sohn! dieser Liebesbeweis ihrer Pflegeltern rührt sie zu Thränen . . . allein er bestimmt sie nicht.«
»Das ist aber heldenmüthig, liebste Mutter! ganz arm zu sein, gar keine Zukunft – im Sinn der Welt – zu haben . . . und dann eine solche Stellung abzulehnen: dazu gehört ein Ernst in der Richtung, eine klare Entschiedenheit des Willens, die bei einem frommen und gewissenhaften Wesen, wie Du Heliade beschreibst, einen tiefen Grund haben muß.«
»Vielleicht gelingt es Dir, ihr volles Vertrauen zu gewinnen, mein Sohn. Ich fühle, daß ich es nicht ganz besitze und ich frage mich oft mit Bekümmerniß: woher diese Schranke?«
»Sei ruhig, liebste Mutter, wir werden hoffentlich Alle recht bald im Klaren sein,« sagte er mit so gelassener Bestimmtheit, daß Mistriß O'Connor mit der vollen Zärtlichkeit der Mutterliebe ausrief:
»Ja, mein Reginald! Du wirst das bewirken . . . . Dir wird Heliade ihr ganzes Herz aufschließen!« –
Pater O'Connor kannte Mariano's Leben und Schicksal und den Platz, den Heliade darin einnahm. Jetzt – kannte er auch Heliade . . . . ohne sie je gesehen und gesprochen zu haben.
Nachdem Pater O'Connor ein langes Gespräch über die Verhältnisse der Kirche in Irland und Amerika gehabt hatte, dankte er Lord Arran für die liebreiche Aufnahme, die Heliade bei ihm gefunden – und setzte hinzu:
»Ich hoffe, daß meine Nichte einer so seltenen Güte nicht ganz unwürdig ist.«
»Mein lieber Pater,« sagte Lord Arran, »Heliade ist eine der edelsten Seelen, die ich kenne. Mögen kleine Differenzen in unsern Lebensanschauungen obwalten – wie das so leicht zwischen Jung und Alt vorkommt! – sie ist von einem Adel und einer Reinheit der Gesinnung, die ich immer wieder und wieder mit herzlicher Freude wahrnehme, selbst dann . . . wenn sie damit meinen persönlichen Wünschen entgegentritt.«
» Sie sind edel, Mylord, unter diesen Verhältnissen die innere Unabhängigkeit so hoch zu achten,« entgegnete Pater O'Connor.
»Wo bliebe das Verdienstliche einer Wohlthat, wenn ich durch sie den Empfänger zu meinem Sklaven machen wollte!« rief Lord Arran sehr lebhaft: »das wäre ja ein Kauf der Seele, des Gewissens! Nein, mein Pater! . . . vor solcher Sünde behüte mich Gott! Ich mache mir ohnehin schon Vorwürfe, in diesem Punkt etwas gefehlt zu haben.«
»Nun, Mylord, man kann ja auch nicht immer junge Leute ihre eigenen Wege gehen lassen. Man muß sie prüfen, denn sie sollen sich bewähren, ob sie in der Wahrheit sind, ob nicht. Es ist unendlich heilsam für sie und das Zeichen einer übernatürlichen Liebe, wenn man ihnen ein Paar Felsblöcke oder ein Paar Dornenzweige auf den Weg des Willens legt.«
»Mein Pater,« sagte Lord Arran lächelnd, »ich muß bekennen, daß jene übernatürliche Liebe bei mir mit einer tüchtigen Dosis Selbstliebe versetzt war . . . und leider! leider! noch immer ist.«
»Da Sie sich anklagen, Mylord, so habe ich gleich eine Buße bei der Hand,« entgegnete Pater O'Connor scherzend, indem er ein großes Packet Papiere hervorzog. »Sie besteht darin, daß Sie diese Schriften lesen – vor der Hand . . . Sie allein! und daß Sie mir Ihre Ansicht über die Sache mittheilen. Es ist eine englische Uebersetzung von deutschen Originalien.«
»Geschieht Ihnen ein Gefallen dadurch? . . . dann sehr gern, mein Pater. Nur bedenken Sie, falls die Schriften ascetischen Inhalts sein sollten, daß mein Urtheil in diesem Fach weniger maßgebend ist, als das Ihre.«
»Sie machen keinen Anspruch an Ascese,« erwiderte der Pater.
»Was!« rief Lord Arran, der in den Papieren geblättert hatte: »was ist denn dies »Das Buch Heliade!!« –
»Nun werden Sie mit Interesse lesen . . . nicht wahr, Mylord? – denn ich will gleich hinzusetzen, diese Heliade . . . ist unsere Heliade.«
»Aber, mein Pater, wer in aller Welt verfaßt denn eine Schrift über unsere Heliade?«
»Das hat ein armer Mensch gethan, Mylord, der Mariano Torrigi heißt.«
Lord Arran sah ihn verstört an und sprach dann kalt und ernst:
»Sie werden wissen, was Sie sagen, Herr Pater.«
»Und Sie werden nicht vergessen, Mylord,« sagte der Pater mit sanftem Lächeln, »daß diese Lectüre eine kleine Buße ist.«
Als er sich eben entfernen wollte, trat der Kammerdiener ein und machte Meldung der Botschaft, die Miß Bridget von Heliade brachte und die dem Pater sehr willkommen war. Er wünschte Heliade ungestört zu sprechen.
»Auf baldiges Wiedersehen, mein lieber Pater,« sagte Lord Arran, ihm herzlich die Hand bietend, die Reginald ebenso herzlich drückte, indem er zur Antwort gab:
»Ja, Mylord . . . das kann ich nicht versprechen! Vielleicht schicken mich meine Obern morgen oder übermorgen nach einem andern Welttheil auf Mission; aber eben deshalb habe ich die Erlaubniß, jetzt eine Familienangelegenheit zu ordnen, die hoffentlich zur Ehre Gottes gereichen wird.« – –