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Marian kam zurück. Marietta flog ihm entgegen und rief, als sie ihn so tief bewegt sah:
»Oh! es ist Dir gelungen . . . Gott Dank!«
» Mir . . . gelungen?« sagte er befremdet; – und dann zum Pater sich wendend: »Unsere liebe Kranke bittet um Ihren Besuch.«
Wie ein Freudenschrei erklang aus Marietta's ganzer Seele:
»Sie ist gerettet!«
»Ja, für den Himmel!« sagte Mariano. Er fiel in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
»Was gab es denn?« fragte sie gelassen.
»Du sprichst zuweilen von der Gnade, Marietta,« entgegnete er; – »ich verstand das nie recht! . . . Jetzt aber hab' ich ein Wesen berührt, ergriffen und durchleuchtet von der Gnade gesehen – weil es sich gedemüthigt hat.«
»So ist es immer,« sagte sie: »willst Du hoch bauen, so lege ein tiefes Fundament.«
Er sah sie an, fragend und traurig. Dann sank er in seine vorige Stellung zurück und sagte:
»Ich baue nicht hoch mehr, ich fliege nicht hoch mehr.«
»Das wäre schlimm!« rief Marietta. »Werde nur demüthig! das gibt Dir den wahren Schwung.« –
Antonia empfing den Pater O'Connor mit größter Dankbarkeit für seinen bereitwilligen Besuch und mit der Bitte, Geduld mit ihr zu haben, denn sie wünsche eine Beicht über ihr ganzes Leben abzulegen.
»Die Nähe des Todes hat mich gänzlich umgestimmt,« sagte sie. »Sonst fand ich die Beicht lästig; – jetzt sehne ich mich nach ihr.«
Pater O'Connor blieb lange bei ihr. Je länger er blieb, desto froher wurde Marietta, desto ernster Marian. Torrigi kam dazu.
»Warum sitzt Ihr hier – Ihr Beide? was macht Tota? was spricht der Arzt? findet er sie besser? – Ich finde sie entschieden besser . . . Ihr doch auch?« rief er hastig.
»Es ist ein Geistlicher bei ihr, Vater,« antwortete Marietta; »sie ist recht ruhig.«
»Wenn der sie nur nicht unruhig macht . . . zu lange bleibt, zu viel fragt.«
»Sie selbst hat ihn begehrt, Vater! gönne der armen, lieben Seele diesen Trost des Sacramentes.«
»Wie Du nun sprichst! Habe ich Euch je daran gehindert, alljährlich in der Charwoche die heiligen Sacramente zu empfangen?«
»Niemals, Vater.«
»Bin ich Euch nicht in diesem Punkt immer mit gutem Beispiel vorangegangen?«
»Immer, lieber Vater.«
»Nun also! im April hatten wir die Charwoche: jetzt sind wir Anfang September. Wozu braucht Tota jetzt schon wieder zu beichten – ich frage! Solche Aufregung taugt gar nicht im Nervenfieber.«
»Sie wünschte es, Onkel,« sagte Marian. »Niemand weiß, welche Wendung die Krankheit nehmen wird.« . . .
»Schweige still, Du Rabe! Du Unglücksprophet!« rief Torrigi; »ich will nichts hören von ungewissen Wendungen! Hat sie den neunten Tag überstanden, wird sie auch den einundzwanzigsten überstehen! . . . und dann können wir im October nach Mexico abreisen.«
»Onkel!« rief Marian heftig, »Du hast soviel auf Deine Kinder speculirt, daß Du wohl Tota in Frieden sterben lassen könntest.«
»Bist Du wahnsinnig!« rief Torrigi auf ihn zuspringend und ihn bei den Schultern fassend: »ich soll meine Tochter ruhig sterben lassen? Ich soll aufhören, für meine Kinder zu sorgen? . . . Was muthest Du mir zu . . . Marian! Herzloser, Gleichgültiger!«
»Du weißt recht gut, was ich meine, Onkel!« sagte Mariano gelassen, »und eben darum wüßte ich gern, wie hoch wohl das Sümmchen sein mag, das Du auf unserer drei und ein halbjährigen Kunstreise zurücklegtest.«
»Drei und ein halbes Jahr!« rief Torrigi und schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Was fällt Dir ein, mein Sohn?«
»Im Mai 1837 kam ich nach Genua und gingen wir nach England – und jetzt sind wir im September 1840.«
»Das ist doch wahrhaftig kein halbes Jahr . . . von Mitte Mai bis September? – Vier Monate sind es! Nun, daß man in drei Jahren und vier Monaten nicht Crösus Schätze erwerben kann, versteht sich von selbst.«
»Doch gewiß genug, um in Genua anständig zu leben.«
»Ich glaube, Du träumst, Marian? Warum machst Du mir einen Lebensplan für Genua zurecht, an den ich in den ersten zehn Jahren nicht denke, seitdem Tota diesen Termin für ihre Ehestandsgedanken festgesetzt hat. So lange ich sie besitze, wird gereist.«
Marietta seufzte im Stillen bei diesen Worten: Noch zehn solche Jahre, wenn sie am Leben bleibt? – O Herr, führe uns nicht in Versuchung durch Wünsche, die gegen die Liebe wären!
Mariano aber sagte entschlossen:
»Onkel, siehst Du denn gar nicht ein, wie barbarisch Du mit Deinen Kindern umgehst? . . . und daß Du es bist, Du allein, der ihnen ein frühes Grab gräbt.«
»Was! ich ein Barbar? Ich der Todtengräber meiner Kinder? Du bist im Delirium, Marian! Laß den Arzt für ihn kommen, Marietta, er delirirt!«
»Nein, Onkel, ich rede weder im Traum noch im Fieber. Ich sage Dir das, was Du endlich einmal hören mußt: Du reibst Deine Kinder auf – bei Francesca die Brust, bei Antonia die Nerven; welchem Schicksal Marietta und Ors' Anton entgegen gehen – weiß Gott allein! daß aber der arme Knabe nah daran war, epileptisch zu werden – das, Onkel, wissen wir Alle. Du nimmst die Kinder, wenn sie kaum aus der Wiege gekrochen sind, und schmiedest sie an ein musikalisches Instrument, und beanspruchst dermaßen ihre kleinen Kräfte für diese anstrengende Arbeit, daß sie für jede andere Beschäftigung stumpf sind und nichts Anderes verlangen – als Nichtsthun, so lange sie Kinder sind, oder eine überreizende Aufregung, wenn sie erwachsen sind. Damit aber kann der Mensch nicht leben, nicht physisch, nicht moralisch. Es gibt Eltern, die ihre Kinder aus der Wiege in Fabriken schicken, wo die armen Geschöpfe an Leib und Seele für ein Paar Heller Tagelohn verkommen. Du, Onkel, hast eine musikalische Fabrik eingerichtet, mit großer Kunst und großer Mühe, in welcher sich Deine Kinder für ein Tagelohn, das ihrer höheren Fertigkeit entspricht, ruiniren müssen. Das darf so nicht fortgehen! – Ich beklage unaussprechlich, daß ich selbst Dir dazu die Hand geboten habe. Ich war damals in dem Irrthum befangen, hier nützen, dort bilden zu können. Aber eine Kunst, die das im Auge hat, muß auf einer andern Basis ruhen, als der des Gelderwerbs – denn dadurch sinkt sie zum Handwerk herab und wird die Dienerin einer Sinnlichkeit, die man nur insofern eine feinere nennen darf, als das Gehör ein feinerer Sinn ist, als der Geschmack – und als der Kitzel des Ohres über dem Gaumenkitzel steht und weniger materiell ist. Du mußt den Entschluß fassen und ausführen, Deine Kinder wie Menschen – und nicht wie Automaten der Musik leben zu lassen.«
»Bist Du am Ende?« fragte Torrigi eiskalt. »Ich habe Dich ausreden lassen, um nicht Deinen Wahnsinn zu steigern; denn wahrhaftig! wenn man sieht, wie Antonia gelebt hat, und wie Marietta leben könnte, wenn es ihr Geschmack wäre: so muß man geisteskrank sein, um zu behaupten, daß ich meinen Kindern keine menschliche Existenz gönnte, sie haben Alles, was die Jugend erfreuen kann.«
»Aber sie haben keine Jugend!« rief Mariano. »Alle zarten Keime und Empfindungen der Jugend sind bei ihnen vor der Zeit hervorgelockt, denn kindliche Unbefangenheit ist nicht in jungen Geschöpfen zu bewahren, die man öffentlicher Bewunderung ausstellt. Sie fühlen ihr Elend nur darum nicht, weil sie betäubt sind. Kommen sie zur Besinnung, so sehen sie recht gut ein, daß ihr Leben ein Jammerleben ist.«
»Nun, Marietta!« rief Torrigi wüthend, »wirst Du denn nicht Deinen Vater gegen die ungerechtesten Beschuldigungen vertheidigen? Was fehlt Dir? was fehlt Euch? . . . Habt Ihr nicht Sammt und Seide, Pferde und Wagen, Blumen und Spitzen, Bälle und Feste?«
»Ach ja, lieber Vater, wir haben das Alles,« entgegnete sie sanft; »äußerlich . . . viel zu viel! innerlich nur . . . zu wenig: keine Ruhe, keine Ordnung, keine einfache Beschäftigung, kein häusliches Leben. Sieh, das Alles fehlt uns wirklich.«
»Ich kann Euch nicht wie Prinzessinnen halten, wenn Ihr nichts leisten wollt.«
»O lieber Vater, nur wie schlichte bürgerliche Mädchen, die wir sind! damit wären wir sehr zufrieden.«
»Frage doch Antonia, ob sie mit ihrer Existenz als schlichtes bürgerliches Mädchen in Genua zufrieden war und zufrieden sein würde!«
»Sie würde es vielleicht nicht sein, weil sie jetzt sehr verwöhnt ist. Und sie war es nicht, weil wir eben nicht wie andere Kinder leben durften, sondern wie junge Virtuosen.«
»Daraus siehst Du, daß der Mensch nie zufrieden ist. Besonders in der Jugend sehnt er sich immer nach dem, was er nicht hat. Im Alter, Marietta, wird man vernünftiger; da richtet man sich ein mit der Realität und schmückt sie aus . . . so weit das Geld reicht. Das Alter dauert länger als die Jugend. Da werdet Ihr mir Dank wissen, daß ich Euch zu dem Reellen verholfen habe trotz Eurer Verkehrtheit und Eures Undanks.«
Marietta schwieg und ihr bittender Blick gebot auch Mariano Schweigen. Ueberdas kehrte Pater O'Connor von Antonia zurück.
»Wie geht es ihr?« rief Torrigi auf ihn zustürzend.
»Sehr gut,« erwiderte der Pater.
Marietta verstand ihn vollkommen; Mariano halb und halb, denn er wollte noch auf Antonia's Genesung hoffen; Torrigi verstand ihn ganz und gar nicht.
»Sehr gut! da hört Ihr es!« rief er triumphirend. »Im Oktober gehen wir nach Mexico!«
»Es wäre doch gut, wenn Sie sich auf die Möglichkeit vorbereiteten, daß es ohne Donna Antonia sein könnte,« sagte Pater O'Connor sanft.
Torrigi schüttelte mit einer Art von Verzweiflung verneinend den Kopf und stürmte hinaus. Marietta folgte ihm, damit er nicht Antonia störe. Marian sagte traurig zu Pater O'Connor:
»Sie find zu recht verwüsteten Menschen gekommen.«
»Welt!« entgegnete der Pater freundlich; – »unter ihrem Wust liegt das Ebenbild Gottes in den Seelen und arbeitet sich im Feuer seiner Gnade aus den Schlacken heraus.«
»O wie sehr paßt das auf Antonia!« rief Mariano. »Ohne diesen Wust, der sie überstürzte, bevor sie zur Besinnung und Einsicht gekommen war, hätte sie ein edles Menschenbild werden können, während sie jetzt ein roher Umriß geblieben ist. Aber konnte es wohl anders sein, bei diesem Mangel an sorgfältiger Erziehung.«
»Donna Marietta gab mir einen Ueberblick ihres Lebens. Es zeigt uns, daß ein von der Gnade geschützter und getragener himmlischer Sinn auch unter diesen ungünstigen Umständen nicht unmöglich ist,« sagte P. O'Connor. »Kein Stand, keine Verhältnisse schließen absolut von der Möglichkeit aus, daß der Mensch, der in ihnen lebt, sich heilige. Was aber unsäglich schmerzt, ist der Gedanke, daß so viele, viele Eltern ihre Kinder nur für den Moloch der Welt und ihrer Eitelkeit, ihrer Hoffart, ihrer Augenlust erziehen. Sie werden ihre Töchter nicht wie Torrigi und nicht mit dessen unmittelbarer Absicht an ein Notenpult und ein Instrument ketten; aber Alles, was die jungen Wesen lernen und wie sie es lernen, wird darauf hinauslaufen, dadurch glänzen, gefallen, Bewunderung erregen zu wollen, sie eitel zu machen, ihre Phantasie aufzuregen. In dieser Weise nur allzu sehr entwickelt, tritt das junge Mädchen in die heiße, corrumpirte Atmosphäre unserer modernen Gesellschaft hinein, wo Alles gefälscht ist! Die Liebe – durch Eitelkeit und Sinnlichkeit; der Glaube – durch den zum äußersten Hochmuth entwickelten Verstand; das Glück – durch Genußgier; die Ehre – durch den Cultus irdischer Güter; die ganze Lebensrichtung – durch eine entchristlichte, gottentfremdete Zeitströmung, die mit einer Art von Blödsinn, welcher dem Abfall immer auf der Ferse folgt – in die Außendinge, in die Niederungen sich stürzt, wo nur der irdische Mensch athmen kann und der himmlische erstirbt. In diese Atmosphäre der Welt tritt das junge Mädchen ein, unter diesen Einflüssen wählt es den Gatten oder läßt sich erwählen – und dann will man noch staunen über die unerhörte Leere, Oberflächlichkeit und Frivolität der Frauen – einem schrecklichen Uebel, an dem unsere Zeit, wie kaum eine andere in der christlichen Weltgeschichte, krankt und deren unheilbringende Folgen gar nicht zu berechnen sind; denn, wo keine tüchtige Mütter – da gibt es jene Geschöpfe, die zu den armseligsten gehören, wozu der Mensch herabsinken kann – charakterlose Männer. Die reinen Seelen sind die starken Seelen – und die starke Seele eines Weibes hat einen ganz wunderbaren, ja menschlich unerklärlichen Einfluß deshalb . . . weil ihre Stärke übernatürlicher Art ist.«
»Und was glauben Sie, was zu thun sei, um diesem allgemeinen Unheil entgegen zu wirken, mein Pater? . . . Denn wahrlich! es ist allgemein. Eine zweite Violoncell-Virtuosin wie Antonia Torrigi gibt es freilich nicht! aber übrigens sind die Antonien nur allzu häufig!« sagte Mariano.
»Was zu thun ist,« entgegnete der Pater, »das wäre zunächst die Rückkehr zu den einfachen Grundsätzen des Christentums. Im Familienleben und bei der Erziehung dürfte nicht prinzipiell das Irdische den Vorrang haben vor dem Himmlischen. Es wird sich ohnehin immer vordrängen wollen und die gefallene Natur wird ihm immer dabei Vorschub leisten; allein um so mehr müssen wir das Himmlische pflegen und die edelsten Fähigkeiten in den Schutz der Gnade stellen, damit sie nicht jener kläglichen Verfälschung anheimfallen, deren ich erwähnte. Der Rationalismus vererdet den Menschen, der Materialismus verthiert ihn, der Pantheismus vergiftet ihn im Opiumrausch. Das Christenthum allein erhebt ihn über sich selbst und bietet ihm die notwendigen Gnadenmittel an, durch welche er auf diesem Standpunkt ausharren kann. Ist die Familie auf diese Weise gegründet und geordnet, so wird es nach und nach die Gemeinde sein und endlich die menschliche Gesellschaft.«
»Das wäre ein idealischer Zustand!« rief Mariano; »kann er verwirklicht werden?«
»In uns selbst, in der menschlichen Natur ist das Böse, womit jeder von uns ohne Ausnahme bis zum Ende des Lebens im Kampf liegt und denselben mehr oder minder kräftig und siegreich führt. Somit ist das Böse nicht etwas, das radical aus der Menschheit auszurotten wäre. Im Gegentheil! es soll wieder und immer wieder von jedem Einzelnen überwunden werden! Dazu hat er seinen freien Willen: Herr des Bösen soll der Wille sein, nicht dessen Knecht. Aber es wird immer Schwache und Feige geben – und ach! wir selbst sind nie sicher, daß wir nicht in der nächsten Stunde zu ihnen gehören werden. Das absolute Ideal ist also auf Erden nicht zu verwirklichen, wohl aber mehr und mehr zu erstreben und annäherungsweise zu erreichen.«
»Ach!« seufzte Mariano, »wenn wir in's Leben eintreten, wähnen wir wohl Alle, Flügel zu haben, um unsere Ideale zu erreichen. Aber, o weh! sie werden bestaubt und geknickt . . . und wir . . . entmuthigt.«
»Ja sehen Sie, das versteht sich von selbst!« sagte Pater O'Connor ruhig. »Wenn sich der junge Mensch ohne Umstände auf Phaëton's Sonnenwagen schwingen und mit ihm durch alle Himmel fliegen will, so wird er Phaëton's Sturz leiden für seine Vermessenheit; denn die Sonnenrosse gehorchen nur der Lenkung des Sonnengottes. Auf dem Wege liegt überhaupt das christliche Ideal nicht. Es ist nicht etwas, das wir äußerlich erreichten. Nein. wir sollen es in uns zu verwirklichen suchen. Und nicht in Phaëton's Weise, sondern in der Weise der Heiligen, mit denen wir ein und dasselbe Vorbild haben – Christus, den menschgewordenen Gott, das Urbild unserer Ideale. Nie und nimmer können wir sie verwirklichen, wenn dies Urbild nicht zugleich unser Vorbild ist! – und der Gott ist Mensch geworden, damit er unser Vorbild auch in der That sein könne. Vor seiner Mahnung: »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« – dürften wir scheu zurückbeben und entmuthigt denken, das sei unmöglich; aber um es uns möglich zu machen, spricht er zu Jedem von uns: »Folge mir nach! – Nimm dein Kreuz und folge mir.« – Sehen Sie, der Weg geht nicht im Fluge durch alle Himmel und über alle Gestirne fort. Der geht durch den Staub und über Dornen, gar mühselig, gar langsam, unter tausend Entsagungen und aber tausend Demütigungen, im Schatten und unter der Last des Kreuzes. Aber erschrecken Sie nicht vor dem rauhen Pfade! So wandelte Christus, so wandelten die Heiligen! und das christliche Ideal ist die Gleichförmigkeit des inneren Menschen mit Christus. Je mehr Sie streben, nicht nach Außen hin Großes und Gutes zu thun, sondern zuerst im christlichen Sinn gut und groß zu werden, und dann in diesem Sinn zu handeln – desto mehr nähern Sie sich dem Ideal, desto mehr heiligen Sie sich; und wird dieser Sinn in der menschlichen Vergesellschaftung ein allgemeiner, so geht daraus nicht eigentlich ein »idealischer Zustand,« wie Sie sagten, hervor – wohl aber eine ideale Richtung, die keine andere Grenze, als das Maß der Gnade hat.«
»Welche unermeßliche Fernsicht öffnet sich dem durstigen Blick!« rief Mariano und das Licht des kommenden Tages leuchtete in seinem Auge auf. »Aber was fangen wir an, um auf diesem mühseligen Wege nicht zu ermatten, nicht zu verschmachten?«
»Wir genießen das Brod des Lebens und trinken das Wasser, das auf ewig unser Dürsten stillt,« versetzte Pater O'Connor.
»Ja, so ist's!« brach Marian freudig aus; – »das sind die Mittel, die Christus selbst uns angewiesen, uns bereitet hat. Da sie aber nur in der katholischen Kirche Heilige bilden, so müssen sie auch nur in der katholischen Kirche richtig bereitet, richtig gespendet werden – und darum soll sie fortan meine Kirche sein! Ein Wilder sah einmal das Bild eines Engels gemalt. Da sprach er mit stolzer Freude: Der ist meines Geschlechts! Er war glücklich über diese erhabene Verwandtschaft und fühlte sich durch sie geehrt. So geht es mir, mein Pater! Der Protestantismus kennt nur Heilige in der Kunstwelt, gemalt und gemeißelt; – aber von den lebendigen Heiligen, die aus der Nachfolge Jesu geboren werden – von diesen lebendigen Zeugen für das wahre Brod des Lebens, will er nichts wissen. Aber mir genügen die gemalten Heiligen nicht.«
Pater O'Connor legte kein großes Gewicht auf diese Worte. Er wußte aus langer Erfahrung, wie häufig in Momenten des Affects oder der Erleuchtung solche Anschauungen sind und wie sie dann plötzlich vor der Macht der Gewohnheit, des Angebildeten platt zu Boden fallen. Deshalb entgegnete er mit ruhigem Lächeln:
»Sie irren! Einzelne Protestanten halten auch etwas auf die katholischen Heiligen. Ein protestantischer Gelehrter von nicht alltäglicher Klugheit und Einsicht schrieb einmal ganz ernsthaft und öffentlich: Die Kirche, aus welcher ein Papst Gregor VII., ein Fénélon, eine heilige Therese hervorgegangen – nehme er auch für sich in Anspruch. Da der Mann bis zur Stunde protestantisch ist: so sehen Sie, welchen Respect er vor unseren großen Heiligen hat, da er sich wegen derselben als quasi-Katholik betrachtet. Da jene Aeußerung an mich gerichtet war, so antwortete ich ihm, wenn er die Kirche der heiligen Therese die seine zu nennen beliebe, so sei das ein subjectiver Anspruch ohne alle Bedeutung; denn jene Kirche könne nur den als ihren Sohn anerkennen, welcher den Glauben der heiligen Therese, Fénélon's und Gregor's VII. habe und bekenne.«
»Ja, mein Pater, wenn Sie mir mit den Ansichten und Meinungen einzelner Protestanten entgegentreten,« rief Mariano, »so hören die Einwürfe für und wider nimmer auf. Aber es ist durchaus nicht meine Absicht, mich mit Ihnen oder mit irgend Jemand zu disputiren. Ich will etwas ganz Anderes, mein Pater! . . . Von Idealen habe ich geträumt, so tief mein Gedächtniß in die Vergangenheit zurückgeht. Ein unegoistisches Leben, edel in Bezug auf mich selbst und auf Andere, wollte ich führen. Vielleicht gelang mir das bis auf einen gewissen Punkt, so lange die Verhältnisse mich schützend trugen. Als ihre Schranken fielen, habe ich ungefähr so gelebt, wie eben die Welt lebt. Aber ich blieb mir bewußt, den Sturz des Phaëton gethan zu haben und im Hintergrund meiner Seele webte fort und fort der alte Traum. Jetzt sprechen Sie zu mir: Demüthige Dich; dann kannst Du deine Ideale verwirklichen, denn sie liegen über der Natur und diese muß durch die Gnade in Zucht genommen werden: – und ich verstehe das und antworte Ihnen: Nun wohlan, ich will mich in die Zucht begeben, die göttlicher Autorität entfließt und mit göttlichen Mitteln mir zu Hülfe kommt: – das will ich, mein Pater. Werden Sie mir dazu Ihren Beistand versagen?«
»Gewiß nicht!« entgegnen Pater O'Connor; »aber es gibt nichts Beweglicheres unter der Sonne, nicht einmal eine Frauenseele! als die Phantasie eines Künstlers.«
»Der hört auf,« antwortete Mariano mit Bestimmtheit; – »wenigstens in der gegenwärtigen Art und Weise hört er gänzlich auf. Ich kann auf meine kurze Künstlerlaufbahn gar nicht ohne Jammer blicken! ich wollte die Menschen bilden, die Seelen veredeln – und ich habe nur einige Köpfe verdreht.«
»Sie sind aber zur Selbsterkenntniß gekommen. Bringen Sie doch auch dies immense Resultat gebührend in Anschlag. Alles, was uns demüthigt, ist uns heilsam und nichts demüthigt so gründlich, wie die aufrichtige Selbsterkenntniß.«
In ernsten Gesprächen verflog die Zeit. Als Pater O'Connor sich endlich entfernte, sagte Marian:
»Uns stehen trübe Tage bevor! Nicht wahr, Sie verlassen uns nicht? In solchen Augenblicken kann man die weltlichen Freundschaften gar nicht brauchen. Aber der Priester ist kein Freund im Sinn der Welt.«
»Nun,« entgegnete der Pater scherzend, »Sie haben mich doch gewiß durch einen heroischen Act erobert, so daß ich sogar im Sinn der Welt Ihr Freund sein müßte. Doch sein Sie ganz ruhig! der Priester kommt immer gern, wenn man seiner bedarf.«
Sie trennten sich. Mariano sprach zu sich selbst: Mir ist zu Sinn, als hätte ich meinen Fuß auf die erste Stufe der Himmelsleiter gestellt. – Als er Marietta später sah, fragte er sie:
»Würdest Du dich sehr wundern, wenn ich katholisch würde?«
»Nicht im Geringsten,« erwiderte sie.
»Ah!« rief er erfreut, »Du findest mich also ganz dazu geeignet, auf die Eroberung der Heiligkeit auszugehen?«
»Abermals – nicht im Geringsten!« sagte sie heiter; »denn Du weißt ja noch gar nicht, was das ist – die Abtödtung! – Aber, Marian, die katholische Religion ist dem Menschen unmittelbar von Gott gegeben: wie könnte ich mich wundern, wenn ein Mensch sie annimmt? Nein, ich wundere mich viel mehr, daß nur so wenige Menschen sie annehmen.«
»Du wirst doch für mich beten, nicht wahr, Marietta?«
»O Himmel! sprachst Du im Ernst?« rief sie entzückt.
»Ja sieh, Marietta, Pater O'Connor hat mir von unserer Heiligung gesprochen und auf welchem Wege und mit welchen Mitteln man sie zu bewerkstelligen habe. Dabei wurde mir klar, daß dies mir nicht nur Noth thue, sondern daß ich es auch aus ganzer Seele wünsche und verlange – und deshalb will ich katholisch werden.«
»Gott segne Deinen Entschluß!« rief sie und ihre Augen schimmerten in Freude und Thränen. »O, nicht umsonst bist Du mit einem frommen Priester zusammen getroffen. O, bleibe nur standhaft und laß Dich nicht abwendig machen!«
»Ich spreche mit Niemand darüber, der mich wankend machen könnte, Marietta.«
»Ach Marian, nicht von Außen kommen unsere größten Gefahren! sie kommen von Innen.«
»Kind, woher weißt Du das?« rief er staunend.
»Von mir selbst!« sagte sie unbefangen.
»Hast Du denn auch Feinde in Deiner stillen Seele?«
»Marian, Du bist klug, hast viel gelernt, weißt Vieles – aber in manchen Dingen bist Du erschrecklich unerfahren,« sagte sie ruhig.
»Ich hab' einmal ein schönes Bild gesehen, Marietta; es stellte die heilige Catharina von Alexandrien vor, welche den Weltweisen die Lehren des Christenthums erklärt. Das fällt mir ein, wenn Du von meiner Unerfahrenheit redest. Aber Du hast Recht! ich bin in allen Dingen, die den Glauben betreffen, höchst unerfahren.«
Antonia's Zustand hielt die ganze Familie in der peinlichsten Schwankung zwischen Furcht und Hoffnung. Bald schien ihre junge kräftige Natur die Oberhand zu gewinnen und bald schien sie der Krankheit um so mehr Nahrungsstoff zu geben. Sie selbst that in dieser Beziehung keine andere Aeußerung mehr, als:
»Gott sei gedankt für Alles, was er schicken will.«
Sie war so sanft, so ruhig, so freundlich, daß sie ihnen Allen wie umgezaubert vorkam. Pater O'Connor besuchte sie täglich. Dann sagte sie zu ihm:
»Bitte! sprechen Sie vom ewigen Leben.«
Und mit gefalteten Händen und seligem Lächeln hörte sie ihm zu.
Ihre Bewunderer und Verehrer schickten ihr die schönsten Blumen, die seltensten Früchte. Sie nahm es dankbar an und gab Alles der barmherzigen Schwester, indem sie sagte:
»Laben Sie arme Kranke mit den Früchten und schmücken Sie Ihr Muttergottesbild mit den Blumen! ich wollte, ich hätte das schon früher so gemacht, als es mir ein kleines Opfer gewesen wäre.«
»Jetzt haben Sie ein anderes, ein größeres zu bringen,« sagte die Schwester liebevoll. »Geduld und Ergebung in schwerer langer Krankheit üben – das sind Blumen und Früchte für's ewige Leben.«
Sechs Wochen wehrten sich Kraft und Jugend gegen den Tod; doch endlich gewann er die Schlacht. Vom Fieber aufgerieben versank Antonia zuletzt in Bewußtlosigkeit und entschlief wie ein müdes Kind so leise, so still, daß, als Pater O'Connor sagte: »Sie ruhe in Frieden« – Torrigi und Mariano ihn vorwurfsvoll und ungläubig ansahen. Aber Marietta kniete neben dem Sterbebett nieder und sagte still weinend:
»Und das ewige Licht leuchte ihr.«
Torrigi verfiel in wüthende Verzweiflung, klagte über Gott, über die drei Aerzte, über sein Schicksal, über seine undankbaren Töchter und kam nur dadurch zu physischer Ruhe, daß er in Folge dieser Anfälle, die mehr der Tobsucht als dem Schmerz glichen, in eine Art von stumpfer Lethargie verfiel, während Mariano und Pater O'Connor Alles besorgten, was jetzt nothwendig war, und Marietta und die barmherzige Schwester die Entschlafene in das schmale harte Bett legten, das allendlich den König aufnimmt, der in Purpurdecken – und den Bettler, der auf einem Bund Stroh verschied.
Wie ein Marmorbild lag Antonia im Sarge. Weißer Atlas umhüllte ihre Gestalt, ein Kranz von weißen blühenden Rosen ruhte zart und duftig auf ihrem schwarzen Haar. Ihre Züge waren von der langen Krankheit feiner ausgearbeitet, eine ernste Freundlichkeit schwebte auf ihrem Antlitz; dazu die wunderbare Majestät des Todes, die ihr Gepräge nicht von einer Größe dieser Welt empfängt – und es war unmöglich, an dies stille Bild heranzutreten, ohne von dessen friedlicher Verklärung ergriffen zu sein. Sogar Torrigi war es in seiner Art.
»Nicht um sie jammere ich, wenn ich sie mir betrachte,« sagte er; »aber um mich! was fange ich an ohne sie! . . . Für Cecca kam Ersatz durch Mariano . . . aber Marian geht und Antonia ist gegangen! ich bleibe allein . . . . denn Marietta steht nicht auf derselben Höhe und Ors' Anton würde, als mein Unico in der Kunst, dies Leben nicht aushalten.«
So sprach er klagend zu sich selbst und zu Andern neben der schönen Leiche, während Marietta für die abgeschiedene theure Seele betete, Ors' Anton weinte, und ganze Wolkenzüge von Gedanken und Gefühlen, bald sonnenvergoldet, bald sturmgepeitscht, durch Mariano's Seele zogen und flogen. Da lag nun die Hülle eines Wesens, das bewundert und gefeiert wie Wenige, bei neunzehn Jahren den Schauplatz ihrer Triumphe verließ und auf das erste Anklopfen des Todes die Antwort gab: Gott Dank, ich sterbe! – So nichtig erschien ihr das Leben mit allen Kunstgenüssen und Kunstschöpfungen und Kunstleistungen, daß sie nicht einmal für diese – wie viel weniger für ihre gesellschaftlichen Zerstreuungen! – das mindeste Bedauern fühlte, nicht die mindeste Lust, sie fortzuführen. Und einem solchen Leben hatte er sich widmen wollen! eine solche schillernde Seifenblasenexistenz hatte ihm genügen sollen! wie machte sie so flach und zugleich so stumpf! Nein! lieber in Mühe und Noth das tägliche Brod verdienen! Da gibt es doch eine Anstrengung, welche moralische Kraft entwickelt und zugleich durch sie getragen und geadelt wird. Da ist kein Glanz und kein Rausch und keine Einwirkung aus tausend Augen und Ohren, um den Sinnentaumel zu vermehren, in welchem die Welt dahinraset. Da fließt nicht mit ein Paar Bogenstrichen das Gold zusammen, das, in so leichter Weise gewonnen, den Uebermuth und die Oberflächlichkeit nährt. Ja! sprach Mariano zu sich selbst, so soll es sein! ich gehe nach Europa zurück und fange dort mein Leben von vorn wieder an . . . von unten auf an: ich will zuerst mich selbst in die Schule nehmen – und dann erst sehen, ob ich für Andere etwas thun und leisten könne. Wo ich auch sei – überall kann ich mir mein Brod verdienen: ich gebe Unterricht auf der Violine, in fremden Sprachen, in klassischen Studien. Leicht wird mir das nicht sein, aber es wird mir dazu dienen, den Wust der Welt von mir abzustreifen, damit ich von Innen heraus an der Verwirklichung meines Ideals arbeiten und anfangen könne, mich zu heiligen . . . . wie Pater O'Connor es nennt. Deshalb hat mich die göttliche Vorsehung aus meinen alten Verhältnissen herausgeschleudert – deshalb in den neuen ein ungeahntes Meer bitterer Erfahrungen mich finden lassen – deshalb führt sie mich zurück . . . . in mich selbst, um von diesem Punkt aus, unter himmlischeren Einflüssen als diejenigen sind, welche in meiner Natur und ihrer Richtung liegen, ein neuer, ein besserer Mensch zu werden.
Die Exequien waren gehalten. Von Antonia war nichts mehr auf Erden, als die Erinnerung an sie. Torrigi mußte nun einen Entschluß fassen, wie er seine Zukunft gestalten wolle. Mariano rieth ihm dringend, nach Genua zurückzugehen.
»Du kannst bequem dort leben von Deinem Einkommen, Onkel« – sagte er – »kannst Musik treiben nach Herzenslust und für Ors' Antons Erziehung, außerhalb der musikalischen, Sorge tragen.«
»Das wäre mir recht lieb,« sagte Ors' Anton; »ich lernte gern noch manches Andere.«
»Aber das Vermögen, das ich besitzen und den Kindern hinterlassen würde, entspräche allzuwenig meiner Absicht,« entgegnete Torrigi.
»Vater,« sagte Marietta, »für Dich und Ors' Anton ist das Vermögen gewiß genügend . . . . und ich habe ja kein Recht darauf; also quäle Dich nicht, es zu vermehren. Was mich betrifft, so begehre ich nichts von Dir als Deinen Segen für meinen Entschluß, in's Kloster zu gehen.«
»Nein, Kind, so weit darfst Du die Großmuth nicht treiben!« rief Torrigi. »Du sollst Dich nicht in's Kloster sperren, um Ors' Antons Vermögen zu vergrößern.«
»Das fällt mir nicht ein, Vater!« erwiderte sie; »frage nur Marian.«
»Ja,« sagte dieser, »ich kann bezeugen, daß Marietta mir schon längst ihren Entschluß mitgetheilt hat und daß demselben keinerlei irdische Rücksicht, sondern nur das Verlangen ihrer Seele zu Grunde liegt.«
»Aber Kind, das ist ja schrecklich traurig!« rief Torrigi: – »nach Genua, der herrlichen Vaterstadt heimzukehren . . . . um dort in ein Kloster zu gehen!«
»O!« rief Marietta, »es gibt ein größeres Opfer, lieber Vater! das ist: Genua nie wiederzusehen . . . und ich habe mich entschlossen, es zu bringen . . . und hier zu bleiben. Die barmherzigen Schwestern sind ganz bereit, mich aufzunehmen. Sie erliegen unter der Menge frommer Arbeit, so daß ihnen meine schwache Hülfe sehr willkommen ist. Darin sehe ich den Willen Gottes und bleibe hier.«
Ors' Anton sprang auf, umschlang Marietta und rief unter trostlosen Thränen:
Barmherzigkeit . . . . verlaß mich nicht! wen hab' ich denn, wenn ich Dich nicht mehr habe!«
»Du hast den Vater, Ors' Anton! sei ruhig . . . es wird nun Alles ganz anders werden!« sprach sie zärtlich.
»Also auch die dritte Tochter verliere ich!« rief Torrigi, der immer zuerst an sich dachte.
»Ich hätte geschwiegen und gewartet, Vater, wenn Antonia bei uns geblieben wäre,« entgegnete sie, »und wenn ich von wesentlichem Nutzen hätte sein können; – Marian kann auch dieses bezeugen! – Aber jetzt, da ich Dir zur Last fallen und Deine Existenz noch mehr beschränken würde – jetzt glaube ich dahin gehen zu müssen, wohin Gott mich ruft. Ich danke Dir auf den Knien, daß Du mich, die verlassene Waise, wie Dein eigenes Kind gehalten und Nachsicht gehabt hast mit meinem Ungeschick und meiner Talentlosigkeit. Vergib mir, daß ich Deiner Mühe so wenig entsprach . . . . und mache das Maß Deiner Güte voll, indem Du mir Deinen Segen auf meinen Weg gibst.«
Sie war ihm zu Füßen gefallen, hielt seine Hände in den ihren und sah flehend zu ihm auf. Torrigi's hartes, wildes Herz wurde heftig bewegt durch so viel Demuth, so viel Liebe. Seit zehn Jahren half sie ihm bei seinem Erwerbszweig – und sie dankte ihm!!
Er riß sie von den Knien auf und in seine Arme und rief zitternd, schluchzend und weinend:
»Marietta, meine liebe Tochter, gehe in's Kloster, wenn das Dein Weg ist . . . . aber komm' mit uns nach Genua . . . in die liebe, schöne Heimath.«
»O mein lieber Vater,« sagte sie zärtlich, »vergib mir, wenn ich Nein sage. Mein Opfer besteht darin, daß ich hier bleibe . . . . hier in der Fremde . . . . und daß ich unsere goldene Sonne und unser leuchtendes Meer nie wiedersehen und nie mehr unsere süße Sprache hören werde. In Genua ginge ich in's Kloster wie zum frohesten Feste; hier . . . . wie zum Opfer. Im Lichte des Glaubens sind die Dornen schöner als die Rosen; darum wähle ich mir das Opfer, mein lieber Vater.«
»Geh!« sagte er, »wir sind Deiner nicht werth!« –
Am andern Morgen hatte er sich nun freilich von seiner Rührung erholt und dachte bei sich selbst: Warum gab ich ihr die Erlaubniß? warum geht sie überhaupt in's Kloster? wäre es denn nicht wünschenswerth für mich, ein weibliches Wesen, eine Tochter, bei mir zu behalten? . . . Wenn ich krank würde, oder Ors' Anton . . . wer pflegte uns? Ein Leben im Boarding-house, wie hier in New-York, gibt es in Genua nicht. – – Er theilte Mariano seine Bedenken mit. Der aber sagte:
»Mit Marietta ist es aus und vorbei, Onkel! Du darfst Deine Erlaubniß nicht zurückziehen. Was Deine Einrichtung in Genua betrifft, so rathe ich Dir, Ors' Anton in eine gute Erziehungsanstalt zu geben. Da wird er hoffentlich Manches verlernen und Vieles erlernen – und Beides thut ihm Noth. Du aber, als einzelner Mann und nicht ohne Vermögen, kannst Dich ja leicht nach Bedürfniß und Belieben überall einrichten.«
»Wenn mir aber der Bub', der Ors' Anton ganz die Musik verlernte . . . . Marian, das wär' ein Jammer!«
»Ganz sie zu verlernen wird nicht möglich sein! Hat Ors' Anton das Genie der Composition, also das wahre, große musikalische Genie, so werden andere Studien es nicht ersticken, sondern entwickeln helfen; denn das Genie ist wie die Wasserquelle: beide werden um so klarer und reiner, je mehr sie sich durch Felsenblöcke ringen und ihren Weg über Steine suchen müssen. Beschränkt sich aber Ors' Antons Begabung auf die Virtuosität: so ist es ihm sehr zu wünschen, daß nicht sie allein sein Leben ausfülle . . . . denn ein solches Leben ist eine vergoldete Armseligkeit.«
»Ja, ja! so wollen wir es machen, Marian! . . . und während der Bub' dann irgendwo eine höchst vortreffliche Erziehung bekommt, verfolge ich meinen alten Lieblingsplan und suche königlicher Kapellmeister in Turin oder Genua zu werden – wozu mir hoffentlich die Berühmtheit meines Namens, die ich Euch verdanke – und mein immenses Talent zur Ausbildung von Musikern, welches sich an meinen Kindern bewährt hat, verhelfen werden.«
Da die Mittel, den Gelddurst zu befriedigen, für den Augenblick ihm nicht zu Gebot standen, so trat wieder die Ehrsucht in den Vordergrund von Torrigi's Seele und half ihm durch tausend neue Pläne Antonia's Verlust verschmerzen.
Mariano hatte viele Gespräche mit Pater O'Connor und war höchst erfreut zu erfahren, daß sie miteinander die Reise nach Southampton machen würden, da vor der Hand der Zweck von Pater O'Connor's Aufenthalt in Nordamerika – eine Niederlassung seines Ordens – auf keine Erfüllung rechnen durfte. Seine Oberen riefen ihn nach Europa zurück, nachdem er eine Reihe von Jahren in Peru segensreich gewirkt hatte.
Morgen ging das Dampfschiff ab. Der letzte Abend war gekommen. Marietta sagte:
»Jetzt will ich noch einmal, zum letzten Abschied, meine Violine nehmen. Zwar habe ich manche Plage durch sie ausgestanden – aber wenn wir so recht schön unser Quartett spielten, fand ich doch zuweilen einen Hochgenuß darin.«
Sie nahm ihre Violine und fing an zu spielen, wie Marian sie nie gehört hatte. Es war, als ob sich ihr die mystische Tiefe dieses wunderbaren Instrumentes im letzten Augenblick erschließe. Dabei sah sie so ernst, so fromm, so aufmerksam aus, wie die Engel, die auf Fiesole's Paradiesesbildern oder auf Lorenzo di Credi's heiliger Nacht andächtig musiziren. Nach einiger Zeit brach sie ab, küßte mit thränenfeuchtem Auge die Violine und sagte:
»Wie ist es doch so eigentümlich, daß Alles uns tief ergreift, wovon wir wissen, es geschieht zum letzten Mal . . . und wenn's auch nur ein Paar Bogenstriche sind.«
»Weil Alles, wobei es heißt »zum letzten Mal« – uns an den Schwanengesang erinnert, der ein Vorbote des Todes ist,« sagte Marian.
»Denkst Du daran, Deine Seele zu retten?« fragte sie ihn ernst, beinahe feierlich.
Er neigte schweigend das Haupt.
»Nun dann, Marian, trennt uns kein Tod!« rief sie.
»Nein! aber jetzt trennt uns das Leben, Marietta, und das ist ebenfalls traurig. Es geht mir durch's Herz, daß Du hier allein bleibst . . . so jung, so einsam . . . . daß wir Dich hieher geführt haben und Dich nun Deinem Schicksal überlassen, ohne ferner im Stande zu sein, Dir zu helfen oder irgendwie Dir beizustehen.«
»Du bist recht gut, Marian, und ich werde Dir immer dankbar bleiben,« sagte sie bewegt. »Allein hier ist nun einmal der Platz, den Gott mir anweist, den ich nach meiner natürlichen Neigung nicht gewählt hätte und an den ich durch Seine Hand mich gehalten fühle. Deshalb wird Er auch für mich sorgen, wird mich leiten und lehren, wird ein treuer Vater und Freund für mich sein. Und ich habe den namenlosen Trost, Ihm gerade hier dienen zu dürfen, wo wir bis jetzt so viel an die Welt und so wenig an Ihn gedacht haben.«
»Das ist es ja eben, was mich so rührt, Marietta! Du bleibst hier, als Opfer für uns Alle, wie Iphigenia unter den Barbaren.«
»Wie wer?« fragte sie unbefangen; denn von Iphigenia wußte sie nichts. Und dann fuhr sie fort: »Aber keineswegs bin ich unter Barbaren, sondern bei stillen frommen Ordensfrauen, von denen ich lernen werde, still und fromm dem göttlichen Heiland in seinen leidenden Gliedern zu dienen. Ist das nicht ein schöner Beruf? . . . oder kannst Du Dich noch nicht zu unserer katholischen Auffassung erheben, die uns antreibt, uns aus Liebe durch die heiligen Gelübde an das Kreuz des Gekreuzigten zu nageln?«
»Doch, Marietta! ich will nicht sagen, ich fasse es; – allein ich darf sagen, ich ahne, daß darin eine Liebe liegt, die alle Lieben der Erde weit unter sich läßt.«
»So sei denn meinetwegen getröstet, Marian, und freue Dich, wie so gut der liebe Gott es mit mir und meinen beiden Schwestern gemacht hat! Er hat uns alle Drei in Sicherheit vor der Welt gebracht . . . vor der gefährlichen Welt, in welcher Du leben mußt. Aber er wird Dich nicht verlassen, wenn Du ihm treu sein willst.«
»Bete für mich, Marietta! meine Zukunft ist dunkel und vor mir selbst verschleiert. Ich gehe wie die Israeliten, unkundig des Weges, durch die Wüste und folge einer Wolkensäule, wie sie.«
»Und in der Wolkensäule ist Gott . . . und er führt Dich sicher nach Canaan« – sagte Marietta.
Dies war ihr letztes Gespräch. Es kam noch viel Besuch, um Abschied zu nehmen. Niemand kannte Marietta's Vorhaben. Sie hüllte es, wie sich selbst und ihr ganzes Leben, in Stille und Schweigen ein. Es wurde nicht beachtet, daß sie bald aus der Gesellschaft verschwand. Sie ging zu Torrigi, der zwischen Rechnungen und Papieren in seinem Zimmer vergraben war und sagte zu ihm, indem sie vor ihm niederkniete:
»Vater, gib mir Deinen Segen! dies ist die letzte Nacht, die ich unter Deinem Dache zubringe.«
Torrigi hatte nicht umhin gekonnt, an Marietta eine Mitgift von einigen tausend Franken zu geben; und damit waren denn seine väterlichen Gefühle sehr für sie abgekühlt. Er fand es unendlich hart, schon bei Leibesleben eine solche baare Summe einer Tochter auszahlen zu müssen; allein Marian hatte ihm durchaus keine Ruhe gelassen. Jetzt aber war Marietta aus seinem Herzen – wenn sie überhaupt je darin gewesen war! – gleichsam herausbezahlt und es war ihm ein lieber Gedanke, daß sein armes hübsches Vermögen fortan keine Theilung mehr zu bestehen habe, voll bei ihm verbleibe, voll auf Ors' Anton übergehe. In dieser Stimmung war er, als Marietta bei ihm erschien. Ganz vergnügt und ohne alle Rührung oder Zärtlichkeit sagte er, indem er gleichgültig freundlich mit seiner Hand leicht auf ihr Haupt klopfte:
»Gott segne Dich, Marietta, Du bist immer ein gutes Kind gewesen. Ich hoffe, es wird Dir recht gut gehen in Deinem neuen Beruf, umsomehr, als Du eine hübsche Mitgift mitbringst.«
Sie hing an seinem Halse und weinte bitterlich.
»Thut es Dir leid, Kind?« fragte er schreckenvoll. »Darüber hättest Du doch im Klaren sein müssen, bevor dies Abkommen getroffen wurde.«
»Nein, nein! es thut mir nur so leid, Dich nie wieder zu sehen, lieber Vater!« rief sie, riß sich los und eilte hinaus.
»Bete für Ors' Anton . . . und auch für mich!« rief Torrigi ihr nach, dem es zuweilen einfiel, daß er »ein guter Katholik« sei und folglich auch wie ein solcher, wenn nicht handeln, doch sprechen müsse.
»Für Euch Alle!« rief sie zurück und ging leise zu Ors' Anton, der in tiefen Schlaf versunken war und an dessen Lager sie lange kniete und betete und seinen Schutzengel anrief, ihren Platz neben dem Knaben einzunehmen. Endlich bog sie sich über ihn und hauchte einen Kuß auf seine schöne Stirn. Da schlug er plötzlich die Augen auf und sagte zärtlich:
»Marietta!« – Aber der Schlaf war mächtiger und er lag sogleich wieder im tiefsten Schlummer.
Wohl mir, o Herr, daß ich dich habe! sprach Marietta zu sich selbst, erschüttert bis in's Herz hinein. Bei dir allein darbt die Liebe nicht! – –
Am andern Morgen erhielt Torrigi ein Blättchen, worauf mit Bleistift geschrieben war:
»Lebewohl, lieber Vater, Ors' Anton, Marian! ich bin in aller Frühe zu den barmherzigen Schwestern gefahren, weil ich das Abschiednehmen von Euch nicht aushalten kann. Lebt Alle wohl für die Zeit – und auf Wiedersehen in der lieben Ewigkeit. Marietta.«
Als Marian diese Worte las, war sein erstes Gefühl, zu ihr zu eilen. Allein er besann sich und dachte: Wozu? sie hat ihr Opfer gebracht . . . ich will es nicht stören. Iphigenie bleibt an fremder Küste unter den Barbaren. Denn Barbaren sind diese Menschen, die mit Wohlgefallen im Golde wühlen, oder mit Gier nach Gold verlangen. Und Barbarenthum ist da, wo eine materialistische Civilisation nur jenen Zwecken dient, nur sie fördert. Und es ist Europa's, d. h. des katholischen Europa's, ewiger Ruhm, daß es nach diesem armseligen, reichen Amerika sein Bestes schickt – Ordensleute schickt, die nach manchen Generationen Gnade und Geist da zur Geltung bringen werden, wo jetzt der Materialismus – König ist.
Sie gingen auf's Dampfschiff. Pater O'Connor kam später.
»Marietta grüßt!« sagte er zu Marian – »und das letzte heilige Meßopfer auf amerikanischer Erde habe ich für Antonia dargebracht.«
»O liebereiches Priesterherz!« rief Mariano; »wie schmerzlich mir auch immer das Andenken an Amerika bleiben wird – dennoch muß ich Gott danken, daß ich herkam, denn ich habe Sie gefunden.«
»Und vielleicht hätten wir uns nicht gefunden,« versetzte der Pater, »wenn Sie nicht diese schmerzlichen Erfahrungen gemacht hätten. Bleibt der Mensch immer in einer gewissen matten Mittelmäßigkeit, in welcher seine Verhältnisse und seine Natur ihn schützen vor großen Verlockungen: so bekommt er sehr leicht eine übertriebene hohe Meinung von sich selbst, welche der Tugend viel hinderlicher ist, als der oder jener Fehler. Es ist das Eigentümliche dieser gewissen philisterhaft selbstzufriedenen Mittelmäßigkeit, das Streben nach Vollkommenheit ganz unaussprechlich zu verachten.«
»Das that ich nie!« rief Mariano.
»Gott hat Sie immer sehr lieb gehabt,« sagte P. O'Connor – »und ganz besonders sorgsam geführt. Jetzt führt er Sie sogar dem Sonnenaufgang zu.«
Der Anker war aufgewunden. Das Dampfschiff brauste dahin.