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Wir befinden uns im Krankensaale des Zuchthauses zu Freiburg. Es ist ein helles, freundliches, trauliches Gemach; die reinlichen Betten mit ihren Täfelchen oben an der Wand, die einfachen, doch stets blank gescheuerten Nachttische, der lange Tisch mitten in der Stube, dort an der Säule die Schwarzwälderuhr mit ihrem bunten Zifferblatte und schwerfälligem, regelmäßigen Picken, der große Kachelofen dort neben der Thüre, dessen gelb glasirte Kacheln mit dem mattgrünen Wandanstriche harmoniren, der Ordinationskasten mit seinen Flaschen, Gläsern, Schüsseln und Düten obendrauf, all dieses zusammen macht einen gemüthlichen, wohlthuenden Eindruck und das geschäftige Hin- und Hereilen des Krankenwärters, das freundlich stille Benehmen des Aufsehers, das menschenfreundliche des Arztes und der Beamten bei ihren Besuchen lassen Einen schier vergessen, daß man ein Zuchthäusler, ein Gefangener sei und dies um so mehr, weil die Tracht der Sträflinge durch die langen weißen Röcke der Genesenden in Vergessenheit gebracht und der Lärm der Arbeitssäle nur von weitem zu hören ist.
Dort an einem Fenster sitzt ein bleicher, hohläugiger Bursche, hüstelt zuweilen und schaut mit seinen großen Augen, aus welchen bereits der Lichtschimmer einer andern Welt leuchtet, schwermüthig und sehnsüchtig in die herrliche Landschaft hinaus. Das nahe Gebirge mit seinen bunten Wäldern, langen Kämmen und Felsenwänden, die Hügel mit ihren Kapellen, Schlössern, Höfen, Obstgärten, Weinbergen und wogenden Saatfeldern, das weite sonnige Rheinthal mit seinen blitzenden Quellen und Bächen, unübersehbaren Matten und Feldern, Alleen und kleinen Wäldchen, aus denen die Kirchthürme vieler Dörfer herüberwinken, im Hintergrunde eine lange im Duft verschwindende Waldlinie, weiter hinten eine Hügelkette voll Dörfern, gleichsam mitten in einem ungeheuern Garten stehend, vom dunkeln, den Gebirgszug abschließenden Walde umzäumt; zuletzt hinter diesem mächtigen Zaune das mächtige, wie eine dunkle Wolkenmasse in das gartenähnliche Rheinthal herüberstarrende Vogesen-Gebirge, auf welches sich das tiefe Blau des Himmelsdomes zu stützen scheint – all dieses gewährt einen Anblick, dessen entzückende Schönheit der roheste Sträfling tief empfindet, wenn er auch seine Empfindung niemals auszusprechen und noch weniger mit dem Messer des Verstandes anatomisch zu zergliedern versteht.
Und wenn erst die leuchtende Königin des Tages hinabtaucht in einem Gluthmeere voll unaussprechlicher Farbe, ihre halbe Scheibe hinter den dunkeln Vogesen vollends versinkt, ihre letzten Strahlen aus hundert Fenstern und Quellen blitzen und zucken, das weite Rheinthal, die Höhen des Schwarzwaldes mit einem rosigen Verklärungsschimmer übergießen, der mehr und mehr, die Ebene dem Sohne der Nacht, dem Schatten überlassend die Höhen emporfließt, von den höchsten Gipfeln noch einen Scheideblick in das dämmernde Thal hinabwirft und dann zum Himmel zurückkehrt – ach, man glaubt Gott über das Land schreiten zu sehen, in ein versinkendes Paradies hineinzuschauen! ...
Im kranken Gefangenen wird der Verbrecher vergessen, wenn er nicht selbst daran erinnert, das Damoklesschwert der Hausordnung hängt minder drohend über seinem Haupte, an die Stelle unerbittlicher Beamten tritt der heilende Arzt.
Der Gefangene nähert sich einigermaßen dem Zustande der Freiheit, die Krankenstube verbindet ihn durch die Aussicht in den Marktlärm des Stadtlebens mit der Gesellschaft, durch die Aussicht in die wunderliebliche Landschaft mit der Natur, durch beides mit Gott etwa? Selten! ...
Alle Vortheile, aber auch alle Nachtheile der Krankenstuben ordentlicher Spitäler finden sich in diesem Saale des Zuchthauses vereiniget.
Gegenwärtig liegen nur wenige Kranke in den Betten, mehrere sitzen auf dem Rande derselben oder auf einfachen Stühlen, andere am langen Tische, um Kaffeebohnen auszulesen oder Düten zu fabriziren.
Mild und freundlich schaut die Sonne herein, der ergraute Aufseher macht ein Schläfchen, wer wollte es ihm verübeln? Tausende von Nächten hat er in einer langen Reihe von Jahren treulich durchwacht, schon seit zwölf Uhr Nachts ist er wieder auf den alten Beinen, die Natur überwältiget ihn, er mag immerhin duseln und träumen von einer bessern Besoldung! ...
Mehrere Gestalten sind uns bekannt.
Auf jenem Bette liegt halbaufgerichtet der Mordbrenner aus der Baar, stützt das Bulldoggengesicht in die schwielenharte Faust und starrt finster und trotzig durch die hellen Scheiben in das freundliche Himmelsblau.
In jenem Winkel lehnt der Exfourier, blättert in einem alten, halbzerrissenen Gebetbuche und das höhnische Zucken der Mundwinkel zeigt schon, daß er nicht betet, sondern critisirt, wenn er auch nicht von Zeit zu Zeit über »den Thurm Davids, das elfenbeinerne Gefäß und goldene Haus« seine Kasernenwitze losließe.
Neben ihm liegt Martin der Wirthssohn, das Gespenst des früheren Schlosserlehrlings mit verzweiflungvoller Resignation lächelnd, wenn er zu fühlen vermeint, wie der Tod langsam zu seinem Herzen steige.
Das Murmelthier fehlt auch nicht, sondern schnarcht den Faden des Lebens weiter, während im weißen Nachtrocke und Pantoffeln leise eine Gestalt mit gebräunter, von tiefen Leidenschaften durchwühltem Gesichte auf und ab wandelt – der Spaniol, der vor kurzer Zeit mit dem betrogenen und als Räuber zum zweitenmal verurtheilten Zuckerhannes hier zusammentraf. Von Zeit zu Zeit steht der Spaniol düster sinnend an einem Fenster, welches in das Straßenleben der Stadt hinabsehen läßt und ein wilder Schmerz arbeitet in seinen Zügen. Draußen Revolution, der erste Kanonendonner der »großen Zukunft« und er – mit seinen himmelstürmenden Ansichten, seiner verzehrenden Thatkraft und seinem brennenden Ehrgeize ein Sträfling, ein ohnmächtiger Gefangener, ein gemeiner Verbrecher! ...
Kein Wunder, daß er heute nicht predigt; sein Stolz läßt ihm keine laute Klage zu, aber er herrscht auch hier und würde nicht nur der Liebling der meisten Beamten und Aufseher, sondern wohl auch der meisten Mitgefangenen sein, wenn nur der kropfige Zuckerhannes nicht da wäre und geplaudert hätte.
Doch diesen blutarmen Menschen um die sauerersparten Pfenninge betrügen, das ist eine That, welche auch im Zuchthause nicht immer Vergebung findet und weil der Betrogene den Spaniolen als Vater seines ganzen Unglücks betrachtet, nichts von der Rechtfertigung desselben hören mochte und bei der Mehrzahl der Sträflinge in der ersten Zeit vollen Glauben fand, deßhalb neigte sich der Spaniol bisher mehr den Hütern als den Gehüteten zu und soll neulich den ärgsten Aufseher im Eifer für die Hausordnung überboten haben.
Wenn er naht, verstummen die Meisten, aus ihren Blicken kann er Vieles lesen, heute mag er nicht predigen! ...
Der Zuckerhannes selbst liegt im Bette, athmet zuweilen schwer auf und hustet krampfhaft, horcht auf die Reden einer kleinen Gruppe seiner nähern Freunde, welche ganz in seiner Nähe sich niedergelassen hat.
Da finden wir den einst so fröhlichen und lebendigen, jetzt immer düstern und schwermüthigen Bläsi, aus der Pfalz, diesen unglücklichen Dragoner, den das Schicksal so hart vom Gaule geworfen.
Neben ihm sitzt der Patrik von Hotzenwald, dieser rohe, ungehobelte, doch gutmüthige und witzige Spitzbube, der immerhin noch mehr werth ist, denn sein Nachbar, der Donat, dessen Geschichte deutlich zeigt, was aus einem Menschen ohne Erziehung, Geld und Religion werden kann, wenn der Stachel der Genußsucht tief im Fleische mit seinen lüsternen Schwingungen steckt.
Diese Leute hören dem Duckmäuser zu, welcher keine Gelegenheit fand, dem Zuckerhannes Gutmachgeld zu senden und sich jetzt nach Bruchsal gemeldet hat, weil er voraussieht, sein einziger Freund werde nicht mehr mit dem Leben davonkommen. Den langwierigen Todeskampf des Unglücklichen darf und mag er nicht ansehen, mag nicht erleben, daß eines Tages ihm das Glöcklein verkündiget, der Hegäuer habe ausgelitten und die letzte Freude des lebenslänglich Verurteilten habe ein Ende. Lieber will er allein, ganz allein in einer Zelle leben, denn er hat zwar als Bube betrogen und gestohlen, bei den Soldaten böse Streiche gemacht und zuletzt seinen Vater ermordet, doch ein grundverdorbener Mensch ist er bei alledem nicht und wer seine tragische Geschichte kennt, wie der Zuckerhannes dieselbe aus seinem eigenen Munde hörte oder dazu noch schwarz auf weiß von seiner eigenen Hand besaß, der kann diesen Unglücklichen nicht mehr verachten, er muß ihn bemitleiden und begreift, daß ein solcher Mensch mitten unter Sträflingen jahrelang vereinsamt lebte und Sehnsucht nach der Zelle empfindet.
Was er jetzt dem verunglückten Dragoner, dem ungeschlachten Patrik und dem leichtsinnigen Donatle erzählt, sind nur Bruchstücke und der Zuckerhannes könnte Manches dagegen einwenden, weil er den am Hochmuth laborirenden Duckmäuser auswendig und inwendig sammt der ganzen Geschichte desselben zu kennen vermeint und findet, derselbe wasche sich viel weißer als er sei ... Man mag sagen, was man will, der Mensch ist ein geborner Aristokrat, denn Jeder will schöner, reicher, gescheidter, vornehmer und besser sein, wie der Andere, jeder sucht bei Andern soviel als möglich zu gelten und vertuscht, heuchelt, lügt, mag er Bettler oder Graf oder noch mehr sein; die Sträflinge bleiben auch hierin Menschen und die Wenigen, die es dahin gebracht haben, mit Sünden, Lastern und Verbrechen groß zu thun, sind eigentlich verkehrte Menschen, Unmenschen! ... Der Vatermörder ist kein Unmensch; schon die Erzählung, welche er seinen Kameraden zum Besten gibt, verräth dem Eingeweihten die Sucht, nicht schlecht sondern so gut als möglich zu erscheinen, und wir glauben, die wahre Geschichte desselben beweise, der arme Tropf sei wirklich unserer Achtung und noch mehr unserer Theilnahme würdig, seine Geschichte eine sehr lehrreiche Alltagsgeschichte aus den niederen Volksklassen.