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Wer auf der Eisenbahn zwischen der altberühmten Musenstadt Heidelberg und dem schönen Karlsruhe fährt, wird selten ermangeln, bei der Station Bruchsal nach einem großen Bau hinüberzuschauen, welcher gleichzeitig an die Pracht und an das Elend unseres Jahrhunderts mahnt.
Er sieht einige freundliche Häuser durch einen baumlosen Garten geschieden, in gleichen Abständen hinter einander stehend, an eine hohe graue Ringmauer sich anlehnend, die mit Thürmen besetzt ist, zwischen denen Schildwachen auf und abgehen. Vom Thore führt ein mit Schieferplatten gedecktes Gebäude einem Thurme zu, von dessen hohen Zinnen der Blick weithin durch die Rheinebene bis Mainz schweifen mag und von diesem Thurme mit seinen im Sonnenglanz blitzenden großen Fensterscheiben strahlen vier lange, aus röthlichen Sandstein errichtete Gebäude aus, alle gleich hoch, alle mit derselben Anzahl länglicher, vergitterter Fenster und Stockwerke versehen. Das Ganze erinnert an eine mittelalterliche Burg oder noch eher an die aus dem Revolutionskrater des Jahres 1789 verjüngt erstandene Bastille, welche aus dem Völkerbienenstock und Wespennest Paris in das stille, idillischschöne Rheinthal wanderte. Es lehnt sich an einen niedern Höhenzug, von welchem Weinberge, Obstbäume, Felder und Matten starr hinabschauen in das fremdartige, geheimnißvolle Leben, welches sich in den Höfen still und einförmig hin und her bewegt.
Diese mit großen Kosten, aber auch für Jahrhunderte errichtete Masse von Gebäuden, gleichsam den Anfang einer neuen und großartigen Vorstadt Bruchsals abgebend, bildet ein Ganzes, dessen Beschreibung uns um so mehr überzeugte, daß wir ein zu Stein gewordenes Abbild der Idee der Zweckmäßigkeit vor uns haben, je mehr jene ins Einzelnste einginge.
Hier ist wohl der einzige Platz in Deutschland. wo die Einzelnhaft mit jener Folgerichtigkeit durchgeführt wird, welche die Härten des amerikanischen Systems vermeidet, ohne den Grundgedanken der vollkommenen Trennung der Gefangenen zu beeinträchtigen.
Es ist ein Wunderbau und ein großer, fruchtbarer Gedanke in ihm lebendig geworden, der Gedanke, die Gesellschaft nicht nur vor ihren Feinden zu bewahren, sondern diese oft weit mehr unglücklichen als verbrecherischen Feinde zu beständigen Freunden der Menschheit und Gottheit zu machen.
Die ersten unvollkommenen Anfänge eines derartigen Baues entstanden in der Quäkerstadt jenseits des Meeres; die Ersten, welche das einzigrichtige Mittel ergriffen, um die für die Gesellschaft und die Verbrecher gleich großen Gefahren des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Sträflinge abzuwenden, waren Männer, welche noch heute zu den Edelsten unseres Geschlechts gezählt werden und deren Ruhm in einem bessern Jahrhundert den zweideutigen Ruhm der meisten Kriegshelden so hoch überfliegen wird, als der völkerbeglückende Geist christlicher Liebe über der finstern Gewaltthätigkeit thierischer Rohheit und Selbstsucht steht.
Noch niemals gab es eine große Erfindung, niemals blitzte ein ins Völkerleben eingreifender neuer Gedanke auf, wogegen sich nicht zahllose Widersacher erhoben hätten. Jede neue Erfindung und Einrichtung ist eine Kriegserklärung gegen diejenigen, welchen dadurch ins Handwerk gegriffen wird, deren Nutzen, Eitelkeit, Denkfaulheit, bequeme Gewohnheiten bedroht erscheinen. Ungefährlich werden die Liebhaber des alten Schlendrians, je mehr die Zeit eine neue Erfindung oder Einrichtung bewährt. Je weniger Bürgschaften für solche Bewährung vorliegen, desto schwankender, zweifelhafter, unentschiedener werden dann auch diejenigen sich verhalten, deren Besonnenheit und weitschauender Blick sich nicht damit verträgt, das schadhafte Alte mit ungeprüftem Neuen zu vertauschen, insbesondere wenn das Alte noch verbesserlich erscheint und das Neue nur mit großen Opfern und Gefahren eingeführt zu werden vermag.
In Amerika ist die Verwerfung gemeinsamer Haft längst entschieden und der Streit dreht sich dort nur noch um die Frage, ob die scheinbare und halbe Trennung der Gefangenen durch das sogenannte Schweigsystem oder die wirkliche und vollständige durch das System absoluter Vereinzelung räthlicher und fruchtbringender sei, eine Frage, welche auffallend erscheinen würde, wenn man nicht wüßte, daß die Erfahrung viele Bedenken, Vorurtheile und Gefahren der einsamen Haft wirklich oder scheinbar bestätigte.
Einerseits wurden die Forderungen und Erwartungen zu hoch gespannt, anderseits die Leistungen zu gering befunden, weil eben die Lösung der Frage der einsamen Haft nur durch Versuche allmählig geschehen und dabei nicht leicht vermieden werden kann, daß verkehrte Maßregeln und untaugliche Leute den Vielen Waffen in die Hand geben, die das Kind gerne mit dem Bade ausschütten.
England und Frankreich mit andern Ländern, in Deutschland Preußen voran scheinen von der Unverbesserlichkeit der gemeinsamen Haft längst überzeugt; jenes sendet seine Verbrecher mit altgewohntem Krämergeiste baldmöglichst nach Australien, um jene einst so glücklichen Eilande mit dem Gifte europäischer Verdorbenheit zu beglücken und sich selbst das zweibeinige Ungeziefer weit vom Leibe zu schaffen; die Franzosen ergriffen den Gedanken der einsamen Haft mit gewohnter Lebendigkeit und führten ihn an manchen Orten ins Leben, doch einerseits würde die allgemeine Einführung der Zellenhaft viele Millionen verschlingen und anderseits tobte die federnmordende Feldschlacht zwischen Liebhabern des Schweigsystems und der Zelle, wobei sich die Anhänger des Alten und Bestehenden vergnüglich die Hände rieben und sich hinter das Flicken machten.
In Preußen zunächst, wo die Regierung auch im Gefängnißwesen Großes leistet und wacker für Vereine für entlassene Gefangene kämpfte, hat der edle Julius insbesondere eifrig gewirkt für einsame Haft. Es wurden Zellengefängnisse nach englischem Muster gebaut, die folgerichtige Durchführung der einsamen Haft leider auch nach englischem Muster aufgegeben. Einzelne in andern Ländern redeten und schrieben Vieles von bisher unentdeckten Verbesserungen der gemeinsamen und noch weit mehr von der abscheulichen Kostspieligkeit und der menschenmörderischen Abscheulichkeit der Einzelhaft.
In allen Ländern Europas erhoben sich die edelsten und gelehrtesten Männer für seltener auch gegen die Einrichtung, gegen deren Einführung der Kostenpunkt die einleuchtendste und beliebteste Einwendung blieb.
Daß in einer so wichtigen Frage nicht nur die Vernunft, sondern manchmal auch die Leidenschaft im Humanitätsmantel das Wort ergriff, viel Sinnloses, Unwahres und Lächerliches zu Tage gefördert, Mücken zu Elephanten gemacht und die altberühmten Hochschulen des Lasters, nämlich die alten Zuchthäuser als wahre Tugendschulen angerühmt wurden, versteht sich von selbst und mehr als Einer brütete ein sogenanntes »System« aus, das auf den Gedanken hinauslief: »wenn alle Gefängnißbeamte meine Erfahrung und meinen Geist hätten, um meine Klassen unfehlbar durchzuführen, dann wäre aller Noth ein Ende gemacht!« Hätten doch diese »Systematiker« ins eigene oder ins nächste beste Eheleben hineingeschaut, wo die Gewohnheit des Umganges gegen Schattenseiten der Gatten und Kinder abstumpft, dann bedacht, daß ihre Pfleglinge Leute voll Irrthümer, Fehler, Leidenschaften und Laster, das vom Gesetz erzwungene Beisammenleben ein vielköpfiges, leidenvolles und verdrießliches, jedes gute Beispiel von vornherein ein zweideutiges sei, sie würden endlich doch den eigentlichen Grundfehler aller gemeinsamen Haft, die unabwendbare mehr oder minder völlige Abstumpfung gegen Recht, Sitte und Religion gemerkt und endlich eingesehen haben, daß die Besserung nicht aus Tabellen der Rückfälligen bewiesen werde, für schlechte Gesellschaft kein Kräutlein gewachsen sei und ein schlechter Kerl der Gesellschaft schweren Schaden bringen könne, ohne deßhalb wiederum den Männern des Rechts in die Haare zu gerathen.
Nicht zweideutige Listen von Rückfälligen, sondern getreue und gewissenhafte Berichte über das Leben und Treiben aller Entlassenen möchten entscheiden, ob die Besserung in gemeinsamer Haft kein Unding und in einsamer kein schöner Traum gutmüthiger Menschenfreunde sei! ...
In Preußen wie in Baden sind die Strafanstalten, in welchen gemeinsame Haft besteht, wohl so gut eingerichtet und verwaltet, als in Baiern oder anderswo, in manchen Dingen vielleicht noch weit besser, obgleich kein großes Geschrei damit gemacht wird – doch die uralten Erbschäden jener Haftart lassen sich nie und nimmermehr beseitigen. Was unser Baden insbesondere betrifft, so lese man den vortrefflichen Commissionsbericht Welkers, die Verhandlungen in den Kammern der Landstände, die Schriften der Herren Mittermaier, v. Jagemann, Diez und Anderer, um sich zu überzeugen, daß die badische Regierung sich ein Verdienst um die deutschen Lande, um die Menschheit und bei Gott erwarb, als sie das Zellengefängniß in Bruchsal erbaute und einrichtete, welches jetzt über 5 Jahre Gefangene beherbergt und die einsame Haft, wie dieselbe in Deutschland sich durchführen läßt, unter den mißlichsten Umständen zu Ehren bringt.
Bestände die Besserung darin, daß die Gefangenen sich nicht beim Uebertreten der Hausordnung erwischen lassen und fleißig arbeiten, dann wäre es unnöthig gewesen, ein kostbares Zellengefängniß nach dem Muster von Pentonville aufzubauen, weil Folgsamkeit und Fleiß bei der überwiegenden Mehrzahl der Gefangenen jeder nicht ganz unmenschlich und hirnlos geleiteten andern Anstalt angetroffen werden.
Der großartige Bau zu Bruchsal hat großartige Summen gekostet, die Unterhaltung der Anstalt bleibt kostspieliger als diejenige eines andern Zuchthauses, wiewohl der Gewerbebetrieb in einer Weise blüht, wie nirgends, deßhalb wird die Frage entstehen, ob die Früchte solcher Opfer werth seien?
Die Thatsache, daß es Rückfällige gibt, möchte verleiten, die Frage mit Nein zu beantworten und vom Versuchen mit der einsamen Haft abschrecken, allein nicht die Thatsache an sich, sondern die Ursachen derselben werden entscheiden und je weniger einerseits diese Ursachen in einem notwendigen Zusammenhange mit dem Grundsatze des Einzelsystems stehen, je unläugbarer anderseits die erfreulichen Folgen des Systems vorwiegen, desto mehr wird man obige Frage mit Ja beantworten müssen.
Weßhalb?
Kehren wir zu unsern Geschichten zurück.
Ein kalter, nebliger Herbstmorgen schaut über das Rheinthal, die Thurmuhren von Bruchsal schlagen halb fünf Uhr und lange Reihen erleuchteter Fensterchen leuchten in die nächtliche Gegend hinaus und erregen wehmüthige Gefühle dem Menschenfreunde, der die dunkeln Umrisse des Zellengefängnisses bei der Wanderung aus Bruchsal gen Ubstadt erkennt oder den langgedehnten Ruf der Schildwachen vernimmt, der klagend von der hohen Ringmauer herabtönt. Hinter jedem dieser vergitterten Fenster lebt ein menschliches Wesen, ein Lebendigbegrabener und büßt viele Monde, viele Jahre, vielleicht sein ganzes Leben lang eine That, der Du Dich vielleicht unter gleichen oder auch nur ähnlichen Lebensverhältnissen ebenfalls schuldig gemacht hättest. Er lebt einsam und wie viel liegt in dem Worte einsam!
Auch Du liebst zuweilen die Einsamkeit, hast wohl Zimmermanns schönes Buch über dieselbe gelesen, doch vor gezwungener beständiger Einsamkeit schauderst Du zurück, denn Du weißt ohne den Hugo Grotius jemals gelesen zu haben, der Mensch sei keineswegs für ertödtende Einsamkeit, sondern für die Gesellschaft geboren, er werde nicht durch Vereinzelung sondern durch Mithülfe seiner Nebenmenschen Mensch.
Kurzsichtiges Wohlwollen macht Dich geneigt, den Gegnern der einsamen Haft beizustimmen, wenn dieselben predigen, solche Haftart sei »unseres Jahrhunderts und der Menschheit unwürdig!«
Für Jeden, der niemals selbst gefangen war, bleibt es schwer, sich in die Lage eines Gefangenen und vor Allem eines Zellengefangenen vollständig hineinzudenken; in dieser Schwierigkeit finden wir den vornehmsten Grund, weßhalb es zahlreiche Gegner der Einzelhaft gibt und weßhalb manche Wortführer derselben mit den aberwitzigsten Behauptungen und krassesten Vorurtheilen Anklang bei hochgebildeten, religiösgesinnten und einflußreichen Leuten, geschweige beim gewöhnlichen Volke finden.
Die Durchführung der einsamen Haft ist eine Aufgabe, deren Lösung nur allmählig geschehen und je nach den Eigenthümlichkeiten eines Landes und Volkes sich mehr oder minder eigenthümlich gestalten wird.
Sklavische Nachahmung ausländischer Gefängnisse mögen in Verbindung mit der sorglosen Wahl der Beamten und Aufseher der guten Sache der Einzelhaft bisher wohl den meisten Eintrag gethan und in Preußen vielleicht den hauptsächlichsten Anlaß zur Verpfuschung des Systems abgegeben haben.
Das Zellengefängniß zu Bruchsal wurde bekanntlich nach dem Muster von Pentonville erbaut und eingerichtet, doch sahen wir mit eigenen Augen, wie sehr alle gemachten und reifenden Erfahrungen benutzt und allmählige Verbesserungen eingeführt wurden, welche namhafte Verschiedenheiten zwischen dem englischen Muster und dem deutschen Abbilde begründen.
Der Duckmäuser lebt seit 4 Monden in einer Zelle, sein Haß gegen den Spaniolen führte den Anlaß zur Versetzung dieses langjährigen Gefangenen herbei; mit düstern Ahnungen sah er die eiserne Thür der Bruchsaler »Bastille« hinter sich schließen, doch seine Ahnungen haben sich diesmal nicht erfüllt, vielmehr hat die einsame Haft einen Schimmer von Glück über das Stillleben dieses Unglücklichen verbreitet. ...
Schlag halb 5 Uhr erwachte er aus einem erquickenden Schlafe, sprang aus dem Bette, dessen Seegrasmatratze ihm trotz der Härte ganz anders mundet, als das ebenfalls harte und bald zerriebene Stroh seiner altgewohnten Lagerstätte.
Während er sich bemüht, Kopfpolster, Leintücher und Teppich in die vorgeschriebene Ordnung zu legen, vernimmt er den Wiederhall der Wasserkrüge, welche der Hausschänzer draußen auf dem Gange auf die steinernen Platten stellt, das sich stets wiederholende Rauschen des Brunnens, die Schritte des Aufsehers, der eine Zelle nach der andern aufschließt.
Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, der Aufseher tritt mit der Lampe herein, zündet das Licht an, welches auf dem eichenen Tische steht, ergreift die vordere Stange des in starken Riemen hängenden Bettes, schließt dasselbe an die Wand, wodurch der Raum der Zelle um ein Namhaftes vergrößert wird und entfernt sich mit dem Wasserkruge des Gefangenen.
Dieser schließt zunächst den aus 2 Tafeln bestehenden Tisch – die vordere dieser Tafeln ist mit schwarzem Firniß überzogen und man sieht darauf die Figuren des pythagoräischen Lehrsatzes sammt den halbverwischten Zahlen einer Rechnung – ebenfalls an die Wand, thut Gleiches mit dem Bänkchen, welches ziemlich unzweckmäßig unsern Benedict zwingt, dem durch das Fenster herabdringenden Lichte den Rücken zu kehren und während er einige Augenblicke in den sternenlosen Nebelmorgen hinausblickt, benützen wir die Zeit, um uns ein bischen in diesem Raume umzuschauen.
Die Zelle ist hoch und bildet ein längliches Viereck, dessen gewölbte Decke gut geweißelt, dessen Wände mit hellem Grün angestrichen sind und dem Bewohner gestatten, 8-9 Schritte in die Länge und 4 in die Breite zu thun, wenn es denselben beliebt, in gerader Richtung zu gehen anstatt durch die schräge den Weg zu verlängern. Rechts von der Thüre ist das Bett an die Wand angeklappt, weiter hinten befindet sich ein Kleiderrechen, dort hängt am Nagel ein langer Stock, vermittelst dessen der Gefangene in den Stand gesetzt wird, den obern Flügel seines Fensters beliebig zu öffnen. Die Fensterscheiben sind gut verbleit, die obern hell und rein, die untern hie und da von geripptem oder geblendetem Glase.
Ein Schrank steht auf der entgegengesetzten Seite links von der starken, rothbraun angestrichenen Thüre, an der sich ein Glockenzug, oben die eingeklammerte Nummer der Zelle, unten eine Vorrichtung befindet, welche Jedem gestattet, die ganze Zelle von Außen zu überschauen, während der Gefangene nichts davon bemerkt, sich folglich in jedem Augenblicke beobachtet glauben darf. Der Schalter in der Thüre bleibt geschlossen, wenn der Aufseher nicht etwa Essen und Trinken oder Werkzeuge hereingibt und die Thüre selbst kann nur von Außen geöffnet werden. Oben auf dem genannten Schranke stehen Schreibmaterialien und Bücher, im obersten Gesimse desselben der Wasserkrug, an welchem gleichfalls die Zellennummer hängt, unten ein kleiner Verschlag, in welchem die Eßgeräthe sammt dem Brode verschlossen werden, unten dran steht eine blecherne Waschschüssel; Seife und Kamm liegen neben Aufputzlumpen und zur Seite hängt ein Kehrwisch sammt Schäufelchen. Hinter dem aufgeklappten Tische und Bänkchen steht eine Hobelbank und der übrige Theil der Zelle wird durch Bretter, Klötze, Werkzeuge und angefangene Arbeiten aller Art ausgefüllt. Erwähnen wir noch, daß die Hausordnung an der Wand durch einen grünen Lichtschirm theilweise bedeckt wird und unter derselben ein biblischer Kalender sammt einem Stundenplan für Schule und Kirche hängt, so haben wir so ziemlich alle Gegenstände beschrieben, die sich im Bereiche des Duckmäusers befinden, wenn wir die mit Draht eng übersponnenen Oeffnungen für frische und erwärmte Luft nicht vergessen, welch' letztere Oeffnung durch einen Schieber von Eisenblech beliebig geöffnet und geschlossen werden kann.
Numero Hundertzehn, wie der Vatermörder fortan heißen soll, hat sich gewaschen, vielleicht ein leises Gebet dazu gemurmelt und hängt das Handtuch an den Rechen, als der Aufseher den Schalter öffnet und den gefüllten Wasserkrug hereingibt. Jetzt wird die bekannte Stimme eines Obermeisters im Gange hörbar, der Gefangene spitzt die Ohren und ergreift einen Hobel oder eine Säge oder den Polierlumpen, um an seine Arbeit zu gehen.
Um 6 Uhr rufen die Schildwachen auf der Ringmauer abermals ihr eintöniges Wer da; draußen wird es heller und heller, die Spatzen jagen sich bereits aus ihren Nestern, zwitschern vor dem Fenster ihren Morgengruß herein; das Oeffnen schwerer Thüren, das Fahren eines Wagens, die Frühmeßglocken gewähren dem Ohre des Gefangenen hinreichende Beschäftigung, abgesehen vom Geräusche der Arbeit, den Schritten des über dem Kopfe weggehenden Mitgefangenen, dem Lärm im Gange, dem zeitweiligen Geschelle, welches die Gefangenen eines andern Flügels oder Stockwerkes in den Spazierhof einladet.
Abermals öffnet sich der Schalter, der Aufseher reicht ein halbes Laiblein gutgebackenen, schmackhaften Brodes herein, Nro. 110 langt aus dem Verschlage ein stumpfes Messer sammt Salzbüchse, beginnt zu essen und während er kaut, löscht er die Lampe aus, in welcher eine Mischung von entwässertem Spiritus und Terpentin den Brennstoff bildet, betrachtet den Kalender und streicht ruhig den gestrigen Tag durch – der lebenslänglich Verurtheilte träumt von dereinstiger Befreiung und hat seine Gefängnißtage zählen gelernt, er glaubt, daß ihn jeder Strich im Kalender der schon 10 Jahre entbehrten Freiheit näher bringe:
Die Welt wird alt und wieder jung!
Der Mensch hofft immer Verbesserung!
Jetzt läutet's auch hier in den Hof. Nro. 110 schließt den Schieber der Luftheizung, öffnet das Fenster, zieht den Zwilchkittel an über das wollene Unterwammes, ergreift die blecherne Nummer ob der Thüre, hängt dieselbe in ein Knopfloch und setzt eine blauwollene Mütze auf, deren mit 2 Augenlöchern verzierter Schild herabgelassen werden muß und den größten Theil des Gesichtes bedeckt, so daß kein Gefangener das Angesicht des Andern zu sehen im Stande ist. Diese Mütze macht unstreitig einen peinlichen Eindruck auf fremde Besucher und in der ersten Zeit auch auf den Gefangenen, doch ist letzterer bald daran gewöhnt und während der Schaden nicht zu finden ist, welchen diese Mütze bringt, läßt sich ihr Nutzen desto besser absehen und wozu ohne Noth Etwas beseitigen, was für den Grundsatz der vollkommenen Trennung der Gefangenen wesentlich ist? Man hat zwar noch niemals erlebt, daß die Leute einander durch ihr bloßes flüchtiges Anschauen mit ihren Fehlern anstecken und läßt sich nicht läugnen, daß ein Zellenbewohner den vor ihm Hergehenden möglicherweise trotz der Maske am Gange und den Umrissen der Gestalt erkennt, allein Dreierlei läßt sich ebenfalls nicht läugnen, nämlich daß erstens die Maske jedenfalls dazu beiträgt, Anknüpfung von Bekanntschaften zu erschweren, ferner den Gefangenen vor den Blicken neugieriger Besucher der Anstalt beschützt und endlich den großen Vortheil bietet, daß er nach der Entlassung nicht leicht Zuchthausbrüder trifft, welche ihn erkennen und in unangenehme oder gefährliche Lagen versetzen.
Zudem trägt der Gefangene die vielbeschrieene Maske, die von Dickens überschwänglicher Einbildungskraft seltsam genug ein »Grabhemd« genannt wird, nur auf dem Wege in Hof, Badzellen, Schule oder Kirche, somit selten länger als einige Minuten.
Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, Nro. 109 ist bereits 10-15 Schritte voraus und 110 folgt ihm in der Art, daß der Abstand vom Hintermann 111 ebensoviele Schritte beträgt.
Lauernd steht der Aufseher des dritten Stockwerkes an einem Platze, von wo aus ihm nicht die leiseste Bewegung der in den Spazierhof gehenden Bewohner des ersten Stockwerkes zu entgehen vermag und wenn Einer seine Schritte nicht gehörig beschleunigt oder gar Lust zum Umherschauen zeigt, verweist ihn die Stimme des Aufpassers augenblicklich in die Schranken der Hausordnung.
Nro. 110 eilt durch den Gang die Treppe hinab in den Hof. Eine frische Morgenluft weht von den Hügeln herüber, dessen Bäume mit ihren vielfarbigen Blättern, dessen Weinberge und blumenlose Wiesen ihn an die Herbstmorgen auf dem Lande mahnen. Krächzend eilen einige Raben dem Walde zu, er hört das Krähen einiger Hähne in der Nachbarschaft, das unaufhörliche Gezänke zahlreicher Vögel im Hofe und auf dem Dache. Die Bäume, Sträucher und Blumen, die Holzstöße und Faßdaubenpyramiden im Hofe dieses Flügels – dieser ganze Anblick gewährt einen Schimmer von Freiheit.
Schon ist Nro. 110 in das runde Häuschen eingetreten, von welchem die zahlreichen, etwa 10´ hohen Mauern der Spazierhöfe ausstrahlen, welche vielleicht mit einer versteinerten Sonnenblume verglichen werden können, deren meiste Blätter in regelmäßigen Zwischenräumen herausgerissen wurden.
Nro. 110 eilt in den bereits offenstehenden, für ihn bestimmten Spazierhof, dessen eine Mauer mit einem ziemlich langen Regendache von Eisen, dessen beide Mauern an ihrer Mündung durch ein hohes eisernes Gitter verbunden sind und dessen Boden mit gelblichem Sande aufgefüllt ist.
Eifrig eilt er zwischen dem Gitter und dem geschlossenen Thürchen hin und her, schaut zuweilen nach den Wolken, die grau und schwerfällig gegen Westen ziehen, nach der Schildwache, die in ihren Mantel gehüllt still und stumm von der Ringmauer herabschaut, um den visitirenden Korporal oder die Ablösung zu erwarten oder nach dem Zellenflügel, dessen Fenster im matten Scheine des über die Berge schauenden Morgenrothes schimmern oder er verfolgt den trägen Gang der Spinne, eines andern Insectes, welches an der Mauer herumkriecht.
Oben in seinem Häuschen hört er den Aufseher hin- und hergehen, der alle Spazierhöfe und Spaziergänger mit Einem Blicke oder Einer Wendung überschaut, hört die eiligen Schritte der Nebenmänner und diese Art von Mittheilung ist wohl die einzige, welche in den Spazierhöfen stattfindet.
Die Wände zu verschreiben, Zettel in den nächsten Hof zu werfen, ein Duett im Husten anzustimmen sind Dinge, welche so wenig ungeahndet bleiben, als wenn Einer von seinem Zellenfenster in den Hof herabschaut.
Jetzt wird geschellt, die halbe Stunde des Spazierganges ist vorüber, in derselben Ordnung, wie die Gefangenen gekommen, gehen sie auch wieder in ihre Zellen zurück.
Nro. 110 hat Fenster und Thüre offengelassen, die Zelle ist vollständig gelüftet, er schlägt die Thüre zu und geht daran, den Boden zu reinigen, der aus Ziegelplatten besteht. Durch das viele Gehen löst sich von diesen Ziegelplatten ein feiner Staub ab, der jedoch nur dann sehr ungesund werden mag, wenn der Zellenbewohner ein unreinlicher Bursche ist, was bei den Falkenblicken des Obermeisters und Aufsehers nicht wohl angeht.
Unser Gefangener reinigt die Zelle, schließt das Fenster, öffnet den Schieber der Luftheitzungsöffnung aus welcher eine wohlthuende Wärme herausströmt und geht dann wieder an seine Arbeit.
Abermaliges Schellen, das Zuschlagen der Schalter der Zellenthüren verkündiget die Austheilung der Morgensuppe; Nro. 110 rüstet sein Schüsselchen, der Aufseher öffnet den Schalter, füllt dasselbe und schlägt rasch wieder zu, um weiter zu gehen.
Der Zellenbewohner ißt und arbeitet dann mehrere Stunden; von Zeit zu Zeit tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein und bleibt einige Augenblicke, um Etwas anzuordnen oder nachzuschauen.
Um 10 Uhr öffnet sich die Thüre, der Director mit seinem freundlichen, wohlwollenden Gesichte tritt herein.
Jene Art von Besuchen, wie sie in England gang und gäbe sind, wo der Aufseher die Thüre aufreißt, der Beamte sein stereotypes: »is all right?« herabschnurrt und sofort weiter geht, wenn der Gefangene nicht ein besonderes Anliegen vorzubringen hat – solche Besuche, welche lediglich einer polizeilichen Controlle entsprechen, sind für den Gefangenen fast werthlos, für den Beamten sehr bequem, in Bruchsal glücklicher Weise unbekannt.
Besuche der Beamten tragen hier den Charakter einer Wohlthat an sich, sind ein mächtiges Mittel der Erholung, geistigen Anregung, Bildung, Versöhnung mit der Strenge des Schicksals und der Gesetze, der Besserung. Täglich in viele Zellen eilen, welche die verschiedenartigsten Menschen beherbergen, die verschiedenartigsten Gemüthsstimmungen antreffen, sich Lunge und Leber herausreden, aus verschiedenartig erwärmten Zellen in die eisige Zugluft der Gänge hinaustreten, Gerüche aller Art und Staub ebenfalls einathmen – es ist ein Geschäft, das im Laufe weniger Jahre die Gesundheit des kräftigsten Mannes erschüttert, ein Geschäft, welchem sich schwerlich Einer unterzöge, der nicht eine bedeutende Portion ursprünglicher Menschenliebe im Herzen hat.
Was bei andern Gefangenen selten oder nie der Fall sein wird, ist bei Zellenbewohnern der Fall: die ins Einzelnste gehende Controlle jedes Einzelnen, das Lesen seiner Untersuchungsakten, Briefe und Besuche unter vier Augen gewähren dem einsichtsvollen Beamten eine mehr oder minder vollständige Kenntniß jedes einzelnen Gefangenen.
Dieser müßte ein Heuchler erster Größe sein, wenn er mondenlang, jahrelang eine falsche Rolle spielen, sich nicht unwillkürlich in seinen Reden, Geberden, Handlungen als derjenige zeigen sollte, welcher er wirklich ist. Er wird offen, vertraulich, manchmal bis zur Unverschämtheit offen und vertraulich gegen die Beamten aus dem ganz einfachen und einleuchtenden Grunde, weil er keine andere Gesellschaft hat. Wo Sträflinge beisammen leben, kann der Beamte sich nicht leicht mit Einzelnen besonders abgeben, muß Einen wie den Andern behandeln und der Gefangene findet gar keinen Grund, weßhalb er einem Beamten Blicke in sein Innerstes gestatten, sich dadurch in den Augen desselben herabsetzen sollte, zumal das natürliche Interesse ihn auffordert, nur seine Lichtseiten leuchten zu lassen, um sich Wohlwollen zu erwerben. So gewöhnlich Verstellung und Heuchelei in gemeinsamer Haft sind, so leicht eine mehr oder minder falsche Rolle hier mit Glück gespielt werden mag, weil der in der Heuchelei liegende Zwang nur ein sehr vorübergehender ist – so selten mag in Zellengefängnissen in die Länge und mit Glück geheuchelt werden. Es wird für den Zellenbewohner zur psychologischen und moralischen Nothwendigkeit, sich so zu geben, wie er ist und dieses setzt die Beamten in Stand, Jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise zu behandeln. Je mehr aber Einer nach seiner Art und Weise behandelt wird, desto mehr wird er uns seine Zuneigung und sein Vertrauen zeigen.
Durch nachläßige, taktlose oder unmenschliche Behandlung der Zellenbewohner von Seite der Beamten und Angestellten mag wohl die gute Wirkung des Einzelsystems sich häufig genug in das Gegentheil verkehrt haben und man bürdete dem System die Schuld untauglicher Angestellten und Beamten auf, nicht zu vergessen des Wahnes, man bedürfe keiner besondern Bildung, um als Beamter unter Sträflingen zu wirken, könne jeden Schreiber und Tabellenheld dazu brauchen ... Ein geistreicher und berühmter Rechtsgelehrter sagte uns vor einiger Zeit, die einsame Haft sei eine »Pferdekur;« wir stellen Solches keineswegs in Abrede, meinen jedoch, bei Menschen, welche mehr oder weniger Thierisches und Unterthierisches an sich tragen, schade eine Pferdekur wenig und der Schmerz derselben werde um so erträglicher und fruchtbringender, heilsamer, je geschickter der Arzt sei!
Der Duckmäuser ist heute verstimmt, der Morgen ist so trüb und unfreundlich, Wind und Wetter, die verschiedenen Zeiten des Tages und der Nacht, des Jahres, manchmal auch der Wechsel des Mondes üben einen so großen Einfluß auf das Gemüth Einsamlebender aus!
Er thut heute, was er als alter Gefangener selten oder niemals zu thun pflegt, fängt nämlich an, nachdem er eine kleine Abhandlung über eingelegte Schreinerarbeit zum Besten gegeben, über die lange Dauer seiner Gefangenschaft zu reden und von der Wahrscheinlichkeit, daß er wohl hier sterben müsse.
Die Hausordnung gibt jedem andern Gefangenen Hoffnung auf Berücksichtigung von Gnadengesuchen, wenn die Hälfte der zuerkannten Strafe überstanden ist – doch was geht dies einen Gefangenen an, dessen Todesstrafe in lebenswieriges Gefängniß umgewandelt wurde? Für ihn ist die Zelle in der That ein Sarg, er ist ein Lebendigbegrabener und dennoch bleibt er ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, denkt lieber an die Erde als an den Himmel und findet in den Besprechungen dieses einen Ersatz für die Entbehrung der Genüsse, welche jedem Bettler zu Gebote stehen.
Die Einsamkeit vermehrt den Alpdruck des vernichtenden Wortes: »lebenswierige Gefangenschaft«, er hat die Bedeutung dieses schauerlichen Wortes erst in neuerer Zeit recht fühlen gelernt!
Was soll der Director thun? Dem Unglücklichen den Schein jeder Hoffnung nehmen und die düstere Stimmung desselben vermehren? Nein, er redet von der Möglichkeit dereinstiger Befreiung, von Auswanderung nach Amerika und scheidet aus der Zelle, einen Glücklichen hinter sich zurückzulassen.
Numero Hundertzehn schaut ihm gerührt nach; ist dieser auch nicht im Stande, ihn dereinst zu befreien, so wünscht er doch, dieses thun zu können; Theilnahme und Wohlwollen eines Freien und Glücklichen sind aber für den Gefangenen unschätzbare Güter und die Hoffnung stirbt erst mit ihm.
Er steht vor dem Kalender, trägt nicht übel Lust, den heutigen Tag roth anzustreichen, doch läßt er es bleiben und greift frischer und muthiger als je nach seinem Hobel und je näher die Einbildungskraft das Jahr der Befreiung herbeizaubert, desto ärger hobelt er darauf los!
Abermaliges Schellen, Aufschließen der Zellenthüren, Herausmarschiren vieler Gefangenen. Es ist eilf Uhr, heute wird Religionsunterricht für Katholiken ertheilt, die Religionsstunde der Evangelischen ist bereits vorüber. Bald kommt die Reihe des Marsches an Numero 110; noch einige eilige Hobelstöße, dann rüstet er sich wieder aus, wie zum Gange in den Hof, jetzt öffnet sich die Thüre abermals und 110 eilt 109 nach durch den Gang, viele scharfbewachte Stiegen hinauf in die Kirche.
Die amphitheatralisch gebaute Kirche des Zellengefängnisses zu Bruchsal zu beschreiben, wäre zu weitläufig; es genügt zu wissen, daß jeder Gefangene seinen besondern Verschlag hat, eine Art Miniaturzelle, welche ihm das Sitzen, Knieen und Stehen gestattet und so eingerichtet ist, daß Keiner den Andern, Jeder den Altar, die Kanzel, den Priester, einzelne Aufseher zu sehen vermag, denen keine seiner Bewegungen entgeht.
Numero 110 hängt die Zellennummer an ihrem bestimmten Platze auf und bald erscheint der Geistliche auf der Kanzel, um den Religionsunterricht zu beginnen.
Derselbe pflegt gewöhnlich in einer Reihe zusammenhängender Vorträge dieses oder jenes Buch des neuen Testamentes zu erklären, doch seit einiger Zeit belehrt er über die heiligen Sakramente der Buße und des Abendmahles und macht den klaren, schönen Vortrag durch das Einmischen von Stellen aus den Werken namhafter Gottesgelehrten noch anziehender, nicht ohne die Einwendungen und Angriffe der hauptsächlichsten Gegner der katholischen Lehre zu berühren und mit jener eindringlichen Ruhe abzuweisen, welche die Frucht eigener tiefer Ueberzeugung ist.
Heute behandelt er insbesondere die wahrhafte, wirkliche und wesentliche Gegenwart Christi im Abendmahle, eine Lehre, welche Allen, die die Liebe nicht vollkommen verstehen oder die Wirkungen dieses hochheiligen Sakramentes nicht an sich selbst empfunden haben, unbegreiflich, sinnlos, ja als eine Herabsetzung und Entwürdigung Gottes erscheint, während die Andern den Triumpf der Religion in ihr vollendet sehen.
»Will gar nicht verlangen, daß Gott mit mir Eins und ich selbst dadurch gottähnlich werde, dürfte ich nur menschenähnlich sein und beim Straßenbasche als der ärmste Taglöhner leben! ... Um mich hat sich Gott niemals bekümmert, Seine Liebe und der Fluch meines Lebens reimen sich nicht zusammen! ... Wenn der Pfarrer wieder kommt, soll er eine harte Nuß zum Aufbeißen haben!« ... denkt der Benedict, während der Geistliche verschwindet, die Verschläge nach einander wiederum geöffnet werden und er die Schneckenstiegen hinab in den Gang und in seine Zelle marschirt.
Der Geistliche eines Zellengefängnisses hat besondere Vortheile vor andern Gefängnißgeistlichen. Erstens kann er die ganze Religionsstunde seinem Vortrage widmen und den Stoff desselben verdoppeln und verdreifachen; zweitens kommt er zu jedem einzelnen Gefangenen, spricht mit diesem unter vier Augen und kann sich vom Eindrucke überzeugen, welchen sein Vortrag machte, denselben wiederholen, ergänzen, vertheidigen, bei Neueingetretenen mit Früherm vermitteln; drittens endlich ist er keinen Verdächtigungen und Verleumdungen ausgesetzt, während der Sträfling so wenig von Hohn und Spott als von falscher Schaam weiß, dazu Zeit und Gelegenheit besitzt, Etwas für seine religiöse Ausbildung zu thun und zudem die Gedanken, welche sich ihm während der Religionsstunde aufdrängten, in der Einsamkeit nicht anhaltend zu verscheuchen vermag.
Bei Leuten, welche nur für kurze Zeit verurtheilt sind, mögen Gleichgültigkeit oder Leichtsinn die Oberhand behalten, bei Solchen, welchen die Liederlichkeit und Gottverlassenheit zur zweiten Natur geworden, mag die Religion der Liebe manchmal als Religion des Schreckens wirken und mancher alte Sträfling mag bleiben, was er längst geworden oder stets gewesen ist.
Von der Stadt herüber läuten die Mittagsglocken, die ablösende Wachmannschaft eilt gemessenen Schrittes über die Ringmauer. Schon beim Gang aus der Kirche stieg ein vielversprechender Duft aus der Küche des Mittelgebäudes, jetzt ertönt ein mehrstimmiges Schellen, dann das Klirren der Eßkessel und Schöpflöffel und der eilige Schritt der Aufseher, welche sich in der Küche sammeln, um die Portionen für ihre Pflegbefohlenen abzuholen. Heute ist kein Fleischtag.
Jeden andern Tag prangt ein winziges Stücklein Fleisch in der zinnernen Schüssel, ein Spatz vermöchte es bequem im Schnabel fortzutragen und doch bleibt Etwas immer besser als Nichts.
»Suppe!« Der Benedict hebt sein Schüsselchen unter den Schalter, der Aufseher schöpft ihm seine Portion aus dem Kessel, schlägt den Schalter zu und geht weiter.
Die Suppe, eine gute schmackhafte Reissuppe, ist noch sehr heiß, aber sie muß schnell gegessen werden, denn der Aufseher wird gleich mit der Hauptspeise da sein.
Heißes Essen schadet den Zähnen, Zuwarten kann dem Magen schaden, unter zwei Uebeln wählt ein gescheidter Mensch das kleinere, deßhalb ißt der Benedict die heiße Suppe.
»Hersch! – Hersch!« rufts im Gange.
»O jerum!« jammert unser Esser und weiß weßhalb. Der »Hersch« ist nichts anderes als Hirsebrei, eine im badischen Unterlande gewöhnliche Speise der Armen, im Zuchthause zu Freiburg wie überhaupt im Oberlande unbekannt und der Benedict mag nun einmal den fatalen »Hersch« nicht.
»Hersch!« ruft der Aufseher vor dem Schalter und bald ist das Schüsselchen gefüllt. Auch diese Speise ist noch heiß, allein sie hat keinen Nachfolger mehr und was der Benedict morgen nicht thun wird, weil er morgen Knödel bekommt, vor denen übrigens ein guter Baier das Kreuz machte, das thut er heute, stellt nämlich das Schüsselchen auf den Schrank, um den Brei kalt werden zu lassen und später zu essen.
Bevor die Anstalt Bruchsal die Kost für Gefangene, Kranke und Aufseher selbst bereitete, war sie für die erstere manchmal herzlich schlecht und zudem bekam der Zellengefangene Ursache, besonders nach den schönen Brodlaiben Freiburgs zu seufzen.
Dort wird jetzt die Kost und hier noch immer das Brod von der Anstalt unmittelbar bereitet, in beiden Fällen profitirt der Staat sammt den Gefangenen.
Wie mancher Kostgeber ist schon durch augenlose Gefängnißsuppen reich geworden, wie unzuverlässig ist die strengste Controlle, wenn Beamte und Angestellte nicht zuverlässig und gewissenhaft sind! –
Numero 110 klappt den Tisch an die Wand, das Vorderblatt desselben ist eine schwarz lakirte Schultafel, er greift zur Kreide, vertieft sich in den pythagoräischen Lehrsatz und berechnet alsdann, wieviel Kubikzoll die Commode enthalten werde, welche unter seiner kunstfertigen Hand entstehen soll.
Todtenstille herrscht minutenlang ringsum, die meisten Aufseher sind den Beamten zum Essen nachgeeilt, aber wenn Jemand im Mittelbau eine Schüssel fallen läßt oder sich nur herzhaft schnäuzt, können es sämmtliche Bewohner der vier großen Flügel und die Nächsten so deutlich als die Fernsten vernehmen. Wenn der Spruch: Wände haben Ohren – irgendwo gültig und die Allwissenheit der Beamten irgendwo mehr als Redensart ist, so wird dies sicher in einem Zellengefängnisse der Fall sein. Auf ihren Bureaus vernehmen die Beamten jedes laute Wort und jedes auffallende Geräusch, selbst wenn es von den äußersten Enden der Zellenflügel ausgeht.
Jetzt scheinen selbst die sonst so geschwätzigen, zänkischen Spatzen Siesta zu halten, selten flattert einer vor dem Gitterfenster von Numero 110 vorüber und noch seltener sitzt einer vor dem Fenster, um sein graues Röcklein zu putzen oder dem Gefangenen einen bessern Appetit zuzuzwitschern.
Letzteres ist auch nicht nöthig, denn obwohl der Duckmäuser den Hirsebrei nicht liebt, so haßt er doch den Hunger noch weit mehr, folglich hat der Brei bereits das Ziel seiner Bestimmung erreicht.
Die Zellenbewohner haben ihre Ruhestunde, dieselbe wird ihnen nicht zur Stunde des Verderbnisses, sondern sie lesen, schreiben, rechnen, zeichnen, machen freiwillig an ihrer Arbeit fort, wenn dieselbe kein Geräusch verursacht, oder gehen acht Schritte vorwärts und acht rückwärts und wer in einem der Höfe steht, mag auch manches langgedehnte Gähnen, zuweilen ein schweres Aufseufzen, ein lautes Selbstgespräch, vielleicht einen Versuch, zu singen oder zu pfeifen, gleich darauf das Aufgehen einer Thüre, das anklagende Gebrumme eines zweibeinigen Stückes der fleischgewordenen Hausordnung und dazwischen das Hohngelächter des vorüberrauschenden Eisenbahnzuges zu Ohren bekommen.
Der Benedict hat den Magen mit »Hersch«, den Verstand mit Zahlen und geometrischen Figuren angefüllt, doch sein Gemüth blieb unbefriediget und was der Director mit seinem Besuche gut machte, hat der Pfarrer mit seinem Vortrage verdorben und besonders Eine Aeußerung desselben ist tief in Benedicts Seele gedrungen und fällt ihm stets von Neuem bei, er mag anfangen was er will:
»Wer unwürdig meinen Leib ißt und mein Blut trinkt, der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!«
Wie oft nahte er sich aus Gewohnheit, um seines Rufes willen oder um die Worte der Mutter zu erfüllen, dem Tische des Herrn!
In der Kaserne hatte er sich allgemach von diesem Gebrauche emancipirt, er wurde ihm lästig, das Aufgeben desselben brachte ihm eher Ansehen als Schaden, bei Meister März faßte er vollends einen Ekel gegen die demüthige Aufgeblasenheit und den weinerlichen Ingrimm der »Diener am Worte« und deren Lämmlein, aber im Zuchthause hatte er sich regelmäßig zum Beichten und Communiciren verstanden, um nicht in den obern Regionen in Mißcredit zu kommen.
Den Spruch, welchen der Geistliche heute vorbrachte, hörte er schon früher hundertmal, doch niemals schlug er ihm so in die Seele, er greift nach seiner Bibel und wundert sich selbst, weßhalb ein einziger Vers ihn so unheimlich auf einmal berühren und zu beschäftigen vermöge.
Er blättert und sinnt, bis die Schritte der Aufseher wiederum im Gange wiederhallen und die Gangschelle verkündiget, daß er den zweiten Theil des Tages mit dem zweiten Spaziergange beginnen müsse.
Rasch und mißmuthig läuft er längs den Mauern seines Spazierhofes hin und wieder. Er hatte sich schon manchen Tag mit gleichgültiger Ruhe in der Zelle befunden, weil es ihm gelang, sich in die Ueberzeugung hineinzubannen, er sei ein Todter, besitze keinen Anspruch mehr auf das Leben und bleibe ein wandelnder Schatten mit vermodertem Herzen, so lange es einer Macht gefalle, die er nicht kannte und von der er nichts forderte.
Alte Gefangene huldigen gewöhnlich bewußt oder unbewußt solchem Fatalismus, ihr Herz und ihr Benehmen strafen denselben oft Lügen, doch im Ganzen scheint er ihnen ihr trauriges Loos erträglicher zu machen, wofür die Hauptursache freilich darin zu suchen sein möchte, daß das Mitansehen des Unglückes Anderer, die Zerstreuungen der Gesellschaft, die Verbindung, in welcher sie durch dieselbe bei dem täglichen Wechsel der Gefängnißbevölkerung mit der Außenwelt bleiben, ihre eigene Verinnerlichung hindert.
Der Benedict hat dem Himmel den Scheidebrief des Glückes geschrieben, als er die Thüre der Strafanstalt zum erstenmal hinter sich schließen hörte; er war ein lebenslänglich Verurtheilter, alles Fühlen, Denken, Wollen und Streben seiner Person sollte fortan für die Welt verloren sein, blos sein Leichnam dereinst noch einmal dieselbe Straße wandern, durch welche er gerade gekommen.
Er hegte nur Einen Wunsch: Ruhe und forderte diese Ruhe vom Tode, glaubte auch, derselbe werde sie ihm gewähren.
Die Jahre hatten ihn gegen die Leiden der Gefangenschaft und gegen das Leben überhaupt abgestumpft, er glaubte dem Tode um einen starken Schritt näher zu kommen, wenn er in die Zelle versetzt würde und – hatte sich getäuscht.
Im Gegentheil lebte der Mensch von ehemals in ihm wieder auf, das versteinert geglaubte Herz begann von Neuem zu hämmern und zu pochen, das Kind und der Jüngling, der verirrte Halbmann und der elende Sträfling hielten aufregende Gespräche in ihm, durch die Freuden- und Sturmglocken der Erinnerung tönten leise zuweilen andere, fremdgewordene Glockentöne und die Möglichkeiten, welche hätten eintreffen können, wenn er diese oder jene Handlung vollbracht oder unterlassen hätte, bot allgemach dem Duckmäuser Stoff zu langen, schwermüthigen Betrachtungen.
Er hatte geglaubt, von Gott gänzlich verlassen und verstoßen zu sein und vom Tode doch jedenfalls Ruhe fordern zu dürfen, eher als viele minder schwer Verurtheilte.
Weßhalb?
Ei, er war freilich als Vatermörder verurtheilt und menschliche Richter waren nicht im Stande, ihn milder zu verurtheilen, als sie dies gethan hatten. Er vermochte die Richter nicht anzuklagen, doch klagte er Gott desto herber an und zwar deßhalb, weil Gott seine Gesinnungen kennen mußte und Miturheber seines Unglückes zu sein schien. Trug denn Benedict jemals den leisesten Vorsatz im Herzen, das gräßliche, todeswürdige Verbrechen des Vatermordes zu begehen? Nein, niemals einen Augenblick, nach der That schauderte er vor sich selbst zurück und begriff nicht, wie er dazu gekommen! – Tödtete er seinen Vater im Affect? Auch dies war wiederum nicht zur Hälfte wahr und Gott mußte wissen, daß er zwar im Schrecken mit einem mächtigen Prügel in den dunkeln Hausgang hineinschlug, jedoch nicht, um den Vater zu treffen, sondern lediglich, um ihm die Flinte wegzuschlagen und ihn vom Kindermord abzuhalten. Wußte er nicht, daß eine Doppelflinte ob dem Bette des Vaters hing und mußte er nicht glauben, daß dem ersten Schusse ein zweiter folgen werde? Selbst die Richter erfuhren genug von Jacobs harter, leidenschaftlicher Gemütsart, von seinem Hasse gegen den Hobisten und vergaßen nicht, die Flinte sammt dem Schuß ernstlich in Erwägung zu ziehen, sonst wäre Benedict unfehlbar um den Kopf kürzer gemacht worden.
Viele andere Umstände ließen sich nur dadurch erklären, daß man dieselben dem blinden Zufalle oder – dem allwissenden Gott in die Schuhe schob und dieser Gott sollte ein allliebender und allbarmherziger sein? Gegen tausend Andere wohl, gegen mich war er ein Tyrann! sagte der Benedict hundertmal, wenn der Schmerz ob dem verlornen Lebensglücke zuweilen gewaltig in ihm aufzuckte und die Trauergeschichte vom weißen Federbusch bestärkte ihn in der Meinung, ein von Gott Verstoßener oder zum Unglücke Erkorner zu sein.
In der Zelle erwachten mit den Jugenderinnerungen auch die Erinnerungen an das vielfache Kreuz und Elend, welches er den Eltern bereitete und er gelangte zur Einsicht, ein Kind, welches seinen Eltern großen Kummer verursache, dadurch ihre Freude am Leben zerstöre und sie vor der Zeit ins Grab stürze, sei eigentlich auch ein Elternmörder und der Tod der Eltern eigentlich auch ein gewaltsamer.
Von diesem Standpunkte aus fühlte er sich des Mordes beider Eltern schuldig.
Allein gibt es nicht Kinder seiner Art genug und keine Seele denkt daran, sie deßhalb ins Zuchthaus zu stecken?
Er begriff sein Schicksal so wenig als die heimlichen Qualen seines Herzens, hoffte vom Tode Ruhe, gegen diese Hoffnung erhob sich fortwährend die Religion und heute wurden Hoffnung und Ruhe durch die Worte:
»Wer meinen Leib unwürdig ißt und mein Blut unwürdig trinkt, der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!« abermals heftig erschüttert.
Wenn diese Worte keine leere Drohung enthielten, wäre ich nicht schon hienieden ein gerecht Gerichteter? Wenn der Tod das, was in mir lebt, nicht zerstörte, wie würde es mit mir im Jenseits aussehen? Hienieden vieljähriges Kerkerleiden bis zum Tode, dort endlose, ewige Qual, schauderhafter Gedanke!
Diese Fragen beschäftigen den Spaziergänger, in die Zelle zurückgekehrt, schneidet er ellenlange Hobelspäne, arbeitet darauf los, daß große Tropfen von seiner Stirne rinnen, wird wirklich seiner wunderlichen Grillen Herr und ist im Stande, beinahe zu lächeln, wie er die Gangschelle zur Schule rufen hört. Eilig schlüpft er in den grauen Kittel, greift nach Mütze und Nummer, Schiefertafel und Schreibzeug und kaum öffnet der Aufseher die Thüre, so ist er bereits dem Mittelbau nahe und klimmt die Wendeltreppen hinan.
Er darf eilen, denn der Gang ist ziemlich leer, die meisten seiner Nachbarn mögen einer andern der 6 Klassen angehören, mit welchen sich zwei Lehrer beschäftigen oder auch das 36ste Lebensjahr zurückgelegt haben, in welchem Falle sie zur Altersklasse gezählt werden, die einigemal wöchentlich in der Kirche versammelt und durch Vorlesen aus einem gewählten Buche für den Schulunterricht einigermaßen entschädiget wird.
Das »Grabhemd« auf dem Kopfe tritt Numero 110 in die Schulstube und in seinen besondern Verschlag, hängt die Nummer auf, läßt sich einschließen, setzt sich und harrt mit stiller Sehnsucht, bis der Aufseher commandirt:
»Kappen herunter!«
In demselben Augenblicke wird der Oberlehrer den hohen Catheder besteigen, die Schüler seiner obersten Klasse werden ihn freundlich begrüßen, er wird den Gruß freundlich erwiedern, die Nummern herablesen und den Unterricht beginnen.
Wie in der Kirche sieht auch in der Schule kein Gefangener den Andern, dagegen Jeder den Lehrer, die Aufseher, Rechentafel, Landkarten u.s.w. Freilich hört hier Jeder die Stimme der aufgerufenen Nummern und mag aus der Mundart den Seehasen vom Pfälzer, den Schwarzwälder vom Odenwälder, das Stadtkind vom Dorflümmel leicht unterscheiden, ja der Benedict hat sogar in der vorigen Stunde die Stimme des Exfouriers und des Spaniolen vernommen, erkannt und im Gedächtnisse behalten, jener sei Nro. 349 und dieser Nro. 27, aber was kann solche Entdeckung nützen oder schaden? Nro. 110 weiß nicht genau, wo Nro. 349 in der Schulstube oder in welcher Zelle er sitzt, was er treibt und wenn er es auch wüßte, ja wenn beide Nachbarn wären und es ihnen gelänge sich Zeichen gegenseitigen Erkennens zu geben – Gefühle und Gedanken tauschen sie innerhalb dieser Anstalt nicht aus, der erste Versuch dazu würde auch zum letzten und müßte von großem Glücke begleitet sein, um erst nach dem Gelingen entdeckt zu werden, in jenem Austausche aber liegt die Hauptgefahr der Sträflingsgesellschaft.
Mag Einer sich dem Nachbarn auch durch Trommeln an die dicke Wand bemerkbar machen, lange dauert solches Trommeln gewiß nicht, auch ist noch niemals gehört worden, daß dadurch die Abschreckung oder Besserung eines Gefangenen beeinträchtiget wurde und die Versuche, mit einander zu reden, haben völlig ein Ende, seitdem die Oeffnungen der Luftkanäle vergittert wurden.
Der Wachtstubenwitze reißende und halbgelehrte Spöttereien über alles Hohe und Heilige zu Markt tragende Exfourier, der sozialdemocratische, selbstsüchtige Spaniol vermöchten dem Benedict nur noch zu schaden, weil er mit Beiden einst zusammenlebte und ein treues Gedächtniß besitzt – jedenfalls ist die Schule des Zellengefängisses der letzte Ort, wo die Hausordnung oder gar Religion und Sittlichkeit irgendwie Gefahr zu laufen vermöchten.
Der achteckige, thurmartige Mittelbau, von welchem die vier Flügel ausstrahlen, erscheint uns überhaupt als ein Sinnbild der Ordnung, welche nicht nur im Zellengefängnisse zu Bruchsal, sondern im großen Zuchthause der Welt herrschend sein sollte.
Im untersten Raume findet sich die Küche, ob derselben Stuben der Werkmeister, Oberaufseher, noch höher die Zimmer der Beamten, welche allgemach zu den Schullokalen emporsteigen, zu oberst aber steht die Kirche, während die bewaffnete Macht draußen an den Ringmauern, den äußersten Gränzen des Reiches verweilt und die Gehüteten nicht beständig an das Mißtrauen der Regierenden mahnt. –
Bereits steht der Oberlehrer auf dem Catheder, kritisirt die eingelieferten Aufsätze und läßt zwei derselben laut vorlesen.
Beide sind ziemlich lang gerathen, man erkennt bald, daß die Verfasser ihren Kopf beisammen hatten und beide zeigen einen Reichthum der Gedanken, einen dichterischen Schwung der Sprache, die wir bei Zellengefangenen ebenso häufig als auffallend finden.
Der erste Aufsatz ist von Nro. 62 und behandelt die Frage, weßhalb der Reichthum nicht nothwendig zum Glücke gehöre, den zweiten hat Nro. 205 geliefert, dieser sucht den Begriff vom Glück und Unglück festzustellen und findet, daß es für einen Menschen, der Religion nicht nur besitze, sondern religiös sei, kein eigentliches Unglück gebe, somit in der religiösen Durchdrungenheit das Geheimniß des wahren Glückes zu suchen sei. Nro. 62 ist ein blutarmer und, wie sich dies bei seinem Gewerbe fast von selbst verstehen soll, fast immer betrunkener Postillon gewesen, der so wenig daran dachte, durch seinen Jähzorn jemals in ein Zuchthaus zu gerathen, als daran, in diesem bitterbösen Hause ein meisterhafter Schuster und ein Mensch zu werden, der Geschriebenes und Gedrucktes geläufig lesen und noch viel Schönes und Nützliches dazu lerne. Nro. 205 ist ein ehemaliger Soldat, der mit seinen Schulmeistern ein besonderes Schicksal hatte. Der erste derselben war ein alter, braver Mann, der die weitschichtige Gelehrsamkeit der neuen Schulmeister nicht mehr faßte und alle Neuerungen, gute und schlimme, haßte. Dafür wurde auch er gehaßt, verfolgt und verspottet. Wie die Alten sangen, so zwitscherten die Jungen und als der Mann starb, kam ein junger Lehrer, der sich ganz nach dem Willen der Mehrheit seiner Schüler richtete und deßhalb die halbe Zeit keinen Unterricht gab oder die Stunden mit Geschichtlein tödtete. Nro. 205 war als einer der stärksten und größten Buben im Anfeinden des alten mit im Verherrlichen des neuen Lehrers ein Anführer gewesen und wurde aus der Schule entlassen, ohne daß ihn ein schwerer Schulsack drückte. Erst im Zuchthause hat er den Schaden erkannt und verbessert.
Nro. 62 wie 205 saß früher in gemeinsamer Haft, beide preisen sich glücklich, von ihrer alten Kameradschaft erlöst zu sein und wenn ihnen irgend ein Gelehrter vom Glücke der Sträflingsgesellschaft vorpredigte, würden sie es in ihrer Einfalt für Scherz oder Spott halten; beide gehören zu den fleißigsten und besten Schülern, während sie gleichzeitig zu den fleißigsten und besten Arbeitern gehören, von den Werkmeistern noch niemals wegen Saumseligkeit oder gar wegen Nichtfertigung des ganzen Tagwerkes verklagt wurden. Nachdem das Vorlesen der Aufsätze beendiget, kommen die Rechnungsaufgaben an die Reihe.
Der Duckmäuser hat den Cubikinhalt eines cylindrischen Gefäßes berechnet, welches doppelt so hoch als weit ist und ganz gefüllt 2 Pfund Wasser aufnimmt.
Nro. 70 löste die Frage richtig, wie groß eine Seite eines Würfels von Gold sei, welcher 24 Loth wiege.
Dagegen brachte 401 die folgende Rechnung nicht ganz ins Reine, nämlich: »Ein Brunnentrog aus Sandstein hat die Form einer Halbkugel, deren ganzer Durchmesser 4'3« beträgt, wahrend die Steinmasse selbst 4« dick ist. Wieviel (badische) Maaß Wasser faßt dieser Trog und welchen Cubikinhalt hat die Steinmasse?«
Nro. 401 beging bei der Lösung der zweiten Frage einen Fehler, die meisten Mitschüler stimmen in ihrer Lösung überein und diese ist auch die richtige. Jener entdeckt und entschuldigt seinen Irrthum, seine Stimme und Rede zeigt, er sei dem Weinen nahe, um diesen alten Weiner zu trösten, darf er die Lösung der letzten der heutigen Aufgaben nennen und liest mit ruhigere Stimme:
»Nach der Angabe v. Humboldt's soll eine der ägyptischen Pyramiden 800' Höhe und an der Grundfläche, welche ein Quadrat ist, ebensoviel Breite haben. Wieviel Cubikfuß beträgt der Inhalt und wieviel Zentner etwa das Gewicht dieser Pyramide, wenn man obiges Maaß als badisches betrachtet und das spezifische Gewicht des Marmors, aus welchem sie bestehen soll, zu 2,736 annimmt?«
Die Lösung, welche Nro. 401 gibt, ist richtig, fünf Hauptrechner bezeugen es, der Oberlehrer thut dasselbe und beginnt dann eine kleine Prüfung über die Lehre der drei Arten von Hebeln, gewöhnlichen und festen Rollen und Flaschenzügen.
Nro. 349 hat diesen Mittag für sich in der Zelle berechnet, ein Rammklotz von 60 Zentnern, der etwa bei Wasserbauten angewendet würde, und 15' hoch herabfalle, wirke mit der Kraft von 18,000 Zentnern, welche nur Einen Schuh fallen. Der etwas hartköpfige Nro. 334 erbittet und erhält eine Erklärung des »Rades an der Welle« und der Benedict erläutert schließlich den Potenzflaschenzug.
Dann geht der vortreffliche Oberlehrer, welcher mit Pestalozzi Bibel und Kalender für die wichtigsten Urkunden des Menschengeschlechtes hält, daran, den Sonntagsbuchstaben zu erklären, durch den sich der Wochentag eines geschichtlichen Ereignisses sicher bestimmen läßt und ist noch nicht fertig, wie die Glocke ertönt und anzeigt die Lieblingsstunde vieler Zellenbewohner sei wiederum vorüber. Der Lehrer verschwindet, die Schüler setzen das »Grabhemd« wiederum auf, die Aufseher öffnen einen Verschlag nach dem Andern in der Ordnung, daß kein Gefangener dem Andern auf dem Fuße folgt oder gar entgegenläuft, Einer nach dem Andern steuert der Thüre zu, welche in seinen Flügel führt und nach wenigen Minuten steht Nro. 110 wiederum vor der Hobelbank.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Schule.
Die Sträflingsschule des Zellengefängnisses zu Bruchsal erregt besonders die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Besucher, weil die Sträflinge einen Grad von intellectueller Bildung und Bildungsfähigkeit entwickeln, den man in den besteingerichteten Gefängnissen anderer Art vergeblich suchen würde.
Die Regierung verdient sich den Dank der Menschheit, indem dieselbe Vieles für die Anstalt überhaupt und deren Schule insbesondere thut, tüchtige Lehrer, indem dieselben unermüdlich und im engen Vereine mit den Geistlichen beider Confessionen dahin arbeiten, aus unwissenden und rohen oder halbgebildeten und eingebildeten Gefangenen Menschen und Christen zu machen und vor geistiger Verdumpfung zu bewahren.
Die Schüler dagegen empfinden auch das ganze Gewicht der Wohlthaten, welche ihnen durch Unterricht gespendet werden und beweisen es durch ihre Anhänglichkeit für die Geistlichen und Lehrer, durch ihren Eifer für die Schule und vor Allem durch die Fortschritte.
Wer nur immer anerkennt, daß in der Bildung an und für sich eine Macht liege, welche die schwer zerstörbare Selbstsucht des Menschen mindestens verfeinern, ihm soviel Klugheit, Ehrgefühl und Selbstbeherrschung gewähre, um nicht leicht ein Verbrechen zu begehen, der wird sich entschieden für eine Sträflingsschule der Art aussprechen, wie dieselbe hier besteht und blüht.
Wir kennen auch keinen Fall, daß ein Gefangener, welcher diese Schule längere Zeit besuchte, wiederum rückfällig geworden wäre und wenn in dieser Anstalt vorherrschend jugendliche Verbrecher untergebracht und ihres Unterrichtes theilhaftig gemacht würden, so würde die Erfahrung lehren, daß die Zahl der Rückfälle sich ansehnlich verminderte.
Aber leidet der Gewerbsbetrieb nicht durch die Schule Noth?
Die beste Antwort liegt in der Thatsache, daß der Gewerbsbetrieb des Zellengefängnisses trotz mißlicher Zeitverhältnisse und eigenthümlicher Hindernisse mehr blüht, als der jeder andern Strafanstalt des Landes und daß die Blüthe des Gewerbsbetriebes zunächst vom Fleiße und der Geschicklichkeit der Sträflinge abhänge, wird wohl kein Gegner der einsamen Haft läugnen.
Der Zellenbewohner besucht nicht mehr Unterrichtsstunden als andere Sträflinge, dagegen ist es richtig, daß er Besuche vom Lehrer in der Zelle und bei dieser Gelegenheit besondern Unterricht erhält. Doch Besuche muß er überhaupt eine bestimmte Anzahl empfangen, wenn er nicht zu Grunde gehen soll und daß kein Besuchender, folglich auch kein Lehrer zu lange bei Einem verweile, dafür ist schon durch die Vorschrift gesorgt, daß jeder Beamte täglich eine verhältnißmäßig große Anzahl von Besuchen abzustatten hat.
Das Geheimniß der überraschenden Fortschritte, welche viele Zellenbewohner in Schulkenntnissen machen, liegt hauptsächlich in ihrer eigenthümlichen Lage. Die Einsamkeit verinnerlicht den Menschen, der Mangel an Gesellschaft treibt ihn, sich in arbeitsfreien Stunden selbst zu unterhalten und weil ihm Gelegenheit für schlechte Unterhaltung abgeschnitten, dagegen Gelegenheit zur guten reichlich geboten ist, so greift er eben nach letzterer.
Die Ruhestunden, die arbeitsfreien Tage, manche schlaflose Stunde der Nacht, in welcher das Denken eine Zerstreuung und Wohlthat zugleich wird, werden zumeist der Schule gewidmet und gerade der verhältnißmäßige Mangel an Eindrücken, welche er von der Außenwelt empfängt, stärkt sein Gedächtniß wunderbar für Alles, was in der Schule vorkommt, welche er besucht oder in den Büchern, welche er gelesen.
Sind wir überzeugt, der Gewerbsbetrieb würde wenig oder nichts gewinnen, wenn man die Schulen gesellschaftlich lebender Gefangenen wiederum aufhöbe, so sind wir noch weit mehr davon überzeugt, daß er in Zellengefängnissen bedeutend Noth litte. Gar viele Handwerker bedürfen einiger Kenntnisse im Zeichnen, in Mathematik und Geometrie, Chemie und andern Wissenschaften und je mehr sie davon erringen, desto besser ist es für ihr Gewerbe. Ferner ließe sich möglicherweise das vollständige Fertigen eines Tagwerkes durch Hungerkuren erzwingen, lange jedoch ginge dies nicht an und zum Fertigen guter und vortrefflicher Arbeit gehört eben auch im Zuchthause ein Arbeiter, der gut oder vortrefflich arbeiten kann und – will. Die Schule wird von Sträflingen als eine Wohlthat und Belohnung allgemein anerkannt, ihre Beeinträchtigung oder gar ihre Beseitigung würde gerade bei den Talentvollen den guten Willen zur Arbeit beeinträchtigen oder beseitigen oder derselbe müßte auf eine Weise angeregt werden, welche mehr kostete als die Schule.
Aber werden die Spitzbuben durch die Bildung, welche sie empfangen, nicht gerade raffinirter und führt die Schule nicht zur Halbwisserei?
Den ersten Theil dieses Einwurfes würden wir gar nicht beantworten, wenn er nicht schon von mehr als einer Seite gemacht worden wäre.
Wir haben einen Tag in einem gemeinsamen Zuchthause zugebracht und vermieden, pikante Spitzbubenhistörchen aufzuzeichnen, wenn man nicht etwa die maaßlose und keineswegs seltene Unverschämtheit des Patrik vom Hotzenwalde pikant finden will.
In gemeinsamer Haft geben die Meister der Greiferkunde Privatcollegien aus ungewaschenen Mäulern, die Blüthe des Gaunerthums erfreut sich dort einigen Ansehens und fruchtbarer Wirksamkeit, allein keine Sträflingsschule irgend einer Art befaßt sich mittelbar oder gar unmittelbar mit Ausbildung der Spitzbüberei. Freilich lehrt die Physik und noch mehr die Chemie Manches, was sich ein Langfingeriger für die Zukunft hinter die Ohren schreiben könnte, aber jedem Lehrer wird man soviel Verstand und Besonnenheit zutrauen, daß er seinen Stoff zu wählen versteht.
Erheblicher ist die Halbwisserei.
Unter Halbwisserei verstehen wir das religionslose Wissen, somit ziemlich dasselbe, was schon Plato darunter verstanden und worüber er als einer unheilbringenden Erbärmlichkeit geklagt hat. Vom Vorwurfe der Halbwisserei sind bei uns jedenfalls die Sträflingsschulen freizusprechen, denn Geistliche und Lehrer gehen einträchtig zusammen, Einer arbeitet dem Andern in die Hände, die Schule ist nicht nur ein Mittel allgemeiner Bildung, sondern auch allgemeiner religiöser Erhebung.
Eine bereits auf einige tausend Bände angewachsene Bibliothek, deren Bücher vor Allem mit Rücksicht auf löbliche Tendenzen gewählt und mit Rücksicht auf die verschiedenen Confessionen unter die Gefangenen vertheilt werden, unterstützt mächtig die Bemühungen der geistlichen und weltlichen Beamten.
Die sichtbaren Wunder der Natur, die weltbeherrschenden Gesetze der Physik, die einfachen, erhabenen und allbeherrschenden Gesetze der Bewegung der Weltkörper, lauter Dinge, welche jedem Schulknaben, geschweige einem Erwachsenen klar und deutlich gemacht werden können, wie sehr sind diese geeignet, den Menschen zum Herrn und Vater dieser Gesetze zu erheben? Und Abrisse aus der Geschichte, in welcher Gott den lohnenden Vater oder rächenden Amtmann spielt, eine Unthat unter dem Gewichte ihrer Folgen den Schuldigen und die Mitschuldigen begräbt, ohne vorher nach Stammbaum oder Taufschein zu fragen, wie sehr sind diese geeignet, den Verbrecher zum Nachdenken über das eigene Schicksal zu bringen? Jedenfalls mehr als die eigens für Gefangene und Verbrecher geschriebenen Bücher, unter denen wir und viele Andere außer dem von Suringar wenig Erträgliches und Ersprießliches entdeckten. Sträflinge sind schwer vom Glauben abzubringen, daß man die kleinen Spitzbuben fange, die großen dagegen laufen lasse, wissen recht gut, wie es mit dem Werthe Vieler steht, welche frank und frei herumlaufen und ebenso, daß sie keine unartigen Kindlein sind, denen man Religion und Jesusliebe als Brei einreichen könnte, deßhalb geben sie auch nichts auf Bücher, die aus gutmeinenden, aber unklugen oder unerfahrenen Federn zur angeblichen Erbauung von Gefangenen geflossen sind. Im Gegentheil werden Schriften dieser Art Religionslosigkeit und Verstockung eher vermehren als vermindern und besonders in gemeinsamer Haft nicht lange ungerupft bleiben.
Die Schule vor Allem erweitert den geistigen Gesichtshorizont und je mehr sich dieser erweitert, desto kleiner fühlt sich der Mensch überhaupt, der Verbrecher insbesondere und wiederum desto größer, weil der Herr und Meister der Welt sich mit ihm abgibt.
Weßhalb eine ungewöhnliche Ausdehnung des Unterrichtes bei Zellenbewohnern?
Vom Buchstabenmalen und Zahlen zusammenzählen steigert sich Alles bis zum Auflösen von Gleichungen, Berechnungen des Kreises und Lösungen von Aufgaben, welche einige physikalische, chemische und sogar astronomische Einsichten voraussetzen. Weil Zellenbewohner aus innerm Antriebe gerne lernen und im Lernen so ziemlich ihre einzige Erholung finden, deshalb schreiten Viele auch rasch und sicher fort und sollen sie dafür mit Stillstand bestraft werden, für den sich nirgends ein Grund auftreiben ließe?
Weßhalb sollen Schwerverurtheilte, deren jugendliches Alter vielmaligen Schulbesuch gesetzlich sanctionirt, ohne ihre Schuld und noch mehr wider ihren Willen in den Mitteln des Fortschreitens zur Bildung und Besserung verkürzt werden? Die in der That ganz vortreffliche Hausordnung von Bruchsal ermuntert und belohnt sogar den Schulfleiß, erkennt in der Schule überhaupt ein mächtiges Mittel gegen geistige Verknüpfung und Versumpfung und daß es in ihr nicht gar zu hochgelehrt hergehe, dafür ist schon gesorgt, weil die meisten Sträflinge einen ziemlich armseligen und manche gar keinen Schulsack in die Zelle bringen.
Die Lehrer haben mit dem ABCschützen und Dummen überflüssig genug zu thun und sollen sie nun auch mit den weiter Fortgeschrittenen und Talentvollen dazu verurtheilt werden, Papageienrollen zu spielen und in diesem Jahre durchaus dasselbe zu schreien, was sie im vorigen Jahre geschrieen?
Wenn ein entlassener Zellenbewohner ungefähr weiß, was jeder ordentliche Realschüler zu wissen vermag, so weiß er noch lange nicht zuviel und wird durch das Gewicht seines Wissens schwerlich in den Pfuhl des Lasters und der Verbrechen hinabgedrückt! –
Während wir diesen etwas langgerathenen Gedankenspaziergang machten, arbeitete Nro. 110 in seiner Zelle rüstig fort und zuweilen tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein, nicht sowohl um die Arbeit zu besichtigen, denn der Benedict arbeitet zu vortrefflich, als daß viele Besichtigung nöthig wäre, sondern um Etwas zu fragen oder die Leimpfanne zu bringen.
Der Fleiß der Gefangenen wird in der Zelle leichter und besser controllirt, als in jedem Sträflingssaale und zwar auf eine Weise, daß der Zellenbewohner nichts davon weiß. Der Controllirende tritt zur Thüre, hebt einen kleinen Schieber in die Höhe und überschaut mit Einem Blicke die ganze Zelle, wahrend Nro. 110 vergeblich sich abmühen würde, durch dasselbe Fensterchen auf den Gang hinauszusehen. Nicht Eine Minute des Tages oder der Nacht ist er sicher, unbeobachtet zu sein und das Peinliche dieser Lage wird gerade dadurch gemildert für den Bessern und geschärft für den Schlechtern, weil er niemals Gewißheit davon hat.
Ein gefangener Taglöhner hat sein Zellenleben in ergötzlichen Reimen beschrieben, von denen einige charactristische hier ein Plätzlein finden mögen:
– Einmal ist der Obermeister kommen:
»Du willst nicht sputen hab' ich vernommen?
Hättest große machen sollen
Dich soll gleich der Kukuk holen!« –
»Ich will lieber machen kleine
Das ist die Rede, die ich meine!« –
»Du hast hier kein Recht,
Seist du Meister oder Knecht,
Mußt jetzt thun, was ich Dir sag'
Oder hast gehabt zu Mittag,
Und zu Nacht wirst auch nichts kriegen,
Kannst noch in den Turm hinabfliegen!
Dort kannst Du sitzen oder stehen
Und wie es Dir noch sonst wird gehen.
Dann thut man Dich in den Zwangstuhl schnallen
Das wird Dir auch nicht gut gefallen!«
Ich sah auf mein Spulrad hin
Und dachte: »wenn nur dieser Mann wieder ging!«
Aber er ließ sich nicht vertreiben
Und ließ auch das Dräuen nicht bleiben.
»Wenn ich noch eine einzige Klage hör',
Dann komme ich wieder zu Dir hieher!«
Das ist sein letztes Wort,
Dann ist er fort.
Ich dacht: Nun ist er doch einmal gangen,
Das war ja mein einzig Verlangen!
Hab mich wieder zum Rad gesetzt
Und gespult, daß ich hab' geschwitzt.
Hörte ich nur laufen im Gang,
So glaubte ich: jetzt kommt der saure Mann! –
Einmal hab' ich gesungen,
Da kam er gleich gesprungen:
»Hör' ich dies noch einmal hier,
Dann gibt man nicht zu essen Dir!«
Darauf sah ich ihn im Hof in seinem grauen Rock
Und eilte was ich konnte in den zweiten Stock,
Mache die Thüre eilends zu,
Daß ich hab' vor diesem Manne Ruh.
Er hat mir schon zu schwer gedräut,
Ihn zu sehen, ist mir keine Freud'!
Allein ich hab' vor ihm recht Respekt,
Doch bin ich gern von ihm weit weg;
Doch hat er mir noch nichts zu leid gethan
Er kann doch sein ein guter Mann!
In diesem Augenblicke öffnet sich die Thüre von Nro. 110 und einer der beiden Obermeister steht vor Benedict. Er ist nicht mehr der alte Dräuer, über welchen der Taglöhner klagte, sondern ein ganz freundlicher ordentlicher Mann, der mit Blicken mehr ausrichtet als Andere mit vielem Lärm. Die Arme über die Brust gekreuzt, den rechten Fuß vorgestellt steht er ganz ruhig da und redet mit unserm Schreiner vom Wetter und den Rheinschnaken, diesen Moskitos der Rheinebene, deren Stich eben keine angenehme Empfindungen, wohl aber kleine Beulen erzeugt und die den Weg durch alle Kleider und die dicksten Teppiche hindurch zu finden wissen, während ihr Gesumme in Schlaf lullt.
Tabaksqualm verscheucht diese kleinen, blutgierigen Ungeheuer, aber der Gefangene darf nicht rauchen und muß sich begnügen, die Schnaken todzuschlagen, wenn sie angefüllt von Blut träge an den Wänden sitzen und nicht weit zu fliegen vermögen. Wahrend der Obermeister den Ankläger der Schnaken anhört, überschaut er mit einigen Seitenblicken Alles und wenn Etwas am unrechten Nagel hängt, nicht vorschriftsmäßig aufgestellt oder hingelegt ist, darf der Zellenbewohner einer Ermahnung gewiß sein, wenn aber gar irgend ein Verstoß gegen die Reinlichkeit aufzutreiben ist, dann bleibt eine Zurechtweisung nicht aus.
Wieviel Schweiß und Aerger haben die kleinen Ziegelplatten des Zellenbodens den Benedict schon gekostet, den feinen, ungesunden Staub abgerechnet, der sich von denselben ablößt!
Jetzt versteht er sein Geschäft besser, der Obermeister vermag nichts zu entdecken, was der Reinlichkeit widerspräche, denn es fehlt zwar nicht an Sägspänen, Hobelspänen, Gerüchen des Holzes und der Politur, zumal das obere Fenster geschlossen ist, aber in welcher Schreinerwerkstätte der Welt fehlt es an diesen Dingen? Oder wo gibt es irgend eine Schusterboutique, aus welcher der Geruch von Leder und Pech verbannt ist oder einen Webstuhl, in dessen Nähe es nicht von Zeit zu Zeit nach Schlichte riecht?
Arme und reiche Handwerker sind an solche Dinge gewöhnt, die sich nicht vermeiden lassen, Gewohnheit stumpft gegen den schlimmen Einfluß derselben ab, weßhalb soll und wie soll der Zellenbewohner dagegen geschützt werden?
Tadeln ist in allen Dingen leicht, Verbessern häufig schwer.
Frische Luft und Reinlichkeit sind für die Gesundheit des Gefangenen wichtige Artikel, in Bruchsal ist in dieser Hinsicht das Möglichste geleistet, die Ziegelplatten der Zellenböden möchten freilich nicht viel taugen, aber sie sind nun einmal da, lassen sich nicht über Nacht wegbringen und leicht ohne große Kosten durch etwas Besseres ersetzen, dagegen läßt sich die Reinlichkeit jedes Einzelnen leicht controlliren.
Der Oberaufseher wünscht freundlich guten Abend und eilt zu Nro. 109 hinüber. Ein Herbsttag geht rasch vorüber, ehe man sichs versieht, ist die Dämmerung da. Die verschiedenen Zeiten des Jahres und Tages, die Wechsel der Witterung üben auf den Menschen Einfluß aus und wenn dieser Einfluß bei vielen Zellenbewohnern noch bemerkbarer wird als bei andern Gefangenen, so rührt dies wohl daher, weil ihr äußeres Leben ein ziemlich armes und einförmiges ist. Ein kurzer, trüber Herbsttag stimmte den Benedikt trübe und melancholisch, der Abend brachte ihm gar schwermüthige Gedanken. Er dachte an das Abendläuten, Lichteranzünden und an die Heimgärten im fernen Dörflein und war froh, als der Aufseher den Schalter öffnete, um den Wasserkrug zum letztenmal für heute in Empfang zu nehmen und das Licht anzuzünden.
Er griff wiederum zum Hobel, um die Grillen durch Arbeit zu verscheuchen, doch wollte es ihm nicht recht gelingen und zuweilen tief aufseufzend blickte er durch die Gitter zum dunkeln, sternenleeren Nachthimmel empor.
Abermals öffnet sich die Thüre und der Arzt tritt herein.
Dieser muß nicht nur seine Kranken, sondern auch alle Gesunden fleißig besuchen und fast noch mehr Seelenarzt als Leibesarzt sein.
Weil die Einzelhaft eine neue und aus fernen Landen zu uns gekommene Einrichtung ist, welche je nach Clima, Lebensweise und Charakter eines Volkes Verschiedenheiten der Durchführung erheischt, über deren Art und Zweckmäßigkeit lediglich die Erfahrung allmählige Belehrung zu geben vermag, muß besonders auch der Gefängnißvorstand ein denkender und mit vielseitiger Bildung ausgerüsteter Mann und nicht etwa ein alter ausgedienter Soldat sein, wie dies manchmal in England stattfindet. Gediente Soldaten geben gute Oberaufseher und Aufseher; wo die Ordre anfängt, hört gemeiniglich ihr Denken auf, je nach der Ordre hauen sie den Gefangenen ebenso bereitwillig in Krautstücke als sie denselben noch als menschenähnliches Wesen passiren lassen und so vortrefflich solche Eigenschaft untergeordneten Werkzeugen ansteht, so mißliche Folgen würde sie nach sich ziehen, wenn der Vorstand einer Besserungsanstalt ein abdecretirter Schnurrbart wäre, der Menschen jeder Art als Maschinen betrachtete und bald im Vollgefühle seiner Unwissenheit und Ohnmacht Fünfe gerad sein ließe oder blind und brutal in Alles hineinblitzte und hineindonnerte, was nicht ganz nach seinem Kopfe ginge.
Weil Menschen und die allseitigen Wirkungen von Einrichtungen bis ins Kleinste studirt, Alles auf bestimmte Zwecke gerichtet und alle Zwecke Einem großen Zwecke untergeordnet werden müssen, deßhalb muß der Vorstand ein organisirender Kopf und weil ein Arzt jedenfalls am meisten Gelegenheit besitzt, sich theoretische und praktische Kenntnisse über den Menschen und das Volk, Krankheiten des Leibes und der Seele und unserer gesellschaftlichen Zustände zu erwerben, endlich weil Zellenbewohner in mancher Beziehung Ausnahmsmenschen werden und Einem Arzte sehr viel zu schaffen machen, wenn auch der Krankenstand ganz unbedeutend bleibt, deßhalb möchte es gut und zweckmäßig sein, wenn auch der Gefängnißvorstand ein Arzt ist.
Die Verhältnisse eines Zellengefängnisses drängen von selbst darauf hin, daß entweder der Doctor vielfach zum thatsächlichen Vorstande und der Vorstand zu seinem Figuranten würde oder daß Beide sich in die Haare gerieten, wobei der Staat und die Gefangenen am Schlechtesten bestünden, wenn der Vorstand ein alter Soldat oder ein einseitiger Fachmensch überhaupt wäre.
Ein ehemaliger Offizier, der ein bischen vom Rechnungsfache verstünde, möchte sich zum Vorstande einer Anstalt mit gemeinsamer Haft vortrefflich eignen, schwerlich dagegen zum Leiter eines Zellengefängnisses.
Nro. 110 gehört zu jenen vielen Zellenbewohnern, welche ihren leiblichen Zuständen große, oft arg übertriebene Aufmerksamkeit zuwenden und denen ein bischen Mattigkeit in den Gliedern oder Reißen im Kopfe leicht Gedanken an schwere Krankheiten und das gefürchtete Brett der Anatomie erregte. Sie plagen und quälen den armen Doctor mit ihren Einfällen und Fragen und wenn er nicht darauf einzugehen Grund findet oder gar darob lächelt, dann halten sie ihn für einen halben Unmenschen, geht er darauf ein, für einen ganzen Dummkopf und macht er die Sache mit einem Thee oder einer Arznei statt mit Krankenkost ab, für einen vollendeten Tyrannen.
Heute weiß der gute Benedict sehr viel von Magenknurren zu erzählen und weil der Doctor ihn mit den violetten Knödeln tröstet, welche morgen aufgetischt werden, wird er melancholisch und redet von Todesahnungen, welche ihm jener wiederum auszureden sucht.
Kaum ist der Arzt fort, so tritt der Aufseher herein und lößt das Bett von der Wand ab. Unser Gefangener arbeitet noch einige Zeit und bringt es über das Tagwerk hinaus, dann läutet es wiederum in allen Flügeln auf einmal, wiederum klirren die Eßkessel, wiederum eilen die Aufseher der Küche zu, Benedict hört, wie sein Aufseher von Zelle zu Zelle geht, die Schalter zuschlägt und gute Nacht wünscht, bald fliegt auch sein Schalter auf, sein Schüsselchen wird gefüllt, der Schalter fährt zu und Benedict betrachtet wehmüthigen Blickes die Königin der Zuchthaussuppen, eine braune, ihm gar fad vorkommende »Wasserschnalle.«
Doch – in der Kaserne bekam er Abends gewöhnlich Nichts, jetzt ist er hungrig, dort drinnen im braunen Schränklein findet er Salz, er salzt und ißt die Suppe. Nicht lange darnach tritt der Werkmeister zum letztenmal für heute herein, er nimmt die schneidenden Instrumente aus der Zelle weg, der Korb mit Hobelspänen wird in den Gang hinausgestellt, man sagt sich gute Nacht. Bald verhallen die Schritte der forteilenden Werkmeister und Aufseher draußen im Gange, alsdann herrscht Todtenstille, höchstens die fallenden Tropfen einer Brunnenröhre, die Schritte eines Nachbars, das starke Husten oder Aufseufzen desselben unterbricht diese Stille.
Leise und unhörbar schleichen die Aufseher in Filzschuhen oder in Socken durch die Gänge, kein Mensch sondern die Einsamkeit will mit dem Benedict eine ernste, schwermüthige Unterhaltung beginnen, eilig greift er nach dem reichhaltigen Lesebuch von Döll, dann nach der belehrenden »Menagerie« von Drugulin und ließt, dort über die Gasarten, was übermorgen in der Schule verhandelt werden soll, hier über die Wildschweinjagd mit Wurfspießen im fernen Indien.
Plötzlich lärmt die Hausschelle durch die Todtenstille und befiehlt, daß alle Lichter gelöscht werden, alle Gefangenen sich zu Bette legen müssen. Eilig legt Benedict sein Buch weg, klappt Tisch und Bank wiederum an die Wand und löscht die Lampe aus.
Sinnend steht er noch einige Augenblicke in der Zelle und blickt zum vergitterten Fensterlein empor, die sechs dicken Eisenstäbe gränzen sich scharf gegen den Nachthimmel mit seinen dunkeln, fliegenden Wolken ab, durch welche zuweilen das weiße oder röthliche Licht eines Sternes scheint oder flimmert und dieses traurige Haus wie die dunkeln Höhen des Schwarzwaldes, das Heimathdörflein, die Städte und Kasernen des Rheinthales überschaut und vielleicht in die Scheiben einer Hinterstube leuchtet, in welcher Meister März mit seinen Gottseligen conventikelt. Benedikt soll halblaut beten, die Hausordnung will es, doch er will nicht und murmelt sehnsüchtige Wünsche vor sich hin.
Dann legt er den Strohteppich zum Schutze gegen den kalten Boden vor das Bett und legt sich nieder, um zu schlafen.
Er hat den Tag über streng gearbeitet und befindet sich bald auf der Brücke zwischen Wachen und Schlafen, doch das langgedehnte Gebrülle einer gedankenlosen oder auch boshaften Schildwache laßt ihn einstweilen die Gedanken ans Einschlafen vergessen.
Man mag ein Zurufen der nicht weit von einander stehenden Schildwachen für zweckmäßig erklären, doch welchen Zweck soll ein mehr als viehisches Brüllen und absichtliches Wiehern haben, welches manche Soldaten allnächtlich auf den Ringmauern zum Besten geben?
Weit entfernt vom Militär kleiner Länder den Geist und die Haltung der Soldaten einer großen Armee und damit viel zu viel zu verlangen, möchte doch nicht zuviel verlangt sein mit der Forderung, daß die Wachkommandanten des Zellengefängnisses häufiger zur Einsicht kämen, gewaltsame Störung des Schlafes vieler Kranken und Gefangenen sei nicht nur etwas Unnöthiges, sondern auch etwas Unzweckmäßiges und Unwürdiges. –
Seufzend wickelt sich der Duckmäuser fester in seinen Teppich, kehrt sich gegen die Wand und der Bibelvers, welcher ihn heute so sehr beschäftigte, kommt abermals und immer wieder ihm in den Sinn. Er schließt die Augen gewaltsam und zählt so lange von Eins bis Hundert rückwärts, bis endlich der Schlaf dem Zählen ein Ende macht, ein Schlaf ohne Erquickung und Ruhe, denn was sich in seinem Gemüthe regt, lebt auch im Schlafe fort und die Gedanken, welche er heute gehabt, spinnen sich in die Traumwelt weiter. Wovon soll ein Zellenbewohner träumen? Von den kleinen Ereignissen der Gegenwart? Sie biethen ihm zu wenig Interesse dar, als daß sie sich häufig in seine Träume verweben sollten. Höchstens die Schule beschäftigt den Träumenden, er setzt manchmal Rechnungen fort oder sieht in lebendigen wunderlichen Gestalten vor seinen Augen vorgehen, was er dort gehört. Meistens träumt er von der Vergangenheit, von den Hauptereignissen seines Lebens, vom Prozesse, der ihn vernichtet oder auch von der Zukunft, einer bessern, freudevollern Zukunft, von einer Welt voll süßer Täuschungen, welche der Klang der Hausschelle am frühen Morgen wegzaubert.
Selten im Sträflingssaale, häufig bereits in der Zelle hat der Benedict geträumt vom Heimathdörflein, von den beiden Schwitten, von den Herzkäfern, dem Saumathis und Straßenbasche und vom Kasernenleben und manchmal ist er entsetzt aufgefahren, wenn die todte Mutter oder der Vater mit dem zerschmetterten Haupte oder dem ledernen Beutel, aus welchem er 50 Gulden herauszählte, vor ihm stand.
Sechs Jahre muß ein Zellenbewohner in der Zelle bleiben, wenn die Strafzeit 9 oder mehr Jahre beträgt. Sechs Jahre sind über 2190 Tage und ebensoviel Nächte eines eintönigen Lebens und eine solche Zahl sollte nicht ausreichen, um den alten Adam abzulegen? –
Mehrere Jahre sind verflossen, seitdem der Benedict das Inwendige eines Sträflingssaales zum letztenmale gesehen. Er sitzt noch immer in der Zelle, ist noch immer hineingebannt in den unerbittlichen Gang des Lebens, welches Jahr für Jahr und Tag für Tag so ziemlich in derselben Weise eintönig vorüberschleicht, wie wir es beschrieben. Aber der leichtsinnige Hobist ist indessen ein stiller, nachdenklicher, ein besserer und im Ganzen glücklicher Mensch geworden, der nicht mehr seine Freilassung für das Höchste hält, weil er aufhörte, die Erde als das Höchste zu betrachten.
Rasch und leicht ging solche Umwandlung keineswegs von Statten. Sie kostete bittere Thränen, schwere Kämpfe, verzweiflungsvolle Nächte, schonungslose Selbstanklagen, tausend vergebliche Vorsätze und mußte Schritt für Schritt mit dem stärksten, unermüdlichsten und grimmigsten Feinde, welchen der Mensch hat, nämlich mit der Selbstsucht im Kampfe liegen.
Als nakte Selbstsucht besiegt, kleidete sie sich in das Gewand der Tugend und Religion, mit Hülfe des Geistlichen entlarvt, mußte der Kampf von Neuem aufgenommen werden. Jetzt ist sie gebunden, gedemüthiget, aber noch nicht getödtet, erst der Tod wird sie vollkommen tödten.
Geht nicht eine alte Sage unter dem Volke, die zertretene Schlange vermöge nicht zu sterben, bevor die Sonne untergegangen? –
Der Duckmäuser ist noch jung und stark, er gehört zu den Gebesserten, insofern man Mienen, Gebärden, Reden, Benehmen, Eifer in Schule und Kirche, das gleichmüthige und heitere Ertragen aller Entbehrungen und Leiden eines einsamen Zellenbewohners, das unbedingte Anheimstellen des eigenen Schicksals in den Willen Gottes, die lebendigen Aeußerungen eines tiefen Bewußtseins der ehemaligen Unwürdigkeit, der gegenwärtigen Schwäche und einer dankbaren Anerkennung der erbarmenden Liebe des Erlösers gegen ihn als Zeichen von Besserung ansehen darf.
Er lebt so, als ob er nicht mehr allein in der Zelle sei, sondern als ob die friedlichen, beseligenden Gestalten des Himmels bei ihm ein und answandelten und als ob der Allmächtige den Fluch der bösen Thaten, die der Benedict verübt, von dessen Haupte hinweggenommen habe.
Aber so wenig wir auf eine Besserung halten, welche erst auf dem Todbette erfolgt oder deren Verdienst dem zunehmenden Alter, der wachsenden Einsicht in das Eitle und Nichtige alles Irdischen, der erkaltenden Begierde, günstiger gewordenen Lebensverhältnissen und andern Umständen hauptsächlich zugeschrieben werden können, so zweifelhaft und jedenfalls für die menschliche Gesellschaft fast unfruchtbar bleibt auch die geistige Wiedergeburt eines Zellenbewohners, so lange derselbe in der Zelle lebt.
Weßhalb?
Er kann in der That gebessert sein, mag in der sittlichen Erstarkung auch große Fortschritte gemacht haben und aufrichtig beschwören, ja auch den Schwur nach der Entlassung treulich erfüllen, daß er niemals wieder in eine Strafanstalt zurückkehre – aber seine Besserung kann immerhin vorherrschend als eine Besserung für das Zuchthaus und nicht als eine für die Welt betrachtet werden.
Zeit und Gewohnheit sind für jeden Leidenden ein Balsam, der Zellenbewohner entbehrt desselben nicht, aber er entbehrt vieler Gelegenheiten und Versuchungen zu Sünden, Lastern und Verbrechen, welche die Welt darbietet.
Man hat die Zellenbewohner schon mit Klosterbewohnern verglichen und dadurch einen hinkenden Vergleich mehr zu Papier gebracht.
Ein Zellenbewohner kann zwar so weit gelangen, daß er seine Strafe gleichsam aus freiem Entschlusse auf sich nimmt, doch kein freier Entschluß, den Versuchungen der Welt zu entfliehen, sondern ein Verbrechen hat ihn in die Einsamkeit getrieben, der Spielraum seiner Freiheit ist geringer, als der jedes Bruders eines jeglichen Ordens, seine Lage ist vielfach schwieriger als die des Trappisten und der Austritt aus der Zelle steht in keiner Weise in seiner Macht.
So wenig wir denen beistimmen, welche wähnen, ein Zellengefangener besitze keine Gelegenheit Beweise seiner Besserung abzulegen, so geben wir doch zu, daß die vollständige Besserung eines Zellenbewohners sich erst nach der Entlassung zu bewähren vermöge.
Ein gebesserter Sträfling soll aber nicht blos kein neues, von wandelbaren Gesetzen verpöntes Vergehen sich mehr zu Schulden kommen lassen, sondern überhaupt ein guter Mensch, treuer Familienvater und rechtschaffener Bürger sein.
Saufen, Spielen, Verschwenden, Betrügen, Ehebrechen, Faulenzen, Weib und Kinder und Mitmenschen mißhandeln soll er als trauriges Privilegium jenen Vielen überlassen, welche mit und ohne Glacéhandschuhe erhobenen Hauptes an Strafanstalten vorüberwandeln und gleich jenem Pharisäer jubeln: »Herrgott, was bin ich für ein prächtiger, vortrefflicher Kerl! – Noch niemals habe ich ein gemeines Verbrechen begangen, welches mich in eine Strafanstalt führte!«
Will eine Regierung sich vollkommen überzeugen, ob Zellenbewohner auf eine Weise gebessert werden, daß die menschliche Gesellschaft wirklichen Nutzen davon hat, so muß sie nach unseren Ansichten genaue Nachrichten über das Leben und Treiben aller Entlassenen von Zeit zu Zeit einziehen. Freilich, wo Leute erst dann in die Zelle gelangen, wenn sie im Laster bereits alt wurden, auch in diesem Falle oft nur kurze Zeit zu bleiben haben oder durch Hungerkost und Dunkelarrest für die nächste Zeit von Verbrechen abgeschreckt, dagegen der Besserung weit schwerer zugänglich gemacht werden, da läßt sich nicht allzuviel hoffen, doch jedenfalls würde sich herausstellen, daß jugendliche Verbrecher, welche 2 bis 3 Jahre in einer Zelle zubrachten, nicht wieder in eine Strafanstalt zurückkehrten und durch ihr Leben keinen Grund zur Befürchtung baldiger Rückkehr darbieten.
Damit wäre aber die Einzelhaft als eine für den Staat und die Gefangenen gleich wohlthätige Einrichtung gerettet, insofern von Besserung im strengsten Sinne des Wortes die Rede ist.
Ruhig und friedlich lebt der Benedict nunmehr in seiner Zelle und schaut wohlgemuth auf Alles zurück, was er in ihr durchgemacht hat.
In der ersten Zeit überraschte ihn die Neuheit seiner Lage, er hatte sich Alles viel fürchterlicher vorgestellt, als er es fand und dem leiblichen Tode würde er gleichmüthig ins Auge geschaut haben.
Es ist ein gewaltiger Irrthum, zu glauben, der Tod komme Verbrecher schwer an. Viele sterben ganz ruhig, weil auch der nahende Tod ihnen die tiefe Ueberzeugung nicht nimmt, daß sie weit eher Märtyrer als Verbrecher seien und zehnmal eher den Himmel als die Hölle oder auch Keines von Beiden zu erwarten hatten. Eine Hauptkrankheit aller Gefangenen ist die Schwindsucht, Schwindsüchtige sind bekanntlich die Letzten, welche an die Nähe ihres Todes glauben und haben auch keinen schmerzhaften Tod.
Ganz schön und leicht und ohne alle Gewissensscrupeln war der Zuckerhannes gestorben, einen ähnlichen Tod wünschte sich auch der Benedict.
Doch nicht der Tod, sondern ein neues Leben sollte ihm in der Zelle werden. In den ersten Monden der Zellenhaft gerieth er, gleich einem frisch eingefangenen, erwachsenen Thiere, das in einen engen Käfig gesperrt wird, in einen Zustand großer Empfindlichkeit und Reizbarkeit, den er mit unsäglicher Mühe beherrschte, um sich nicht bei den Vorgesetzten von vornherein das Spiel zu verderben. Er suchte sich beliebt zu machen und es gelang ihm, wie es ihm noch überall gelungen. Sein chronisches Seelenübel, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, fand jedoch nicht Pflege und Nahrung genug, dem Spiele einer lebhaften Phantasie überlassen, gerieth der vielbelesene Kopf zuweilen mit der rauhen Wirklichkeit in Fehde und weil er stets den Kürzern zog, machte sich die wachsende Reizbarkeit zuweilen Luft.
Das kurze Wort, der scharfe Blick eines Aufsehers konnte ihn in solcher Gemüthsstimmung beben machen und was Beamte und Geistliche der Anstalt, in der er früher gewesen, niemals gehört hatten, hörten die des Zellengefängnisses: schwere Anklagen gegen Gott und Welt, Gesetze, Richter, Zeugen, alle Menschen, welche ihm jemals etwas Böses zugefügt haben sollten.
Ein so entschuldbarer und schon so lange mißhandelter Mensch seiner Art gehörte freigelassen, das verstand sich von selbst – er machte Bittschriften und die Beamten mußten dieselben wohl entgegennehmen, wenn sie Schlimmes nicht schlimmer machen wollten. Natürlich lautete die Antwort kurz und gut, man fühle sich in keiner Weise veranlaßt, seine Begnadigung derzeit zu befürworten.
»In keiner Weise!« – also haben die Beamten und der Geistliche nicht für mich geredet! ... Verderben ihnen!« dachte der enttäuschte Benedict und schwor ingrimmig, keines Menschen Wort und Mienen mehr zu vertrauen. Er suchte sich in die ehemalige Gleichgültigkeit hineinzulügen, den Besuchern mit kalter Höflichkeit und schlauer Berechnung entgegen zu kommen, doch seine Jugend- und Lebenserinnerungen leisteten ihm beständig Gesellschaft, alle Gestalten derselben lebten und wandelten draußen herum, diesen gegenüber mochte er nicht gleichgültig bleiben und wenn er die Eisenbahn pfeifen hörte, welche glückliche Menschen seiner Heimath zutrug oder an stillen Sonntagen die Parademusik hörte, weinte er oft Thränen stiller Verzweiflung.
Ein unbedachtsamer Hitzkopf war er sonst nie besonders gewesen, aber jetzt wurde er es, weil er das Feuer, das in ihm zehrte, nicht zu bemeistern vermochte. Er redete, was er fühlte, ohne sich lange zu besinnen und gar Manches, was er in ruhigeren Stunden verdammte.
Endlich versank er in einen Zustand stiller Trauer und hoffnungsloser Schwermuth. Er würde sich vielleicht aufgehängt haben, wenn das Hängen nicht ein gar zu gemeiner Tod und der Selbstmord überhaupt kein Akt tapferer Feigheit wäre. Er hatte angefangen, ernster und gründlicher als je in sich selbst hineinzuschauen und der Ich, welcher aus ihm heraus ihm selbst entgegengrinste, zeigte eine so schreckliche Gestalt, daß der Benedict nahe daran war, an Gott und an sich selbst zu verzweifeln.
Aus dem Trübsinn riß ihn der würdige Geistliche.
Er ließ sich das ganze Leben des Gefangenen erzählen, zeigte ihm, was er gewollt und gethan, anderseits was Gott gewollt und gethan habe und verwies auf die Tröstungen der Religion.
Ein erklärter Feind der Religion, Geistlichen und rechtschaffener Menschen war Nro. 110 niemals gewesen, kannte die Lehren der katholischen Kirche und wußte, wie tief die Wurzeln liegen, welche dieselbe mindestens noch beim Volke getrieben. Die äußern Gebräuche hatte er als Gefangener niemals vernachläßiget, aber religiös gesinnt konnte er nicht werden unter Menschen, die Mangel an Religion für die höchste Tugend erklärten. Ohne daß er es merkte und wollte, übten die Religionsspötter doch Einfluß auf ihn, als Betbruder zu gelten, däuchte ihm eine Unklugheit und halbe Schande.
Nachdem er in der Zelle genug geflucht, gewüthet und sich den Tod gewünscht, begann er zu beten.
Schule, Kirche, gute religiöse und andere Schriften machten einen wohlthätigen Eindruck auf ihn, eine herzhafte Generalbeichte wurde der Anfang zur Besserung.
Langsam und allmählig, wie der Benedict hochmüthig, leichtsinnig, diebisch und liederlich geworden, lernte er Demuth kennen und üben, die Sünden zuerst als eine unpraktische Dummheit und dann erst recht als eine Beleidigung der Majestät Gottes kennen, die Sehnsucht nach irdischen Gütern, Genüssen und Ehren minderte sich, je mehr sich ihm die Gestalten des Himmels offenbarten und auf dem Pfade zur Versöhnung mit sich selbst, der Welt und Gott ward ihm mannigfache Hülfe.
Hat er nicht einen Briefwechsel mit seinen Geschwistern angefangen, an welche er lange Jahre nicht geschrieben? Wurden die Antworten nicht eine reiche Quelle des Trostes und der Ermunterung für ihn? Erfuhr er nicht unter andern, der Vater habe noch einige Stunden gelebt und Zeichen der Verzeihung gegen das Bild an der Wand gemacht, welches den Benedict als Hobisten darstellte? Schöpfte der Unglückliche nicht daraus den Trost, der Vater habe ihn noch bei Lebzeiten nicht für seinen absichtlichen Mörder gehalten?
Am ersten Montage des Septembers 185... wurde Nro. 110 unvermuthet ins Besuchzimmer abgeholt. Er schrak ganz zusammen und die Kniee zitterten ihm, als er durch die kühlen Gange geführt wurde und erinnerte sich, auf diesem Wege sei er in die Anstalt hereingekommen.
Richtig liegt auch das Besuchzimmer im Vorderbau beim Eingange und der Gefangene, welcher Besuch empfängt, sieht die Thüre, die ins große Zuchthaus hinausführt.
Das Besuchzimmer des Zellengefängnisses ist so eingerichtet, daß der Gefangene nicht das Mindeste von den Besuchern in Empfang zu nehmen vermöchte, wenn auch gar keine Aussicht vorhanden wäre. Die Leute sehen einander mit Mühe, geschweige daß sie sich die Hand zu geben vermöchten und die Stimme ist wohl das Hauptsächlichste, woran sie sich gegenseitig erkennen. Hausordnungswidrig darf sich auch keine Stimme vernehmen lassen, denn zwischen den bis zur Decke eng verpallisadirten Käfigen der Besuchenden und des Besuchten steht ein Aufseher, so lange sie zusammen reden und diese Aufseher sind ausgewählte, pflichttreue Diener, wie man sie wohl selten in einer Strafanstalt beisammen trifft.
Für die übertrieben scheinende und in der That harte Einrichtung des Besuchzimmers finden wir nur Einen haltbaren Grund: man will die Angehörigen, Freunde und Bekannten der Zellenbewohner von Besuchen abschrecken.
Dieser Grund ist allerdings haltbar, weil ein Zellenbewohner wahrend seiner ganzen Haft mehr oder minder in einem empfindsamen, leicht erregbaren Zustande sich befindet und durch nichts leichter als durch Besuche in eine gewaltige und manchmal unheilbringende Aufregung versetzt wird.
Wer weiß, welchen Eindruck der jetzige Besuch auf den Benedict gemacht hätte, wenn er nicht bereits zum religiösen Halt in sich gelangt gewesen wäre! – –
Er hat am Besuchzimmer später nichts ausgesetzt, denn er fühlte sich unwürdig, den beiden Lieben, welche ihn besuchten, näher zu treten und die Hand zu reichen und mußte sich im ersten Augenblicke an einer Pallisade halten, um nicht zusammenzubrechen. Standen doch ihm gegenüber der älteste Bruder, der Johannesle, welcher Zeuge der allerersten Arretirung in der Apotheke gewesen und neben ihm – – das Rosele!
Stumm, von seltsamen Gefühlen bewegt, schauten sich diese drei Menschen an, so gut es möglich war, dann brachen sie in ein lautes Weinen und Schluchzen aus und endlich begannen sie zu reden, anfangs ohne recht zu wissen was und wovon. Der Benedict faßte noch zuerst Muth und Besinnung und erzählte ihnen sehr Tröstliches von seinem Zellenleben, was die Beiden ruhig machte.
Wie groß und mannhaft ist der Johannesle geworden und jetzt verheirathet, wie sehr hat das Rosele gealtert und wie manche Thräne mag über diese braunen, gefurchten Wangen geflossen sein! Das Weib des Straßenbasche ist todt, doch der alte Mann lebt noch, sie pflegt ihn und ist ledig geblieben bis zur Stunde. Der Mensch liebt nur einmal recht in seinem Leben, alles Späterkommende ist mit Lumperei vermischt! –
Daheim im Dörflein hat das Jahr 1848 die rothe Schwitt vollständig ans Ruder gebracht und der Willibald ist Obmann des Sicherheitsausschusses gewesen. Es gab nur Demokraten, welche soffen und schrieen und Einige, welche in Winkeln herumkrochen, das Maul hielten und erst nach der Ankunft der Preußen auf die frühern »Maulhelden,« um deretwillen doch eine Armee ins Land rückte und das Pulver nicht sparte, tapfer schimpften. Dafür wurden diese Bürgermeister und Gemeinderäthe; nur Einer ging leer aus und meinte, er hätte es eher als Alle verdient. Dieser Eine war der Sohn des alten, längst vermoderten Fidele, der Max vom Rindhofe, der Taufpathe der rothen Schwitt.
Dieser Taugenichts, an welchem übrigens ein Heli von Vater, eine dem positiven Christenthum bereits entfremdete Schule und vor Allem schlechtes Beispiel Vieles versündiget, hatte die Zukunft der rothen Schwitt als Anführer derselben anticipirt, bevor die Februarrevolution ausbrach und alle Rothschwittler und Rothschwittlerinnen des Landes zu Ehren brachte.
Den gewöhnlichen Weg vom leichtsinnigen Müßigänger zum genußwüthigen Lumpen, von diesem zum kleinen und allgemach zum großen Verbrecher und entschiedenen Feinde Gottes und der Menschen durchmachend, lernte Max das Innere vieler Wirthshäuser, Spitäler und Gefängnisse kennen und benahm sich im Heimathdörflein so, daß selbst die ärgsten Rothschwittler nicht gerne mehr mit ihm sich abgaben.
Seit den Märztagen führte der Willibald das große Wort im Dörflein, das sich wie an den meisten Orten in drei Parteien theilte, nämlich in eine lärmende und herrschende, in eine feigherzig schweigende und unentschlossen abwartende und endlich in die Windfahnenpartei, welche sich heute zu dieser morgen zu jener neigte, heute das einige Deutschland und den Großherzog, morgen die Republik hochleben ließ.
Mit Max hielten es nur einige Schnapslumpen und Solche, welche auch bereits aus Erfahrung wußten, wie Gefängnißsuppen und Zuchthausbrod schmecken. Das Dörflein hat während der langen Abwesenheit des Benedict traurige Fortschritte in Liederlichkeit und Verarmung gemacht, trotz den Anstrengungen derer vom alten Schrot und Korn und der Jungen der schwarzen Schwitt seinen guten Ruf jährlich mehr eingebüßt und ist das Haus des Brandpeterle nebst einigen andern aus einer Schule der Laster zur Verbrecherschule geworden.
Was man wenig überlegt und selten gelten lassen will, nämlich die Mitschuld der Gesellschaft an den Verbrechen der Einzelnen ließe sich gelegentlich dieses Dörfleins bis ins Einzelnste nachweisen, mit Namen, Thatsachen und sogar mit Zahlen belegen und spielte der Name eines Pfarrverwesers der Nachbarschaft dabei leider eine ebenso erhebliche als unläugbare Rolle. Wir können uns hier nicht näher darauf einlassen und melden zunächst nur, daß die Lumpen und Schlechten begreiflicherweise der Gesellschaft und dem Staate nicht einige Mitschuld, sondern übertreibend die Hauptschuld an ihren Lumpereien, schlechten Streichen und Verbrechen aufbürdeten und beim Ausbruche des Lärmes freudenroth und blutigroth schillerten und redeten, weil sie vermeinten, nunmehr sei das goldene Zeitalter der »Bürger« Schurk und Compagnie vor der Thüre und bereit waren, Alles zu thun, was ihren alten Gegnern zuwider und arg und ihren Wünschen entsprechend war.
Doch der Willibald trat sogleich an die Spitze der Liberalen, die in einer Woche zu vollblütigen »Demokratern« wurden und statt mit dem Max und dessen engern Freundeskreis zu fraternisiren, warf man ihm die bittere Wahrheit haufenweise ins Gesicht und durfte in Gegenwart der alten Freunde kaum ein Gläslein im Hirzen trinken, ohne in Gefahr und wegen seines bösen Maules manchmal in den Fall zu gerathen, eine unfreiwillige Reise durch die Luft zu machen. Der Max, darob erbost, liebäugelte einige Zeit mit den alten Freunden seines Vaters, welche aus ruhigen Bürgern zu heillosen »Aristokraten« geworden. Diese machten es ihm gerade wie die Windfahnen; sie scheuten sich, ihm und seiner Sippschaft offen entgegenzutreten und ließen sich nur durch die Unverschämtheit, mit welcher er Jeden mit »Du« und »Bürger« anredete, in die Häuser eindrang und schmarotzte, zuweilen bewegen, ihm nicht mit schweigender Verachtung zu begegnen, sondern gleich den Demokratern mit Dreschflegeln zu winken.
Kurz und gut, der redegewandte Max mit den Seinigen gelangte zu keinem Einfluß, fand Alle gegen sich und schimpfte heidenmäßig auf Alle. Als im Spätjahr 1848 die Nachricht kam, wie Struve im Interesse der Freiheit, Bildung und des Wohlstandes Aller im Oberland die Einzelnen traktire, Beamte in Ketten schlage, ganzen Dörfern mit Brand und Mord drohe, Einzelne fange, Gelder des Staates einsäkle und zahmgewordenen Kammerlöwen mit dem Sarras winke, um sie zu patriotischen Liebesgaben an die soziale Republik aufzumuntern, da schwoll dem Max das Herz in freudigbanger Erwartung, seine Sippe steckte die Köpfe zusammen, die Demokrater kratzten hinter den Ohren, die Aristokrater ließen schwere Seufzer fahren und gruben Nachts Löcher im Keller, die Windfahnen vertilgten mehr Wein, Bier und Schnaps als je, um beim etwaigen Einzuge des »Statthalters und der Statthalterin« dauerhafte Gurgeln zum Vivathochschreien zu haben.
Leider machte ein regnischer Sonntag im September den frühlingshaften Ahnungen der Rothen, Röthern und Röthesten des Ländleins durch die »Schlacht« bei Staufen ein Ende und als der Max gar erfuhr, daß Struve in der Nacht mit der Eisenbahn als Gefangener durch die erste Provinz seines Reiches gesaust, da rief er in tiefem Schmerz:
»Mit Deutschlands Einheit ist's Mathäi am Letzten. Das Parlament läßt nicht hängen und köpfen, der deutsche Michel läßt seine besten Männer besiegen, die Elsässer halten uns mit ihren Pralereien zum Narren, rächen wir uns an der schwarzen Schwitt, denn diese trägt an allem Schuld!« – –
Gesagt, gethan. Er stand mit einigen Kameraden dem Willibald als einem Abtrünnigen und »Aristokrater« auf den Weg, sie schlugen denselben halbtodt und nahmen sich das Trinkgeld dafür aus seiner Tasche. Schon einige Stunden später saßen Alle im Amtsthurme, doch der Rädelsführer fröhlich und guter Dinge, denn erstens war die Kerkerkost besser als in friedlichen Zeiten, zweitens hegte er keinen Zweifel als politischer Verbrecher behandelt, beurtheilt und, amnestirt zu werden und drittens dann als politischer Märtyrer etwas einträglichere Geschäfte als bisher machen zu können.
Die Untersuchung währte sehr lange; die Richter empfanden damals große Scheu, irgend einem Sohne des souveränen Volkes Unrecht anzuthun und beliebäugelten das Individuum im Spiegel der Allgemeinheit. Doch nach der Mairevolution erwachte der alte Heldenmuth und eine niegesehene Rührigkeit im Verurtheilen und der Max spazirte als Räuber dahin, wohin er gehörte.
»Er hat's noch nicht abgesessen und lebt unter Einem Dache mit Dir!« schloß der Johannesle; siedendheiß fuhr es dem Benedict durch die Glieder, denn der alte Schwarzschwittler regte sich in ihm und konnte es nicht lassen, mit dem Haupte der rothen Schwitt am gleichen Ziel angekommen zu sein und unter Einem Dache zu leben. –
Nach vielen Herzkäfern und Schulkameraden, deren Stolz und Freude er dereinst gewesen, wagte er gar nicht zu fragen, denn der Johannesle besaß keinen Funken jenes Taktes, mit welchem Besucher mit Zellengefangenen reden müssen, wenn sie denselben keine schweren Stunden und schlaflose Nächte bereiten wollen und das Rosele war etwas schweigsam und kurz.
»Hab' oft für Dich gebetet, Benedict und will für Dich jetzt täglich in die Frühmesse gehen. Was ich nicht über Dich vermochte, vermag am Ende dieses wunderliche Haus noch am besten! – Sei getrost, der alte Herrgott lebt noch und weiß, was für Dich gut ist und die großen Herren sind besser als die kleinen. Betrübe Dich nicht zu sehr, weil Du da sitzest, denn daheim und im Lande sieht es so aus und geht es so zu, daß auch ordentliche Leute manchmal fast froh wären, hier oder doch tausend Stunden vom Rhein weg zu sein und Maxes alte Kameraden erzählen genug, wie man im Zuchthaus ungeschorener und besser lebe als in der Freiheit!« –
»Viele, die selbst mitmachten, sind jetzt die ärgsten Anzeiger und Leuteschinder; wenn man's sieht, wie das Land ausgefressen und ausgesogen, dem Armen das letzte Leintuch unter dem Leibe weggerissen wird, weil der »Vollstrecker« oder der Staat Geld braucht und wie nirgends Zutrauen und Verdienst zurückkehren wollen, da wunderts Einen nicht, weßhalb Tausende jetzt auswandern nach Amerika. Am Ende kommst Du auch noch hinein, Benedict, denn seitdem die Gemeinden und der Staat Solche, die im Zuchthaus gewesen wegen Stehlen und Rauben, mit den Politischen nach Amerika spediren, geht das Gerede, alle Zuchthäuser würden allgemach geleert und der Befehlshaber von Amerika habe herausgeschrieben, man solle ihm doch alle Arrestanten schicken, weil es an Händen fehle zum – Arbeiten!«
Benedict schüttelte etwas ungläubig den Kopf und meinte:
»Für mich gibts keine irdische Hoffnung mehr! – Ich habe schon an Dir, Rosele, mein Loos verdient, weil ich Deine einst so treue Liebe so mißachtete und mißhandelte! – Ich möchte nicht einmal wieder unter die Menschen, denn was habe ich zu erwarten? Gutes wenig, sei es im Badischen oder in Amerika. Lebewohl, Liebe, bete für mich und denke, daß ich endlich doch hier ein anderer Mensch werde!«
Rosele fuhr mit der Schürze über die Augen, winkte dem Unglücklichen noch einmal mit der Hand und wandte sich nach der Thüre, während Johannes einen Besuch im nächsten Jahr nach der Erndte versprach, falls diese gut ausfalle und ziemlich kühl Behütegott sagte.
Der Benedict hat sich eine Minute an den Pallisaden gehalten, als die Beiden gingen, hat gezittert und sich schier die Lippen wund gebissen, um nicht laut aufzuschreien. Doch ist er seiner selbst Meister geworden und still in seine Zelle zurückgekehrt, wo er auf die Kniee fiel und Gott ein heiliges Gelübde machte.
Seitdem ist er allgemach zu einem rechten Christenmenschen geworden, hat tief in sich hineingeschaut wie selten Einer und ernsthaft an seiner innern Läuterung gearbeitet, so daß er nunmehr alle Leiden um Christi willen freudig trägt.
Und wenn heute der herzensgute Fidele vom Grabe auferstünde und seinen Einzigen im grauen Kittel in der Zelle sähe, so würde sein Schmerz durch die Freude überwogen, in diesem zwar einen Verbrecher, aber einen gebesserten Verbrecher zu finden.
Der Max vom Rindhofe hat in der Zelle auch Gelegenheit erhalten, über sich selbst lange und ernstlich nachzudenken und sich selbst gründlich kennen zu lernen. Selbsterkenntniß aber ist und bleibt der Anfang aller Weisheit. Könnte man alle Menschen gleich den Zellenbewohnern zum Nachdenken zwingen – die Erde hörte auf, ein großes Zuchthaus zu sein und der Streit, ob man Mitmenschen pennsylvanisch, auburnisch oder nach der alten Methode drangsaliren müsse, damit die Gesellschaft sicher sei, würde als Kennzeichen einer rohen und barbarischen Zeit betrauert werden.