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6. Die Familie Wundel

Als Clara nach höflichem Anklopfen in das Zimmer trat, das, obgleich ebenfalls im vierten Stock, doch recht wohnlich und angenehm eingerichtet war, drang ihr der angenehme Duft eines guten Nachtessens entgegen, der von gerösteten Kartoffeln und Bratwürsten herzurühren schien, ein kräftiger Geruch, welcher der müden Tänzerin einen einzigen und stillen Seufzer abpreßte. Die Wittwe hatte sich eben zu Tische begeben und saß in einem guten Stuhle; die eine ihrer Töchter hatte ebenfalls Platz genommen, die andere befand sich noch vor dem Spiegel, um ihre Frisur wieder in Ordnung zu bringen, die durch Abnahme des Hutes einigermaßen Schaden gelitten. Das Zimmer war von einer lieblichen Wärme erfüllt, denn in dem Ofen krachte und prasselte ein gutes Holz.

»Ei, Fräulein Clara,« sagte die Wittwe, indem sie die ergriffene Gabel wieder niederlegte, »was verschafft uns noch so spät das Vergnügen?«

»Ich wollte Sie nur freundlichst bitten, Madame Wundel,« entgegnete das Mädchen, »mir mit ein wenig Milch auszuhelfen, die unsere ist alle geworden und ich bin so spät aus dem Theater gekommen, daß der Laden im Nachbarhaus bereits geschlossen war.«

»So, so, Milch wollen Sie haben? – Du lieber Gott! wenn wir nur selbst noch etwas haben. Ich fürchte fast, wir haben heute wieder den ganzen Vorrath zum Kaffee gebraucht. – Weißt du nicht, Emilie,« wandte sie sich an ihre Tochter, die am Tische saß, »ist noch etwas da?«

Hiebei hätte aber ein mehr argwöhnischer Beobachter als die junge Tänzerin deutlich bemerken können, wie Madame Wundel leicht mit ihren Augen zwinkerte.

Emilie, als gelehrige Tochter verstand übrigens dies Zeichen vollkommen, denn während sie die Schüssel mit den Bratwürsten an sich zog, sprach sie mit dem ruhigsten Tone von der Welt: »Es thut uns wahrhaftig leid, Fräulein Clara, aber wir haben nicht einen Tropfen Milch mehr im Hause.«

»Richtig, ich besinne mich,« bekräftigte die Wittwe und ergriff ihre Gabel wieder, »es ist kein Tropfen mehr da.«

»Und ihr irrt euch alle Beide,« versetzte ruhig die andere Tochter, die vor dem Spiegel stand und sich nun herumdrehte, »man hat heute Abend zwei Töpfe gebracht, und wir können der Clara schon bis Morgen einen davon geben.«

Madame Wundel preßte krampfhaft ihre Hand, in der sie die Gabel hielt, zusammen und sandte ihrer jüngern Tochter einen nichts weniger als liebevollen Blick zu. »Wie die es so genau weiß!« sagte sie alsdann. »So sieh' du nach, Emilie. Wenn Milch da ist, so steht sie mit Vergnügen zu Diensten.«

Emilie stieß die Schüssel etwas ärgerlich zurück und sprang auf, um in die Nebenkammer zu gehen. Die arme Tänzerin stand wie auf Kohlen, denn trotz ihres arglosen Gemüthes fing sie doch an, die fatalen Hin- und Herreden, sowie die finstere Miene der Madame Wundel zu begreifen.

Die jüngere Tochter hatte sich unterdessen an den Tisch gesetzt und schien durchaus nicht von dem Blick der Mutter eingeschüchtert zu sein. – »Ich habe Ihnen auch noch meine Komplimente zu machen,« sagte sie ruhig zu Clara. »Sie haben heute Abend vortrefflich getanzt und sehr schön ausgesehen.«

Auf diese unvorsichtigen Worten stieß die würdige aber vorsichtige Mutter ihre aufrichtige Tochter unter dem Tische so derb mit dem Fuße, daß sie zusammenzuckte.

»Sie waren also im Theater?« fragte die Tänzerin, welche diesen Ausbruch mütterlichen Gefühls nicht bemerkt hatte. »Ja, ich glaube, es ist ein schönes Ballet; wir können das freilich nie genau sagen, weil wir mitwirken, aber es wurde viel applaudirt. – Gehen Sie öfters in's Theater?«

»Sie geht zuweilen hin, natürlich höchst selten,« erwiderte Madame Wundel mit einem Ausdruck sittlicher Entrüstung auf dem Gesichte. »Was wollen Sie? Jugend hat nicht Tugend. Ich und meine ältere Tochter betreten nie das Theatergebäude – niemals; der Herr soll mich bewahren!«

»Es ist aber doch ein angenehmes Vergnügen,« sagte Clara, um etwas zu erwidern, mit einem unruhigen Blick auf das Nebenzimmer, denn sie hörte ein starkes und verdächtiges Plätschern.

Madame Wundel lehnte sich in ihren Stuhl zurück und zuckte die Achseln, während sie gen Himmel blickte. »Es wohnt in der Nachbarschaft eine christliche Familie,« versetzte sie, »die zuweilen Billete geschenkt erhält, und da bietet man hie und da meiner Tochter eines an. Sie können denken, daß es mir Kummer verursacht; aber was will ich machen? Es ist traurig, aber wahr, daß trotz der größten Ermahnungen bei manchen Menschen die Gnade nicht zum Durchbruch kommen will.«

In diesem Augenblicke trat Emilie Wundel mit dem ersehnten Topfe aus dem Nebenzimmer, Clara empfing ihn dankend, versprach auf morgen Früh die Wiedererstattung und verließ das Zimmer.

Wir können dem geneigten Leser nicht verschweigen, daß das Abendbrod dieser verschämten Hausarmen, bestehend aus gerösteten Kartoffeln und Bratwurst, wozu noch etwas Bier getrunken wurde, nicht ohne einige Streitigkeiten vorüberging. Von der älteren wurde die jüngere Tochter mit einer wahren Verachtung behandelt und Madame Wundel meinte, ihre Letztgeborene sei und bleibe nun einmal eine kolossale Gans, und es hätte sie wahrhaftig gar nicht gewundert, wenn sie vorhin noch hinzugesetzt hätte, das Theaterbillet sei nicht geschenkt, sondern gekauft worden – was denn auch leider der Wahrheit sehr nahe gekommen wäre.

Unterdessen hatte im gegenüberliegenden Zimmer der alte Mann fleißig darauf los geschrieben und der kleine Knabe stand hartnäckig in seinem Bettchen aufrecht, obgleich ihn sein entblößtes Hintertheil in dem kühlen Zimmer einigermaßen fror. Es war aber auch kein Wunder, daß der kleine Mann seine Nase beharrlich nach der Gegend hindrehte, wo die Schwester verschwunden war. Es kam nämlich aus dem Zimmer der Wittwe Wundel jener angenehme Geruch, von dem wir vorhin gesprochen, und der, so schwach er herüberdrang, doch von dem Bübchen gleich entdeckt wurde. Kleine, arme und hungrige Kinder haben eine gar feine Nase.

»Du,« sagte der Knabe zu seiner Schwester, »Clara bringt uns etwas Gutes zum Essen.«

»Sie wird nichts mitbringen,« entgegnete das verständigere Mädchen.

»Aber ich rieche was, und was Gebratenes. Bekomm' ich nichts davon?«.

»Nein, davon kriegst du nichts; das ist für andere Leute, die es gekauft und gekocht haben.«

»Ihr seid recht dumm,« antwortete das Bübchen; »warum kauft ihr nicht auch Etwas und kocht es uns? Dann könnten wir es essen; denn wenn ihr Etwas kauft und uns bratet, so gehört es uns und nicht andern Leuten.«

Der alte Mann, der ebenfalls durch den Geruch aufmerksam geworden war, erhob seinen Kopf und sagte lächelnd: »Das Kind spricht sehr logisch; seine Folgerungen sind ganz richtig; nur ruht seine Thesis auf schwachen Füßen.«

»Komm herab in's Bett,« sprach das Mädchen, als drüben abermals die Thüre aufging; »du wirst dich erkälten, und wenn dich Clara so bloß dastehen sieht, so zankt sie mit mir.«

Jetzt kam die Tänzerin mit ihrem Milchtopf zurück. Die beiden Kinder schauten vergnügt empor, das Bübchen klatschte in seine kleinen Hände und rief: »Siehst du, jetzt kommt das Gebratene.«

»Nein, nein, es ist nichts Gebratenes,« entgegnete lachend die ältere Schwester, »aber was viel Besseres. Jetzt mache ich eine Milchsuppe mit Brocken darin, und ihr sollt sehen, wie das schmeckt!«

»O laß mich zusehen, wie du es machst!« sagte das Bübchen. »Bitte, Clara, laß mich zusehen!«

»Aber es wird dich frieren im Zimmer.«

»O, es thut nichts, wenn es mich friert; ich friere gern, wenn ich nur zusehen darf.«

»Aber dann bekommst du einen Husten,« erwiderte Clara, während sie den Topf mit Milch in die verglimmenden Kohlen steckte, »und wirst krank werden.«

»Das thut nichts,« entgegnete entschlossen der Knabe, »wenn ich zusehen darf, bekomme ich gern einen Husten und werde auch gerne krank.«

»Nun meinetwegen,« versetzte die gutmüthige Schwester, »dann könnt ihr helfen, das Brod einschneiden. Aber vorher muß ich dir ein Röckchen anziehen und Strümpfe.« Und darauf nahm sie den kleinen Bruder aus dem Bette, legte ein Kissen auf die Kommode und setzte ihn darauf. Das größere Mädchen zog sich allein an.

Wie war das Bübchen so froh, als es die Hoffnung hatte, zusehen zu dürfen, wie die Milchsuppe eingebrockt wurde! Er schlang seine beiden Aermchen um den Hals der Schwester, drückte sein rundes Gesicht fest auf ihre schwellenden Lippen und sagte: »Du bist die allerbeste Clara, und ich habe dich lieb – so viel und so groß wie – wie – ein ganz großes Haus.« – Nachdem der Knabe hinreichend bekleidet war, um die kühle Temperatur in dem Zimmer aushalten zu können, zu welchem Zwecke ihm die Schwester noch ein großes wollenes Tuch um seine Füße schlang, wurde er auf den Tisch gesetzt, an welchem die jüngere Schwester bereits auf einem Stuhle stand, nachdem sie eine große irdene Suppenschüssel herbeigeschleppt hatte.

Die junge Tänzerin nahm die Milch von den Kohlen, und als sie solche in die Schüssel goß, bemerkte sie an der bläulichen Farbe derselben, daß es nicht räthlich sei, um eine größere Menge zu erzielen, noch etwas Wasser zuzusetzen; dies Geschäft hatte Mamsell Wundel im Nebenzimmer bereits gehörig selbst versehen.

»Mir scheint,« sagte der alte Mann an seinem Schreibtisch, indem er seine Feder einen Augenblick anhielt und durch die Brille nach dem Tische schaute, »wir bekommen noch ein Nachtessen. Ei, ei! das ist, obgleich Verschwendung, doch sehr wohlthätig. Auch trifft das prächtig mit meiner Arbeit hier zusammen; ich übersetze nämlich gerade ein Souper in Onkel Toms Hütte, und es ist sonderbar, wenn ich von Essen und Trinken schreibe, da bekomme ich einen stärkeren Appetit.«

»Mir geht's auch so, Papa,« antwortete Clara, wobei sie lachend herumschaute. »Wenn ich zum Beispiele in einem Lustspiele bin und sie fangen auf der Bühne an zu essen und zu trinken, da könnte Einem das Wasser im Munde zusammenlaufen; und es geht nicht allein mir so: Alle, die um mich herum sitzen, haben begehrliche Augen und machen spitze Mäuler, – wie du, du kleiner Fresser.« Damit patschte sie dem Bübchen mit dem Löffel um den Mund, was dieser aber gar nicht übel zu nehmen schien; denn er leckte die herabrinnenden Tropfen begierig ab.

Der Vater hatte seine Feder niedergelegt, die Brille abgelegt und wischte sich die trübwerdenden Augen.

»Dieses Innere von Onkel Tom's Hütte,« sagte er nach einer Pause, »ist als recht komfortabel geschildert und kommt Einem gar nicht so unrecht vor; es ist ein anständiges, festes Gebäude mit einem kleinen Garten davor; auf dem Herde lodert ein Feuer und verbreitet in dem Zimmer eine behagliche Wärme.« – Er sprach das mit leiser Stimme und mehr zu sich selber.

Clara schien auch nicht darauf zu achten, denn sie wandte sich in diesem Augenblick zu ihrer kleinen Schwester und sagte zu ihr: »Aber warum hast du es hier in dem Zimmer so kalt werden lassen? So kann der arme Papa ja nicht schreiben; seine Finger müssen ihm ganz starr werden.«

»Schon die Idee eines Kamins hat etwas höchst Behagliches,« fuhr der alte Mann fort, indem er sich die Hände rieb; »man sieht in die spielenden Flammen, man stellt sich behaglich davor hin und dreht die mächtigen Holzblöcke mit der Zange herum.«

»Ich hätte gern Holz nachgelegt,« entgegnete das kleine Mädchen, »aber Papa hat selbst zugesehen und meinte, wir müssen noch acht Tage lang reichen, bis du neues kaufen könnest, und wenn man da zuviel brauche, werde es nicht langen.«

»Ich begreife nur nicht,« sprach Clara, »du bist doch schon so ein erwachsenes und vernünftiges Mädchen, daß du nicht früher zur Madame Wundel gegangen und sie um etwas Milch gebeten hast; sie hätte es dir auch nicht abgeschlagen. Da muß man nachdenken, mein Kind; ihr hättet schon um acht Uhr eure Milchsuppe essen können, und nun habt ihr bis jetzt gehungert.«

»Es war noch ein Stück Brod in der Schublade,« erwiderte die jüngere Schwester, »und das haben wir drei gegessen.«

Der alte Mann schaute träumerisch an die Decke empor und sagte: »Tante Cloe steht am Küchenfeuer und aus ihrer Bratpfanne hervor dringt der Geruch von etwas Gutem; sie hat eben noch ein Stück Speck hineingethan und bemerkt, daß der Kuchen sich wunderschön färbt, daß er sich zu einem prächtigen Braun anläßt: darauf hebt sie den Deckel der Backpfanne weg und läßt einen schöngebackenen Pfundkuchen sehen, dessen sich kein städtischer Zuckerbäcker zu schämen gebraucht hätte. – Ah!« fuhr er mit lauterer Stimme fort, »es ist etwas sehr Vortreffliches um so einen Kuchen.«

Bei dem Worte Kuchen wandte das Bübchen rasch den Kopf herum und seine Theilnahme für die Milchsuppe wurde augenscheinlich geringer.

»Der Papa spricht von Kuchen,« sagte die kleine Schwester zu Clara; »haben wir vielleicht welchen?«

»O nein,« entgegnete die Tänzerin in bitterem Tone. »Papa spricht nur einiges vor sich hin aus dem Negerleben von Amerika.«

Das Bübchen aber gab sich nicht so leicht zufrieden, sondern wandte den Kopf herum und rief laut: »Hast du Kuchen, Papa? Du hast was von Kuchen gesagt!«

»Ich habe eigentlich nur laut gedacht,« versetzte der alte Mann mit einem trüben Lächeln; »ich hatte vorhin gelesen von den armen Negersklaven –«

»Welche Kuchen essen?« fragte das Mädchen.

»Allerdings, mein Kind,« sagte der Vater träumerisch, »die Kuchen essen und ein warmes behagliches Zimmer haben.« Dabei rieb er sich die Hände und zog den alten fadenscheinigen Ueberrock fester um seine Schultern.

»Ah!« antwortete das kleine Mädchen, indem es seinen Kopf auf die Hände stützte und in die dünne Milchsuppe schaute, »wenn sie Kuchen essen, so sind sie ja nicht arm. – Wir haben keinen Kuchen zu essen und oft kein warmes Zimmer; also sind wir auf jeden Fall noch viel schlimmer daran.«

»Das Kind hat in mancher Beziehung nicht unrecht,« sprach kummervoll der alte Mann, indem er seinen Blick umherlaufen ließ auf den kahlen Wänden seiner Wohnung, auf den ärmlichen Möbeln und Betten, und ihn dann auf die kleine Schüssel voll Milch heftete, in welche zwei Kreuzerbrode gebrockt waren, und die ein vollständiges Abendessen abgeben sollte für vier Personen, die bis Abends zehn Uhr gefastet hatten. – –

»So, jetzt ist es angerichtet!« rief die Tänzerin mit lustiger Stimme. Sie wollte dadurch alle trüben Gedanken verscheuchen. »Jetzt laß deine Schreiberei sein, Papa, und komm' zu Tisch.«

»Das reicht ja kaum für euch aus,« entgegnete dieser, »eßt nur, eßt nur, ich schreibe noch.«

Doch blickte er im Widerspruch mit seinen eigenen Worten sehnsüchtig nach dem Tische, und als das kleine Mädchen ihm entgegenlief und ihn bei der Hand fortzog, brauchte sie gar keine Kraft anzuwenden, um ihn bis an die Milchschüssel zu bringen.

Die Familie setzte sich um den Tisch herum; Jedes hatte seinen Löffel ergriffen, doch ehe das Abendessen eigentlich begann, mußte sich das Bübchen entschließen, sein gewöhnliches Tischgebet herzusagen. Es faltete die Hände und sprach:

»Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne was ich bescheeret hab'.«

Es war dies ein Sprachfehler, den man ihm trotz aller angewandten Mühe nicht abgewöhnt hatte, und den er sich heute Abend vollends nicht verbessern ließ, denn seine ganze Seele schwamm in der Milchschüssel.

So ging nun das Nachtessen vor sich, und die kleine Familie beim flackernden Scheine der Talgkerze wäre in ihrer Zusammenstellung ein kleines, herrliches Genrebild geworden: der alte Mann mit dem wohlwollenden freundlichen Gesichte, der nur mit großen Zwischenpausen aß, die junge schöne Tänzerin in dem ärmlichen Kleidchen, das volle schwarze Haar aber frisirt wie eine Fürstin und aus demselben hervor zahllose falsche Brillanten blitzend. Sie behauptete, fast gar keinen Hunger zu haben, und schaute mit dem liebenden Blick einer jungen Mutter den beiden kleinen Geschwistern zu, die eine Wette eingegangen zu haben schienen, wer von ihnen zuerst auf den Grund der Suppenschüssel gelange. Wir müssen gestehen, daß sich das Bübchen am tapfersten hielt, namentlich aber viel Milch schlürfte und die Brocken mehr oder weniger verschmähte. Doch ist hiebei nicht zu übersehen, daß es von dem Stück Brod vor ein paar Stunden das größte Drittel erhalten.

»Karl, Karl!« sagte Clara, die ihm lächelnd zusah, »du vergißt wieder ganz die Geschichte von dem Kinde und der Eidechse. Die mußt du ihm erzählen, Marie.«

Und darauf sprach die kleine verständige Schwester: »Das Kind saß vor der Hausthüre und hatte ein Schüsselchen mit Milchsuppe vor sich stehen, da kam die Eidechse und aß mit, aber die Eidechse trank blos die Milch und ließ die Brocken liegen, da nahm endlich das Kind sein Löffelchen, schlug das Thier auf die Schnauze und rief: Wenn du mithalten willst, so iß auch Brocken, du Ding!«

»So iß auch Brocken, du Ding!« wiederholte Clara und schlug den kleinen Bruder zum Scherz abermals mit dem Löffel auf seinen milchtriefenden Mund, worüber dieser in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach, so daß er fast an einem Brocken, den er gehorsam zu sich genommen, erstickt wäre.

Jetzt war die Milch fast verzehrt und es blieb auf dem Grund der Schüssel nur eine kleine bläuliche Fluth.

»Seht ihr wohl,« rief plötzlich das Bübchen mit großem Ernst, »ihr alle habt wieder nicht an die arme Anna gedacht. Soll sie denn gar nichts zu essen bekommen?« – Er meinte damit die kleine todte Schwester, die draußen im Vorzimmer lag und den ewigen Schlaf schlief.

»Sie will nichts mehr essen,« sagte Marie; »sie ist ja gestorben und jetzt im Himmel.«

Clara, die trotz ihrer Beschäftigung den ganzen Abend an die Verstorbene gedacht, die aber durch ihre Erwähnung den Schmerz des alten Mannes nicht vermehren wollte, zwinkerte leicht mit den Augen und blickte ihren Vater von der Seite an.

Dieser hatte, wie schon bemerkt, fast gar nichts gegessen und saß schon lange da mit gefalteten Händen. Denn wenn er auch im Drange der Arbeit nicht so innig an das Kind gedacht, so fiel ihm die Erinnerung an dasselbe jetzt doppelt schmerzlich auf die Seele, als er nun am Tische den leeren Platz sah, wo sonst die kleine Anna auf ihrem Stühlchen gegessen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und seine Augen funkelten auf eine ganz eigenthümliche Art.

»Die Anna ist nicht im Himmel,« sagte entschieden das Bübchen; »wie kann sie im Himmel sein, da sie draußen auf dem Kissen liegt? Sie kommt erst in den Himmel, wenn sie begraben ist, und das geschieht morgen.«

»Schon morgen?« versetzte der alte Mann und sah seine ältere Tochter fragend an. – »Du hast Alles besorgt, nicht wahr, Clara?«

»Alles so gut wie möglich,« erwiderte die Tänzerin; »und wenn die beiden Kinder brav sein wollen, so zeige ich ihnen das Kleidchen, in welchem die Anna ein Engelein wird.«

Sie stand auf, um das kleine Paket zu holen, blieb aber an der Kommode länger, als nöthig war, stehen, um ihre hervorstürzenden Thränen namentlich vor den beiden Kindern zu verbergen. Da aber diese endlich ungeduldig wurden, so mußte sie wieder kommen und ihnen das Kleidchen zeigen. Nachdem sie den Tisch abgeräumt, schlug sie das Tuch auseinander und breitete es vor ihnen aus.

»Das ist schön,« sagte der Knabe; »ich möchte das Kleidchen wohl einmal anprobiren, mir müßte es recht gut stehen.«

»Warte nur, Karl,« entgegnete ernst der Vater, indem er mit der Hand über die Augen fuhr, »einem solchen Kleide entgehst du nicht; wenn du aber recht brav und folgsam bist, so möge der liebe Gott gnädigst bewilligen, daß du eins bekommst, das noch viermal so lang ist.«

»Mir wäre dies schon recht,« antwortete das Bübchen, wobei es die rothen Schleifen durch die Finger gleiten ließ, »das ist wirklich schön. – Und du hast es ganz selbst gemacht?« fragte er die ältere Schwester.

»So schönes rothes Band!« sagte Marie. »Das sieht doch besser aus als die schwarzen Schleifen.«

»Ja, ja, es ist freundlicher,« versetzte der Vater. – »Wo hast du denn das Band noch aufgefunden?«

»Die im Theater haben es mir gegeben,« erwiderte Clara, »und es hat mich recht gefreut, daß sie so viel Antheil nahmen.«

»Es ist sonderbar,« sprach lächelnd der alte Mann, »wie die Dinge in dieser Welt so seltsam ihren Platz wechseln. Dies rothe Band, das vielleicht noch gestern in den Haaren einer Tänzerin geflattert, kommt nun morgen in die kühle Erde. Aber es ist schön, daß sie dir so geholfen, es freut mich; und wenn mein Kind in den Himmel einschwebt, so werden ihnen diese Schleifen dort oben keine üble Nachrede machen. – Amen!«

»Amen!« wiederholte auch Clara, und dann setzte sie mit gewaltsam verändertem Tone hinzu: »Aber jetzt, Kinder, zu Bett! Ihr habt gegessen und getrunken und könnt nun ruhig schlafen.« Dabei lächelte sie durch ihre Thränen und sagte zu dem Bübchen: »Gaislein, bist du satt?«

Worauf der Knabe lachend erwiderte:

»Oh! wo sollt' ich satt von sein?
Ich sprang über ein Gräbelein
Und fand kaum ein Blättelein.

Aber ich bin schläfrig und bitte dich, liebe Clara, mich zu Bett zu legen.«

Dies geschah denn auch; Clara lockerte zuerst die dünnen Kissen in dem Bett, dann zog sie die Kinder aus und legte sie hinein. Sie krochen dicht an einander hin, um sich zu erwärmen und die ältere Schwester deckte zu dem gleichen Zweck noch einen wollenen Rock über sie hin. Dann sprachen die Kleinen zu ihrem Spasse den Spruch von vorhin ein paar Mal gegenseitig und entschliefen bald unter Lachen und Scherzen.

 


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