Friedrich Wilhelm Hackländer
Erlebtes. Erster Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Achtes Kapitel.

Fortsetzung des sechsten und siebenten: Allein auf der Welt.

Nachdem der Portier während der Erzählung des vorigen Kapitels mehreremal das große Thor geöffnet und fast alle Schlüssel bis auf einige wenige übrig gebliebene abgegeben, fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Als nun nach diesem höchst sonderbaren Weihnachts-Abend der Zoll-Assistent, Herr Schnipfel, aus einem tiefen und gesunden Schlafe erwacht, und auf seine Uhr sah, erschrak er fast, als er bemerkte, daß es schon sehr spät geworden sei. Der Lärm im Hause, das Geräusch auf der Straße, das Läuten der Glocken hatten ihn, namentlich an Sonn- und Feiertagen sonst ziemlich frühzeitig erweckt. Heute hatte er aber nichts von allem dem vernommen: eine wohlthuende Stille lag über dem Hause, man hätte eine Maus husten gehört. Während sich Herr Schnipfel anzog, bedachte er bei sich, wie angenehm es sei, daß sich die Menschheit, namentlich an hohen Festtagen einer solchen exemplarischen Stille befleißige.

Das Feuer in dem Ofen brannte, im äußern Zimmer stand sein Frühstück auf dem Tisch. Da Herr Schnipfel von seinem Zimmer hinten heraus keine bedeutende Aussicht hatte, namentlich aber vom Verkehr der Menschen wenig sah, so wunderte er sich auch nicht weiter, als er an's Fenster trat und in den Häusern, welche er vor sich sah und auf den engen Gassen, in welche er von oben hineinblickte, nicht das geringste Leben entdeckte. Nur als er sich vor der Zimmerthür seine Stiefel holte, die, wie immer, blank geputzt dort standen, wunderte er sich, daß er in dem weiten Gebäude nicht den geringsten Lärm vernahm. Da klapperte es nicht in den Küchen und Zimmern, da erschollen keine lustigen Kinderstimmen: Alles war todtenstill. Kopfschüttelnd ging der Zoll-Assistent in sein Zimmer zurück, setzte sich nachdenkend in seinen Stuhl, und begann seine Stiefel anzuziehen.

Er hatte so gut und fest geschlafen, daß es lange dauerte, bis er sich des gestrigen Traumgesichtes erinnerte, und als ihm endlich dasselbe klar vor die Seele trat, und er seine Worte abermals hörte: sei allein auf der Welt! – er hatte gerade den linken Stiefel bei beiden Struppen erfaßt und zog heftig daran, – da hörte er mitten im Ziehen auf, hielt das Bein eine Zeitlang wagrecht in die Höhe und versank in tiefes Nachsinnen.

Ein leises Frösteln überflog seinen Körper und er bildete sich ein, das sei ein Freudenschauer, in der Hoffnung, daß das Gesicht, das er gehabt, wirklich wahr sei, und er allein auf der Welt.

Gegen seine Gewohnheit ging er heute früher aus, und blieb auf der Treppe ebenfalls sehr gegen seine Gewohnheit einigemal stehen, um zu horchen, ob sich in den verschiedenen Stockwerken nichts rege. Aber er hörte nicht das Geringste. Jetzt trat er vor die Hausthüre und das sonderbare Frösteln überfuhr ihn noch stärker, als er die lange Straße hinabsah und dieselbe, sonst so belebt an Sonn- und Feiertagen, ganz todt und leer vor sich liegen sah. »Merkwürdig!« sagte er, und blickte an den Häusern empor, – was er seit langen, langen Jahren nicht mehr gethan; aber auch da bemerkte er kein lebendes Wesen, er rieb sich die Hände und suchte die Sache außerordentlich angenehm zu finden, ja er wandelte anfänglich mit einem wirklichen Wohlbehagen durch die leeren Gassen, über die öden Plätze; aber diese Freude dauerte nicht lange. Er blieb hier kopfschüttelnd stehen, er sah da bekümmert eine große, sonst so volkreiche Straße hinab, und schüttelte den Kopf über die verschlossenen Hausthüren, über die entsetzliche Oede, die ihn rings umgab. Sein leiser schleichender Tritt hallte in den Straßen wieder, als marschire ein Regiment neben ihm, und wenn er sich räusperte – und das that er sehr häufig an diesem Morgen – so schien sich eine Legion unsichtbarer Zoll-Assistenten rings umher ebenfalls zu räuspern. Stunde um Stunde verrann, er hatte die ganze Stadt durchlaufen, es ließ sich kein lebendes Wesen sehen. Der Abend kam, und die Nacht sank herab in dieser furchtbaren Stille, so entsetzlich gespensterhaft; der Zoll-Assistent ging nach Hause, setzte sich auf sein Bett, rieb sich die Stirn, zog sich an seiner Nase und bemühte sich vergeblich, aus seinem bösen Traume zu erwachen. Endlich legte er sich zu Bett und schlief mit der frohen Hoffnung ein, ihm träume nur, wenn er morgen früh erwache, werde es schon wieder anders sein. – Aber es war nicht anders: dieselbe Stille umgab ihn, als er bei anbrechendem Morgen die Augen wieder öffnete.

»Allein auf der Welt!« sagte er schaudernd zu sich selber, und er hielt das Frösteln, was ihn jetzt überfiel, nicht mehr für einen Freudenschauer, vielmehr überrieselte ihn tiefer Schrecken und sein Haar sträubte sich, als er abermals in die todten, menschenleeren Straßen hinaustrat.

Er eilte an den Fluß; da lagen die Schiffe und schaukelten sich auf dem stillen Wasser, aber keine Hand regte sich wie sonst, die bunten Wimpel aufzuziehen, und die lange Brücke, früher überfüllt mit Menschen, schwankte öde auf dem Wasser und knarrte nicht unter dem Fußtritte von Tausenden. Auch nach seinem Bureau eilte der Zoll-Assistent: da war Niemand, keine Seele, weder in Schreibstuben, noch in dem weitläufigen Magazine.

»Allein auf der Welt!« So klang die Stimme des Kindes in seinem Innern, und er eilte vor die Stadt hinaus in einen kleinen Wald, um sich dort an dem Anblick kleiner frierender Vögel zu freuen, die durch die entlaubten Zweige huschten. Das waren doch wenigstens lebendige Wesen; aber auch hier war Alles erstorben, hier im Walde und auf dem Felde, er hörte nichts, wie das Rauschen des Windes, und das klang ihm in die Ohren wie jene Worte: »Allein auf der Welt!«

Lange saß er auf einem Stein am Thore und blickte die Landstraße hinab, und wenn er auch oftmals glaubte, in der Ferne einen Fußgänger, einen Wagen, einen Reiter zu sehen, so war dies doch immer Täuschung, und er – allein auf der Welt.

Abermals kam die Nacht – die Feiertage waren längst vergangen, und der Zoll-Assistent eilte verzweifelnd durch die Straßen, ein lebendiges Wesen zu suchen. O wie viele Jahre seines Lebens hätte er für den Anblick irgend eines Menschen gegeben! Er drang in die Häuser ein und fand Niemand. Oft blieb er auf der Straße stehen und glaubte neben sich oder vor sich aus einem Gebäude heraus ein Geräusch zu vernehmen, und wenn er angstvoll hinlauschte, und seine Hand auf die Brust drückte, damit sein Herz nicht so gewaltsam schlage, so hörte er bald mit tiefem Grausen, daß er sich getäuscht habe und daß er – allein auf der Welt sei. Wäre nur außer ihm noch ein einziges menschliches Wesen da gewesen, mit dem er hätte sprechen können, es befragen um diese fürchterliche Veränderung, bei ihm Trost suchen, in sein lebendes Auge zu schauen. – Aber Niemand, Niemand!

Wenn er in seinem Zimmer war und bei seinem Spiegel vorüber ging, so erschrack er vor seinem eigenen Anblick, er kam sich selbst wie ein Gespenst vor, – er eilte in die Kirche, er warf sich vor dem Altar auf die kalten Steine, er betete lange und inbrünstig, und gestand, wie sehr er gefehlt, daß er sich von Seinesgleichen abgewandt, daß er die ganze Welt gehaßt. Er bat nur noch um kurze Zeit, die ihm vergönnt sein möge, unter den Menschen herumzuwandeln, um seine Fehler wieder gut zu machen – umsonst! Die weiten Räume der Kirche blieben leer und hallten Nichts wieder, als sein Gebet der Verzweiflung. Die heiligen Bilder an den Wänden blickten starr auf ihn herab, und die todten Augen mit ihrem durchbohrenden Blick jagten ihn wieder auf die Straße hinaus. Er suchte den Friedhof auf, und da war ihm noch am Wohlsten. Hier fühlte er weniger die Oede und Einsamkeit, die ihn umgab, denn hier war es immer still und feierlich gewesen, auch waren ja Menschen auf dem Kirchhof, freilich nur todte, und tief unter der Erde, aber sie waren doch da, und nicht nur fremde und unbekannte, nein, auch die Seinigen schliefen hier unter kleinen Kreuzen, sein Vater und seine Mutter, und auf diesen Gräbern saß er stundenlang und sprach mit ihnen und glaubte hie und da ihre Antworten zu vernehmen. Auch war es ihm ein Trost, die vielen Monumente und Steine zu sehen, und die Namen zu lesen Aller, die hier wohnten.

An dem ersten der Tage, wo er sich allein auf der Welt befand, hatte er nicht an dies schreckliche Schicksal geglaubt, dann war er verzweifelt und jetzt ergoß sich eine fürchterliche Ruhe über sein zerstörtes Gemüth. Als er Abends wieder auf seinem Zimmer saß, stellte er abermals das Bild seiner Schwester vor sich hin und betrachtete es lange und innig, aber nicht mit Gedanken des Hasses, nein, mit thränendem Blick, mit den herzlichsten und besten Wünschen. »Könnte ich dich noch einmal sehen!« sagte er, »dich und die armen Kinder, und könnte ich dir sagen, wie elend mich mein Haß gemacht hat, könnte ich nur einmal in dein liebes, freundliches Auge sehen, deine warme Hand drücken und dann – sterben!« – Ja – sterben! – daran hatte er bis jetzt noch nicht gedacht. Das war das Ende seiner Qual, darin lag seine Erlösung.

Er steckte das Bildchen in seine Tasche, stürzte aus dem Hause, dem Flusse zu, der im Dunkel der Nacht mit seinen flüsternden Wellen so schauerlich und farblos dahin rauschte. Rettung! Rettung! jubelte es laut in ihm, und er sprang von der Brücke hinab in den tiefen Strom, und als er untersank und allmälig die Besinnung verlor, dachte er nichts, als: »Gott verzeih' mir die schwere Sünde, aber jetzt bin ich doch nicht mehr – allein auf der Welt!«

»Das ist ja eine höchst schauerliche und sonderbare Geschichte,« sagte ich zu dem alten Portier, der mich bei den letzten Worten des eben Erzählten forschend ansah, und eine große Kunstpause machte. »Aber wie wollen Sie die Wahrhaftigkeit derselben beweisen? denn ohne Beweis kann ich sie nicht wiedererzählen, ich darf mein bischen Credit als Erzähler nicht so leichtsinnig auf´s Spiel setzen.« »Hören Sie zu Ende,« sagte der Portier, nachdem er den Rest seines Punsches ruhig ausgetrunken.

»Ah, wenn da noch ein Ende kommt, so bin ich beruhigt!«

– Sei es auch du, geliebter Leser!

»Nachdem also der Zoll-Assistent Herr Schnipfel,« so fuhr der Portier fort, »untergesunken war, und, wie er nie anders glaubte, eines sehr traurigen Todes verstorben, erwachte er plötzlich und riß seine Augen weit auf.«

»Trotz des Wassers?«

»Ja, Wasser hatte er genug in den Augen, aber keins des Flusses, sondern das seiner Thränen, die stromweise über seine Backen herabliefen. Auch faltete er die Hände, nachdem er erwacht war, denn die Sonne schien freundlich in sein Zimmer, und an sein Ohr, das so lange nichts gehört, das so lange die schauerlichste Stille umgeben, schlugen die tiefen Klänge sämmtlicher Glocken der Stadt, allen Einwohnern verkündend, daß der erste Morgen des heiligen Christtages angebrochen. Zitternd vor Erwartung entsprang der Herr Schnipfel seinem Bette, und eilte, wie er war, vor seine Zimmerthür, um in das Haus hinabzulauschen; da – o wer beschreibt seine Seligkeit! – klapperten in den verschiedenen Stockwerken die Tassen, rasselten die Kaffeemühlen und jubilirten die Kinder, die sich nun bei Tageslicht betrachteten, was ihnen der heilige Christ am Abend vorher bescheert.

Der Zoll-Assistent hatte einen fürchterlichen Traum gehabt, und in Folge dessen nahm er die drei Tannenbäumchen, die er gestern Abend mit dem Fuße von sich gestoßen, freudig zu sich in's Zimmer, stellte sie behutsam auf den Tisch, und auf die Wachsthränen herab träufelten seine eigenen wirklichen, und in Folge dieses Traumes zog er sich hastig an, und eilte auf die Straße hinab, und sah Menschen, viele Menschen und Gesichter, freundliche Gesichter. Aber das freundlichste all' dieser Gesichter war sein eigenes. Wie erstaunten die Hausleute, als Herr Schnipfel ihnen mit strahlendem Gesicht ein vergnügtes und gutes Christfest wünschte, wie erstaunten Bekannte, die ihn auf der Straße sahen, auf die er zueilte und ihnen herzlich die Hand drückte, und wie erstaunte erst der benachbarte Ladenbesitzer, als der Herr Schnipfel in sein Zimmer stürzte, und ihn um Gotteswillen bat, ihn in das verschlossene Gewölbe hinabzuführen, und ihm am heiligen Christmorgen einige Sachen zu verkaufen! – Am meisten aber erstaunte seine arme Schwester, als sich plötzlich ihre Thür öffnete und Herr Schnipfel hereintrat, bepackt mit einem ganzen Magazin Nürnberger Spielwaaren, und als er, außer Athem gelaufen, sie kaum um Verzeihung bitten konnte, und ihr schluchzend und weinend sagte: »Von nun an trennen wir uns nicht mehr, deine Kinder sind auch die meinigen.«

Und so geschah es. – Die ganze Stadt zerbrach sich den Kopf über diese Umwandlung des Zoll-Assistenten. Die kleine Kasematte im Hauptzollamt, sonst der Schrecken aller Handlungs-Lehrlinge, war fortan ein wahrer Platz der Erholung für dieselben. Niemand war fortan so freundlich und artig, wie der Zoll-Assistent, Herr Schnipfel. Niemand fertigte die jungen Leute so schnell wie er ab und Niemand wußte so außerordentlich schöne Späße zu machen, wie er.

Der Metzger und der Bäcker allein schüttelten ihre Köpfe und begriffen lange nicht, weßhalb Weißbrod und Wurst so unberührt liegen blieben; aber Herr Schnipfel bedurfte ihrer nicht mehr, denn er war der Welt wiedergegeben, speiste im Kreise der Seinigen zu Nacht, suchte lustige Gesellschaft auf, so viel wie möglich, und freute sich herzlich an dem Glücke und der Zufriedenheit seiner Nebenmenschen, denn er hatte erfahren, was es heißt – allein auf der Welt zu sein.«


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