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Gegen Morgen hatten sich die Träume des Knaben in ihrer Lebhaftigkeit und ihrem verworrenen Wesen sehr vermindert. Seine Phantasie hatte wieder den Bergpaß des Fiebers durchklettert, wo ihn schwindelnde schmale Stege in den Abgrund zu führen schienen, ja, wo sein Fuß an entsetzlich glatten Felswänden ausglitt und er hinabstürzte tief, tief, an die tausend Fuß, um unten mit einem schmerzlichen Gestöhn in siedendes Wasser zu fallen, das aber seinen Sturz schwächte und ihn vor dem Zerschmettern bewahrte. Allmälig wurde jedoch diese Wildniß, die er mühsam durchleuchte, sanfter, die Felsen verloren ihre schroffen Formen, die Wege nahmen bei jedem Schritt in der Breite zu, kühlende Wasser murmelten neben ihnen her und fielen, geschwätzig erzählend, mit dem Wege langsam ins Thal.
Dieses Thal war reizend und schön; der wilde Gebirgszug, den er eben verlassen, hatte es gebildet und umschloß die mit blumigen Wiesen bedeckte Ebene im Halbkreis auf der einen Seite, so sie vor Sturm und Wetter schützend. Da hinab schwebte er; gehen konnte man es nicht nennen, denn er fühlte keine Bewegung, keine Ermüdung; ihm war so wohl und leicht zu Muth. Als er aber die Ebene betreten wollte, sah er unter dem Gebüsch am Fuße des Berges ein so trauliches Plätzchen, daß er nicht widerstehen konnte, sich dort niederzulassen.
Ach, er ruhte so sanft, daß es ihm schien, als wiege sich die Moosbank unter ihm! Die Schlingpflanzen, die vor dem Sitze herabhingen, bildeten ein ordentliches Gitter, durch welches er in die unbegrenzte Ebene hinaus sah. Diese schien völlig menschenleer zu sein, doch nur im ersten Augenblicke. Gleich darauf sah er aus einer Schlucht der gegenüberliegenden Gebirge zwei Reiter hervorkommen, die sich ihm mit unbegreiflicher Geschwindigkeit näherten. Je mehr er sich den vordersten der Reiter ansah, desto weniger konnte er zweifeln, es sei das Bild über dem Kamine, das sich jetzt zur Abwechslung in den Sattel geschwungen, einen Schild und eine lange Lanze in der Hand hielt und ihm einen Besuch machen wollte. Ja, es konnte nicht anders sein, es war das Bild; denn er erkannte jetzt ganz deutlich das lange Gesicht und den wohlgedrehten Schnurrbart und die ernsten, fast erstaunten Augen. – Doch, o Wunder! der zweite Reiter neben dem ersten, den er nur auf Augenblicke sehen konnte, wenn der andere mit dem Pferde eine kleine Wendung machte, das war er selber – Gottschalk, wie er leibte und lebte! – So etwas war doch unerhört. Seine Freude, sich selbst zu Pferd zu sehen, war aber auch so erstaunlich, daß er darüber eine allzu heftige Bewegung machte und – erwachte.
Verschwunden war die Ebene mit den beiden Reitern; er befand sich in einem ganz fremden Zimmer, und wie er verwundert um sich blickte, mußte er sich sehr zusammennehmen, um nach und nach alles wieder in sein Gedächtniß zurückzurufen, was seit gestern Abend mit ihm vorgegangen. Richtig, da war die gewölbte Decke, da war der Ofen mit dem Kamin, und da war auch das auffallende Bild über dem letzteren. Natürlicher Weise fehlte auch der lange Mann nicht, der ihn gestern hieher gebracht und der nun freundlich lächelnd vor ihm stand.
»Das heiße ich einmal zum Beschluß gut und fest geschlafen!« sagte dieser, wobei er ihm half, den Pelzmantel von sich zu streifen, in welchen der Knabe ziemlich tief hineingesunken war. Darauf legte ihm der lange Mann die Hand auf die Stirn und fragte nach einer Pause: »Wie befindest du dich?«
»Es ist mir recht ordentlich,« erwiderte Gottschalk; »nur drückt es mich ein wenig auf den Kopf, und wenn ich mich aufrichte und vom Stuhl hinab will, so fühle ich wohl, daß mir das nicht so leicht wird, als wenn ich sonst des Morgens vom Bette steige.«
Bei diesen Worten war er wirklich aus dem Lehnstuhl geklettert und stand nun neben demselben, an dem schon wieder sanft erwärmten Ofen. Doch schien der Knabe in der That nicht so fest auf seinen Füßen zu stehen wie sonst wohl; denn er hielt sich mit der Hand an der Stuhllehne, und daß er das nicht ohne Ursache that, zeigte ein eigenthümliches Lächeln auf seinem heute recht blassen Gesichte. Auch blieb er nicht lange neben dem Stuhle stehen, sondern ließ sich wieder auf den Sitz nieder, worauf der lange Mann die eine Seite des Pelzmantels aufs Neue über ihn her decke.
»Da bleib nur ruhig sitzen,« sagte er, »während ich dir wieder etwas Thee koche. – Hast du auch Appetit?«
Gottschalk schüttelte mit dem Kopfe und meinte: »Nicht besonders.«
»Das kann ich mir wohl denken,« versetzte der Andere; »und da du gestern Abend gewiß sehr schwach soupirt hast, so steck immer noch einiges Unwohlsein in dir, das wir aber mit der Hülfe Gottes und San Jago's, sowie unter Mitwirkung unseres Doktors aus dir herauszutreiben hoffen. – Da schau,« fuhr er nach einer Pause fort, »hier sind deine sämmtlichen Kleidungsstücke. Was damit geschehen konnte, ist geschehen; wenigstens sind sie trocken und warm, und es wird dir immerhin behaglicher erscheinen, in ihnen zu stecken, als in meinem weiten Pelzrock, der ja ein wahres Labyrinth für dich ist. Während ich dir also einen Thee besorge, zieh dich an, und dann wollen wir weiter sehen.«
Der Knabe nahm dankend die Kleider, welche er gestern Abend triefend vor Nässe abgelegt und die der lange Mann jetzt in der That warm und trocken ihm überreichte. Seine Toilette brauchte nicht viel Zeit, und als sie beendigt war, kauerte er sich in dem Lehnstuhl zusammen und blickte aufmerksam nach dem langen Manne hinüber. Wenn er auch eigentlich keine Furcht vor ihm hatte, so war doch etwas in dem abgemessenen, wir möchten sagen: steifen Wesen desselben, was dem Knaben nicht ganz heimlich erschien, und wenn auch die thörichte Furcht verschwunden war, die ihn gestern Abend einige Mal erfaßte, während er an dem Mantel hängend durch Dick und Dünn, durch Koth und Wasserlachen trabte, so dachte er doch auch jetzt noch zuweilen an Seelen-Verkäufer, an blutgierige Menschen-Händler, sowie an jenen schrecklichen Kerl, von dem die Großmutter zuweilen erzählt, daß er kleine Buben an sich gelockt, sie fett gemacht und dann zu Pastetenfleisch zerhackt. Daß er nicht mager war, mußte sich Gottschalk eingestehen, und wenn also der lange Mann wirklich so mörderische Absichten hatte, so brauchte er mit dem Mästen nicht so viel Zeit zu verlieren, und er, der unglückliche Knabe, konnte alsdann schon in den nächsten Tagen wohl farcirt und eingemacht die Tafel irgend eines Leckermaules zieren. – Doch nein, so sah der lange Mann nicht aus; aber ein seltsames Wesen hatte er an sich, das mußte er sich schon eingestehen. – Da ging er im Zimmer umher, jetzt das Blechgefäß spülend, dann Wasser hineingießend, und that dies alles mit so ernster und feierlicher Miene, daß man hätte glauben können, es handle sich um die wichtigste Lebens-Angelegenheit. Während er den kleinen Theekessel aus dem Schlafzimmer an den Ofen brachte, ging er mit hocherhobenem Kopfe, das kurzgeschnittene Haar fast drohend in die Höhe gestrichen, die Spitzen des Schnurrbarts scharf aufwärts gekehrt. Bekleidet war der lange Mann heute Morgen mit untadelhaften Beinkleidern von dunkler Farbe, welche indeß etwas zu straff angespannt waren, unten von den ledernen Stegen, oben von den Hosenträgern, und die ihm sehr wenig Bewegung zu gestatten schienen. Daher mochte es denn auch wohl kommen, daß er bei dem Gehen keinen Versuch machte, die Kniee zu biegen, sondern beständig mit steif vorgestreckten Füßen marschirte. Statt des Rocks trug der Mann eine Jacke von grauem Baumwollen-Sammt, welche ihm bis über die Hüften reichte.
In kurzer Zeit hatte er den Thee zubereitet, goß davon eine Tasse für den Knaben voll und für sich eine andere. Die seinige nahm er stehend zu sich, und als er damit zu Ende war, sagte er:
»So, mein kleiner Mann, da steht deine Portion, – Zucker hab' ich hineingethan – welche du nun ganz nach deinem Belieben in kleinen Schlucken zu dir nehmen kannst. Dabei rathe ich dir an, in dem Zimmer auf und ab zu spazieren, denn ich halte ein wenig Bewegung in deinem Zustande für sehr gesund. Ob derselbe sonst noch irgend etwas verlangt, darüber will ich sogleich einen vortrefflichen Arzt zu Rathe ziehen, der im gleichen Hause mit mir wohnt und dir, im Fall er es für nöthig hält, gewiß einen Besuch schenken wird. Sollte in der kurzen Zeit, während ich abwesend bin, an die Thür geklopft werden, so kannst du dreist: Herein! rufen; es wird Niemand kommen, als vielleicht der Tiger, der jeden Morgen erscheint, um mein Bett zu machen. Unter der Benennung Tiger« – fuhr der lange Mann fort, wobei die schwache Idee eines Lächelns über seine Züge flog, als er das Erstaunen des Knaben bemerkte – »brauchst du dir durchaus kein reißendes Thier vorzustellen. Der Tiger ist die alte Magd aus dem Hause drunten und hat diese Benennung einem eigenthümlichen Umstande zu verdanken.«
Bei diesen Worten hatte der lange Mann seinen Mantel umgenommen, den rothbraunen spitzigen Hut aufgesetzt und seinen großen Stock von gestern Abend in die Hand genommen, der sich heute, bei Tage, als ein überaus langes, spanisches Rohr erwies. Hierauf nickte er dem Knaben leicht mit dem Kopfe zu und ging mit stolzen, abgemessenen Schritten, den Stock beständig weit von sich ab auf den Boden setzend, zur Thür hinaus.
Dieser gravitätische Gang des langen Mannes war durchaus nicht auf Zuschauer berechnet, vielmehr der Ausfluß seiner innersten Gefühle; denn wie er so den dunklen Corridor hinabwandelte, wo ihn Niemand anstaunen konnte, als höchstens einige Spinnen an der Decke, oder ein paar ängstliche Mäuse auf dem Fußboden, setzte er seine Füße wo möglich noch stärker auswärts, erhob den Kopf so weit als thunlich war, und während er in der einen Hand das spanische Rohr mit einer unnachahmlichen Würde führte, hatte er die andere in die Seite gestemmt, wodurch sein Arm einen Winkel bildete, über welchen der Mantel in malerischen Falten herabhing.
Das Haus, in welchem wir uns gerade befinden, ist eines von jenen Gebäuden, in alten, guten Zeiten aufgeführt, wo man die Menschen mit ihren Bedürfnissen noch nicht so zusammenschachtelte, wie die bekannten Elfenbein-Figuren und Geräthschaften in der Nuß, bei deren Anblick man erstaunt, wie sie alle in dem winzigen Raume Platz haben. Hier waren weite Treppen, lange Corridore, ansehnliche Vestibüle, eine wahre Verschwendung von Platz selbst bis zu den unnennbaren Gemächern hinab, von denen heut zu Tage ein umsichtiger Hauswirth unbedingt ein Kabinetchen oder ein Bedientenzimmer abschneiden würde. Die Thüren hatten eine ansehnliche Höhe und Breite, und die Schlösser, Griffe und Riegel waren mit angenehm und gut greifbaren Knöpfen, die sich breit machten und trotzig zu sagen schienen: Wir sind auch da! so eingerichtet, daß man sie gern in die Hand nahm und sich nicht, wie bei unserm jetzigen Beschlägen, in Acht zu nehmen brauchte, sich an einer der scharfen Kanten zu schneiden, oder sich gar mit dem Finger in einen unbemerkten Spalt zu verirren.
Obgleich das Haus sehr groß und weitläufig war, so bemerkte man doch auf dem Wege, wo der lange Mann wandelte, wenig Leben, was wohl daher kommen mochte, daß die meisten der hier Wohnenden bereits außer dem Hause zur Arbeit gegangen waren. Der würdige Herr hatte jetzt den anderen Theil des Gebäudes erreicht und begann eine Treppe hinaufzusteigen, die in den oberen Stock führte. Hier sah es ziemlich verwahrlost aus; die Decke hing voll von Spinnweben, die Fensterscheiben, welche das Treppenhaus erhellten, schillerten, trübe angelaufen, in den Farben des Regenbogens. Die Stufen der Treppe waren von Holz und krachten nicht nur bei jedem Schritte, sondern unter dem gewichtigen Fußtritt des großen Herrn flog auch der Staub aus verschiedenen Fugen unter den sich biegenden Brettern in die Höhe. Ohne sich daran im Geringsten zu kehren, ohne deßhalb auch nur eine Miene zu verziehen, stieg der lange Mann die Treppe hinauf und wandte sich oben links zu einer Thür, auf der ein Papier angeheftet war, welches die Worte zeigte: »Armenarzt Dr. Flecker, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Sprechstunde Nachmittags von 2 bis 4 Uhr, behandelt alle Bedürftigen unentgeltlich.« Man hätte übrigens eher glauben können, daß man vor der Thür eines Thierbändigers oder, genauer ausgedrückt, eines Hunde-Dressirers stehe; denn innen im Zimmer klangen die heulenden Stimmen einiger der letztbenannten Thiere in so kläglichen Tönen, daß man nicht im Zweifel zu sein brauchte, ob Freude oder Schmerz ihnen dieselben auspreßte.
Der lange Mann klopfte bescheiden an die Thür – ein Mal; es erfolgte keine Antwort; zwei Mal. Ebenso wenig. Endlich zum dritten Male erscholl ein so donnerndes Herein! daß die Hunde, wahrscheinlich das Schrecklichste fürchtend, indem sie den lauten Ruf auf sich bezogen, mit einem Male verstummten.
Es war ein ziemlich großes Gemach, welches der Anklopfende nun langsam betrat. Ob und in welcher Farbe es tapezirt war, konnte man im ersten Augenblicke nicht unterscheiden, ebenso wenig wie die Beschaffenheit der Möbel; denn an den Wänden umher und unter der Decke wälzten sich so dichte Tabakswolken, daß der Blick davon geblendet wurde und der Eintretende sogar einige Sekunden Zeit brauchte, bis er die Gestalt des Zimmerbewohners gehörig ins Auge fassen konnte. Dieser war ein magerer, außerordentlich kleiner Mann in vorgerücktem Alter, mit einer so hohen Stirn, daß man dieselbe mit weniger Wohlwollen den fortgesetzten Anfang eines Kahlkopfes hätte nennen können, eines Kahlkopfes, den die borstig emporgekämmten Haare des Hinterhauptes mit einem wahren Entsetzen zu betrachten schienen. Dabei trug der Zimmerbewohner einen langen, röthlichen, ziemlich schmierigen Schlafrock, in der rechten Hand eine lange Pfeife, aus der er furchtbar qualmte, und unter dem linken Arm eine zusammengewickelte Hundepeitsche.
Als der Andere auf das übermäßig laute Herein! in die Thür trat und erstaunt an derselben stehen blieb, war vorderhand die einzige Notiz, welche der Mann im Schlafrocke von seinem Besuche zu nehmen schien, daß er ihm mit lauten Worten mehr zuschrie, als rief: »Aber, mein lieber Herr, Sie werden mir erlauben, daß ich den Wunsch ausspreche, meine Zimmerthür geschlossen zu halten, indem Sie unmöglich von mir verlangen können, daß ich Corridor und Treppen heize. Das werden Sie mir zugeben und in der Ordnung finden.«
Während er dies aber sagte, schritt er, wie es schien, in ziemlich großer Bewegung im Gemache auf und ab, wobei er wilde Blicke um sich her warf. Mit einem leichten Lächeln schloß der Andere die Thür, und als er hustend und schnüffelnd näher trat, konnte er sich der Worte nicht enthalten: »Nehmen Sie mir's nicht übel, verehrter Herr Doktor, aber ein bischen frische Luft könnte Ihrem Zimmer durchaus nichts schaden.«
»Frische Luft!« rief der Andere mit einem Ausdrucke des Erstaunens, wobei er so plötzlich herumfuhr und dann stehen blieb, daß der lange Schlafrock in malerischen Falten emporwallte und die Fußbekleidung des Doktors, große Filzpantoffeln, zeigte. »Frische Luft!« wiederholte er mit einem herausfordernden Ausdruck, »daran fehlt's doch meinem Zimmer in der That nicht.«
»Aber Tabaksdampf – unendlich viel Tabaksdampf – gewiß schädlich für die Constitution.«
»Viel Tabaksdampf? – schädlich für die Constitution?« entgegnete der Mann im Schlafrocke in einem außerordentlich lauten Tone. »Und das sagen Sie mir in meinem eigenen Zimmer? – Erlauben Sie mir, mein lieber Herr,« fuhr er nach einem augenblicklichen Stillschweigen in einem etwas geringschätzigen Tone fort, »erlauben Sie mir, daß ich die Luft, welche meiner Constitution zusagt, am besten selbst zu beurtheilen verstehe. Auch werden Sie mir zugeben, daß, wer wie ich sich vierzig Jahre lang – denn schon mit zwölf Jahren fing ich an zu rauchen, vergessen Sie das nicht, mein Bester – wem also vierzig Jahre lang, wollte ich sagen, ein solcher Tabaksdampf nicht geschadet, der wird sich wohl erlauben können, ferner darin zu leben und zu athmen. – Item, der Tabaksrauch ist da, Thür und Fenster öffne ich nicht, und Sie werden mir zugeben, verehrtester Herr, daß ich für Sie nicht mehr thun kann, als geduldig anzuhören, was Sie mir zu sagen haben.«
Dieses geduldige Anhören des Doktors bestand aber darin, daß er wieder anfing, auf und ab zu laufen, dabei unsäglich qualmte und zuweilen die Hundepeitsche schüttelte, wenn sich unter Sopha oder Bett ein halb unterdrücktes Knurren oder Bellen hören ließ.
»Wenn Ihnen also der Tabaksrauch nichts schadet, so werde ich mir erlauben, denselben zu vermehren, indem ich eine kleine Cigarre anzünde.«
»Thun Sie das, lieber Herr,« entgegnete der Doktor, ohne in seinem Spaziergang einzuhalten, aber mit einer gefälligen Bewegung der Hand, in der er die Hundepeitsche trug.
Nach erhaltener Erlaubniß zog der Andere eine kleine Papiercigarre aus der Tasche seiner Jacke, grub unter Aschenkegeln, die den äußeren Rand des Ofens umgaben, ein Zündhölzchen hervor und begann ebenfalls zu rauchen. Was er aber im Gegensatze zu des Doktors Pfeife zu leisten vermochte, verhielt sich wie das Summen einer Mücke gegen das Gebrüll eines Ochsen.
»Ich sage Ihnen, bester Nachbar,« fuhr der Doktor nach einer Pause, während welcher sich sein Gemüth etwas beruhigt zu haben schien, aber während er noch immer umherrannte, zu sprechen fort, »was solche Hundebestien einem für Spektakel und Verdruß machen, davon haben Sie gar keine Idee. Ich thue in der Dressur mein Möglichstes, ich spare die Hundepeitsche nicht im Geringsten, aber wenn ich Ihnen sage, daß es fast unmöglich ist, in dieses Gezeug einige Ordnung zu bringen, so werden Sie mir hoffentlich glauben. Item, ich wünsche, daß sie sich auf Treppen und Corridor eines reinlichen Betragens befleißigen, und gewähre ihnen zu diesem Zwecke jeden Morgen und Abend eine Stunde Freiheit, und so werden Sie mir zugeben, mein lieber Herr, daß ich darin das Uebermögliche gethan. Aber sollten Sie glauben, daß diese Bestien von der erhaltenen Erlaubniß einen mäßigen Gebrauch machen? Gott bewahre! das kommt wieder, wenn es ihnen gerade einfällt, und Sie werden mir zugeben, daß ich mich nicht zum Sklaven meiner Hunde zu machen brauche. Item, da kommt dann die Peitsche dran. Ja, Waldmännchen,« drohte er einem unglücklichen Pinscher, der leise jammernd seinen Kopf unter dem Bett hervorstreckte, »du bist der Schlimmste. Aber beruhige dich, wir werden mit dir auch noch fertig, darauf kannst du dich verlassen.«
Lächelnd hatte der lange Mann zugehört, und als der Doktor inne hielt, um die Asche in seinem Pfeifenkopfe zusammenzustoßen, sagte er:
»Ich habe eine Bitte auf dem Herzen. Würden Sie nicht so freundlich sein, auf einen Augenblick zu mir hinabzukommen? wir haben da unten ein Krankes.«
»Ein Krankes?« fragte der Doktor, indem er erstaunt stehen blieb, »und warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ah, lieber Herr, warum ließen Sie uns so lange Zeit verlieren! – Ein Krankes? Da wollen wir gleich hinunter. Muß ich mich anziehen, oder kann ich so mit hinunter kommen? – Eine Person, die sich vor einem Schlafrock scheut – he, alter Freund?« fuhr er mit einem lauernden und lächelnden Gesichtsausdruck fort, »ja, stille Wasser sind tief, das werden Sie mir zugeben. Item, es ist ein Krankes, Sie haben mich gerufen, und ich kann auch meinen Rock anziehen.«
»Das ist ganz und gar nicht nothwendig, bester Doktor; es handelt sich nur um ein Kind.«
»Um ein Kind?« rief der Doktor mehr und mehr erstaunt, und trat so dicht an den Anderen heran, als wollte er ihm in die Ohren flüstern; doch hätte er sich bei dessen Länge hierzu eines Stuhls bedienen müssen. »Ein Kind,« fuhr der Arzt fort, während er mit dem Kopfe schüttelte und den Mund spitzte wie ein Karpfen. »Ein Kind, das schon da ist, oder? – oh! oh!«
»Es ist schon sehr da, bester Doktor,« erwiderte der lange Mann; »es betrifft einen Knaben von vielleicht fünfzehn Jahren, einen kleinen Handwerkslehrling, den ich gestern Abends von der Straße aufgelesen, wo er im strömenden Regen stand, und den sein Meister nicht ins Haus lassen wollte.«
»Das ist was Anderes,« sagte der Doktor, nachdem er einen Augenblick nachgedacht und, wie es schien, einigermaßen verdrießlich war, daß die Sache nicht schlimmer sei, – »also ein kleiner Taugenichts, und hat so ein bischen Fieber? Sich erkältet? Leibschmerzen? – Item, – ist krank. Nun, wir wollen nach ihm sehen. Vorher werden Sie mir aber erlauben, daß ich meine Mütze und meine Brille nehme. Ein Arzt ohne Brille, sage ich Ihnen, lieber Herr, ist nur ein halber Arzt. Sie werden wir zugeben, daß die Brille dem Gesichte etwas Mysteriöses gibt. Man greift an den Puls, man schließt dabei die Augen, und dann funkeln die Brillengläser so gespensterhaft in dem Strahle der Sonne oder des Lichtes; item, das flößt Respekt ein, und bei meinen Patienten,« setzte er mit einem leichten Seufzer hinzu, »muß ich streng darauf halten, daß sie mich vielleicht für etwas Uebernatürliches ansehen, für ein Wesen, das ihnen helfen kann, aber auch im Stande ist, sie zappeln zu lassen, bis sie schwarz werden; item, für ein grausam geschicktes Wesen.«
Ob der Doktor geschickt war, wissen wir noch nicht zu beurtheilen, aber etwas Grausames hatte er durchaus nicht in seinem Aeußern, nicht einmal unter Schwingung der Hundepeitsche, die er nun in die Ecke des Sopha's warf.
Wir sind überzeugt, daß, während er mit dem langen Manne sprach, die Hunde unter Sopha und Bett kein Auge von ihm, oder vielmehr von eben dieser Peitsche, wandten; denn kaum hatte er sich des drohenden Instruments entledigt, so sprangen auch schon zwei Pinscher und zwei Dachshunde, die bisher, mit Ausnahme einer einzigen schwarzen glänzenden Schnauze, vollkommen unsichtbar gewesen waren, unter den verschiedenen Möbeln hervor und tanzten schweifwedelnd um ihren Herrn herum. Dieser hatte indessen Brille und Mütze aufgesetzt, hielt den kleinen Thieren noch eine kräftige Rede, worin er sie mit vielen Items ersuchte, sich ordentlich aufzuführen, und verließ dann hinter dem langen Manne das Zimmer.
Unterwegs erzählte der letztere dem Arzte die einzelnen Umstände, unter welchen er den Knaben angetroffen, sowie das augenscheinliche Erschrecken des Schneiders, als er ihn in seiner langen Gestalt so plötzlich unter dem Fenster gesehen.
»Darauf können Sie sich verlassen, lieber Herr,« sagte lachend der Doktor, »daß der fromme Schneidermeister Sie für eine übernatürliche Erscheinung hielt, und wenn dem so ist, so kann es ein Capitalspaß werden. Aber dabei muß man ein bischen fein zu Werke gehen und Umwege gebrauchen, was, ich weiß das ganz genau, Ihre Sache nicht ist. Unterbrechen Sie mich nicht. Es soll gar nichts Unrechtes geschehen. Aber wenn Sie, Verehrtester, so auf Ihre Art – Sie müssen mir den Ausdruck verzeihen, – mit der Thür ins Haus fallen, so vorwärts marschirend im geraden, gewichtigen Schritte, das macht auf den Schneider nicht die geringste Wirkung. Sie würden ihm vielleicht mit kräftigen Worten sein Unrecht vorhalten?«
»Das war meine Absicht,« sagte der lange Mann würdevoll.
»Gäben ihm zu verstehen,« fuhr der Doktor fort, »daß es eine Schande sei, ein Kind Nachts im Regen auf der Straße zu lassen, und würden vielleicht hinzusetzen, Sie hätten ihn mit sich genommen, ihn gepflegt, gewärmt, item, was für ihn gethan.«
Der Arzt, der sehr große und viele Schritte machen mußte, um nicht hinter den langen Beinen seines Gefährten zurückzubleiben, hielt diesen am Arm fest und hob sich, da derselbe nun stehen blieb, auf die Fußspitzen, um ihm, wie vorhin schon droben, in die Ohren zu flüstern; doch war dies mehr symbolisch; denn indem der Doktor das Nachfolgende sprach, schrie er so, daß man es über zwei Treppen hätte hören können.
»Ihr Wesen,« sagte er, »ist für diese verdorbene Welt zu nobel, zu anständig, zu gerade aus. Ich kann Sie versichern, lieber Herr, daß ich Sie immer im Geiste hoch zu Pferde sehe, mit gezucktem Schwerte und auf den Lindwurm zu Ihren Füßen einhauend. Daß der Lindwurm da ist und unter uns herumkriecht, gebe ich Ihnen zu. Doch werden Sie dagegen auch mir zugeben müssen, daß der Lindwurm nicht mehr ein tapferes Vieh ist wie ehedem, – wissen Sie, wie damals, wo er, »wie der selige Schiller sagte: gekleidet in ein scheußlich Grau, den Rachen aufsperrte, und uns muthvoll entgegentrat. Ja, damals galt es freilich – so!«
Hierbei machte der kleine Armenarzt eine außerordentliche Pantomime, indem er wie ein Fechter ausfiel, in der rechten Hand die lange Pfeife, die Linke hoch empor haltend.
»Das war Ihre Zeit, mein Bester; nachbohrend bis ans Heft den Stahl. Aber heute ist der Drache, den wir zu fürchten haben, der Drache der Lüge, der Bosheit, der Wollust, des Betruges, der Lästerung, des Aberglaubens; heute ist er eine feine, schlaue Bestie, und wenn Sie mit dem Knüppel nach ihm schlagen, so schleicht er unter Ihren Fingern hinweg, und Sie treffen Ihre eigenen Beine oder höchstens die unschuldige Nase Ihres Nächsten. Item, überlassen Sie mir die Sache.«
Während der Rede des Doktors blickte der lange Mann ernst in die Höhe, ließ seine linke Hand leicht vom Knopfe des Rohrstockes hinabgleiten, faßte diesen alsdann mit der rechten, und zog ihn langsam und feierlich hervor, ungefähr wie man ein langes Schwert herauszieht. Ja, er salutirte förmlich vor seiner Brust, und als der Doktor geendigt hatte, ließ er die imaginäre Degenspitze wie zum Zeichen der Billigung gegen den Fußboden niedersinken.
»Ganz alter Rittersmann,« sagte scheinbar entzückt der Armenarzt; »lieber Herr, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen die Versicherung ausspreche: Sie sind um ein paar hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen.«
Damit versuchte er es, dem Anderen auf die Schulter zu klopfen, mußte sich aber, da er zu klein war, um hinauflangen zu können, mit jenem Theil des Rückens begnügen, wo dieser seinen ehrlichen Namen verliert. Dann wandelten Beide den langen Corridor hinab und traten in das gewölbte Zimmer, wo der kleine Knabe noch in dem Lehnstuhle saß und von wo aus er, wie es schien, das Bild über dem Kamin mit der größten Aufmerksamkeit betrachtet hatte.
Der kleine Doktor nahm seine Pfeife beim Eintritt ins Zimmer wie ein Soldat sein Gewehr bei Fuß und fing erst wieder auf die spezielle Einladung des langen Mannes an zu rauchen. Dann trat er näher, und als der Knabe sein Gesicht gegen den Ankommenden wandte, blieb der Armenarzt überrascht stehen und sagte nach einer Pause lachend:
»Das ist ja einer meiner Bekannten! Junge, wie kommst du hieher? Aber das weiß ich ja schon,« verbesserte er sich. »Sie werden mir indeß zugeben,« wandte er sich an den langen Mann, »daß ich das Recht habe, aufs Höchste erstaunt zu sein, hier einen Bekannten zu treffen. Item, es ist der kleine Gottschalk, des Jägers sein Gottschalk – ein ganz verfluchter Kerl.«
Ob der letztere Ausdruck dem Vater oder dem Sohne galt, darüber muß leider die Nachwelt im Zweifel bleiben. Daß es der Doktor aber nicht böse meinte, bewies er durch sein Nähertreten und dadurch, daß er den Knaben sanft auf den Kopf pätschelte und ihm über die Stirn fuhr; dann griff er ihm an den Mund und drückte ihm ein wenig die untere Kinnlade hinab, worauf, Gottschalk, der dieses Manöver zu verstehen schien, augenblicklich seine Zunge so weit als möglich herausstreckte.
»Kopf ein wenig warm,« sagte der Armenarzt, »Zunge trocken und belegt, Puls um eine Idee irritirt. Item, ein bischen unwohl. Hat aber nichts zu sagen. Wollen ihn schon in den nächsten Tagen wieder zusammenrichten. Nur werden Sie mir zugeben,« fuhr er sehr ernsthaft fort, »daß ich das Verlangen stelle, der Bube soll heute und auch vielleicht morgen noch hier im Zimmer bleiben, und wenn Sie nichts dagegen haben, so wird Ihnen das gewiß einerlei sein, und Sie thun ein gutes Werk. So ein Stück von einer Matraze werden wir schon auftreiben, darauf legt er sich hin, man deckt ihn bis an die Nase zu, läßt ihn einige Tassen Kamillenthee mit zwei Tropfen Citronensaft trinken, item, behandelt ihn wie Jemanden, der schwitzen soll.«
Als der Doktor so eifrig sprach, mit der langen Pfeife in den Händen gestikulirend, auch bald rechts und links tretend, fuhr ein Lächeln über die Züge des langen Mannes, und er sprach nach einem augenblicklichen Stillschweigen:
»Wenn sich der Knabe auf seine Matraze legt, lieber Doktor, so ist es Ihnen wohl einerlei, ob er zuerst mit dem linken oder rechten Fuße aufsteigt?«
Der Armenarzt wandte seine Brillengläser gegen den Frager und schien erstaunt, aber nur eine Sekunde lang, dann lachte er laut und fröhlich hinaus, wobei er ausrief:
»Sie werden mir zugeben, daß Sie ein Schäcker sind. Item, schwitzen soll er; thut nun, was ihr wollt; nachher komme ich, um nachzusehen.«
Er machte eine eilige Bewegung gegen die Zimmerthür, kehrte aber augenblicklich wieder zurück, indem er sagte:
»Apropos, wenn ich mich erkundige, ob der Knabe etwas hat, um die Wäsche zu wechseln, so bin ich mit dieser Frage in meinem Rechte; denn Sie werden mir zugeben, wenn Jemand schwitzen soll, so muß er auch ein ordentliches Hemd anziehen können. Item, da aber kein trockenes Hemd da zu sein scheint, so sehen Sie wohl ein, daß man ihm eines verschaffen muß. Ich hab' so ein paar mildthätige Familien, die mir hier und da aushelfen. Laß einmal sehen, wie groß du eigentlich bist,« wandte er sich an den Knaben, und als dieser augenblicklich aufstand, fuhr der Armenarzt mit großer Lebhaftigkeit fort:
»Accurat so groß, wie meine Pfeife. Aber da ich diese außer dem Hause nicht bei mir führe, so werden Sie mir zugeben, daß ich ein anderes Maß nehmen muß. Das werden Sie hoffentlich einsehen,« setzte er lachend hinzu, »und mich nicht wieder der Umständlichkeit beschuldigen. Item, er geht mir bis ans Herz – das ist wahr und außerdem schön gesagt. Das werden Sie hoffentlich nicht abläugnen. Nun aber adieu, Bester; der Tiger kann für Thee sorgen und zu mir heraufkommen, um einen Citronenschnitz zu holen. Zwei Tropfen, nicht mehr.«
Damit flatterte er zur Thür hinaus, doch war der rothe Schlafrock noch nicht ganz in der Spalte verschwunden, als der Armenarzt auch schon wieder umkehrte und, aus die Stirn zeigend, sagte:
»Es ist doch ein wahres Sprichwort: Was man nicht im Kopfe hat, muß man in den Füßen haben. Das werden Sie mir zugeben. Item, ich hatte vergessen, Sie nochmals zu ersuchen, mir in der Sache mit dem Knaben da und dessen Auffinden gestern Nacht freie Hand zu lassen, vollständig freie Hand; das gibt eine kostbare Geschichte, aber sie verträgt nicht, daß man ein unvorsichtiges Wort darüber spricht. Ich komme heute Vormittag noch in die Wohnung des Knaben da, und werde mich mit dem Vater und der Mutter besprechen. Auch mit der Großmutter,« setzte er hinzu, wobei er sein linkes Auge auf eine komische Art gegen den Knaben zukniff. »Na, hab nur keine Angst, wir wollen ihr die Sache schon plausibel machen,« sprach er beim Anblick von Gottschalk's Gesicht, das sich ziemlich in die Länge zog. »Hab nur keine Angst, deine Großmutter ist eine ganz vernünftige Frau, und ich bin nicht nur ihr Arzt, sondern auch ihr Rathgeber.«
Damit warf er sich in die Brust, und als der lange Mann nichts erwiderte, reichte er ihm die rechte Hand und rief: »Also schlagen Sie ein, die Sache bleibt mir überlassen; den Knaben behalten Sie im Zimmer und gehen auf Ihr Bureau, ohne mit einer Menschenseele von der ganzen Geschichte zu sprechen. Daß das nothwendig ist, darauf können Sie sich verlassen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, und wenn ich Ihnen mein Wort verpfände, so werden Sie mir dagegen zugeben, daß ich das gewiß nicht ohne Ursache thue. Item, – abgemacht.«
Jetzt flog er wirklich zur Zimmerthür hinaus; doch so unglaublich war es, ihn nicht nochmals wiederkommen zu sehen, daß der lange Mann und selbst der Knabe ein paar Augenblicke nach dem Ausgang der Stube blickten, als müsse dort der rothe Schlafrock noch einmal zum Vorschein kommen.