Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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123 13.

Konnte nun aber wol auch Armgart zu den Ungeduldigen gehört haben, die dem heraufziehenden Unwetter bald den schönsten Uebergang wieder zum blauen Himmel und Sonnenschein verhießen und sich von der Einladung in die drusenheimer Villa um alles in der Welt nicht abbringen lassen wollten? Wird denn auch sie mit ihrem halb über den Hut gezogenen Oberkleide durch die Feldwege, die in Gießbäche sich verwandelt hatten, so »hingetrottelt« sein, sieben unter einen alten Regenschirm gedrückt? Wird denn auch sie von den zu Hülfe Eilenden so beschützt werden, daß sie nur noch nöthig hat, das Anerbieten der jungen Frau Wirthin anzunehmen, das dahin ging, sämmtliche junge Mädchen möchten mit ihren vier Erzieherinnen erst in ihrem Zimmer Toilette machen? Sieht sie die beiden Englischen Fräulein (nicht die Misses Coffingham, sondern die ihrigen) voll Bewunderung lieber sich bis auf den Tod erkälten, als daß sie ein einziges ihrer nassen Ordenskleider wechseln? Lernt sie von Frau Bettina, wie eine junge Frau, die eigentlich das Herz voll Aerger haben sollte, nicht das Mindeste davon verräth, sondern sich in diesen Lärm eines massenhaften Besuchs wie in etwas ganz Gewöhnliches findet, dazu die freundlichste Miene macht und statt eines Gartenfestes jetzt oben den Salon und den Flügel und, als der 124 Regen nachläßt, die Fenster wieder öffnen und dann die Jugend sich zu Kaffee und allerlei köstlichem Backwerk ergehen läßt, wie es ihr eben beliebt? Hört Armgart dem Herrn von Terschka zu, der vor allen sie auszuzeichnen sich vornahm, ihr erzählen wollte von ihrer Mutter, die in der That vielleicht schon diesen Abend, jedenfalls morgen am Hüneneck eintreffen konnte? Lachte sie wie die andern Mädchen über einige der Herren, die sich ins Rauchzimmer zurückgezogen hatten und die unerbittlichste aller Kritiken, die des Muthwillens, herausforderten – womit stößt man nicht alles bei jungen Mädchen an! Spielte sie Charaden, Moquirstuhl und Schenken und Unterschrift, wobei endlich der die »Herren« meidende Herr von Binnenthal aufhörte vom Wetter zu reden, die in Nebel gehüllten Dampfschiffe zu verfolgen und sogar für einige seiner Devisen, z. B. »Bange machen gilt nicht!« ein dankbares Publikum findet? Gibt sie der Frau von Guthmann Auskunft über ihren Stammbaum und veranlaßt diese Dame, auch von dem ihrigen zu reden? Schließt sie sich zuhörend den vier protestantischen Jungfrauen an, die, während die Musiklehrerin Tänze spielt, einen fanatischen Confessionsmeinungsstreit mit den beiden dem Pfarrer attachirten Englischen Fräulein und Angelika beginnen? Bewundert sie den Heroismus der wirklichen Engländerinnen, die den beiden Nonnen, welche nun einmal das sind, was sie sind, das Papstthum als eine Schöpfung des Antichrists schildern und ihnen das Recht abstreiten, sich nach dem freien Albion zu nennen, wodurch Armgart dann allerdings Gelegenheit gehabt hätte, ihre Ansichten über die Ausbreitung des Katholicismus in England zu berichtigen? Und hört sie, wie die sanfte Angelika, als die beiden Fräulein Carstens nach langer Conversation des Erstaunens über Lucinden erklären, sie müßten an sich eine weibliche Erziehungsanstalt, wie die da drüben, die nur Frauen leiteten, eine 125 musterhafte nennen, denn nur sie lehrten es, »die Männer zu verachten«, worauf es in einer heirathsschwierigen Zeit vorzugsweise ankäme – im Gegentheil diese Auffassung in Abrede stellt und erklärt, sie ihrerseits müsse gestehen, sie lehre ihre Mathematik, ihre Geschichte, ihre Naturwissenschaften nur, um desto mehr die Männer hochachten und lieben zu lernen, da eben die Männer es gewesen wären, die Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte erfunden hätten? Lauscht sie den jener unheimlichen Lucinde gewidmeten Erzählungen Schulzendorf's, der nach zwei genommenen Tassen Kaffee und einem kleinen Curaçâo sich bald empfehlen zu müssen erklärte und auch von Grützmacher und seinem Pferde abgeholt und von dem schärfer blickenden Auge desselben veranlaßt wurde, gewisse auf dem Balcon sichtbare Persönlichkeiten mit gewissen Notizen in ihren Portefeuilles zu vergleichen? Oder steht auch nur Armgart zur Seite und glossirt mit Moritz diese »stillen Sonntagsfreuden ländlicher Zurückgezogenheit« und hört die Geschichte, die Herr von Guthmann bei Gelegenheit Lucindens, der spätern Schauspielerin Constanze Huber, von einem jungen Commis erzählt, mit welchem Herr von Binnenthal »eine ganz merkwürdige Aehnlichkeit hätte« – –?

Von alledem nichts! Denkt euch im Gegentheil einen vom Regen durchnäßten breitastigen Ulmenbaum! Denkt euch an ihm einen gewaltigen Ast und auf dem Ast einen schmächtigern Zweig und in dem Zweige einen grünen Winkel und in dem Winkel ein Vögelchen, das im Sturm und Unwetter, im Regen, Blitz und Donner wie ein bucklig Zwergmännlein in seinen aufgeplusterten Federn sitzt! Mit Augen und Schnabel sitzt der Kopf, mit Krallen und Sporen sitzen die Füßchen ganz in dem Federwulst versteckt. Sonst so schlank, sonst so leicht durch die Blätter hüpfend, hockt jetzt das Thierlein wie ein Männlein aus der Gnomenwelt oder wie ein Kind, das Großmütterchens alten 126 Pelzmuff über den Kopf gezogen hat – So verzaubert sitzt Armgart einsam auf der Insel Lindenwerth.

Sie wollte nicht mit! Sie blieb daheim! Sie blieb in ihrem Schlafsaal Nr. 5, an dessen äußerm Ende eine der Pensionärinnen ein wenig unpäßlich liegt, die kleine Liddy, die bei Sturm und Ungewitter ruhig in ihrem Bettchen schlummert. Sie hat die Pflege der Kleinen übernommen. Still ist's in dem immer noch düstern Saale, auch nachdem die Schloßen ausgetobt haben. Einige Scheiben knickten ein, glücklicherweise ohne Zugwind durchzulassen. Armgart zieht sogleich die grauen Fensterladen vor und nun wird's in dem Saale mit den fünf leeren Betten und mit der einen schlummernden Kranken fast gespenstisch. Da hockt sie an dem einen freigebliebenen Fenster, an dem nassen Ulmenbaum, an dem kleinen, dorthin von ihr getragenen Nähtisch, vor dem aufgeschlagenen Buch, in dem sie lesen wollte und nicht lesen kann – in einem Rosenkranz voll Gebete und Gedichte von Beda Hunnius, mit einem wundervollen Titelkupferstich, einen Kranz darstellend von sieben Rosen, welche die sieben Schmerzen Mariä enthalten und darüberher, triumphirend, das Lamm mit der Fahne, das Symbol ihrer schwierigsten und mangelndsten Tugend – der Geduld.

Aber sie scheint recht geduldig geworden zu sein. Sie gluckst nur so und duckt sich und »hockelt«, wie der Pensionsausdruck lautet. Erst während des Mittagessens war Angelika den andern von Drusenheim her nachgekommen mit Aloysia der Vorsteherin. Sie hatten drüben zwei Stunden auf den Pfarrer warten müssen! Und was brachten sie mit? Mahnungen zum – Abwarten! Abwarten? Und die Mutter schrieb doch – der Pfarrer hatte gestattet, daß Armgart den Brief las –: »Mein gutes Fräulein Angelika Müller! Ich erhalte von unserm sanften, liebevollen Dechanten aus Kocher am Fall Ihre Einlage an ihn. 127 Sie wissen nicht, daß mir einst mein Kind, mein einziges, wie von Zigeunerhand gestohlen wurde; daß ich, hinausgejagt in Sturm und Verzweiflung, hundert vergebliche Versuche machte, mein Kind mir wiederzuerobern, daß ich dann, als alles vergebens, in ein Kloster ging, fast zwölf Jahre der Selbsterkenntniß lebte und der gern von mir eingestandenen Pflicht – erst mich selbst zu erziehen. Jetzt bin ich vierunddreißig Jahre; aber ich fühle mich wie mit Siebzigen. In euern Wäldern wußt' ich zum Glück mein Kind von meiner Schwester und meinem Schwager liebevoll gehütet, wie ihr eben die Liebe versteht; ich wußte sie so erzogen, wie ihr die Menschen erzieht. Ich schildere Ihnen die Sehnsucht nicht, die mich nach meinem Kinde verzehrte, das man mir nur unter der Bedingung zurückgeben wollte, wenn ich meinem in eine andere Garnison versetzten Gatten folgte. Es trennte mich nichts von ihm, als die mir fehlende freudige Lust, ihm folgen zu können. Zuletzt, als erneute Versuche der Rückeroberung vergebens waren, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht Armgart zum Opfer meiner Nichterziehung gemacht haben würde. Wie oft nennen wir Erziehung, was nur ein unglückliches und widerstandsloses Dahingeschleiftwerden von unsern älterlichen Thorheiten ist! Wie oft nennen wir Liebe, was nur ein unglückliches Zermalmtwerden ist von den Rädern unserer eigenen Entwickelung! Thörichte Mütter, die ihr von der Zärtlichkeit für eure Kinder sprecht und sie nur zu Opfern eurer Stimmungen macht! Eure Umarmungen sind nicht deshalb so heftig, weil sie von euerm reinen Herzen kommen, sondern weil sie von eurer Leidenschaft kommen, von eurer Verzweiflung oft um nichts, von eurer verletzten Eitelkeit! Mit stürmischen Küssen bedeckt ihr eure Kinder und flößt ihnen nur das Gift eures eigenen Temperaments ein. So war wenigstens meine Vergangenheit. Jetzt ist, nach einem 128 langen Klosterleben, vieles, vieles in mir anders geworden. Ich erzog mich, eines Kindes würdige Mutter zu sein. Und soll nun Armgart's Vater zurückkommen und sollen neue Stunden des Kampfes und der Prüfung für mich heraufziehen? Dem Vater sollte gehören, was ich mir mit vollem Rechte jetzt allein erworben zu haben glaube? Nein, indem ich diese Zeilen schreibe, bin ich im Begriff Wien zu verlassen, um mein Kind, dessen Seelenkampf ich verstehe, den ich jedoch nimmermehr von ihm allein oder von meinem Gatten werde entscheiden lassen, in meine Arme zu schließen. Ich werde mich vor Armgart rechtfertigen. Monika Hülleshoven.«

Das Auge der kleinen Richterin hatte gefunkelt beim Lesen des so seltsam entschiedenen Briefes. Bei den Worten: »Wie mit Siebzigen« strich sie sich bewußtlos ihren dunkelbraunen Scheitel, als gedächte sie der weißen Locken ihrer Mutter; bei Schilderung der falschen Liebe und Zärtlichkeit der Mütter stockte sie – sie verstand diese Stellen nicht – aber da, wo sie schließen konnte, daß die Mutter schon unterwegs wäre und von ihr Besitz nehmen wollte, nahmen ihre Gesichtszüge den Ausdruck des Schreckens an, der ihre schönen Lippen halb öffnete und wieder, wie verboten, die beiden Zähne hervortreten ließ. Immerfort strich sie mit der Hand über den Scheitel ihres Haares, gleichsam nur diesen zu ebnen. Die Hand wollte aber nur die Gedanken ebnen, die wilden, die unruhigen, die schon schreckhafte Entschlüsse in ihr zu treiben begannen.

Der Pfarrer befiehlt dir, deinen Schein von Richterschaft aufzugeben, dir nicht anzumaßen, daß du ein Urtheil fällst über Vater und Mutter, und daß du dich ruhig ergeben sollst und vorläufig dem Willen des Stärkern –! Armgart lächelte und blickte wie abwesend auf die Oberin Aloysia, als sie diese Worte gesprochen.

129 Kommt die Mutter früher als der Vater, so gehörst du den Umarmungen der Mutter! fuhr Schwester Gertrudis fort. Inzwischen hat der Pfarrer nach Westerhof geschrieben und wartet von dort auf Antwort!

Jetzt, zumal da Angelika so ganz zu allem schwieg, flossen Thränen der Liebe und des Schmerzes. Und doch standen der stillergebene Stolz des Vaters, die würdevolle Entsagung des Tiefgekränkten auch der ältern Freundin Angelika so lebhaft vor Augen, daß sie das Gefühl des Kindes, sich gerade diesem Vater nicht zu weigern, gerade ihn mit der Heimat nach so langer Trennung wieder auszusöhnen, vollkommen verstand. Die excentrische Gefühlsweise Armgart's entsprach im Grunde auch ihrer eigenen Lebens- und Menschenauffassung. Nicht wer Mathematik treibt, sondern wer ein starkes Herz hat und doch entsagen, doch kämpfen muß, lebt das Leben nach Gesetzen und regelt jedes noch so glühend aufwallende Gefühl. Angelika wußte selbst nicht viel von dieser Stärke, die sie besaß. Sie war, dessen unbewußt, stark und gab sich dann doch nach außen wie die Schwäche selbst. Sie tröstete und schalt und verschwendete noch Worte gegen eine Sache, wo ihr Inneres schon längst dafür entschieden hatte. Darin glich sie einer Mutter, die, mit den strengsten Worten und vor Schmerz selbst vergehend, ihrem leidenden Kind die schmerzhaftesten Wunden lindern und verbinden kann, während dem dabeistehenden Miethling in seinem scheinbar weichern Mitgefühl angst und wehe wird.

Und wir sehen ja heute noch Benno drüben! war Angelika's Trost gewesen. Er kommt gewiß hinüber! Wir erspähen ihn schon von der Villa aus und wol gar auch den Herrn Thiebold de Jonge –

Armgart zeigte stumm auf die heranziehenden Wolken und später sagte sie ohne Verstellung: Ich bin krank! Nach Drusenheim – geh' ich nicht mit hinüber!

130 Armgart! verwies Angelika und fühlte ganz das Nämliche, was die von ihr Gescholtene fühlte.

O, sagte Armgart nach einer Weile, es ist furchtbar mit diesen Aerzten der Seele. Zu wissen, daß ein Arzt auf ein Uebel heilt, das wir gar nicht haben! Ungeduld, das ist ja meine Krankheit gar nicht. Eine Zeit wird kommen, wo ich auf die Art in keinen Beichtstuhl mehr gehe!

Armgart! Armgart! rief aufs neue und ernstlich verweisend Angelika – aber sie fühlte wie die von ihr Gescholtene.

Ich will der Priester meiner Aeltern sein! fuhr Armgart fort. Ich will sie zum zweiten mal trauen, noch einmal segnen! Davon träum' ich ja Tag und Nacht! Darauf hin seh' ich Leiden und blutige Dornen über mich verhängt, aber auch Rosen, himmlische Rosen der Erfüllung!

Und Angelika hörte alles das äußerlich tadelnd, innerlich billigend. Mit all ihrer Mathematik und Physik lebte sie in einer gleichen Anschauung der überirdischen Dinge, in gleicher Verehrung vor den großen Zauberworten der Seele, denen alle Natur zuletzt gehorchen muß. Angelika besaß den reichen aufgesammelten Schatz der Liebe einer Jungfrau, die ohne Hoffnung verblühen muß.

Man hatte längst zu Mittag gegessen. Alles war in Kummer über das zunehmende Sichüberwölken des Himmels. Kurz vor Vier faßte man den heroischen Entschluß, ehe es »gießen« würde, rasch noch hinüberzuschiffen . . . Die Erzieherinnen gaben nach. Die Englischen Fräulein wollten doch dem Pfarrer ein gegebenes Versprechen halten.

Angelika befürwortete nun selbst das Zurückbleiben Armgart's. Sie ließ ihr außer dem Briefe der Mutter auch den kurzen und so unbestimmten des Dechanten. Und bei alledem, mehr mochte der Dechant jene geheimnißvolle Zuschrift aus Italien nicht 131 studirt haben, als Armgart die Runenschrift dieses Briefes bis auf jedes Häkchen und jeden Bindestrich zu entziffern sich mühte. Ob voll Jammer und Klage über das veränderte Wetter nach langem Hin- und Widerreden das Institut sich eingeschifft hatte, ob die jungen »nachgemachten Engländer« sich drüben einfinden würden, ja ob selbst Benno ihrer harrte – sie blieb daheim und las und wachte über die kleine Liddy.

O, das sind seltsame Zustände, wenn es so in unserm Innern an allen Ecken und Enden zupft und kein Gedanke Stich hält, kein Gefühl zur That wird, keine Vorstellung, und wäre sie auch gar nicht so schreckhaft an sich, doch kein reines und volles Behagen gewähren will! Dann weiß man, und die fiebernde, bald heiße, bald kalte Hand bezeugt es, daß man sich in seiner Sorge und seinem Unmuth gewiß nur selbst zerstört, und doch kann man den Blutstrom, der alle Lebenswärme zum Herzen drängt, im Laufe nicht ändern, geht und wirft sich stöhnend aus einem Winkel in den andern und sagt sich nur: Eins ist gewiß, ich werde krank! Auch Freunde können dann nicht helfen. Ja. wer hat denn gleich von euch den sanften Ton und den vollen Accord der reinen Uebereinstimmung, den Ton, der uns gerade jetzt so noth thäte und den allein nur zu hören uns jetzt möglich ist! Wie klingt doch so oft euer Trösten und des Zuspruchs bestes Wort so völlig anders, als es die Schmerzen hören wollen! Schon daß ihr alle so gesund aus der frischen Luft des Lebens kommt! Daß euch allen nichts fehlt! Käme z. B. Jetzt Thiebold de Jonge – nur lachen, nur scherzen würde er – Benno – Benno freilich – auch er ist immer so seltsam traurig – was fehlt ihm nur, dem Guten, der selbst wenn er heiter scheint doch immer nur wie ein Duldender ist? – Paula! Paula! – Der hätte sie den Kopf in den Schoos legen mögen! Die hätte Frieden über ihre Seele gehaucht, schon mit dem einzigen 132 Streicheln ihrer Hand! Paula hätte nur gesagt: Armgart! und in dem einen Worte, schon in dem Ton hätte alles gelegen, was sie still und ergeben gemacht!

Das Gewitter war endlich vorüber. Armgart erfrischte die verweinten Augen auf einem Balcon, auf welchen eine Thür des Corridors des alten unheimlichen Gebäudes führte. Schon war es die sechste Stunde. Die kleine Liddy hatte sich ein Geschichtchen erzählen lassen, sich dann auf die andere Seite gelegt und war wieder eingeschlummert. Der Balcon ging nach der Seite hin, die dem Hüneneck zugewandt ist. Sie konnte die für eine »wiener Dame« bestellten Zimmer nicht vergessen. Die »Vier Jahreszeiten« selbst waren vor Nebel nicht sichtbar. Wie trübe dieser Anblick, der am frühen Morgen so schön gewesen! Die nächsten Berge jetzt unsichtbar! Nur in leisen Contouren glitten sie aus dem Wassernebel hervor – Das Enneper Thal ganz durchwallt von weißen Luftstreifen, als zög' es fort mit den Wolken. Am Meere, das hatte eine Antwerpnerin im Institute erzählt, da säh' es fast immer so aus. Am Meere! . . . Selten schossen die Wasservögel so niedrig hin – Am Meere! gedachte sie wieder – Dann mußte sie das Nächste im Auge behalten, den Garten am Kloster, das Gewöhnlichste, nur um noch frisches Grün zu erblicken – Wie die Salatbeete im Regen so putzig küchenmäßig und überreinlich glänzten! Wie die Magd da watet barfuß in die weiche Erde hinein und die Köpfe heraushebt, die für den Nachtimbiß bestimmt sind! – Wann aber werden die Mädchen kommen? . . . Bringt Angelika wol einen Gruß von Benno mit? Von Thiebold de Jonge? Oder kämen sie wol beide und besuchten sie hier selbst auf der stillen Insel?

Darüber erschrickt Armgart. Leicht gekleidet geht sie aus der ihr plötzlich fühlbaren frischen Luft in den schwülen Corridor, in den noch schwülern Schlafsaal. Sie lüftet ein wenig das Fenster, 133 das von Liddy am entferntesten liegt. Der Gedanke des heimlichen Besuches hat sie ganz überrieselt.

Sieben Uhr! Immer noch kommen die Mädchen nicht! Der Regen hat längst aufgehört. Man sieht schon wieder trotz des Abendwerdens das Ufer und drüben am Enneper Thal stehen die Kähne schon in Bereitschaft. Tönneschen Hilgers scheint so ungeduldig. Es läßt sich ja heute noch sonst etwas verdienen; denn mancher hat das Dampfboot versäumt und will hinübergesetzt sein auf das jenseitige Ufer, wo es heute Omnibus genug gibt, die wenigstens noch nach der Universitätsstadt fahren. Da fahren auch in Mänteln Herren und Damen . . . Gäste aus der Villa? . . . Und immer die Mädchen nicht! . . . Müssen die sich gut unterhalten!

Die kleine Liddy ruft. Des Abends kommt sicher wieder das Fieber –! Auch der Arzt, der vom Hüneneck her erwartet wird, bleibt aus –!

Halb acht Uhr –!

Da endlich, endlich! – Da kommen sie! Armgart sieht es trotz der Dunkelheit deutlich vom Balcon. Die mögen schön einsinken in den weichen Feldwegen –! Lederschuhe haben glücklicherweise alle an. Herren begleiten sie und die Kleinen werden über manchen Bach, der erst seit einigen Stunden auf der enneper Landkarte steht, hinweggehoben – Ob Benno's Arm dabei behülflich ist? Wie sollte der zu den Herren von Drusenheim kommen? – Oder Thiebold de Jonge vielleicht – Da fährt ein Wägelchen! Mit zwei Ponies! . . . Zwei Damen bringen die allerkleinsten der Pensionärinnen an den Landungsplatz – Sich alles das und noch mehr nun bald erzählen zu lassen, interessirte Armgart bei alledem. Von der Toilette der schönen Madame Fuld erwartete sie Wunderdinge. Niemand 134 kann sein Geschlecht im Andern mehr lieben und neidloser bewundern, als das weibliche.

Wo ist denn aber unter den Schiffenden nur Angelika? Sonst winkt Die doch immer mit ihrem Sonnenschirm oder mit einem Taschentuch, wenn sie vom Ufer kommt und Armgart steht auf dem Balcon – Heute aber – ja, da ist sie –! Sie kehrt der Insel den Rücken zu! O, das sind schlimme Zeichen –! Oder gehört sie auch zu den Lacherinnen und schämt sich nur vor Armgart? Wie aufgeregt ist das junge Volk! Sie haben in den nassen Kähnen die Kleider aufgenommen und sitzen fast da wie die Butterfrauen, wenn die vom Markt kommen – Regnet's denn noch? – Die Hüte sind mit Taschentüchern umwunden – Man schont sie doch wol nur – Nur die beiden Nonnen sind, was sie sind, in Sonnenschein und Regen, immer die gleichen Hauben mit den gleichen langen Flügeln – ihre zwei Regenschirme sind die gröbsten der Anstalt.

Jetzt sind sie da – Die Erzählung! . . . Das Amusement! . . . Was Armgart alles versäumt hat! . . . Armgart hält sich die Ohren zu. Sie will allerdings alles wissen, aber eines doch nur nach dem andern. Es war indessen alles dasselbe: Kaffee, Chocolade, Baisers, Torten, Pfänderspiele und Pfänderspiele, Torten, Baisers, Chocolade und Kaffee. Die Damen mit den Ponies waren die beiden Engländerinnen gewesen – Das sagten zehn zugleich – und der Herr, der die andern Kleinen über den Bach gehoben, hieß Herr von Terschka – und das sagten wieder zehn zugleich. Für das Souper von Salat und Eiern und kaltem Braten und für die französische Betrachtung der Schwester Aloysia in dem stockdunkeln Eßsaal war heute wenig Interesse vorhanden. A vos places! Das stiftete wol einige Ruhe. Aber man knupperte müde und übersatt am Salat und es war hier alles »nicht das«! Es rebellirte noch 135 lange und murmelte und seufzte fort in dem jungen Volk bis zum Schlafengehen.

Angelika vermied ordentlich, Armgart zu begegnen. Sie mied sogar, sie nur zu grüßen. Von der kleinen Liddy oben sprach sie, die sie gleich besucht hatte und fiebernd fand, was den beiden Nonnen große Angst machte und des schlechten Wetters gedenken ließ, das den Arzt verhindert hätte, die Insel zu besuchen. Der Arzt hatte gesagt, er hätte im Roland noch den Abend zu thun – Im Roland! So nahe der Insel! – Wird er denn nicht noch kommen?

Zuletzt machte sich's noch, daß Angelika und Armgart etwas allein waren. Die kleinsten streckten sich schon in ihren Betten. Die ältesten saßen unten noch im Eßsaal und sprachen das Erlebte durch. Auf die Beete und die Wege der Insel, die man wol sonst bei nun früher und früher eintretender Dunkelheit noch durchschlüpfte, konnte man vor Nässe nicht hinaus, wenn auch der Vollmond einlud, der noch vielleicht die Wolken durchbrach. So standen Armgart und Angelika ungestört auf dem Balcon und krampfhaft hielt sich die Hand des jungen Mädchens am eisernen Gitter, als sie erfuhr, was der Freundin noch der Pfarrer mitgetheilt. Die Mutter konnte schon drüben in den Häusern sein, wo die Lichter über den Wellen tanzten! Für bestimmt hätte das jener Fremde, der gestern die Zimmer bestellt in den »Vier Jahreszeiten«, versichert – Von Benno – sie hörte kaum – wußte Angelika nichts – und Thiebold de Jonge und der Bruder der Nanny Schmitz und die andern – von allen denen hätte man gleichfalls nichts vernommen.

Nun schlug es halb Neun. Rings war alles still, trübe und düster. Noch zeigte sich kein Stern am Himmel; aber da, wo der Mond hervorbrechen konnte, schien es lichter zu werden. Armgart wollte sogar ein Boot erkennen, das man durch die Zweige der 136 Bäume vom Hüneneck herübersteuern sähe. Angelika strengte ihre Augen an. Es kam auch ein Boot. Armgart zitterte und stand wie auf der Flucht. Alsbald ließ sich der Arzt erkennen, der noch so spät nach der kleinen Liddy zu sehen kam.

Als dies geschehen, in Begleitung der Englischen Fräulein, fuhr der Arzt nach dem Roland zurück. Angelika begleitete ihn eine Strecke im Hause und wagte nach Benno von Asselyn zu fragen. Benno von Asselyn? Wir erwarten ihn drüben im Roland! sagte der Arzt. Ich werd' ihn von den Damen grüßen. Der Arzt hatte Eile. Sein Schiffer steuerte ihn zurück und bald sah man von allen Seiten, da und dorther, Kähne kommen, die alle dem Roland zuglitten.

Jetzt wollte auch Angelika zur Ruhe gehen. Als sie an Armgart, die immer noch auf dem Balcon verweilte, vorüber mußte, fand sie diese in der größten Unruhe. Wieder steuerte vom Hüneneck gerade der Insel ein Nachen zu. Es ist eine Dame darin! rief sie. Ein carrirter schottischer Mantel! Ein Diener hält den Regenschirm! Das Wort: Es ist meine Mutter –! erstickte in ihrer Freude und in ihrer Angst.

Auch für Angelika gab es kaum eine Bezweifelung der Richtigkeit dieser Vorstellung. Sie zitterte wie Armgart. Doch erbot sie sich, hinunterzugehen und genauer zu forschen – in der Richtung der Nachen irrte man sich oft.

Armgart widersprach nicht. Der Kahn kam näher und näher. Armgart sah vom Balcon bald rechts, bald links in die Tiefe und wußte nicht, wie sie auf beiden Füßen zugleich stehen sollte.

Angelika durchschreitet die schwülen, dumpfen steinernen Corridore und Treppen. Noch war es ja möglich, daß der Kahn hinüber zum Geierfelsen, nicht an die Insel fuhr. Armgart rafft sich jetzt auf. Sie huscht in den Schlafsaal, wo ihre Kleider hängen und ihre Wäsche in einer Kommode liegt. Liddy schläft; 137 die kleinern Bewohnerinnen des Saales schlafen alle; zwei ältere sitzen noch unten im Eßsaal, von wo man sie laut sprechen hört. Armgart rafft zusammen, was sie mit wenig Griffen finden kann, ihren Mantel, ihren Winterhut, ihre Hemden, einige Tücher, Strümpfe, Unterkleider, Schuhe, Bücher. Ein großes Umschlagetuch wird auf dem Boden ausgebreitet, ohne Licht tastet sie hin und her, öffnet das Nähtischchen, leert es, wirft alles in ihr Tuch, die Zipfel knüpft sie zusammen und ihr Bündel ist gemacht.

Um Gottes willen, Armgart, was hast du vor? flüstert Angelika, die zurückgekommen.

Ist sie's? Kommt sie?

Eine Dame kommt!

Armgart spricht kein Wort und stürzt mit dem Bündel von dannen.

Angelika, besinnungslos – folgt, wie von ihr angesteckt –

Armgart klinkt die Pforte nach dem Garten auf. So feucht auch der Boden, so kühl auch die Luft, sie ist schon außerhalb des Gartens, quer hindurch über Salat und Rüben und Zwiebelstauden, wie sie die Wege nur abkürzen kann. So fliegt sie dem Lichte zu, das sie an den kleinen bleigefugten Fenstern der Fischerhütten sieht. Angelika, das sah sie schon, folgte nun nicht weiter. Jetzt an den Fenstern der Fischerhütten anzupochen, da um einen Kahn zu bitten, dort dem Tönneschen, den sie richtig sieht und der in einem Buche studirt, oder den halb zuhorchenden, halb – zuschlummernden Aeltern desselben, allen denen erst zu klopfen und zu schmeicheln oder etwas aufzubinden, eine Erfindung, eine Ausrede, einen Auftrag, etwa den, etwas auf der Villa Vergessenes holen zu müssen – das gäbe Fragen, Aufenthalt –Nein! Nein! Sie kann ja selbst rudern – fort ans Ufer – 138 in einen Nachen – ihn losgekettelt – das Ruder ergriffen – So fährt sie von dannen.

Noch konnte sie des jenseit der Insel gegen den Strom angehenden Nachens nicht ansichtig werden. Sie steuert am Ufer der Insel hin, um nicht zu weit unten am Enneper Thal zu landen. Sie steuert gerade nach der entgegengesetzten Richtung, als die, in welche der Strom jenen Nachen gedrängt haben muß. Nun aber gewinnt sie die Höhe des Wassers und der ganze Spiegel liegt in dem immer mehr aufgehenden Mondlicht vor ihr. Auf zweihundert Schritte ist sie von dem Boot entfernt, in dem eine Dame sitzt mit einem Diener – Mutter! rief es hellauf in ihr – sie suchte – die silbernen Locken –! O, wie pochte ihr das Herz! Einmal war's ihr doch, als sollte sie über das Wasser hinwegfliegen, sollte einen Freudenschrei ausstoßen, die Arme ausbreiten und rufen: Mutter, da hast du dein Kind! Aber auch nur einmal überwältigte sie's und sogleich stand ihr der Vater vor Augen, der Vielgeprüfte, der Wettergebräunte, der Flüchtling auf dem Ocean! Dem gehörte sie nicht minder! Und dennoch, dennoch sucht das Auge das Antlitz der Dame – Es ist ihr abgewandt – Da stehen die weißschimmernden Birken auf der Insel – Wird der Kahn vorübergleiten, wird er landen? – Er hält – er will zur Insel – landet – es ist nur die Mutter – kann nur die Mutter sein, die sie holen, rauben will – und jetzt, jetzt ist ihr's gar, als zög' es sie in den Strom hinunter! Die weißen Birken werden zu den Locken der Mutter. Ein ganzes Leben geht ihr wie in einer Vision auf, beschienen wie vom Mondlicht – alles, was sie je nur unter den Trauerweiden und Birken vom Menschen und vom Frauenloose geahnt, scheint sich ihr plötzlich zu erfüllen, lebendig zu werden, zahllose Gestalten ziehen dahin und wie unter den Klängen einer außerweltlichen Musik – Schon entführte der 139 Strom die schwache Schifferin . . . Sie konnte den Nachen nicht mehr regieren.

Er bringt sie aber ans Ufer. Weit, weit ab freilich von dem Punkte, auf den sie mit aller nur möglichen Anstrengung ihrer Arme zugesteuert hatte. Sie geräth in ein Gestrüpp von Weiden und Schilf, an dem sich allmählich bequem und sicher aussteigen läßt. Jetzt gedenkt sie des Nächsten, Kommenden. Was soll sie beginnen? Wohin sich wenden? Ohnehin mit ihrem überschweren Bündel! Die Thürme hatten schon von da und dort die neunte Stunde geschlagen. War auch die Welt hier noch wacher als auf der Insel drüben, wem sollte sie sich anvertrauen! Wie weit war nicht der Weg zu einer Post, die erst im nächsten Städtchen am Fuße des Geierfelsen lag! Ihre Baarschaft betrug einige Groschen über einen Thaler.

Den Kahn mußte sie dem Zufall überlassen. Ein Moment der Besinnung. Sie wagt den Sprung ins Uferröhricht, nachdem sie ihr schweres Bündel schon vorausgeworfen. Alles gelingt.

Angelika's Anzeige und eine Verfolgung befürchtend, suchte sie nur zuerst eine Gelegenheit, weiter zu kommen. Nirgends Menschen; aber Lichter auftauchend da und dort. Sie läßt ihr Bündel noch im Schilfe liegen und läuft nur erst nach Drusenheim hinüber. Den Wirth vom Palmbaum kannte sie ja, er sie – Was sie sagen wollte, wußte sie noch nicht. Sie wollte nur in die Berge hinüber, vielleicht in ihre Heimat nach Westerhof, in ihr Stift zum Heiligenkreuz, zu Paula, die ihr plötzlich im Fieber der Angst und Verwirrung erschienen war, als stünde sie am Altar mit dem Grafen Hugo. mit dem schönen Reiterobersten im weißen Waffenrock unterm blinkenden Harnisch, und als fehlte sie ihr nur noch, sie, um der Freundin die Myrtenkrone aufzusetzen – So zitterte sie vor 140 Eile – Sie wußte jetzt, was sie den Leuten im Palmbaum sagen, wie sie die gewünschte Hülfe in unverfänglicher Weise anschaulich machen konnte – Wagen! Pferde! Das wurde ihre Losung.

Athemlos flog sie Drusenheim zu, nicht achtend, daß sie oft bis zu den Knöcheln versank. An jedes Kreuz am Wege, an jedes Bild des katholischen Brückengottes, das auf einem Bachstege stand, richtete sie im schnellsten Vorüber eine Bitte um Beistand. Endlich hatte sie die ersten Hütten erreicht, endlich ist sie in Drusenheim selbst.

Aber horch! Vom Palmbaum herüber – tönen da nicht melodische Klänge? Ist nicht Gesellschaft dort oben –?

Kaum hat Armgart im schönen Fernhall das Lied vernommen, das herunter von den obern erleuchteten Fenstern des Palmbaums und vom kleinen Balcon desselben wie wallend und wie wogend in die stille Nacht hinaus erscholl: »Vier Elemente, innig gesellt –« da erblickte sie einen Wagen vor der Thür. Sind das doch nicht die Freunde von Nanny's Bruder Gebhard Schmitz? Sind es nicht die dennoch, wenn auch verspätet Gekommenen? Ist wol gar Thiebold de Jonge unter ihnen, über den ich soviel lachen muß, weil er so verliebt ist wie ein Windspiel? Gehört dieser Wagen da den Sängern oben? Dann – Wie sollt' ich nicht hoffen, sofort ihn mein zu nennen, einzusteigen und hinauszufliegen in die weite, weite Welt!

Wem gehört der Wagen? fragte sie rundweg einen Knecht, der eben die Pferde aus dem Stall führte und einschirrte, während sich noch drinnen der Kutscher gütlich that. Lustig sagte der Befragte: Der Wagen? Der gehört da oben fünf Herren! Die haben heute Nacht 'ne Wallfahrt beschlossen in fünf Stationen! Auf jeder trinken sie eine andere Sorte Punsch! Fünf 141 Meilen haben sie schon gemacht und in jedem Wirthshaus untersuchten sie, ob die Weinkarte in Ordnung ist!

Vor Trunkenen überfällt jedes weibliche Herz Schrecken und Zagen. Schon vor dem Hausknecht bebte Armgart zurück. Oben aber erscholl der Gesang so schön, so melodisch und eben löste sich Schiller's Punschlied in Lachen und Jubel auf. Einer der Sänger – es war Joseph Moppes, der süßeste aller »vaterstädtischen Tenöre« – trat auf den Balcon, das Glas in der Hand, und einen andern, wirklich den blonden Herrn Thiebold de Jonge, mit dem linken Arm umschlingend, singt er aus einem andern Liede, wieder von Schiller, dem Allwaltenden bei Freud' und Leid der Menschen:

Bis die Liebliche sich zeigte,
Bis das theure Bild –

Da hatte Armgart, nicht wissend, daß sie selbst die Gemeinte, schon hinaufgerufen: Herr de Jonge!

Hier hängt er! rief Moppes.

Gehört der Wagen Ihnen, Herr de Jonge?

Wie? Was? spricht Thiebold, jetzt erst die Zartheit der herauftönenden Stimme erkennend« –

Wo so? fragt Moppes, zugleich über den Balcon sich beugend.

Wem? Was? Der Wagen –? wiederholt Thiebold.

Wü heußt? parodirt Schmitz, der Dialektkünstler.

Nun bricht der Rest des Sextetts in des Staunens vollste Blüte. Clemens Timpe sogar, noch mit einem aus voller Kehle geschmetterten: »Preßt der Citrone saftigen Kern!« – erstarrt und jubelt dann und alle schwingen ihre Hüte wie zur Abfahrt und Mäntel werfen zwei, der kühne Weigenand Maus und der stille Caricaturenstifter Alois Effingh, geradezu vom 142 Balcon herunter oben auf den Wagen und nun ist es allen in Sicht, daß mit ihnen eine Dame parlamentirt –

Wie erstaunten sie, als sie auf Joseph Moppes' energischstes: Ruhe! Pause zählten und ein junges Mädchen mit Thiebold Verwunderung und Orientirung und Namen und Fracht und Verklarung des Schiffes austauschte – nach schnellstem Erkennen Gebhard Schmitzens niemand anders als die heute so Vielbesungene selbst –!

Thiebold aber war bereits unten. Die von einer der melodischsten Sopranstimmen vorgetragenen Worte hörten sie: Herr de Jonge! Ich habe aufs dringendste diesen Wagen nöthig! Sie werden mir die Gefälligkeit erweisen, nicht wahr, ihn mir auf einige Tage zu leihen!

Einige Tage? Mein Gott, Fräulein! Sind Sie's – denn wirklich –

Ruhig! hieß es oben –

Einzig! Auf Taille! flüsterte Gebhard Schmitz. »Auf einige Tage –!«

Verwundern Sie sich nicht zu lange. Herr de Jonge! fuhr Armgart fort. Ich bitte! Befehlen Sie dem Kutscher! Ich steige ein! Ich habe die größte Eile!

Wirft mir wol einer meinen Hut herunter?

Zu mehr Worten konnte sich Thiebold zeit- und ortsgemäß nicht sammeln.

Fahren Sie mich ans Ufer zurück, da, wo die Weiden stehen!

Da, wo die Weiden stehen!

In diesen von allen jetzt mehr gesuchten als sofort gefundenen Weiden blieben so zu sagen sechs verdutzte Blicke hängen. Aber Armgart saß im Wagen und Thiebold hatte seinen Hut auf dem Kopf. Clemens Timpe hatte versucht ihn gerade so 143 zu werfen, daß er ihm auf sein blondes hochaufgerichtetes Haar fiel (Thiebold's äußerste Unruhe ließ sich am fortwährenden Streicheln seiner Frisur erkennen); der Hut fiel indessen zwischen die Hufe der Pferde und vor die Räder und bekam, da die Pferde schon anzogen, eine starke Prüfung seiner »Garantie«. »Das ist das Loos des Schönen auf der Erde –!« rief Schmitz.

Aber Thiebold, impertinent, »wie auch nur er sein konnte« (Nur Selbstkritik, nicht etwa Verleumdung von uns!), schwang sich hinten auf den bequemen Bedientensitz, verlor fast im Abfahren seinen jetzt wieder hinterrücks fallenden Castor – »weiß auf blond!« hatte noch kürzlich Benno über diesen, in gewisser Hinsicht »jetzt gelieferten«, Hut und über Thiebold's Ansprüche auf Geschmack geäußert – und schon schwenkte der Wagen dem Strome zu und der bezeichneten Stelle, verfolgt von einem fast kosackischen Hurrah der Freunde Piter's, die in diesem Augenblick sogar vergaßen, daß sie auf ihrer gleichfalls zu Wasser oder vielmehr schon zu viel, viel Rüdesheimer und Punsch gewordenen Partie die Retourgelegenheit verloren hatten.

Der Wagen war jener vortreffliche Landau mit jenen in Kocher am Fall »beinahe« verdorbenen englischen Patentachsen und die englischen Pferde gehörten gleichfalls Herrn de Jonge senior, der es für zweckmäßig zu halten schien, wenn sie durch de Jonge junior in entsprechenden, gesundheitverbürgenden Gebrauch kamen. Armgart schlug in dem prächtigen Wagen die Hände gen Himmel zusammen und hielt sie hoch empor, aus tiefster Seele dankend allen seinen Heiligen – aber noch zur völligen »Decontenancirung« des wie auf einer Landkarte umirrenden und gleichsam vergeblich einen gewissen Ortsnamen suchenden Thiebold.


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