Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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Eine der rührigsten und bekanntesten Frauen der ganzen Stadt war die Wirthin zum »Goldenen Lamm«. Wäre sie auch nicht schon von Natur die gutherzigste und wohlthätigste ihres Geschlechts gewesen, die kleine dicke, rundliche, immer noch hübsche Frau, die Beichtväter hätten sie dazu gemacht. Die Lust am Spenden hätten sie ihr schon als Strafe auferlegt; denn die Frau liebte das gesundeste Leben und hatte ein gar leicht rollendes Blut. Sie wechselte viel mit ihren Oberkellnern – sie wechselte auch viel mit den Vertrauten ihres Herzens. Dann war ihr die »Religion« ein Bad, mit dem man den Staub der Seele wieder abspült und immer wieder frisch und appetitlich in die Abwechselungen der schönen Erde, in Landpartieen, kleine Badereisen, Theater und Concerte zurückkehrt.

Einst »die Tochter aus dem goldenen Lamm« genannt, hatte sie einen Sänger geheirathet, der sich bei ihren Aeltern, wie man zu sagen pflegt, »festgekneipt« hatte. Diesen hatte sie dann zum Wirth gemacht. Er starb. Es folgte unter gleichen Umständen ein Schauspieler. Auch von diesem wurde sie Witwe. Nun nahm sie das Leben ganz wie Semiramis, groß und frei, vom luftigsten Standpunkt. »Gut« war sie indessen, herzensgut, mildthätig bis zum Exceß, und dabei so wohlgenährt, daß die Juweliere das Doppelte verdienten an den Ketten, die sie kaufte – dann ihren 140 Verehrern heimlich zusteckte und – sich, zur Genugthuung vor dem ganzen Dienstpersonal und den Stammgästen der Table-d'hôte und des abendlichen Schoppens, scheinbar von diesen wieder zurückschenken ließ. Niemand hatte dies Manöver mit größerer Gewandtheit ausgeführt als seinerzeit Jodocus Hammaker, der verdorbene Advocat, der einige Jahre lang, vor jener ominösen Hängegeschichte mit Dominicus Nück, der Vertraute ihres Herzens und besonders ihrer Kasse war.

Mundet's euch heute nicht? rief sie aus einem Fenster, das in die Einfahrt ihres großen und geräumigen Gasthauses ging. Denkt ihr an die Karmeliterinnen, wo morgen Nachmittag, wie bei einer Kindtaufe, groß Tractament sein soll! Wird ja bei Euer Gnaden eingeladen, als käm' eine Prinzessin ins Spital und wollte die Suppe kosten, die dann einmal wirklich aus Fleisch gekocht wird!

Damit reichte sie dem »gnädigen« Bettelvolk aus der mit ihrem Fenster in Verbindung stehenden Küche in die dargereichten Scherben Gemüse und Fleisch und füllte selbst die Gefäße, die oft so defect waren, daß sie ihr unter der Hand zerbrachen. Jeden Montag und Donnerstag fand diese Austheilung statt, die Tage ausgenommen, die noch etwaige außerordentliche Vergehen und die darauffolgenden Gebote des Beichtstuhls hinzufügten.

Diese »Abfütterung«, wie der Herr Oberkellner, mit seinem goldenen Siegelringe apathisch und seiner Stellung bewußt unter dem Thorweg stehend, sie benannte, mußte rasch geschehen, damit die Ordnung des frequenten Gasthauses nicht gestört wurde. Die Lahmen und die Blinden, die alten Frauen und die barfüßigen Kinder durften sich nicht zu lange aufhalten und die Gabe unter der Einfahrt oder im Hofe schon verspeisen, manche wol gar ohne Messer und Gabel wie die Wilden – Die Wirthin schöpfte aus, warf zuweilen ein schlechtes Stück mit einem derben 141 Kraftworte an die Köchinnen hinter sich zurück und ruhte nicht einen Augenblick im Nutzen ihres Mundwerks. Das Stück geb' ich ja keinem Hund, viel weniger einem Menschen! O die Metzger! Die bringen's aus! »Kaufe keinen Ochsen ohne Knochen, Madame!« Nun? Steht mir nicht so lange! Marsch! Jesus Marie, was ist das für ein Topf? Ein halber Henkel kaum! Ich glaube, erst vorige Woche gab ich Euch einen neuen! Riekeschen! hörst du! Mach' mir mal den Rock hinten ein bissel loser! Zwei Haken! So! S'ist mir heut ganz schlecht, denk' ich an die Frau, die sie die Nacht umgebracht haben! Weiß man denn immer noch nichts, Leute, ich meine, wer's gethan hat? Wozu ist nun die wohllöbliche Polizei! Jeden vergessenen Nachtzettel straft sie, von jedem Fremden, der von auswärts kommt, will sie wissen, was er für eine Nase hat, aber was drinnen in der Stadt vorgeht unter den Spitzbuben und den Räubern und Mördern – Der Oberkellner rief den Aufhorchenden, die auf diese Art noch die Zukost publicistischer Neuigkeiten und allerlei freisinnige Ansichten über Welt und Zeit mitgetheilt erhielten: Marsch! Fort! Es kommen Fremde!

Nun, nun! rief, jetzt wieder den Oberkellner verweisend, die Wirthin. Geduldige Schafe gehen viel in einen Stall! Dann aber polterte sie doch, wieder dem Oberkellner zu Liebe: Riekeschen, mach' fort, daß die Bagag' hinauskommt! Ihr Trampelthiere! Laßt doch erst die Kinder vor! Vom Lärm des Bettlervolks und der Straße wurde die Rede der guten Lammwirthin übertäubt. Wagen kamen und gingen, Omnibus rollten, die Glockenzüge, die den Hausknechten schellten, wurden gezogen und jetzt bekam auch die Lachlust ein Schauspiel durch ein komisches Intermezzo.

Zwei Italiener begrüßten sich, wie es schien, nach jahrelanger Trennung. Der eine kam eben mit dem Omnibus, der andere empfing den Aussteigenden unter der Hausthür. Neben letzterm 142 standen zwei jüngere, die auf ihren Häuptern Breter mit Gipsfiguren hielten. In dem Augenblick, als die beiden ältern die Zeichen der höchsten Freude austauschten, verloren die jüngern das Gleichgewicht ihrer Breter. Eine mit Strahlenkrone geschmückte Madonna fiel und zerbrach. Der ältere, in grauem Kittel und Manchesterbeinkleidern, unser Napoleone, hatte jetzt mindestens sechs Dinge zu gleicher Zeit zu erledigen. Einmal seinen aus London kommenden Bruder Marco Biancchi zu begrüßen, einen scharfblickenden, schon graubehaarten, aber noch rüstigen Mann, dann ihm seine Söhne vorzustellen, wieder diesen dann ihre Unachtsamkeit vorzuhalten, endlich auf ein Fenster im fünften Stock zu zeigen, wo ein weiblicher Kopf herausschaute, ohne Zweifel Porzia, und dann doch noch staunend auf die große Bagage seines Bruders Marco zu zeigen, die nun abgeladen wurde, und bei alledem auch noch die Umstehenden zum Kaufen zu ermuntern! E questo possibile! Dopo quindici anni rivedersi encora!... Asino, dove ai gli occhi!... Questo e mio figlio! Il mio segundo! Questo il terzo! La sopra mia figlia... Fa attenzione, asino! Di non dimenticare, quello che tu ai sopra la testa!... Fratello! Caro fratello!... Ma tu mi sembre un cavaliere! Cielo! Quel gran baulo! Attenzione cocchieri!... Buon albergo! Proprio et buon mercato!... Figuri kauf –! Alles das ging bunt durcheinander.

Bei allen diesen Vorgängen sitzt auf der dritten oder vierten Stufe der Treppe des Hotels der Mönch Sebastus und verzehrt mit Gabel und Messer, die ihm zur besondern Auszeichnung die Wirthin dargereicht, sein Gemüse und sein Fleisch. Sonst genießt er dies nur ihm gestattete Vorrecht so hell umschauend, heute wie ein völlig Abwesender. Erbebte er schon vor der Begegnung mit dem Rittmeister und Landrath von Enckefuß, dem 143 dritten in dem unheimlichen Bunde von damals, als man sich das Wort gegeben zu haben schien, einen Mann wie den Kronsyndikus, einen Sprossen der alten Sachsenherzoge, nicht die Folgen einer Uebereilung erleiden zu lassen und betraf sie auch das Leben seines eigenen Vaters, so war noch sein Auge, irrend auf der mit Zetteln beklebten Wand, zu der er sich tief erschüttert und entsetzt abgewendet – auf Serlo's Weib und seine Kinder gefallen – auf den Theaterzettel, der ihm sein ganzes vergangenes Leben mit wenigen Worten vorführte. Wenn man sonst von ihm sagte: Das ist ein Mönch, der sich wie die Heiligen in Dornen wälzen könnte! so hätte man es heute glauben mögen. Das Reden der Wirthin, das Durcheinander der Bettler, die Begrüßungen und die Ankunft der Italiener hörte er nicht. Mechanisch verzehrte er seine Mahlzeit. Schon war er mit ihr zu Ende, saß ermüdet, versunken und starr vor sich niederblickend, in der Hand die leere Schüssel, dicht an die Mauer gedrückt, um niemanden auf der lebhaften Passage der Treppe zu stören –

Da kommt eine schon bejahrte, aber stattlich aufgeputzte Dame mit zwei leicht und behend die Stufen heraufhüpfenden halbwüchsigen Mädchen. Die Frau hält inne, betrachtet ihn und redet ihn mit dem Gruße an: Aber, Herr Doctor! Sind Sie es denn wirklich? kennen Sie mich denn nicht mehr, Herr Doctor Klingsohr?

Bruder Sebastus springt auf, stellt seine Schüssel zur Seite, betrachtet – Frau Serlo-Leonhardi und Serlo's herangewachsene Kinder. Er zeigte einen Ausdruck seiner Mienen, wie ein Irrsinniger, der auf seine frühere Vernunft angeredet wird und sich wie taub abwendet, während doch ein gewisser trauriger Blick der Befremdung auszudrücken scheint, daß ihm eine Ahnung nicht ganz fern läge dessen, was der ihn Anredende meinen möchte 144 und was er einst gewesen sein könnte. Er sieht die erhitzt aus der zu ihrer abendlichen Vorstellung abgehaltenen Probe Zurückgekommenen mit zusammengedrückten Augen wie zweifelnd und in Furcht vor geistlicher Rüge und Strafe an und geht von dannen, ohne ein Wort der Erwiderung gesprochen zu haben.

Wer die Scene beobachtet hatte und der in Erstaunen und in den lauten Ausruf ihrer Ueberraschung ausbrechenden Schauspielerin den vollen Glauben schenken wollte, daß dies ein ehemaliger Bekannter von ihr, ein Doctor Klingsohr war, der konnte auch hinzufügen: Jetzt ist es aber gewiß ein Heiliger! Denn Sebastus war vor ihr zurückgewichen, wie vor einer Bewohnerin einer ihm völlig fremden Welt; er hatte ihrer Annäherung sich entzogen, wie der einer Unreinen.

Der Schein einer völligen Entfremdung von seiner Vergangenheit hob und verklärte ihn beinahe. Dennoch schoß er an den Häusern dahin wie ein Besinnungsloser. Erst, als ihm jener im menschlichen Innern hockende Dämon, der selbst unserm tiefsten Schmerze höhnende Grimassen machen kann, sagte: Du siehst ja aus, als gehörtest du zum Mummenschanz! merkte er auf. In dem kleinen Schatten der Mittagssonne sah er sich wie einen verhutzelten Gnomen durch die schattenlosen Gassen schreiten, in der ihm jetzt selbst fast auffallenden Kutte, barhaupt, barfuß. Das ist deine Angst. mit Komödianten verwechselt zu werden, daß du so entliefst! sagten ihm jene innern Stimmen, die er sonst »Ironieen des Satan« genannt hatte und schon damals, noch ehe er an den Satan glaubte. Irrend wankte er dahin. Kindern hätte er sich anschmiegen mögen: Nehmt mich mit! In seine Wohnung wollt' er und fand sie nicht – es war eine kleine Zelle in einem ehemaligen Profeßhause der Jesuiten – dort gab es lange Gänge, selbst unterirdische aus den Zeiten her, wo die Kirchenfürsten diese Stadt auch als Regenten beherrschten und 145 sich vor dem Trotz und dem Freiheitssinn der Bürger oft flüchten mußten – in eines dieser Verließe wieder, wo er schon öfter dahingetastet, dort mochte er sich verbergen, nur um die innern Stimmen, diese quälenden, zum Schweigen zu bringen. An jeder Kirchthür verbeugte er sich. An jedem steinernen Kreuze schlug er ein Kreuz auch auf seiner Brust. Die Momente der klarsten Anschauungen, des Witzes, der Unbefangenheit, der schärfsten Kritik über sich und andere, die er heute gehabt, wichen dem Paroxysmus, wie er schon damals im Mondschein im Park von Schloß Neuhof die Gespenster Heinrich Heine's leibhaftig sehen konnte und von den alten Stammers redete, als wenn sie Schön Hedwig beweinten, ihr Kind, das ihnen der wilde Jäger geraubt, oder wie seine Mutter von ihm gesehen wurde, eine verschleierte Nachtwandlerin, in der Hand mit einer Lampe und durch die Ahnensäle der Wittekinds schreitend, oder wie er oft deutlich am Strande der Ostsee im nächtlichen Nebel Lucinden den Klabautermann auf einem Schiffe zeigte, oder wie er später, als er wie alles so auch den Saft der Mohnblume erproben wollte, sich dem Gangesgott im Kelche der Lotosblume verglich. Wie hätte ihn noch der Mord der Buschbeck schütteln müssen, wenn er den in Erfahrung gebracht! Er war nur nicht der Mann des Hörens, sonst hätte er längst davon vernehmen müssen. Der Geist, der jetzt ihn jagte, war mit dem Wiedersehen der Serlo's heraufbeschworen – die Erinnerung an Lucinden, die er in Kocher am Fall bei jener kurzen Begegnung an dem Portal der Dechanei nicht erkannt hatte.

Immer tiefer kam er jetzt in das Labyrinth der engsten Gassen. Nichts schien er mehr sehen zu wollen von den lichteren Straßen, selbst von denen nicht, wo die Zeitungsexpeditionen liegen, die seine neuesten Artikel verkaufen – nichts vom Laden Klingelpeter's, wo die zinnernen Athanasiusmedaillen in die Welt 146 gingen. So stürmte er dahin, bis er in eine Gegend kam, wo alte Frauen in seltsamen Trachten, den Kopf mit grellfarbigen Tüchern umwunden, vor verfallenen Häusern saßen und aus alten Matratzen die Füllung, mehr Werch als Pferdehaare zupften. Staub wirbelte auf – Fremdartig gesprochene Laute weckten ihn. Nichts sah er hier noch von den Heiligen, von der Gottesmutter . . . Bei den Juden war er – in der Rumpelgasse. Hier wohnen ihrer Hunderte dicht beisammen, Kleider hängen an den Häusern, alte Möbel versperren die Wege, Flaschen und Gläser stehen an den Fenstern und nun erst fand sich der Taumelnde zurecht.

Vor einem rothbraunen Hause, das aus Steinen gebaut war, die vielleicht noch übrig geblieben aus jenen Zeiten, wo die Einwohner dieser Gasse sich selbst verbrannten, der Mordlust zu entgehen, die in den Zeiten des Mittelalters gegen sie epidemisch war, stand der wie im Kreise Getriebene plötzlich still und betrachtete den Geschäftsreichthum einer Trödelfirma, die sich »Nathan Seligmann« nannte.

Hinter ihm stand ein Mann, der ihn beobachtete. Es war nicht unser Löb, der von ihm trotz des Judaeus Apella so altburschikos behandelte Anbeter der heute mit einem Blumenstrauß gefeierten jüdischen Druide Veilchen Igelsheimer – sie steht dem Geschäfte ihres Verwandten mit einer Kenntniß des Alterthums und des Gerümpels der Jahrhunderte vor, die Lucinde an der Maximinuskapelle geahnt zu haben schien, als sie dem Wirth zum »Weißen Roß« als den eigentlichen Wardein der von dem Knaben verkauften alten römischen Münzen den Ahasver selbst genannt hatte – Es war eine andere Persönlichkeit, die den Mönch daherkommen und vor dem Trödelhause Nathan Seligmann's sinnend halten sah. Den Rücken auf einen Stock stemmend, der fast zusammenbricht von einer Last, die weniger schwer, als ermüdet war, dachte das etwa vorhandene 147 Menschenstudium derselben beim Anblick eines in den Trödelkram verlorenen Franciscaners: Der Mönch Sebastus? Der bekannte Franciscaner? Will der hier Juden bekehren? Mit Veilchen Igelsheimer den Anfang machen? Fehlt ihm in seiner Klause ein Luxusgegenstand, den er dort unter der Kutte einzuschmuggeln hofft? Eine Lichtputze, eine Lampe zum Studiren, eine Laterne für die unterirdischen Gänge, sollte er die geheimnißvolle alte Pforte im Gewölbe des Profeßhauses finden? Wie er die Kleider betrachtet! Doch nicht etwa den alten rostigen Ritterhelm? Doch nicht etwa den Dreimaster und den Galanteriedegen dazu? Oder den Frack mit ellenlangen Schösen und die carrirten engen Beinkleider, die ihm vor Jahren ganz gut mögen gepaßt haben?

Der Späher, der selbst wie ein Irrender bald da, bald dort still gestanden und die Spalten der Thüren, die Risse der alten Häuser so fast betrachtet hatte, als könnte er sich in sie verkriechen, ja als suchte er dem Sonnenstrahl auszuweichen, wie weiland der allein zur Nachtzeit lebendige Held Trojan, ein Vampyr der serbischen Sage – der Späher tritt in ein Haus zurück, obgleich der Mönch schon eine Bewegung macht, als wollte er weiter gehen.

Bald aber überzeugt sich der Späher, daß dies Weitergehen nur die bekannte Bewegung ist, mit der man einen andern Entschluß maskirt. Einigemal wendet sich der Mönch, als hätte er sich im Wege geirrt, wäre unschlüssig, sich links oder rechts zu schlagen, und ehe er darüber noch von jemand beobachtet zu sein glaubt, ist er verschwunden. Selbst für den Späher, der in eines der alten Häuser getreten. Scheint dieser doch selbst zu fürchten, belauscht zu werden.

Nach einer Weile tritt der Späher hervor und sieht sich vorsichtig um. Die heiße Mittagszeit macht die Gasse menschenleerer 148 als sonst. Dann an den niedrigen Fenstern Nathan Seligmann's vorüberstreifend, erkennt er den Mönch durch die Trödelvorräthe. Er befindet sich bei Nathan. Was kann er dort wollen? Er scheint zu handeln? Um was? Er zeigt auf seine Kutte. Sieht er dich –?

Vorübergleitend entschlüpfte der Lauscher. Sein sonst so elastischer Spürsinn ist heute frei von aller Unternehmungslust. Wankend schreitet er dahin – nimmt einen Weg, er weiß es selbst nicht wohin – An den Straßenecken wird ein Anschlag der Polizei angeheftet: »Hundert Thaler dem, der eine Spur zur Entdeckung des Mörders der Frau Hauptmann von Buschbeck angibt.« Sonst war er so flink, selbst solche Summen zu verdienen, er, der alle Spelunken der Stadt, die Herbergen der Freude und des Raubes kennt. Weiter wankt er, grüßt und achtet nicht des ausbleibenden Gegengrußes. Er scheint diese Misachtung gewohnt. Sonst studirt er jedem, den er grüßt, eine stumme Frage nach seiner Lage, nach seinem Thun und Treiben und eine selbstgegebene Antwort an . . .

Auch heute hätte er Gelegenheit gehabt, seine gewohnten Glossen zu machen. Da fährt Herr Bernhard Fuld in einem eleganten Coupé mit seinem jungen Weibchen in ihre Villa hinaus nach Drusenheim – Der Späher scheint zu denken: Sie fahren wie mit Extrapost! Man glaubt wegen des europäischen Gleichgewichts und vielleicht ist nur eine neue Toilette aus Paris gekommen, die sich Madame vor Ungeduld selbst abgeholt hat!

In einem Gig fuhr sich eigenhändig hinter ihnen her der Freund der Fulds, Herr Gebhard Schmitz; ein Groom sitzt neben ihm, die Hände ineinander geschlagen, wie wenn er der Herr wäre. Der Späher sieht ihm nach und weiß vielleicht schon Antwort auf die Frage: Ist die bestellte Caricatur am nächsten Sonntag fertig, wenn ihr eure Landpartie macht?

149 Ein offen zurückgeschlagener großer Wagen mit zwei Damen und einem Herrn biegt um eine Straßenecke. Der Späher erschrickt im ersten Augenblick, zieht tief den Hut und blickt dem Wagen nach: Madame Hendrika Delring! Sie fährt noch vor dem Fünfuhr-Diner mit ihrem Mann aufs Land, weil sie von einer Gelegenheit gehört hat, für den ersten – gemischten – Enkel des Hauses Kattendyk eine vortreffliche Amme zu bekommen . . . Die neue Gesellschafterin wol auch bei ihr? Nein! Die schreibt an ihren Freund Hunnius und meldet ihm wol, daß im Domstift immermehr Platz wird, denn schon wieder ist ein Sterbefall – Aufschreckend über den Gedanken an den Tod, wankt der Beobachter dahin – immer weiter und weiter. Allmählich ermannt er sich und tritt in eine Weinschenke, um sich in der Hitze eines Nachsommertages in seiner Weise zu erfrischen.

Doch war des Redens über den Mord auch hier kein Ende. Aber man klagte die Frau Hauptmännin an und sagte fast, ihr wäre recht geschehen. Schon setzt er an, sie mit Salbung zu vertheidigen. Eine ganze Rede wickelt sich in ihm auf: Sehr wohl kannte ich die Aermste, aber glauben Sie mir, meine verehrtesten Herrschaften, sie war mehr krank als böse! Die Vortrefflichste glaubte an die Seelenwanderung und war in die Fledermäuse verliebt, weil sie hoffte, die würden sie einst durch die Lüfte ins Jenseits tragen! Für den König der Fledermäuse sparte sie gefangene Mäuse und Batzen und Coupons. O wie oft hab' ich sie gebeten, ihre Guitarre neu beziehen zu lassen! Aber nur zwei Saiten wollte sie auf ihr dulden; die eine war sie selbst, die andere war der Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort, der »Abtödter« genannt. Wie oft pfiff sie mir sein Leiblied, das sie gesungen, als Bruder Hubertus noch Buschbeck hieß und schmuck und grün durch die Wälder daherkam aus Holland und Java, wo ihn die Indier gelehrt hatten, wie man Menschen so 150 weit bringen kann, nur noch dreißig Pfund zu wiegen, die Hälfte vom Nettogewicht meines Bauches vor dem Mittagessen! O ihr hättet sie sehen sollen, die »gnädigste Frau«, wenn sie die Thür verschlossen hatte und mit mir nicht etwa in meinem unmittelbaren Dabeisein, o, nein, durch das Schlüsselloch, über den Stand der Zinsen und die Leiden der westfälischen Domänenkäufer sprach, deren Obligationen so werthloses Papier geworden sind! Das Schluchzen dann hinterm Schlüsselloch hätte auch euch gerührt und ihr hättet ein Gemüth bewundert, das dreißig giftige Pfeilspitzen liegen hatte und doch allen denen vergab, die sie beschuldigten, ihre Dienstboten nur aus bösem Herzen zu quälen, während es nur ihr unglückseliges Loos war, daß sie in jeder Nacht eine Art Mitgefühl, eine Ergießung des Herzens bedurfte, zufällig zu einer Stunde, wo frische und gesunde junge Mädchen zu schlafen pflegen! Eine, ja Eine, die ist ihr einmal zu Dank gewesen, hat sie mir oft erzählt! Die blieb ein Jahr, neun Monate, funfzehn Tage und drei Stunden bei ihr! Die hat sie dann aber auch, so sagte sie oft, ausgestattet wie eine Prinzessin! Auf ein vornehmes Schloß hat sie sie geschickt, wo sie wie eine Prinzessin gehalten wurde; nur seidene Kleider und goldene Spangen mit Juwelen durfte sie da tragen; aber sie war ja selbst schuld, kicherte die »gnädigste Frau« hinterher, daß sie's nicht lange genoß – der Nickel wollte auch die Krone haben! sagte sie. Und dann hustete die Edle wie aus feuchten Kellern heraus und krächzte die liebreichen Worte: Na aber, da haben wir sie 'mal schön abgeführt! – – Möglich, daß der wirkliche Vortrag dieser Erzählung durch die Erinnerung an das grelle Lachen gehindert wurde, in welches die Hingeopferte nach solchen und ähnlichen vertrauten Mittheilungen sich in Gegenwart ihres guten Freundes und Rathgebers zu verlieren pflegte. Oder was ist es, warum er jetzt die Weinschenke verläßt?

151 Es ist drei Uhr. Am Hahnenkamp begegnen ihm vier fröhliche Menschen, unter ihnen sein wärmster Beschützer nächst Dominicus Nück, der Assessor von Enckefuß. Aber ha! Auch Benno von Asselyn, dem er noch gestern Abend so dicht unter die Augen getreten war, als wollte er ihm sagen: Sieh mich nur recht genau an! Ich bin's! – Unglücksmensch, du – warum sahst du mich so oft Abends von Rendezvous kommen, wo eine alte siebzigjährige Eule, getrennt von mir durch eine verschlossene Thür, mir ihre Gefühle und ihre stolzesten Hoffnungen auf die Beschämung eines gewissen Ungetreuen, des grünen Jägers, erzählte und die Größe ihres Vermögens andeutete – Warum blickst du mich so forschend an? Mensch! Was wendest du so den Kopf zum Assessor? Dich, dich möcht' ich – . . . Ganz gehorsamster Diener! Tief verbeugt er sich bei alledem und lächelt.

In fröhlichster Champagnerlaune grüßt Thiebold de Jonge und macht sich mit ihm den stadtgewohnten »Witz«, im Gespräche Anspielungen zu machen auf das unenträthselt gebliebene Hängen des Sporenritters in partibus, diesen »Stadtwitz«, der ihn seit Jahren verfolgt, der ihn so martert, so quält, daß er im Begriff ist, nach Amerika auszuwandern – für immer – immer, wenn nur – Bei alledem zieht der Erbebende seine weiße Halsbinde in die Höhe und sagt, im Stil eines Gebildeten und Belesenen, zu Thiebold de Jonge: Herr de Jonge! Ein Wald! Ein Wald! Ein Königreich für diesen Wald! Bei Witoborn! Wann kann ich mit meiner Offerte aufwarten?

Ihre Eichenwälder sind uns immer zu jung! Nicht ein Ast, an dem sich eine rechtschaffene Seele aufhängen kann! Hahahaha! . . .

So lachte der Spötter und die andern gingen gleichfalls lachend oder fragend und die Köpfe zusammensteckend und um Aufklärung bittend an ihm vorüber –

152 Daß aber auch der Assessor lachen konnte! knirscht es in seiner Seele. Er überlegt sich alles. Er wohnt in dieser Stadt mit dem Damoklesschwert überm Haupte und sollt' es eigentlich gern haben, wenn ihn zwar nicht heimlich, doch offen die Polizei fallen läßt. Zu sauer muß er's sich ja verdienen, daß man ihn schont und damals auf Nück's Lachen Rücksicht nahm, als er nach Aachen wollte, nach »Spaa«, wo er später sein »ihm gehörendes« Geld wirklich verspielt hatte. Er mußte sich's verdienen durch die doppelte Tragfähigkeit seiner Schultern, die linke geistlich, die rechte weltlich – in der Mitte ein Herz voll Ehrgeiz sogar und ein Mensch, der studirt hat! Sieh! Sieh! Dieser Herr von Asselyn – Außer Nück und Schnuphase weiß niemand in der Welt als er, daß ich in Abendstunden mit alten Hexen schwärmen kann – Wie der Bursch sich vorbeugt zum Ohr der andern und wie sie auf mich zurückschielen! Mensch – dich schleudr' ich doch noch irgendwo und irgendwie aus dem Wege –! Ein Kieselstein flog vor seinem Knotenstock dahin, sodaß beinahe Herr Joseph Moppes getroffen wurde.

Dieser kam wie immer mit Noten unterm Arm und probirte im Gehen seine Quartette. Und selbst Joseph Moppes. der doch Beifall und Popularität nöthig hatte, dankte dem schnell gebotenen Gruße nur halb.

Nun wankt der fast Zusammenbrechende durch die Marcebillenstraße. Dicht vorüber vor dem Hause des Mannes, den er sollte aufgehängt haben. Es ist dasselbe neue stattliche Haus, wo jetzt bis vier Uhr Nachmittags die Arbeit des Procurators ruhte. Nebenan säuseln die schönen Linden des Gartens, der zum Hause gehörte, Bäume, die noch gerade so grün und stillbewegt standen wie damals, als er um die Mittagszeit aus dem Fenster gesprungen und das in Zerstreuung mitgenommene Schlüsselbund zurückgeworfen haben sollte, die Tasche mit 153 30000 Thalern beschwert. In diesen Garten blickte niemand, als die Zöglinge des daranstoßenden Convicts, die damals gerade eine Freistunde hatten und an dem Gartengrün die müdegearbeiteten Augen stärkten und so ihn sehen, ihn verrathen konnten. Fünf Jahre war das her und Hammaker war von jedem Verdacht durch Nück's Zeugniß freigesprochen und zu jeder Zeit durfte er in das Haus des Mannes eintreten, den er aufgehängt haben sollte. Aber – wer erträgt die Qual des Verdachts, den Spott, die Anspielungen auf die Procedur des Hängens, wenn die Menschen mit ihm redeten und vom Binden, Schnüren sprachen, ja auch nur von einer »verwickelten« oder »kurzabzuschneidenden« Verhandlung. Konnte Er denn nicht muthig den Kopf erheben, Er, ein geistlich und weltlich Protegirter? Noch heute früh nach der Aufnahme des Thatbestandes und der Rückkehr des Assessors von Enckefuß vom Frühstück bei Benno von Asselyn – was war da nicht alles, als er zitternd unter den Menschen verweilte und, zum Tode erblassend, den Assessor auf sich zukommen sah, zwischen ihnen besprochen worden! Die drohende Zunahme der kirchlichen Aufregung, die Stiftung von Gesellen- und Meisterbündnissen, manche Verbrüderung zu Rath und That, die man nicht hemmen konnte und die auszuarten drohte im Hinblick auf die Zeit und die schlimmen Ausbeuter der Leidenschaften. Ihm, dem geistvollen, klugen, so tiefgesunkenen Menschen lag alles klar vor Augen. Die Gemüther auf dem Lande und in der Stadt von den kirchlichen Fragen aufgeregt – Zwei Richtungen sich kreuzend, die politische und die hierarchische, eine der andern zur Seite gehend, solange das nächste Ziel dasselbe –! Schon Berathungen hier, Versammlungen dort –! Stürmer und Dränger, wie sie in Kocher am Fall geredet, überall –! Unter dem Landvolk Wortführer, die schon anfangen bei verschlossenen Thüren zu sprechen –! Die Regierung von anonymen Warnungen 154 aufgeregt –! Winke von den Gutgesinnten, Drohungen von den Feigen –! Namen genannt, die zu Häuptern der Erhebung werden sollen, wenn es dem Lande an die Kränkung seines Theuersten gehen sollte –! Sogar Schnuphase auf den gefahrvollsten Bahnen – denn eben darin, daß dieser nur hin- und herreiste zur »Beruhigung«, lag die – Aufregung –! Im Hüneneck, an der Lindenwerth-Insel, war der Herd des Ganzen bei einem großsprecherischen Wirthe Namens Joseph Zapf – Und der neue John Hampden, der neue Bürger Lafayette, der Sohn des Volkes, der einer möglichen Bewegung zum Haupte dienen konnte – eben kommt er ja daher – Ein Mann mit breiten Schultern und von freier Rede, ein Fürsprech im neubegründeten Severinus- oder Handwerkerverein! Eine große, stattliche Figur von herkulischem Körperbau, hinaus über die Vierzig, gerötheten Antlitzes, mit dem Ausdruck gutmüthiger, aber höchst reizbarer Beschränktheit – An einem unter dem langen Oberrock getragenen Schurzfell erkennt man den Küfer – Es ist jener Küfer, der für den Kronsyndikus so lange als Mörder des Deichgrafen hatte gelten müssen.

Wie geht es Ihnen, mein lieber Herr Lengenich? begann Hammaker zitternd und doch scheinbar guter Laune.

Ei, Herr Hammaker!

Endlich ein Mann, der sich über die Begegnung mit ihm zu freuen schien –! Haben Sie endlich den Proceß gewonnen?

Welchen?

Den drusenheimer! Schlagen Sie den Blutacker los? Sechshundert Thaler ja wol?

Neunhundert, Herr Hammaker! Ich schlag' ihn nicht los!

Eigensinniger Mann! Neunhundert Thaler! Viel, viel Moos!

Die Ehre, Herr Hammaker! Die Ehre! Die Ehre! Was ist der Mensch ohne Ehre!

155 Ein wahres Wort!

Wir, denk' ich, wir beide wissen es!

Wir? Ja, so! Braver Mann! Aber was nützt Ihnen die drusenheimer Ehre?

Wo ich geboren bin, Herr? Da sollte mir meine Ehre nichts nützen? Ich bin in die Welt mit Ehren hinausgezogen! Der Acker soll wüst und leer bleiben, bis die Gemeinde und mein Bruder nicht mehr hinter mir herrufen: Da kommt er ja! Der ab instantia!

Erhaben das! Sehr erhaben! Aber –

Verkannt, Herr Hammaker!

Ich fühle es Ihnen nach –

Der Mensch muß ein Ehrgefühl haben, wo schon ein Nadelstich ans Leben geht! Ab instantia – Wegen Mangel an Beweis losgesprochen! Alle glauben und wissen meine Unschuld! Nur mein Bruder, nur die drusenheimer Gemeinde sagt aus Bosheit: Laß hier deinen Acker! Verkauf' ihn! Sagen's so zweideutig, als wenn ich wirklich dazumal –

Ruchlos! Ruchlos!

Nein! Seitdem man damals über mein ab instantia kopfschüttelte und mir zu verstehen gab: Verlaß die Gemeinde! und ein Bruder sogar mir die Hand verweigerte, da sagt' ich: Dornen und Disteln und Steine sollen drauf wachsen – ich bin Bürger in Drusenheim und bleib' es!

Wenn nur Seligmann nicht Auftrag hätte – Ihnen zu bieten, was Sie wollen! Fuld's junges Weibchen will einen Pavillon hinter ihrer Villa haben! Es ist so prächtig draußen! Waren Sie letzten Sonntag wieder dort? Ach, meine Heimat! Ach, meine alte Mutter! . . .

Guter Herr Hammaker! Auch Sie verkannt! Um diesen Acker 156 hab' ich Thränen vergossen, mehr, als in Drusenheim Wasser fließt!

Das ist kein Wort, Herr Lengenich! In Drusenheim ist der Bach das ganze Jahr trocken und nur der Saft der Rebe fließt . . . Eine Prise? . . .

Zitternd wird sie dargereicht . . . freudig angenommen.

Lengenich und Hammaker sind, wie dieser ihm aufgeredet, die Opfer des Ab instantia-Absolvirens. Lengenich lebte in der Dunkelheit der Moppes'schen Keller, wußte nichts von der Oberwelt, nicht einmal etwas vom Mönche Sebastus, dessen Vater er beschuldigt worden ermordet zu haben; er sah nur immer, wenn es Licht um ihn wurde und er im Severinusverein präsidirte, den Himmel offen und die heilige Jungfrau mit der Wagschale der Themis in der Hand, wie sie ihm zuwinkte und alle Kronen der jenseitigen Gerechtigkeit an ihn austheilte. Seine Stimmung war die des geblendeten Simson, der zuletzt Palastsäulen zusammenreißt. Einen Proceß gegen den Kronsyndikus zu beginnen hatten ihm Nück und Hammaker widerrathen – fehlte doch vor allem jenes im ersten Augenblick von ihm an der Leiche gefundene Stück grünen Tuches, das so plötzlich damals abhanden gekommen – Glauben Sie an Gespenster, Herr Hammaker? fragte Lengenich heute und ordentlich wie heimlich.

Entschieden! sagte Hammaker.

Ich sah ja den Mann, den ich soll erschlagen haben, sah ihn deutlich und als Mönch sah ich ihn, aber hager und lang – das Gesicht war es – der Körper nicht –

Der Deichgraf?

Stephan Lengenich erzählte, daß er kürzlich in den großen Weinkellern seines Principals, des Herrn Moppes, einsam gearbeitet hätte. Düster hätte die Lampe neben ihm gebrannt, 157 mehrmals wäre sie ihm ausgegangen, wie zuweilen geschähe, wenn er gerade an den Fässern arbeitete, welche an einem der kleinen vergitterten Fenster stünden, die in einen alten unterirdischen Gang einigen Lichtschimmer fallen ließen. Dieser Gang galt seit Jahren für verschüttet und man glaubte, er diene nur zum Aufbewahrungsort für Geräthschaften, die zu den noch in der Nähe befindlichen geistlichen Häusern gehörten. Von seiner Arbeit aufblickend, erzählte Stephan Lengenich, hätte er durch das Gitter das volle Antlitz des Deichgrafen erblickt . . .

Ich glaube an Gespenster, Herr Lengenich! Aber manchmal ist es auch blos der Dunst vom alten Nierensteiner!

Meinen Sie? In dem Gang steht ein altes Marienbild, nicht weit von einem der Fenster . . . Halt' ich die Lampe drüber oder thun's die Grubenräumer, die zuweilen durchziehen –

So lebendig geht's da unten her?

Das meiste Leben geben nur die Ratten, Herr! Aber das alte Marienbild, das muß ich mir alle Tage betrachten, obgleich ich eigentlich – die Gnadenreiche vergeb' es mir –

Ihre alte verrätherische Geliebte in ihr erkennen?

Die nicht! Die andere! Die Geliebte von dem Doctor!

Die gegen Sie aussagte?

Wie aus den Augen geschnitten! Obgleich das Bild schwarz ist – Auch jene Person hieß Schwarz –

Wer? fragte Hammaker zerstreut folgend . . .

Lucinde Schwarz –!

Lucinde Schwarz . . . Hammaker wußte doch sonst alles in seinem Gedächtniß unterzubringen, er hatte auch noch vor einer halben Stunde ein Schubfach für diesen Namen, nur 158 konnte er es jetzt nicht sogleich wiederfinden . . . Er grübelte: Sollte der Küfer nichts von dem Mönche Sebastus wissen? Und gerne hätte er das alles gesagt, aber Wichtigeres durchwühlte sein Inneres . . . Sie sind zu fromm! sagte er.

Statt aller Antwort greift Lengenich in sein Schurzfell, zieht zwei blinkende zinnerne Medaillen hervor und will davon eine dem Manne darreichen. Dann zieht er sie wieder zurück und sagt: Sie sind ein Studirter!

Herr Lengenich! Ich bin ein Studirter, aber ich habe eine alte Mutter! Drüben in den Sieben Bergen wohnt sie. Ich besuche sie oft! Ihr zu Liebe leb' ich – Gott – und ich – ich kann Ihnen zeigen – was ich alles auf dem Leibe trage . . .

Er deutete auf seine Brust und lüftete ein wenig das Oberhemd, um einige Amulete zu zeigen . . .

Dann nehmen und behalten Sie! sagte Lengenich. Es ist die – wie heißt der Name?

Hammaker, aufhorchend, liest die Umschrift und spricht das schwierige Wort aus: Athanasiusmedaille!

Kommt von Rom! Was ist der Mensch ohne diesen Beistand! Durch meinen katholischen Glauben konnt' ich beichten! Und im Beichtstuhl, Herr, da glaubte man mir! Herr, wenn hier etwas an unsern Rechten, an unsern Gesetzen gerüttelt würde –

St!

Vor wem sollen wir uns fürchten?

Nächsten Sonntag – hm! – Sie auch in Drusenheim?

Jeden Sonntag bin ich in Drusenheim!

Nein! Ich meine – am Abend – am andern Ufer drüben – am Hüneneck?

Wie? Sie wissen es schon –?

Zu Joseph Zapf?

159 Ha! Ich sollte fehlen?

O würdiger Mann –!

Daß Hammaker über alles unterrichtet war, was vom Rolandswirth Joseph Zapf in dem Drang der Umstände zum Besten der großen Sache des Landes vorbereitet wurde, sah Lengenich. Stumm schüttelten sich beide die Hände – der Küfer die weiche und zarte des Agenten, dieser die rauhe eines Mannes, der, wie es schien, von den geheimen Leitern für die Stunde der Gefahr als Vorkämpfer ausersehen war. Stephan Lengenich ging . . .

Esel –! lag zwar in dem ihm nachschauenden Blicke Hammaker's, als Lengenich mit dem an die mächtigen Lenden schlagenden Schurzfell von dannen schritt; er hatte eine Menge interessanter Thatsachen vernommen, die er sonst weidlich zu benutzen wußte. Heute verließ ihn der Muth zur That. Auch der Muth zum Humor. Er sieht die Menschen an den Straßenecken sich gruppiren. »Hundert Thaler!« . . . Er liest es jetzt selbst: »Besonders ist es wünschenswerth, Auskunft zu erhalten über einen Unbekannten, der an einigen Abenden in der Dunkelheit die Ermordete besucht haben soll –« . . .

Nun hält er sich an einem Mitleser, um nicht umzusinken. Die Zähne klappern. Die Lippen beben und rechnen: Freitag, Sonnabend, Sonntag! Dreimal vierundzwanzig Stunden noch bis zu dem Augenblick, wo – Einer am Hüneneck sich auch den Hals brechen muß! Benno von Asselyn! Den »Unbekannten« hab' ich von dir! Auch du mußt ausgehoben werden aus dem Nest – mit allen andern! Als ein Bote Nück's mußt du dabei sein –! Als ein Vorredner –! O, diese tödtlichen drei Tage– Wenn nur Sonntags neun Uhr drüben alles beisammen ist! Ich muß horchen, ob die Parole ausgetheilt ist. Wer kann das am besten 160 wissen? Ah! Dort drüben! Jean Baptiste Maria Schnuphase! . . . Man fürchtet sich zwar auch drüben vor ihm, wie überall, aber er greift zu einem Mittel der Demuth . . . Weg mit dem Blick von den »hundert Thalern« an der Straßenecke – da ist ein elegantes Aushängefenster eines Schuhmachers – die glänzenden Schuhe und Stiefel gestatten, in ihrem Spiegel Toilette zu machen. Sein Rock ist allerdings gewöhnlich, wenn auch nicht so diogenesartig, wie der seines Gönners Nück, aber seine Wäsche ist sauber, der Hut von derselben grauen Farbe wie der Sommerrock, aber von wohlerhaltener Seide. Eine weiße Halsbinde legt sich leicht und lose um sein wohlgenährtes Kinn. Er ist nicht nur so sauber rasirt, daß man fast hätte annehmen mögen, Jodocus Hammaker hätte überhaupt keinen Bart, sondern die ganze Hautfarbe des Gesichts ist von einer Weiche, die nur durch die seiner Hände übertroffen wird. Die dunkelblauen Augen haben einen schielenden Glanz, die Nase ist stumpf, dem Mund fehlen einige Zähne. Schweigt Jodocus oder blinzelt und lächelt süß oder affectirt eine treuherzige Sicherheit, die mit geschäftlichem Eifer verbunden scheint, so liegt im nächsten Eindruck, dem sogar der des Schmachtenden nicht fehlt, nichts Abstoßendes. Die Stimme ist leise, flüstert und lispelt und steht in Einklang mit der Höflichkeit des Benehmens. Tiefauf seufzt er, um sich Muth zu fassen. Daß sogleich von dem Opfer dieser Nacht, der gemeinschaftlichen Freundin, würde gesprochen werden, verstand sich von selbst. Er überlegt, wie er sein Gespräch beginnen will; mit einer Verlegenheit, die er sich selbst, die er den Damen bereiten wollte. Zwar weiß er, daß dem Anlaß zum Eintreten, den er nehmen will, gleichfalls der ihn seit fünf Jahren verfolgende Spott auf Binden und Knüpfen nahe liegt – dieser Spott, der ihn in acht Tagen nach Amerika 161 führen wird – aber er wagt dies Mittel, das ihn einführen soll, und gibt sich eine Haltung.

Hammaker findet das hohe lichthelle »Gewölbe« des steinernen Hauses wie immer in seinem saubersten Glanz. Umflossen von Weihrauchduft, findet er beide Schwestern zugleich anwesend. Die Nebenthür eines etwas dunkeln Zimmers, das einen Ausgang zum Vorplatz des Hauses hat, ist offen. Vor Hammaker hat Eva nicht nöthig die Thür zu schließen. Vollkommen weiß er, was drinnen zu sehen ist. Die Schwestern haben dort noch ein Extrageschäft von Herrenhemden. Diese Geschäftsthätigkeit des »Herrn Maria« war eine willkürliche Ausdehnung seiner Privilegien und brachte ihn mit den Schneidern der Stadt in Collision; er nahm aber nur die Aufträge verschwiegener Herren an und diese gleichsam nur als Vertrauens- und Freundschaftsaufträge.

Auf einem Drehsessel, hochthronend, sitzt dort Herr Maria. Erst vor wenig Stunden ist er angekommen von einer seiner vielen Ausfahrten und schon wieder schreibt er, eine bläulich angelaufene Brille auf der Nase, »hochachtungsvollst und tiefergebenst« Worte der Mittheilung, die mit allen Feinheiten des Stils und der Interpunktion gerade jetzt – der Brief war für Beda Hunnius bestimmt – an folgender Stelle angekommen waren: – – »ohne Zweifel keine andere Bestimmung haben dürfte als, in des hochbetagten, eben verschiedenen Greises Stelle, einzurücken, derowegen eine Verzögerung der Audienz, nicht unwahrscheinlich eingetreten sein möchte, nun aber auch kein Zweifel sein dürfte, daß das Vicariat an einen Candidaten, verliehen werden könnte, welcher, lediglich die kleineren Aemter zu versehen hätte, mittlerweilen die großen dürften, dem jungen Domherrn zugeschlagen werden, worüber, indessen nicht zu zweifeln sein dürfte, 162 daß Ew. Hochwürden zwar keine Berufung dürften zu gewärtigen haben, ohne jedoch nicht unwahrscheinlich sein zu lassen eine schmeichelhafte Erhebung zum Ehren-Kanonikus, falls nämlich, die bevorstehende Visitation durch den Regierungs-Präsidenten von Wittekind-Neuhof, Excellenz, die Hände dem hohen Kirchenfürsten, Eminenz, so ungebunden lassen dürften, als Hochdessen feste Willensmeinung und Geneigtheit für Ew. Hochwürden Wirken über allen Zweifel erhaben sein lassen dürfen und, wenn ich gewogentlichst um Entschuldigung bitten dürfte, daß ich die laufende Mittheilung an Wohldieselben für heute abzubrechen wage, so muß ich die schaudervoll ergebenste Anzeige auch noch eines Mordes anfügen, welcher diese Nacht, unbekannterweise einer Dame zugestoßen ist, welche« – »Vöter!« lautete gerade an dieser Stelle durch Unisono die Mahnung der Töchter, auf den eben eingetretenen Besuch zu achten.

Aus den tiefsten Labyrinthen des Periodenbaues, aus den Geheimnissen der Curie, aus einer sich eben in die Reproduction einer Mordscene verlierenden Phantasie erwacht Schnuphase und wendet die blaue Brille nach der Rechten und gibt auch zu gleicher Zeit dem Drehsessel einen anfangs nur harmlos gedachten Ruck. Da aber, des Agenten Hammaker ansichtig werdend, bekommt sein Schrecken eine Elasticität, die ihn im Nu um die Achse des Drehsessels herumwirbelt, sodaß er einem Manne, von dem bekannt war, daß er Menschen an Kronleuchterhaken aufhing, gerade mit dem verfänglichen Nacken gegenübersitzt. Was –»verschöfft« – uns – die Ehre? stammelt er und windet seine glücklicherweise leichten Beine aus der Umklammerung der Drehschraube des Sessels los und sucht aus seiner schwebenden Lage auf ebenen Boden zu kommen. Die Töchter stehen minder erschrocken. Von jeher war Herr Hammaker gegen sie die Huldigung und Süßigkeit selbst.

163 Hammaker nähert sich ihnen und äußert mit Artigkeit und in einem sich tief unterwerfenden Tone seinen »gerührtesten« Dank für die ihm gewordene Aufforderung der Fräulein, sich der Erzbruder- und Schwesterschaft zum schwarzledernen Gürtel einverleiben zu wollen, deren Embleme sie mehr geheim als offen vertheilten, wie er sagte –

Beide junonische Gestalten sehen sich mit erstaunten Blicken an. Ihre dunkeln Augen rollen, die Augenbrauen senken sich niederwärts und ein ersichtlicher Aerger macht sie in dem Augenblick jede um zehn Jahre älter, d. h. gerade so alt, als sie waren.

»Schwörzlöderner« Gürtel? fragt Schnuphase, zur Besinnung gekommen, und ergreift den Brief, den ihm Hammaker als Ausweis entgegenhält. Es war ein lithographirter und demnach eine an viele Einwohner der Stadt abgesandte Einladung der Fräulein Eva und Apollonia Schnuphase, des Inhalts, man möchte nicht unterlassen, sich der Gnaden und Ablässe theilhaftig zu machen, die jeden erwarteten, der in die Erzbruder- oder Erzschwesterschaft vom schwarzledernen Gürtel des heiligen Nikolaus von Tolentino eintreten würde. Sofort erkannte man, daß hier ein Falsum vorlag.

Die Aufregung, welche diese Entdeckung hervorbrachte, war nicht gering. Die Damen betrachteten den Brief von allen Seiten, der Vater bat um die Erlaubniß, ihn sämmtlichen geistlichen Herren des Capitels zeigen zu dürfen, was jedoch entschieden von seinen Töchtern abgelehnt wurde. Ein »Extrös–tückchen« der »Pörtei«, rief er, die nicht genug hat, die Kirche zu hindern, nach ihren Gesetzen zu leben, »söndern« die auch noch – Ein vollkommen gerechtfertigter Zorn erstickte seine Stimme.

Die Schwestern traten mit dem Briefe bei Seite und 164 flüsterten, von welchem Lieutenant oder Referendar dieser ghibellinische Spott wol herrühren konnte und der nunmehr wenigstens vertraulichst Eingeführte erhielt denn auch all die Mittheilungen, die er nur über die Versammlung beim Rolandswirth zu hören wünschte. Das Einverständniß war vollständig. Hammaker seufzte tief auf und zog die eben empfangene zinnerne Medaille, um sie mit Verklärung emporzuhalten. Und wie auf ebenso viel Legionen des Himmels hoffend, öffnete Schnuphase eine Schublade des Schreibepults, wo einige Hundert dieser Medaillen lagen.

Dann folgte noch ein Austausch des gemeinschaftlichen Schmerzes über die hingeopferte Dame. Noch keine »S–pur«? war die dreifache Frage im Unisono.

Mit einem Blick gen Himmel, als wenn allen diesen Leiden nur von oben geholfen werden könnte, empfahl sich Hammaker.

Eine Stunde darauf fand Benno beim Eintreten in Nück's »Schreibstube« unter einem Dutzend Pulten auf dem seinigen einen Zettel mit den eben erst rasch hingekritzelten, frisch mit Sand bestreuten Worten: »Die Erben des Riedbauern Kipp in Euskirchen wünschen über ihres Erblassers Passiva, ehe sie das Beneficium inventarii antreten, eine vertrauliche Recherche – citissime! – Freitag früh Termin in Overladen Fasc. 1310ª. – Sonnabend in Sachen cª Fiscum bei Zapf am Hüneneck die Vermessung der Ufergrenze – Ich spreche Sie aber noch um sechs – ich glaube, das Dampfboot geht um acht.« Es war die Hand des Procurators.

Der Name des Hünenecks war für Benno ein Klang, der ihm auf Augenblicke die Besinnung nahm. Eine so schnelle Trennung von Bonaventura! Aber drei – drei volle – selige Tage in Armgart's Nähe – vielleicht eine Begegnung mit ihr! Zum 165 Arbeiten fehlte ihm jetzt alle Sammlung. Er zählte die Minuten, bis es sechs schlug. An sein Ohr tönte nur die Glocke im Hafen und das Brausen und Rauschen im Dampfrohr, die bekannten mahnenden Zeichen zur Abfahrt.

Hammaker's Absicht, gerade seinen gefährlichsten Gegner auf einige Tage, vielleicht noch länger aus der Stadt zu entfernen, war vollkommen gelungen.


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