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Bonaventura befand sich im Schlafcabinet des Kirchenfürsten. Es war so einfach wie eine Klosterzelle. Einige Stühle enthielt es, einen hohen, alterthümlichen Kleiderschrank, ein Bett, das einer Pritsche ähnlich war, schmal und hart. An der Decke befand sich die Vorrichtung eines Tropfbades. Ueber dem Bett hing an der Wand ein einfaches Crucifix von schwarzem Holze, darauf ein Christus von unbedeutender metallener Composition. Sonst war der einzige Schmuck des Gemachs ein Brustbild, das einen jungen Mann darstellte, dessen Aehnlichkeit mit dem Kirchenfürsten darauf schließen ließ, daß es sein durch die Hand des Rittmeisters von Enckefuß im Duell und für den Kirchenfürsten gefallener Bruder war. Vergessen wir nicht eine Wandkarte Europas, wo die farbigen Felder die Ausbreitung des Katholicismus ausdrückten, und einen Stammbaum des Geschlechts der Truchseß, der zurückführte bis in die Zeiten Karl's des Großen. Am äußersten Ende, da, wo alle Zweige sich einander näher rückten und das Ende des einst so reich entfalteten Geschlechts andeuteten, verlief das Ganze in welken Blättern. Die Spitze war der Name des Kirchenfürsten selbst. Auf dem dazu gehörenden Blatt saß ein Käfer. Auf der goldenen Flügeldecke desselben waren ein schwarzer und ein weißer Todtenkopf abgebildet.
2 Ehe sich Bonaventura mit beklommenem Herzen unter diesen Stammbaum setzte, konnte er ruhig die Umschau halten; es währte einige Zeit, bis der Kirchenfürst den Mönch einließ. Er schien entweder erst in seinem Bureau unter Papieren etwas gesucht oder endlich doch den Brief seines Monarchen gelesen zu haben.
Jetzt hörte man das leise Rauschen eines auf dem Fußboden anstreifenden Gewandes und mit lauter und deutlicher Stimme, wobei dem gezwungenen Hörer kein Wort verloren gehen konnte, begann der Kirchenfürst: Setzen Sie sich! Ich rede Sie Pater an, weil ich Ihre Wünsche, ich meine Ihre Sehnsucht nach den Weihen kenne und das Gefühl der Verantwortung in Ihnen zu stärken glaube, wenn Sie sich stets erinnert fühlen, um wie viel höher ein Pater über dem Frater steht!
Als sich Klingsohr gesetzt haben konnte, hörte Bonaventura die Worte: Ich habe Sie rufen lassen, um einige Worte mit Ihnen zu reden, Pater; Worte, betreffend sowol das Ihnen geschenkte Vertrauen, als Ihr Seelenheil! Ihr Provinzial hat mir dazu Vollmacht gegeben –
Keine Antwort erfolgte.
Haben Sie hier einen Beichtvater? begann der Kirchenfürst mit erhöhter Stimme.
Sebastus nannte jenen Domherrn, der sich so vergriffen hatte in der Herausgabe des Origenes und »mit seinen gesammelten Lesarten« in diesen Tagen beerdigt werden sollte.
Bei dem Rauschen eines Papiers durfte sich Bonaventura vorstellen, daß dem Mönch vom Kirchenfürsten ein Brief überreicht wurde.
Sie haben Unglück mit denen, denen Sie Ihr Vertrauen schenken! sagte der Kirchenfürst. Auch Provinzial Henricus, der Ihnen so innig zugethan war, lebt nicht mehr . . . Vor einem Jahr, kurz vor seinem Ende, erhielt ich einen Brief von ihm, 3 den Sie lesen sollen! Zur Ermuthigung! Ich hör' ihn gern zum zweiten male!
Der Mönch las leise. Seine Stimme lag jedoch hoch und hatte die norddeutsche Schärfe. Sie war für Bonaventura vollkommen vernehmlich. Er hörte lesen: »Seit lange war ich nicht in der Lage, Ew. Eminenz außer den Berichten, die über den Stand unsers Klosters an unsern Pater General in Rom abgehen, auch eine gelegentliche Mittheilung über die Erlebnisse zu machen, die für die vaterländische Kirche in Erfahrung zu bringen Ihrer hohen Fürsorge von Werth sein könnte. Mein Wirken für die Ausbreitung der Mäßigkeitsvereine, die der Heilige Stuhl mit so besondern Gnaden gewürdigt hat, greift immer segensreicher um sich. Ist auch unsere Bevölkerung nicht so verkommen wie diejenige Irlands, wo Pater Matthew den Geist der Mäßigung predigt, so stehen wir doch hinter dem, was Pastor Schläger auf dem protestantischen Gebiete leistet, nicht zurück. Ja, wir reichen uns auf diesem Gebiete die Hände –« Hatte der Mönch schon bei Erwähnung einer bekannten Wirksamkeit des verstorbenen Provinzials Henricus, Verbreitung von Mäßigkeitsvereinen, gestockt, so konnte jetzt der Kirchenfürst Zeit gewinnen, einzuschalten: Obgleich auch hier der Geist, aus dem beide Bekenntnisse zu wirken haben, ein völlig verschiedener sein sollte. Der gute Henricus gehörte noch zu sehr den Freimaurern an und starb sogar, seltsam genug für einen Mönch, mit einem weltlichen und protestantischen Orden auf der Brust! Was man früher nicht alles erlebt hat! Lesen Sie weiter!
Mit jenem Gehorsam, der zu seinen Gelübden gehörte und den von ihm zu fordern der jetzige Provinzial und Guardian des Klosters Himmelpfort, des Paters Henricus Nachfolger, für die Zeit seines Verweilens außer Clausur auf die Curie dieser Stadt und den Kirchenfürsten übertragen hatte, las der Mönch weiter: »Heute möcht' ich 4 eine Bitte erheben zu Gunsten eines unserer Brüder, des Fraters Sebastus! Unser General hat mir gestattet, ihm eine Weile die Freiheit des außerklösterlichen Lebens zu gewähren. Aber daß die Regierung, die in diesem Punkte so streng ist, dieselbe auch genehmigt, dafür kann nur Ew. Eminenz hohe Bürgschaft eintreten.« Ich schlug damals sein Anliegen ab! ergänzte der Kirchenfürst.
Der Mönch fuhr fort: »Freiherr von Wittekind-Neuhof war es, der uns diesen Novizen, einen ehemaligen Docenten der Rechte in Göttingen, zuführte, aufs dringendste anempfahl, ja väterlich beschützte, obgleich der zweite Sohn des Freiherrn im Duell von ihm erschossen war. Nach einer Reihe von Unglücksfällen, nach innern und äußern Erschütterungen wandte sich der greise Freiherr mit besonderm Verlangen den Gnadenmitteln der Kirche zu, besuchte uns oft, schenkte Kirchen und unsern verschiedenen Stationen höchst werthvolle Gaben und überraschte uns eines Tages durch diesen jungen Mann, der an seiner Hand mit heiserer Stimme, hinfälligen Ganges, zerrüttet an Seele und Leib, an mein Kämmerlein pochte und vor Entkräftung auf meinem Lager zusammensank . . .«
Bonaventura hörte voll Schmerz die lauten Athemzüge des Gefolterten. Er kam sich vor, als stünde er vor einem Käfig, wo die ruhige Gefaßtheit eines Wärters den Fuß auf einen Panther setzt, den er abrichtete. Kam ihm der Gedanke, daß es Frevel wäre, wenn Menschen so an Menschen ihre innersten Seelenzustände durchwühlen? Oder erschien es ihm groß, um eines Gedankens willen, wenn auch dieser Gedanke ein Irrthum wäre, wie der Gedanke des Dalai-Lama oder der Sonnenanbetung, wie viel mehr aber um den des Dreieinigen Gottes, das Geheimste der menschlichen Ichwelt zu opfern? Doch er wich, wie er das gelernt hatte, dem Urtheilen aus und hörte nur, weil er hören mußte.
5 Mit gedämpfter Stimme las der Mönch: »Der Freiherr führte uns den jungen Mann als Bewerber um das Noviziat zu. Nichts verschwieg er von dem, was wir selbst sahen. Heinrich Klingsohr's Sittenzeugnisse fehlten. Er wollte und mußte in allem und jedem von neuem geboren werden. Allererst zeugte gegen ihn ein Todtschlag im Duell« . . . Der Kirchenfürst schaltete ein: Von Ihrer räthselhaften Beziehung zu einem Manne, der in seltsamer Verbindung mit dem Tode Ihres Vaters genannt wird, schreibt der Provinzial nichts – Er war nicht mein Beichtvater! sagte der Mönch mit der ihm eigenen kalten, fast verletzenden Bestimmtheit. Kurz schnitt er damit die Rede des Kirchenfürsten ab, der nicht abgeneigt schien, eine Aufhellung dieser Widersprüche von dem Mönche um so mehr zu verlangen, als auch Bonaventura auf diese Art in die geheimern Beziehungen seiner, dem Kirchenfürsten verhaßten und, wie dieser wußte, auch ihm wenig willkommenen Verwandtschaft eingeweiht wurde.
»Die Gewohnheiten des Bruders« – setzte der Mönch aufs neue an zu lesen; aber seine Kraft verließ ihn . . . Die Erinnerung an seinen Vater schien ihn mehr erschüttert zu haben, als das Bild seiner Vergangenheit, das er hier aufzurollen hatte.
In schmerzlicher Folter, ungewiß, welches das endliche Ziel dieser Strenge sein sollte, seufzte Bonaventura tief auf und sogar hörbar.
»Die Gewohnheiten des Bruders« – wiederholte der Kirchenfürst – – »Waren so eingerissen«, fuhr Sebastus fort, »daß sie so plötzlich und so schnell nicht gebrochen werden konnten. Das feierlich vor dem Altar abgelegte Gelöbniß der Mäßigung, das in Irland Wunder wirken soll, genügt bei uns nicht« – »Weil wir nicht nach unsern eigenen Gesetzen leben! schaltete der Kirchenfürst ein; weil eine offene und freie Schaustellung unserer seelsorglichen Handlungen und Strafen vor einer gemischten Bevölkerung 6 nicht möglich ist! »Auch fehlt uns ein O'Connell«, schrieb Provinzial Henricus, wie Sebastus weiter las; »der statt des Gifts, das in Irland, um ihr Elend zu vergessen, Verzweiflung zu nehmen scheint, die geistige Nahrung der Erhebung im Staatsleben gibt. Das Gefühl, Freiheiten errungen zu haben, wird dort für das Gift, das bisher durch das Land der Armuth und Entwürdigung geflossen, ein Ersatz. Denn nicht genug kann hervorgehoben werden – und auch mein Nachbar Pastor Schläger bezeugt es beim gleichen Wirken, daß zugleich zum Ersatz die geistliche Quelle der Aufklärung geboten werden muß, wie bereits Ephes. 5, 18 die Schrift sagt: –« Ueberschlagen Sie das! unterbrach der Kirchenfürst.
Bonaventura, dem der Zwiespalt der Denkweise des Kirchenfürsten mit der des Pater Provinzial nicht entgehen konnte, gedachte des Onkel Dechanten, wie dieser hier würde eingeschaltet haben: Die Römlinge wollen ja nichts Deutsches, nichts, was die Bruderstämme und die Confessionen durch die gemeinsamen Bedürfnisse des natürlichen Volkslebens und des Geistes versöhnen könnte.
»Unserm Zögling hatte sich mit seinen Untugenden der Genius verbündet« . . . las der Mönch und obgleich sein Lob vernehmend doch im pflichtschuldigen Tone der Demuth, die eines der ersten Erfordernisse seiner Wiedergeburt sein mußte. »Er kam aus einer Welt, wo man ihn um seiner Sünden willen angestaunt hatte. Er kam aus dem trotzigen Leben einer Universität, aus einer der reichsten Handelsstädte, in die ihn das Geschick verschlagen, er war der Matador des akademischen Wort-Fechtsaales, man bewunderte seine Vorzüge, während seine Schwächen jenen nur zu verschönernden Schattenlinien gereichten. Tief hülfsbedürftig war der zerknirschte, des Lebens, der ganzen Welt. seiner selbst, glücklicherweise noch nicht Gottes überdrüssige Sinn 7 des Zöglings. Ew. Eminenz kennen unsern Laienbruder, den Bruder Hubertus. Mindestens ist der sogenannte ›Bruder Abtödter‹ in vielen Klöstern Deutschlands bekannt. Die Brüder nennen ihn so in Anerkennung seiner wunderbaren Gabe, es den ersten Heiligen unserer Kirche, den Säulenstehern, den Eremiten der thebaischen Wüste gleichzuthun, wenn nicht im gleichen gottergebenen Sinn, doch in der seltsamsten Kunst, das Fleisch zu tödten –« Wie schaudernd vor Erinnerungen stockte der Mönch . . . Aufs neue setzte er an: »Einst war Bruder Hubertus der erste Jäger des wilden Nimrod Wittekind, damals ein unternehmender Bursch, der sein ganzes Vertrauen genoß. Aus holländischen Diensten und aus Java zurückgekehrt, umgab ihn auf dem Schlosse Neuhof ein eigner Reiz der Fremde. Alle Herzen flogen ihm zu und keines mehr als das eines gewissen Fräuleins von Gülpen . . .« Was sich auf diesen Namen und diese Verbindung bezog, kannte der Mönch und hielt im Lesen inne, ohne Zweifel voll Erstaunen, weil der Kirchenfürst ihn mit den Worten unterbrach: Sie nannte sich später nach diesem Hubertus, der früher Buschbeck hieß, die Frau Hauptmännin von Buschbeck. Sie wurde deshalb siebzig Jahre, um vorige Nacht hier in dieser Stadt ermordet zu werden –! . . . In dem Innern des Mönchs konnte eine so überraschende Mittheilung nur Töne seltsamster Musik wecken. Er gedachte des Abends auf dem Schlosse Neuhof, wo er auf Lucindens Frage nach jener Gülpen die Speisen, die ihm der Kronsyndikus vorsetzen ließ, für möglicherweise vergiftete erklärte. Er hatte sie denen verglichen, von denen aus jenes Fräuleins jüngeren Tagen die Sage berichtete.
Bruder Hubertus, fuhr der Kirchenfürst fort, ist mir wohlbekannt! Doch muß man die Ruhmsucht tadeln, die mir in seiner Kunst, sich tagelang der Leibesnothdurft zu enthalten, zu liegen scheint –
8 Klingsohr kannte das ganze abenteuerliche Leben seines Zähmers und Bändigers. Ohne Zweifel antwortete er dem Tadler mit dem Nachhall eines seiner alten Lieder:
Frage im Walde die Raben, Wenn Sturm durch die Tannen weht, Wer unter ihnen begraben, Da, wo das Kreuzlein steht . . .! |
Doch auch Bonaventura fühlte sich wie in einen Wald versetzt, wo Hörnerklang zu einem erlegten Hirsche ruft. Ein »Abtödter« in einem Kloster! Wild sprengen die Herren und Damen zu Roß heran; der erste der Jäger tritt zu auf das verendende Thier, weidet es aus und die schnobernden Hunde, die ihren rauchenden Antheil begehren und gierig darauf zufahren, müssen zurück und entbehren. So doch nur konnte ein Jäger das menschliche Abtödten gelernt und gelehrt haben. Wie mehrte sich sein Bangen, das schöne Bild zu verlieren – von den Augustinerchorherren im Schnee des St.-Bernhard.
Der Mönch las: »Die Besserung des Novizen gelang durch Hubertus vollständig. Selbst die Art, wie sich die Malaien von den zerstörenden Folgen des Opiumrauchens heilen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Freilich mußten wir gestatten, daß in einer Klosterzelle ein Novize auf dem Lager lag und statt des Mohnsamens den Samen erst des Hauses, dann aus langem Rohr entzündetes Naphtha, zuletzt nur den glühenden Bernstein rauchte. Die starke Natur, schmeichelnd zurückgelockt, blieb Siegerin. Die unreinen Geister wichen, die Phantasie verlor ihre Bilder, sie wurden reiner und zuletzt blieben sie ganz aus. Hubertus übergab uns einen Geretteten. Noch aber galt es, ihn in die Erfüllung seiner Absicht, für immer der Welt entsagen zu wollen, nur sanft und linde einzuführen. Diese Absicht war aufrichtig. Er liebte die Religion. Er fand in Contemplationen seinen Trost und 9 seine Erhebung. Da ihm fast keine Wissenschaft ganz unbekannt geblieben war, so wußte er bei Tisch stets etwas vorzubringen, was uns fesselte. Doch verblendete uns ein zuweilen noch aufschimmernder falscher Glanz seines Geistes keineswegs. Wir verharrten in einem strengen und ernsten Erziehungsplan. Nichts wurde unterlassen, was seinen Willen, die Gelübde abzulegen, doch noch allenfalls brechen konnte. Die Gebete, die Wachen, die untergeordneten Dienste, mühevolle Arbeiten aller Art, Betteln, das seinen Stolz prüfte, scheinbare Willkürlichkeiten, die seine Ergebung auf die Probe stellten, die Züchtigungen mit Geißel und Cilicium, alles das waren nur geringere Grade der Hülfsmittel, ihm die Rauheit und Härte unsers Gewandes fühlbar zu machen. Die Ergebung, die er zeigte, war keine Stumpfsinnigkeit. Er ertrug, was ihm aufgebürdet wurde, um seiner neuen Geburt willen, ja wir mußten seinen Eifer zurückhalten, denn er begehrte zu zeigen, daß der Mensch den Schlaf ganz entbehren, von Wasser allein leben könne und Aehnliches, was wider die Natur geht, wenn es auch fast zu ertragen gelehrt wird vom Bruder Hubertus. Nach zwei Jahren endlich legte Sebastus sein Bekenntniß ab und erhielt die Tonsur. Die Priesterweihe ihm zu geben, wagte ich dem Pater General nicht ans Herz zu legen. Immer noch ist ein dunkler Grund in seinem Innern, ja es war mir, als gäb' es Proben, in denen Sebastus nicht bestehen könnte. Ew. Eminenz mögen selbst entscheiden. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich von den Stätten des Friedens, an denen wir leben, den Vorwurf der Unthätigkeit entfernen möchte. Wie der heilige Basilius die Nähe der Städte suchte, um sein Einsiedlerleben dem Ausbreiten des Glaubens nützlich zu machen, wie die Söhne des heiligen Benedict unser deutsches Vaterland von düstern Wäldern gelichtet haben und auf unsere Hügel die Traube pflanzten, während zugleich das Feuer 10 des geistigen Lebens aus ihrer Pflege der Wissenschaft und der Schreibekunst lohte, so wird ein jeder Bekenner des heiligen Franciscus auch noch jetzt darauf bedacht sein müssen, in einer sittenverderbten Zeit Hand anzulegen im Kampfe gegen den Uebergenuß des Lebens. Dann dacht' ich: Wie kann die letzte Prüfung des Gewonnenen besser stattfinden, als dadurch, daß er noch einmal ins Leben zurückkehrt? Wie heilt man ein Heimweh gründlicher, als wenn man dem Verlangen der Seele nach der geliebten Muttererde noch einmal folgt, dem Herzen einen starken, vollen, sättigenden Trunk des Wiedersehens gönnt und damit dann meistentheils gerade das andere Verlangen weckt, doch wieder dahin zurückzukehren, von wo uns zwar die Sehnsucht vertrieb, wo sich inmittelst aber nun auch schon die Gewohnheit, sie wußte es nur selbst nicht, eine liebliche Traulichkeit schuf. Und so erbat ich von meinem Obern in Rom die Erlaubniß, den jungen Religiosen, dessen heißersehntes Ziel die Weihen sind, auf kurze Zeit in die Welt zurückzulassen. Da kam die Aufforderung des Secretärs Ew. Eminenz. Er wünscht Klosterbrüder zu haben: ›weil sie ihm nicht nur als Sendboten dienen könnten, sondern weil sie auch in einer Zeit, wo wir nur zu sehr beklagen müßten, uns so wenig auf den großen Weltverkehrsstraßen zeigen zu dürfen, eben deshalb gerade da, wo es nur irgend möglich zu machen, ersichtlich aufzutreten hätten‹ – Diesen Grund freilich konnte ich nicht theilen, ebenso wenig wie auf den Rath eingehen: Ich sollte ›ärztlichen Befehl vorschützen für Brüder, die sich krank stellen sollten‹ –«
Genug! unterbrach der Kirchenfürst, machte eine Pause, welche ohne Zweifel die Rücknahme des hier gegen die Lehre vom Zweck, der die Mittel heilige, protestirenden Briefs ausfüllte und sagte: Als ich vor einem Jahr diesen Brief erhielt, verweigerte ich die Unterstützung der Bitte des Provinzials. Seitdem erschienen aus 11 dem Kloster einige Ihrer polemischen Artikel. Der Geist und der Ton derselben überraschten mich. Ich wünschte Sie kennen zu lernen. Ihre Hieherreise erfolgte. Als ich Sie sah, war ich angezogen. Ich behielt Sie zu dem großen Kampfe, den die Kirche zu kämpfen hat, bei mir. So manches Ziel unserer Mühen haben wir erreicht; aber die Streiter können sich nicht dicht genug scharen. Ich erkenne an, was Sie geleistet haben. Ich lese Ihre Aufsätze mit Befriedigung. Ich wünschte jedoch mehr! In dem, was Pater Henricus von Ihrer Erziehung sagt, finde ich nicht den Geist wahrer Heiligung. Gefahrvoll ist der Grund, auf dem Sie wirken, für Sie sowol wie für uns! Für Sie – ich will es Ihnen aufrichtig sagen – für Sie und viele Ihresgleichen ist unsere Kirche nur der Ruhepunkt irrender Abenteuerlust auf dem Felde der Philosopheme! Sie ist nur die Grenze Ihres von allerlei Donquixoterieen ermüdeten Denkens! Sie streiten jetzt für die Kirche, weil hier endlich Ihre angeborne Streitsucht einen festen Gegenstand und eine sichere Anlehnung gefunden hat! Das scheint leider unser trauriges Loos mit euch Uebergetretenen allen! Aller Zorn, der in euch wurmte, alles Gefallen am Besondern und Seltsamen, alle Ungeduld, daß man bisher auf euch nicht achtete oder euch wiederum zu rasch vergaß, diese unreinen Geister der Rache, der Vergeltung, einer nie ganz zu sättigenden Gier nach dem Reiz der Neuheit treiben euch auf den Kampfplatz! Was es auch sein möge, das Sie dem Vater eines Unglücklichen, den Ihre Hand tödtete und der, wie die grauenvolle Sage geht, wiederum Ihren Vater getödtet haben soll, so seltsam, ja dämonisch nahe verbinden konnte, ich glaube es gern, daß Sie zum Tode ermattet niedergesunken sind an dem Thor des Klosters Himmelpfort. In dieser Stimmung verlangten Sie nach dem Trost der Religion und rühmten die Einfalt derselben. Aber Sie legten in alles, was man 12 Ihnen bot, Ihren eigenen Sinn, Sie nahmen es nicht in dem unsrigen. In diesem immer nur Ihr Ich verherrlichenden Geist vollzogen Sie die Liebesopfer, die Ihnen Ihr Guardian und Provinzial übertrug. Sie duldeten, Sie entbehrten und das vollends, was Sie zu den harten Proben des Bruders Hubertus ermuthigte, war nur der alte Hochmuth auf Menschenkraft. Weder Ihr Verstand noch Ihr Herz liebt das Christenthum, nur Ihre Phantasie liebt es! Die Dienste, die Ihr Poeten und Künstler dem römischen Glauben geleistet habt, verkenn' ich nicht, doch waren und bleiben sie gefahrvoll! Sie entbehren nachhaltiger Wirkung. Oder glauben Sie, daß all die Fortschritte, die wir in diesen Tagen in Frankreich, Deutschland, Spanien gemacht haben, gemacht haben mitten unter den Stürmen der politischen Bewegungen, nur die Folgen der wiedergebornen schönen Künste sind? Diese Fortschritte verdanken wir nur dem bei so vielem Flitter der Bildung gerade zum wahrhaften Herzensbedürfniß gewordenen Bekenntniß der geistigen Armuth! Armuth, Armuth Nüchternheit, Entbehrung, Gefangengabe unserer Ueberzeugungen an ein Gegebenes, Wiedererweckung der Würde des Beichtstuhls, der geregelte Kirchgang, die Wiederherstellung dessen, was über religiöse und politische Dinge in dem gesundesten Theile des Volks, im Bauernstande (diesem plötzlich ja nun auch von eurer Poesie verklärten!) lebte, Ascese, Wallfahrten, wiederhergestellte Bruder- und Schwesterschaften, das ist der Geist der Stetigkeit, der allein die Kraft zum Glauben wecken und die Ausdauer darin bestärken kann!
Der Kirchenfürst schwieg eine Weile; dann fuhr er fort: Jetzt, Pater, ein ernstes Wort! Ich ließ Sie beobachten! Wissen Sie, daß ich Sie monatelang in Ihr Strafkloster zu Altenbüren verweisen könnte? Sie wurden gestern Mittag im Hause eines jüdischen Trödlers gesehen, wo Sie mit Ihrem Ordensgewand 13 eintraten und es auch Mittags noch im Ordensgewand verließen. Abends jedoch um acht Uhr – Sie Unglücklicher! – kehrten Sie wiederum unter das Dach des Juden zurück –
Bonaventura, ahnend, entsetzte sich. Mehr noch erschütterte ihn der unfehlbare Schrecken des Mönches –
Mitleidswerther, bejammernswürdiger Mann! fuhr der Kirchenfürst fort. In dem von jenem Juden geborgten Kleide, mit einem Hut, der Ihre Tonsur verbarg, sah man Sie, Sie, den Pater Sebastus, einen Michael mit der zweischneidigen Feder, einen Mönch, der ein Gefallen darin findet, einen Sack zu tragen mit den Eiern, die ihm die Bauern der Umgegend schenken, Sie, Sie, einen Sohn des heiligen Franciscus – auf der Galerie des Theaters –!
Bonaventura stand auf, nicht achtend des dadurch entstehenden Geräusches. Dumpfe Stille herrschte nebenan. Dann fuhr der Kirchenfürst fort: Und noch nicht genug. In dieser falschen Tracht gingen Sie dann noch die Nacht in einen Gasthof der Stadt, in »das goldene Lamm«! Was thaten Sie dort?
Bonaventura gedachte der Geigenspielerinnen, der ganzen Aufregung des gestrigen Abends.
Kein Laut der Erwiderung erfolgte von dem Mönche.
Was können Sie noch da auf Ihrem frevelhaften Pfade gewollt haben? In einem der Zimmer waren Sie zwei Stunden, bis um Mitternacht! Hierauf schlichen Sie in die Gasse der Trödler zurück und holten von dem Juden wieder Ihr geistliches Kleid! Pater! Pater! Ich beschwöre Sie, um der Wunden unsers Heilands willen! Fühlen Sie denn nicht, daß Sie den Erlöser, den Sie in diesem Kleide bekennen, zum zweiten male verkauften? Glücklicherweise kam uns die Nachricht von Ihrem Judasverrath von einem Beobachter, der unsere Kirche liebt und unsere heilige Sache bewahren wird vor Bekanntmachung solches Aergernisses! 14 Weitere Nachforschung hinderte ich, um nur nicht Ihr Unglück noch zu mehren und die Schande Ihres Fehltritts zu grell für uns alle aufzudecken! Pater! Was würde aus Ihnen werden, wenn mich nicht die Rücksicht auf Ihr Talent, die Rücksicht auf die in unsern gegenwärtigen Kämpfen zu erhoffende nützliche Bewährung desselben abhielte, Sie nach Altenbüren zu verweisen, wo Sie in Gesellschaft anderer meineidiger Priester für immer – für immer, Unglücklicher! – Ihren Ruf im weiten Bereich unserer Kirche verloren haben würden!
Dumpfes Schweigen folgte auf diese beinahe weich gesprochenen Worte.
Eingetreten sind Sie in eine große Heilsanstalt gegenseitiger Erziehung! fuhr Priester Immanuel fort. Ich möchte Sie nicht aufgeben; ich möchte Sie dem Wirken erhalten, für das Sie so rühmenswerthe Proben Ihrer Befähigung abgelegt haben! Pater! Damit sich der Geist, in dem Sie allein außerhalb der Zelle leben dürfen, heilige, damit Sie sicher sind vor den Anfechtungen, vor dem Rückfall in die Reize dieses Lebens, denen Sie abgeschworen haben, muß ich Ihrem Wandel von jetzt an die bestimmtesten Grenzen ziehen! Sie verlassen nie mehr diese Stadt ohne eine hier von meinem Kaplan eingeholte Erlaubniß! Sie meiden jeden öffentlichen Versammlungsort! Sie rüsten sich, daß Sie jeden Abend von sieben Uhr an in Ihrer Wohnung angetroffen werden! In jeder Stunde, wo vom Kloster Himmelpfort Ihnen bekannt ist, daß Ihr würdiger Guardian eben die Thür seiner Zelle öffnet und Miserere ruft und die Patres, folgend seinem Beispiele, sämmtlich sich mit der Disciplin dreimal den Rücken geißeln, sollen auch Sie das Confiteor sprechen, wo Sie sich irgend befinden. Und damit Sie es thun, wirklich thun, Pater, so erinnere ich Sie an das Wort jenes Mönches, zu dem ein Zweifler sagte: Geißeln Sie sich denn auch wirklich in Ihrer 15 geschlossenen Zelle, wenn der Guardian in der seinigen Miserere! ruft? »Herr! Man hat doch Ehre!« sprach er.
Der Kirchenfürst stand eine Weile und schwieg. Bonaventura erwartete eine Entgegnung des Mönches. Er vernahm nur dessen laute Athemzüge.
Was führte Sie auf die Galerie des Theaters? begann der Kirchenfürst aufs neue. Was suchten Sie in der Nacht in jenem Gasthause?
Nach einer langen Pause hörte Bonaventura die Worte:
Doch nichts so Unedles, als Sie denken, Eminenz – Aber – Sie wissen, ich verlor meinen Beichtvater –
Diese Worte, die das Recht des Kirchenfürsten, von ihm Geständnisse zu verlangen, bestritten, wurden mit großer Schärfe betont.
Wen wollen Sie zu Ihrem neuen Beichtvater wählen?
Wenn Herr von Asselyn hierher versetzt würde und ich hier – dann noch weilen dürfte –
Klingsohr stockte –
Wohlan! sagte der Kirchenfürst und wie aufs angenehmste überrascht. Es war Ihnen von mir aufgegeben worden, den edeln und gotterleuchteten Pfarrer von St.-Wolfgang, Bonaventura von Asselyn, auf die kurze Zeit bis ich im Stande sein würde, mich so ausführlich wie ich mußte mit diesem Werkzeug Gottes zu verständigen, zu unterhalten und zu begleiten. Im Umgang mit demselben, den Sie von Stund' an fortsetzen sollen, verbiet' ich Ihnen kraft der mir übertragenen Ordensgewalt Ihres Provinzials, je aus eigenem Triebe irgendein Wort mit ihm zu reden! Hören Sie? Nie sollen Sie selbst das Wort ergreifen dürfen! Nie sollen Sie anders als nur ein Ja und ein Nein für ihn haben! Der Priester Bonaventura weiß es, daß ihm 16 die Rede, ihm die Unterhaltung gestattet ist, er weiß aber auch, daß er Ihnen keine einzige Frage stellen darf, als eine solche, welcher die kurze Antwort: Ja! oder Nein! gebührt! Warum verhäng' ich gerade Ihnen diese Strafe? Weil Ihre größte Aufgabe die sein soll, den Drang zu tödten Ihrer – geisthaschenden Mittheilung! Absterben muß Ihre Neigung, durch Ihre Vergangenheit Ihre Gegenwart Lügen strafen oder über Ihr Kleid hinaus sich immer noch verklären zu wollen. Durch Ihren Geist, Ihre Kenntnisse wollen Sie das Vorurtheil Ihres Standes widerlegen. Aber wenn Sie das Gelübde der Armuth ablegten, stand an der Spitze der Entbehrungen, die Sie sich vorzuschreiben hatten, vor allem die Armuth auch am Geiste! Diese bekennen Sie und Ihr Sinn wird sich läutern! Nichts hat die Verführung zum Laster mehr im Gefolge als jene Gedanken, die schimmernde Ausdrücke suchen, jener Reiz, der Sie verführt, sich in der Vielseitigkeit Ihrer Auffassungen, in der Fülle von Gesichtspunkten, auf dem schwindelnden Wege der Contraste und Paradoxen zu ergehen; derselbe Reiz stumpft das Gefallen am Einfachen und Charaktervollen ab. Ihnen, Pater, Ihnen ist, wie der ganzen Richtung des Jahrhunderts, vor allem das »Wort zur unrechten Stunde« zu nehmen! Als Rancé nach einem Leben geistreicher Frivolität den Orden der Trappisten stiftete, bewies er, wie sehr er die Gefahr des Redens kannte! Ich verlange keinen Dank für meine Schonung – mir selbst werde ich, weil ich zu, zu milde war, ein Gebet um Gottes Vergebung auferlegen – ich strafe Sie so, wie mir scheint, daß es Ihnen heilsam ist! Und die in dieser Form meiner Verzeihung liegende gegenseitige Erziehung wird auch andern gut thun! Treten Sie jetzt näher, mein Herr von Asselyn!
Damit trat der Kirchenfürst an den Vorhang, zog diesen zurück und Bonaventura stand mit dargereichter Rechten, wie 17 um Verzeihung bittend, vor dem in Staunen und tiefster Scham halb aufwallenden, halb vernichteten Mönche.
Mit unerschrockener Miene sprach Priester Immanuel: Deshalb hab' ich Bonaventura von Asselyn zum Zeugen dieser Scene gemacht, weil ich auch ihn in den Ernst unsers geistlichen Lebens und in unsere wahre kirchliche Schule einführen wollte! Schon Ihre Ungeduld zu bekämpfen, daß Sie einige Tage hier zu warten hatten und noch ferner warten sollen, Herr von Asselyn, mußte Ihnen nützlich sein! Nützlich wird Ihnen auch werden, das aufgedeckte Leben des Paters gesehen zu haben und es doch nur so berühren zu dürfen, als wenn Sie es nicht kennten! Ja und nein! Nein und ja! Bis zu dem Tage, wo Ihnen Sebastus vielleicht – die Beichte spricht. Lasset das euch beiden, was ihr heute erlebtet, eine Uebung sein, um die Gefahren – des Geistes kennen zu lernen! Helfen Sie sich einander redlich beim Straucheln! Vestärken Sie sich in der Geringschätzung des Gedankenaustausches! Da liegt unser Thomas a Kempis, das goldene Buch der bewußten und mit Stolz bekannten Geisteseinfalt! Oder lesen wir eine Stelle des heiligen Gregor – Der Kirchenfürst nahm ein Gebetbuch und las mit lauter Stimme: »Wenn ich mir die Büßerin Magdalena vergegenwärtige, so möcht' ich eher weinen, als reden und bekennen! Denn sind nicht die Thränen dieser Sünderin mächtig genug, auch ein Herz von Stein zur Buße zu erweichen? Sie bedachte ihren vergangenen Lebenswandel und konnte sich in ihrem reuevollen Thränenbekenntniß kein Maß vorschreiben. In das Gastzimmer trat sie zur Zeit des Mahls, sie kam ungerufen, und während des Mahls brachte sie ein Thränenopfer. Lernet, von welchem Schmerz sie gefoltert wurde, daß sie auch während der Zeit des fröhlichen Mahls der Thränen sich nicht schämte! Siehe! Weil dies Weib ihre Befleckungen und Laster erkannte, eilte sie in glühender Sehnsucht nach Reinigung 18 zum Urquell der Barmherzigkeit und scheute nicht die Gegenwart der Gäste. Da sie vor ihrer eigenen Häßlichkeit erröthete, konnte die Scham von außen sie nicht entmuthigen. Was, meine Brüder, sollen wir nun mehr bewundern, die im Gastzimmer erscheinende Magdalena oder den Herrn, der sie gnädig aufnahm? Soll ich sagen: aufnahm? – nicht vielmehr: durch seine Gnade an sich zog? Ich will am liebsten beides sagen. Es ist derselbe, der sie innerlich anzog durch seine Barmherzigkeit und derselbe, der sie äußerlich mit aller Sanftmuth aufnahm.« Jetzt legte der Kirchenfürst das Buch zur Seite, zu seinem inzwischen erkalteten Tabacksrohr, neben welchem der noch unerbrochene Brief seines Königs lag; dann entließ er beide mit einer Handbewegung, die ausdrückte, daß er ihnen den Segen ertheilte und den Gewinn zweier Seelen für sein Gottesreich höher hielt, als alles Reden und Handeln und Drohen der Mächtigsten der Erde.
Im Vorzimmer war es still geworden. Der Kaplan begleitete den Mönch und den Pfarrer bis an die Ausgangsthür. In seinem demüthigen Gruße lagen die Worte: Was auch zwischen euch dreien soeben drinnen geschehen ist – Alles zur größern Ehre Gottes!
Wohl hätte Heinrich Klingsohr draußen in freier Luft wie mit wiedererwachtem Titanentrotz aufschreien mögen. Seine Brust hob sich, seine Augen standen aus den Höhlen, er hatte auf der Zunge Worte nicht der Verwünschung seines Geschicks, nicht der Anklage seines Berufs, nicht der Anklage des Kirchenfürsten – nur Worte hätte er dem Jammer seines Innern leihen mögen, sich vergleichen mit jenem gefangenen, an seinen Flügeln niedergehaltenen, auf dem Rücken liegenden Vogel vom gestrigen Morgen, sich rechtfertigen gegen den falschen Schein, der sich um ihn breitete in Gegenwart eines Mannes, den er zu schätzen anfing, er, der niemanden anerkannte außer dem, der ihm durch irgendetwas imponirte, etwa – die 19 Kunst, eine Nachtigall nachzuahmen. Aber nicht einmal zu einer Auseinandersetzung war ihm Gelegenheit gegeben, nicht einmal dazu, sagen zu dürfen: Warum bleiben Sie nicht sogleich in dieser Stadt? Warum haben Sie nicht schon jetzt die Erlaubniß des Beichtstuhls! Alles, alles möcht' ich Ihnen bekennen –! . . . . Fiebernd lief es durch seine Seele: Ich möchte sagen, wie mich gestern die unwiderstehlichste Sehnsucht ergriff, nach dem Leben und den Schicksalen eines Mädchens zu fragen, das mir einst das Leben und dann den Tod gegeben! Ich wechselte mein Kleid, ich wurde dazu ermuntert von einer Jüdin, die mir unser ganzes Dasein als einen großen Mummenschanz schilderte, ich wurde ermuntert durch einen Schwur. den dies seltsam gebildete Judenmädchen mir leistete »bei dem Gotte Spinoza's« und durch die Versicherung, ich dürfte auf ihre Verschwiegenheit bauen. Wer war der Verräther! Wer war es, der des Nachts, so ruhelos wie ich, umherirren konnte? Auch das ist richtig: ich war auf der obersten Galerie des Theaters! Dort, in eine Ecke gedrückt, sah ich jene Frau spielen, die einen edeln Menschen auf ihrer Seele hat – sah die Kinder springen, die ich oft auf dem Schoose gehalten und für welche Lucinde arbeitete, sich mühte und entbehrte, wie eine sich zum Magddienst verurtheilende Königin. Das Haus war menschenleer, aber nicht so öde war es, als das Gefühl meines Daseins; ich irrte in den Straßen, sah nicht die Spione, die mich verfolgten, vergaß die Ordnung des Profeßhauses, das ich mit vielen andern bewohne, bestieg die Stufen des Gasthauses zum Lamm, kehrte schaudernd um, aber um mich her sah ich nichts als Lucinden, sah sie mit phantastischen Blumen geschmückt, sah sie im langen Kleide hoch zu Roß – sah sie mir winken –! Himmel und Erde, ich wagte Ehre und Freiheit und mein ganzes Leben, um nur fragen zu können: Wo ist Sie? Was wurde aus Ihr? Zitternd steig' ich empor zu jener Frau, 20 an deren Herz zu glauben ich nicht die mindeste Berechtigung hatte, aber ich zwinge mich zu diesem Glauben. Und auch sie verrieth mich nicht! Sie würde es nur um Geld gethan haben. Sie schwur's mir bei dem Andenken Serlo's, obgleich Serlo, wie sie sonst und jetzt noch bitterer sagte, schuld an ihrem ganzen »verfehlten Dasein« wäre. Ich finde diese Menschen, klein wie immer, geringfühlend wie immer, voll Zorn über die Leere des Theaters, voll Hohn über das Ausbleiben des Beifalls – aber vor ihnen steht ein köstliches Mahl, liegt eine Rolle Geld – eine Sendung war es von Lucinden! Sie ist hier! Hier in dieser selben Stadt. Und da sollt' ich auf und davon? Sollte nicht verweilen, lauschen, horchen – aus meiner begrabenen Welt! Sollte nicht vertrauen, daß Menschen, die durch die Schule des Geschicks so tief gedemüthigt waren, daß sie sogar Constanzen Huber, wie sich Lucinde in ihrem Briefe genannt, das Wort gaben, sie nirgends zu kennen und sofort diese Stadt zu verlassen und auf die Woge des Lebens zurückzukehren (was sie hätte und erwürbe und theilen könnte, hatte sie geschrieben, sollte ihnen gehören, wenn sie wollten und wo sie wollten) – sollte nicht vertrauen, daß durch Mitleid, nun auch noch durch Geld gewonnen, diese Menschen mich nicht verriethen –! Ich wäre geblieben bis zum Hahnenschrei! Geredet und geträumt hätte ich, wenn mich nicht die Erzählung von unserm Abschied einst in Lüneburg zur Besinnung gebracht und an das Portefeuille gemahnt hätte, das ich mich erinnerte in meinem Ordenskleide gelassen zu haben –! Nun, wie zerschmettert schon von einer Strafe des Himmels, wank' ich fort – Rings die stille Nacht – bis ich zurückkäme versprach mir die jüdische Sibylle zu wachen. Ich finde sie – lesend – im Spinoza, dem Geschenk eines convertirten Priesters Namens Leo Perl – wir suchen und suchen das Portefeuille – es findet sich nicht – Ich verzweifle! Aber Mitternacht ist vorüber – die 21 Jüdin gibt mir Geld, um den Wächter des Profeßhauses bestechen zu können – einen neuen, noch nicht gestraften und deshalb leidlich willfährigen Knecht – Wie sie das Geld klingen läßt, mich beruhigt, versichert, sie würde mein Portefeuille finden und sagt: Pater, Ihr wißt nicht, welche Freude ich habe, der Kirche einen Heiligen zu stehlen und dafür Gott einen Menschen zu schenken! da wank' ich dahin, komme in meine Wohnung, glaube unbemerkt geblieben zu sein, werde in der Frühe zum Kirchenfürsten gerufen, ahne die Kunde von meinem Vergehen und kam ja auch schon bereit zu sagen: Tödtet mich, wenn Ihr wollt! Ich konnte nicht anders!
Wie beide Leviten so dahinschritten, näherten sie sich der Kathedrale. Sie traten in den majestätischen Bau, unter Menschen, die von ihrem Seelenleid nichts ahnten, von der Gebundenheit ihres Willens und ihrer Sinne nichts. Da plötzlich entdeckte Bonaventura, in einiger Entfernung und in einer Nische, welche vom hellsten Sonnenlicht, das durch die bunten Fenster brach, beschienen war, in einer Gruppe, die sich laut und wie es schien in fremder Sprache unterhielt, eine Gestalt, die ihn im erhöhten Grade jetzt erschrecken mußte. Nur ihren Rücken sah er. Sie stand in schwarzseidenem Kleide, dunkelm Hute und sprach mit den Fremden, die dem Volke anzugehören schienen; aber es war ihm, als könnte es nur Lucinde sein.
Der Mönch las mechanisch die Inschriften der Leichensteine. Bonaventura hätte ihn auf dem Wege zu jener Fensternische fortziehen mögen. Doch schritt Klingsohr, in sich versunken, lesend und nicht auf ihn hörend, an den Leichensteinen weiter und hin zu jener Gegend. Schon waren sie so nahe der Nische, daß die darin geführte Unterhaltung gehört werden konnte. Sie wurde in italienischer Sprache geführt. Zwei Männer, der eine in kurzer Arbeiterjacke, der andere in wohlanständiger Kleidung, 22 nebst einigen jungen Leuten und einem Mädchen, sprachen bald zu den Bildern des Fensters gewandt, bald zu jener Dame im schwarzen Kleide.
Lucinde war es in der That. Bonaventura hörte dies schon an ihrer Stimme. Er hatte sie auch neulich von den Italienern, von dem Gipsfigurenhändler und seinen Kindern sprechen hören . . .
Klingsohr schritt nun näher, hielt einen Augenblick inne, horchte den italienischen Lauten und sog sie förmlich mit Begierde ein, wie Duft aus dem Lande der Palmen.
Jetzt wandte sich Lucinde und wurde seiner ansichtig. Wir wissen, daß sie zum Tod erschrecken kann ohne das mindeste Zucken der Augenwimpern. Blaß und marmorkalt mustert sie die beiden Daherkommenden: den Mönch, den sie schon um der Seltsamkeit seiner Tracht willen sofort erkennen mußte; Bonaventura, vor dem sie in diesem Augenblick durch die von ihr so sehr gefürchtete Enthüllung ihrer Beziehung zu seinem Begleiter glauben durfte vollends alles zu verlieren. Der Mönch hört Bonaventura's Anruf nicht und liest nur die Inschriften der Leichensteine.
Bonaventura hatte sich auf den ihn jetzt treffenden Blick und den sich verneigenden Gruß Lucindens sammeln können. Sonderbar, auch die Tochter des Italieners schien ihn zu kennen, die ihm doch fremd war. Mit einer hastigen Geberde deutete sie auf ihn und flüsterte mit dem Vater und mit den Brüdern.
Bei alledem hatte Lucinde den Pfarrer gegrüßt, ganz ehrerbietig zu ihm aufgeblickt. Vor dem Mönch schlug sie die Wimpern nieder.
Eine Italienerin –! vermuthet dieser. Ohnehin mühsam dahinschreitend, hält er einen Augenblick inne. Und jetzt steht er wie festgewurzelt. Sicher hätte er durch einen lauten Ruf sein Erschrecken kund gegeben, wenn nicht Bonaventura, die Wirkung 23 dieser Wiederbegegnung vorahnend, seinen Arm ergriffen und ihn von dannen geführt hätte.
Klingsohr folgt mühsam. Das lange weite Gewand schleift ihm auf der Erde nach. Die Knie brechen dem Gefolterten. Glücklicherweise sind beide einem Altar nahe, wo eben Messe gelesen wird. Sie können niederknieen. Schwerlich beten sie, wenn nicht Beten ein Zwiegespräch der Seele mit sich selbst ist.
Als sie sich erhoben hatten und Bonaventura draußen im Freien fragte: Sie kannten jene Dame? durfte der Mönch nur erwidern: Nein oder ja! Er erwidert: Ja! Es lag ein Menschenleben in diesem Einen armen Worte . . .
Als dann Bonaventura, nach dem seltsamsten Selbander von der Welt, gegen Mittag nach Hause gekommen, fand er gleich beim Eintreten auf seinem Schreibtisch einen Brief, den ihm seine alte Renate aus St.-Wolfgang nachgesandt hatte. Der Brief hatte ihr wol das Ansehen einer großen Wichtigkeit gehabt, denn mit Poststempeln war er über und über bedeckt. Bonaventura erbrach und las:
»Sub sigillo confessionis. Quando quis tibi occurrit fidei romanae sacerdos –«
Wir kennen die räthselhafte Einladung, die auch an den Dechanten ergangen war.
Wer weiß, ob der Onkel nicht jetzt ebenso, wie er über die Berufung des geliebten Neffen durch die Römlinge zitterte, von Bangen ergriffen worden wäre, hätte er das leuchtende Auge gesehen, mit dem sein geliebter Neffe diese Zeilen las, wieder las und sich nicht trennen konnte von den Worten: »Der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um die Kirche von ihren Fehlern zu reinigen –!«
Freiheit! Freiheit! riefen in seiner Brust tausend Stimmen. Alle Creatur schien ihm zu schmachten nach Erlösung. Die 24 gefesselte Zunge der ganzen Menschheit schien ihm nach Sprache zu ringen. Er bewunderte den Kirchenfürsten; aber seine Ideale fingen an zu wanken! An seiner Kraft, in den großen Vorstellungen von seinem Beruf, die ihn sonst wie mit Cherubsflügeln emporgehalten, ein ganzes Leben lang mit seinem innersten Menschen aufzugehen, sing er an – zu zweifeln.