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Durch Erfahrungstatsachen die Kunst zu tyrannisieren, waren die Griechen so weit entfernt, daß sie weit eher von der Kunst ihr Leben, ihre Sitte und Religion beherrschen ließen. Erst die Römer waren es, welche an die Literatur heterogene Maßstäbe legten und für die Kunstkritik praktische Zwecke einführten. Cicero war es, der mit seiner zusammengelesenen tuskulanischen Weisheit gegen die Schilderung des Schmerzes polemisierte, und durch den Philoktet des Sophokles zu beweisen suchte, daß die Dichter das Volk entnerven, wenn sie Heroen klagend aufführen. Cicero glaubte, daß man die Römer zu Gladiatoren bilden müßte, die freilich dadurch beleidigten (da sie bezahlt waren), daß sie in dem Schmerze ihrer Wunden stöhnten und eine Empfindung hätten rege machen können, welche die Zuschauer rührte. Cicero würde demnach keinen Anstand genommen haben, mit seiner stoischen Voraussetzung die rhetorischen Deklamationsdramen, welche später unter dem Namen eines Seneca liefen, dem gefesselten Prometheus und dem Philoktet vorzuziehen; denn, wie Lessing sagte, dieser schlechte Philosoph hielt das Theater für eine Arena, und für etwas Unmännliches, wenn Helden Gefühl zeigen, ihre Schmerzen äußern und die bloße Natur in sich wirken lassen. Lessing fügte hinzu, daß in Helden das Menschliche schildern das Höchste wäre, was die Weisheit hervorbringen und die Kunst überhaupt nachahmen könne.
Die späteren Italiener waren bei weitem nicht mehr so ungerecht gegen das Schöne. Bewunderten sie doch das Genie Alighieris, ob der Dichter gleich eine Sache verfocht, welche nur für einige kleine Baronien am Fuß der Alpen national war. Ja, würde man heute noch in Italien einen Kritiker, der an der göttlichen Komödie ein Suchen und Haschen nach gelehrten Effekten tadelte, meinetwegen eine eitle Absicht, besonders hohe Dinge zu fassen und das, was dem Dichter an Gelehrsamkeit abging, durch Unverständlichkeit zu ersetzen, kurz einen Kritiker, der über Dante seine eigene Meinung hat, wohl beschuldigen, daß ihn dazu der Haß gegen die Antinationalität desselben bestimme? Wer lästerte noch Shakespeare, daß er seiner Königin in Prologen und Epilogen Sträuße von oft nur gemachten Blumen überreichte! Wer wird Anstand nehmen, über Onkel Bramble und Tante Tabitha zu lachen, wenn gleich Smollets Romane überfluten von Ausfällen auf die Preßfreiheit! Mit einem Worte, die falschen Maßstäbe, welche an die Kunst gelegt werden, sind eine ziemlich neue Erfindung.
Rousseau schlug die Pension aus, die ihm Frau von Pompadour anbot, und zog es vor, sich vom Notenschreiben zu ernähren. In einem Lande, wo der Zwiespalt zwischen Nation und Regierung offen genug ausgesprochen war, konnte eine solche Hochherzigkeit wohl als ein Opfer gefeiert werden, das die Freiheit und die unabhängige Philosophie mit beifälliger Akklamation annahmen. In Deutschland jedoch würde zu gleicher Zeit keiner der damaligen schönen Geister sich gescheuet haben, auf jene Offerte einzugehn; niemand würde darum einen höhern oder geringem Platz in der Geschichte der Literatur eingenommen haben. Weil die Nation zu zersplittert und zu arm ist, um aus eigenen Mitteln für die in Marmor oder Farbe oder in Worten wiedergegebenen Gesetze der Schönheit etwas tun zu können, so war von jeher für Deutschland die Unterstützung der Großen Lebensatem der Kunst. Jenen Flecken in unseren altdeutschen Minnegesängen, daß so viele den hungrigen Refrain hatten:
»Ich will aber Miethe (das heißt Bezahlung) hân«,
war das poetische achtzehnte Jahrhundert am wenigsten im Stande auszulöschen. Seine kümmerlichen Umstände geboten ihm, an die Türen des Reichtums zu klopfen, Freitische anzunehmen, adelige Junker zu informieren und mit jungen Prinzen auf Bildungsreisen zu gehen. Das poetische achtzehnte Jahrhundert der Deutschen lebte wenig in der Gegenwart; seine Einbildungskraft versetzte es unaufhörlich nach Griechenland, in die Berge Ossians und Fingals, in die altdeutschen Eichenhaine. Für das, was sie umgab und wovon sie leben mußten, scheuten sich diese Dichtergilden durchaus nicht, Protektionen anzunehmen und von einer Dedikation die Hoffnung zu hegen, daß sie von ihrem Erfolge das nächste Vierteljahr einer sehr geplagten irdischen Existenz decken könnten. Unsere alten klassischen Dichter glaubten nicht, wenn sie nach solchen Experimenten wieder an die Statuen Griechenlands und das große Vorbild aller Poesie, an die Gesänge Homers, herantraten, daß in ihrer Atmosphäre irgend etwas Ordinäres und Niedriges stäke, irgend ein gemeiner Hauch, wovon die großen Muster erblindet wären. Herder zog und erzog sich mit jungen Prinzen herum; Wieland lebte weniger von seinen Schriften, als den Dedikationen derselben, und Klopstock – schrieb die Gelehrten-Republik – worauf kam diese Schrift hinaus? großer Gott, der alte Barbe nahm sein schwarzes Käppchen vom Silberhaupte und hielt den Vorübergehenden eine Pränumerationsbüchse in den Weg.
So betrübend das Andenken dieser Erscheinungen ist so erhielten sie durch andere Umstände dennoch eine bessere Beleuchtung. Man kann nicht sagen, daß sich die deutsche klassische Literatur, in ihrem abgeschabten Aufzuge, mit den Löchern unterm Ärmel, und der einfachen Stutzperücke von Hanf der vornehmen Aristokratie der Gönner aufgedrängt habe. Im Gegenteil kam ihnen diese entgegen. Die Freude über die beginnende Herrschaft der Schönheit und des tiefgefühlten Gedankens, hatte einen rosigen Abglanz auf das Antlitz Hoher und Niederer geworfen. Aus der unschönen, verbrauchten und abgestandenen Wirklichkeit flogen die mit innerem Seelenadel beschwingten Gemüter in die eben erst aufgeschlossenen frisch getünchten Tempel der neuen Kunst und später der Philosophie. Eine idealische Welt flocht ihre Blumengirlanden durch das rings mit Dornen und Disteln besetzte Dasein; man umging zuerst die Prosa, später jätete man sie sogar schon aus und versuchte Reaktionen des neuen Himmels gegen die alte Erde. Die Schwärmerei für die Poesie stand denen am schönsten, welche in der Prosa die ergiebigsten Privilegien hatten, den Monarchen und Aristokraten. Auch sie lüfteten ihre Brust und schwenkten ihren Hut bei dem allgemeinen Frohlocken über die entdeckten Schönheiten und Wahrheiten. Indem nun Standesherren sich selbst unter die poetischen Wettkämpfer mischten, mußten sich da die gesellschaftlichen Unterschiede nicht verlieren? Wenn ein adeliger Offizier den Frühling besang, dann durfte Gleim wohl in den poetischen Tornister des Grenadiers ein Loblied des Königs nach dem andern packen, und Rammler an jene russische Kanonenkugel, die ihn beinahe seinem Wirkungskreise entrissen hätte, eine Hymne auf Friedrich und die tapferen Brennen anknüpfen. Die Aristokratie suchte den Umgang mit der Literatur. Die Kronprinzen von Dänemark und von Preußen versprachen ihr für den einstigen Regierungsantritt glänzende Beförderungen, genug die Dichter warfen sich nicht weg, sondern es gab Mäzene genug, welche glücklich waren, ihnen auf eine anständige Weise unter die Arme zu greifen.
Jener schöne Wechselverkehr materiell und geistig Vermögender, hörte erst mit dem Ausbruch der französischen Revolution auf. Die Aristokratie erschrak über die Tändeleien, welche sie mit den dichterischen Predigern, Schulmeistern und Kandidaten so lange in einem arkadischen Rapport gehalten hatte. Diejenigen Sänger, welche von Adel waren, und ihre Winterquartiere in der Poesie genommen hatten, mußten sich jetzt zu ihren Regimentern begeben. Ton, Stil, Versmaß wurden anders. Die poetische Epistel, die Parabel, die Paramythie, die geistliche Kantate, das Triolet, das Sinngedicht oder Epigramm, das Lied schlechthin, kurz alles nahm einen ganz neuen Charakter an. Der Amtmann von Altengleichen fühlte diese Revolution bald, denn er hungerte. Voß emanzipierte die marschländischen Bauern für die Dichtkunst und vertrieb den arkadischen Plunder, die Phyllen und die Chloen, Damon und Amynt durch Mistgabeln, Dreschflegel und durch den niedersächsischen Dialekt, der vor'm Gutsherrn nur noch halb die Mütze abnahm. Mit dem Pfluge des Virgil, welchen der Schulmeister von Eutin wieder entdeckt haben wollte, wurde der ganze poetische Boden Deutschlands aufgelockert. Freilich, der Same, der nun in die Furchen fiel, brachte keine Pensionen mehr, höchstens noch Professorate.
Seit dieser Zeit zog sich die Literatur immer mehr von den gesellschaftlichen Autoritäten zurück, ja sogar als sie romantisch wurde, von der Nation selbst. Mit keinem der Traktate, welche allmählich die Verfassung des deutschen Reiches zerschnitten, hatte die Literatur etwas gemein. Durch die Einwirkungen der Philosophie, und besonders eines, durch die Unbill der Zeiten geweckten Studiums der germanischen Vergangenheit, bekam die Poesie ein ganz neues Gepräge und hinterließ, wenn auch keine außerordentlichen Produktionen, dennoch eine neue Kritik für Kunstleistungen, welche in der Literaturgeschichte zur Markscheidung höchst interessanter Resultate benutzt wurde. Dem goldenen Zeitalter unserer Literatur, dem Zeitalter der Produktion und des Genies, folgte eine silberne Periode, eine Periode der alexandrinischen Kritik und des Talentes; aber war dies schon an und für sich die aufgeblasene Haut eines Menschen, dem es an Knochen und Muskeln fehlte, so war noch weniger an eine Versöhnung der Dichtkunst mit den großen Tatsachen der Wirklichkeit zu denken. Ein Schimmer leuchtete davon auf, als nach dem Winter in Rußland ein fürchterliches Gewitter am Horizonte heraufzog und sich in Blitzen entlud, die diesmal glücklicher Weise unsere Feinde zerschmetterten.
Wenn man unter Literatur eine im Schatten des Friedens sich entwickelnde Vermischung tiefsinnig abstrahierter Formen oder Stoffe mit den dreisten Wagnissen prädestinierter Genies versteht, wenn alle Literatur sichere und ruhige Grenzen haben muß, um ohne den Vorwurf des Egoismus ihren Selbstzweck zu erfüllen, so konnten ihr in Deutschland die unbehaglichen Zeiten von 1815 an keine Handhabung darbieten. Es ist auch in diesen Zeiten auf dem Felde der schönen Literatur wenig erzeugt worden, das, wenigstens bis in die letzten Jahre vor der Julirevolution, dem deutschen Namen einen merklichen Zuwachs an Ehre gebracht hätte. Denn Hoffmann, Tieck, Müllner und Jean Paul waren bloße Reste und Luftspiegelungen vorangegangener Zeiten, wo Tieck wenigstens sein Talent retten wollte, Jean Paul die Zinsen seines tüchtigen Kapitals, Müllner das letzte Ächzen Schillers und wo die Originalität Hoffmans darin bestand, Absude und Tafelabgänge durch pikante Saucen wieder aufzufrischen.
Und wie nun die Echos der alten klassischen Zeit allmählich verklangen und der belletristische Ton immer dünner und schwindsüchtiger wurde, da regten sich auch schon zu gleicher Zeit hie und da vereinzelte Präludien einer neuen Entwickelung, einer Entwickelung, die im gegenwärtigen Momente schon mit Lärm und Ringen in unserem Ohre saust. Dieser jetzt hoch gesteigerte Kampf kündigte sich vor 15 Jahren erst mit ganz leisen poetischen Hornklängen an, welche hie und da aus dem Walde kamen, wieder verhallten und wie kleine Federspulen den sorglosen Riesen der Vergangenheit aus seinem Schnarchen weckten. Der Glanz der alten Zeit hatte mit der Kritik geendet, die Hoffnung einer neuen mußte mit der Kritik wieder anfangen. Sie griff einen Namen an, der die klassische Periode durch sein Genie und die romantische durch seinen Ruhm beherrscht hatte und den die Götter in die äußerste Zeit hinausstellen wollten als Grenzstein, in welcher das Alte enden, aber auch das Neue beginnen müßte.
Dies war Goethe.
Die Königssöhne der alten Germanen drängten sich danach, in die Hände ihrer römischen Feinde als Geiseln ausgeliefert zu werden. Die jungen Löwen schnitten ihre gelben Mähnen kurz und folgten bereitwillig einem Sieger, von dem sie etwas lernen konnten; sie wußten, daß das Schulgeld, welches sie zahlen sollten, doch immer Fersengeld wurde, welches die Römer zahlten. Dietrich, der Ostgote, haßte die Römer gewiß, aber er verließ sein Volk, und um soviel Strategik zu lernen, daß er Italien erobern konnte, diente er gehorsam am Hofe zu Konstantinopel.
So dachten die langen Haare einer spätern Zeit nicht; sie verbrannten die alexandrinische Bibliothek, da sie, wenn nicht für, dann gegen den Koran geschrieben sein mußte. Sie ließen sich von dem schönen Enthusiasmus für Freiheit, Nationalität und Religion zu einem Despotismus hinreißen, wo Gesetze der Gegenwart eine rückgängige Wirkung auf die Handlungen der Vergangenheiten haben sollten. Wie grob und grausam, einem Alten, der mit der aufgeregten Jugend nicht um die Wette laufen kann, die Krücke auf den Kopf zu schlagen! So verloren damals unter uns die großen Namen ihre individuelle Geltung und dienten, noch ehe sie das Zeitliche segneten, als Parteiparole. Die Jugend, auf der Flucht vor der aufgereizten bürgerlichen Gewalt, genötigt, sich in Schlupfwinkel zu verbergen, sprang aus der Politik in die Literatur, verwechselte die Begriffe der einen mit denen der andern und tobte seine letzten Leidenschaften auf einem Tummelplatze aus, wo die Neuerung mit keiner Gefahr verknüpft war. Hinter großen Namen wählte man seinen Versteck und eröffnete zwischen Schiller und Goethe eine fingierte Diskussion, die für die literarischen Prinzipien hätte von Wert sein können, wenn sie nicht zuletzt in eine ganz triviale Rangstreitigkeit ausgeartet wäre.
Goethe blieb bei allen diesen Wirren unerschüttert. Die Wellen des Tages brachen sich am Fuße dieses Mannes, der vor Alter und Genüge des Lebens sich schon halb in Stein verwandelt hatte und wie die Memnonsäule nur dann erklang, wenn der rosige Schein irgend einer historischen oder literarischen Zukunfts-Hoffnung, wie Byron, morgensonnig zu ihm herüberstrahlte. Wenn er die verschiedenen Stufen der Pflanzenmetamorphose belauschte, die Wirbelknochen der Tiere zählte oder die Farbenskala des Lichtes maß, so glaubte er sich mit dem Leben der Welt immer im männlichsten Zusammenhange. Warum protestierte er nicht gegen die Carlsbader Beschlüsse? oder forderte vom Bundestag die Wiederherstellung einer Preßfreiheit wie sie Preußen unter Friedrich dem Großen so unbeschränkt und vollkommen genoß? Goethe würde eine solche Zumutung an ihn gerichtet für Wahnsinn gehalten haben; dafür mag ihm die Gegenwart die Bürgerkrone verweigern. Durfte man Goethen den poetischen Lorbeerkranz entreißen und ihn für einen untergeordneten Laien des Parnasses ausgeben, weil es seinem Patriotismus an der Aufregung eines jungen Mannes fehlte und er die Hast in neuernden Versuchen mißbilligte? Diese Motive der Verketzerung zu verraten, hütete man sich auch wohl, sondern man warf sich einen ästhetischen Mantel um, auf welchem Lappen verschiedener Farben, gelbe Fetzen Nicolais, blaue Restchen Novalis aufgenäht waren, kurz jenen religiös-sittlich-poetischen Bettlermantel, von dem Goethe in einem Briefe an Zelter spricht. Was müßten England und Frankreich, die recht gut kennen, was uns seit dreißig Jahren Ehre gemacht hat, von unserem Verstande urteilen, wenn ihnen jemand verrieten daß der Fanatismus Menzels so weit ging, eine deutsche Literaturgeschichte ohne Goethe schreiben zu wollen!
Die Ungereimtheit begann damit, daß man den Dichter für alle Charaktere seiner Poesien verantwortlich machte und jede seiner künstlerischen Reflexionen aus dem Spiegel seines eigenen Wesens herleitete. Charaktere, über welchen der Dichter selbst stand und die er nur aus beinahe technischen Rücksichten als Draperie seiner Schöpfungen benutzte, wurden nicht seiner tiefen Anschauung des Lebens, sondern seinen praktischen Maximen zugerechnet und solidarisch für ihn selbst in Anspruch genommen. Durften diese tellurischen Gestalten, Albert, Lotte, Jarno, Wagner u.s.f. fehlen, wenn nicht Werther, Meister und Faust ohne Schatten bleiben sollten? sie mußten sich zu diesen künstlerisch ergänzen, um die Idee einer Dichtung in den Satz und Gegensatz zu zerlegen.
Man ging noch weiter und unterwarf auch die Helden, welche die Lichtrollen in Goethes Werken ausführten, einer Kritik, deren Ahnherrn ich oben in Cicero bezeichnet habe. Sie hätten etwas, sagte man, nicht etwa Entmenschendes, sondern Entmannendes; gerade wie Cicero glaubte, daß die Tragödie deshalb da wäre, um Gladiatoren zu bilden.
Alle Schönheit der Kunst offenbart sich da, wo sie rührt; wie sich denn ihre Gesetze weniger aussprechen als empfinden lassen. Wer das Genie der Lektüre hat, beobachtet am treffendsten, wo die Kunst den rechten Fleck zu treffen weiß. In der Tragödie und dem Epos ist dies überall da, wo das physisch Starke dem Schmerze, das geistig Starke dem Irrtume unterliegt oder wo das im Ruhme und in der Gesellschaft Hochgestellte sich in irgend einer Situation und in einem Gefühle überraschen läßt, welches wir nicht gewohnt waren, bei einem mürrischen Charakter oder bei einem Kriegsmanne vorauszusetzen. Mitten im Überfluß das Gefühl der Unzulänglichkeit ist im Leben die Quelle der Religion und in der Kunst die Quelle der gefühlten Schönheit. Denn das Zurückstürzen aus der Region des Titanen in das Menschliche, das Gefühl einer letzlichen Unzulänglichkeit, sowohl in großen Handlungen, wie in Entschlüssen zur Tugend, überrascht, vernichtet, rührt. Die Halbheit der Goethischen Helden, Clavigo, Egmont, diese zwischen raschen, ehrgeizigen immer feurigen Entschlüssen, und dem Gefühl einer plötzlich versiegenden Kraft schwankenden Rohre, sind die meisterhafteste Berechnung eines Dichters, der für Gladiatoren keine Trauerspiele schreiben wollte.
Das ganze Lebensprinzip des Dichters wurde angegriffen, und schon die Möglichkeit, daß man aus Schriften des verschiedensten Inhalts, aus Dichtungen mit objektiver Tendenz, ja sogar aus lyrischen Kleinigkeiten auf eine universelle Weltanschauung und einen Charakter schließen konnte, schon dieses Höchste, das nur wenig Auserwählten je gelungen ist, wurde als etwas Zufälliges und eine Kleinigkeit übersehen.
Woran hält man sich bei Schiller? Scheint nicht eine Tragödie des Dichters gegen die andere zu protestieren? Schiller, der mit der gewaltsamen Gebärde des reinen Genies auftrat und in seinen Räubern, im Fiesko, in Kabale und Liebe, durch Pointen und Akzente, die er auf jedes seiner Werke legte, eine kräftige Bedeutsamkeit vorzustellen schien, war im Grund nur der kecke Partisan einer Sprache, mit der er die gewaltsam herausgepreßten Charaktere seiner Erfindungen zur Not zusammenhielt. Seine edle unerschrockene Seele, die sich auf die Kunst warf, war dabei weder mit Anschauungen, noch mit Tatsachen geschwängert. Bei jedem Werke, das er schuf, verbrauchte er den ganzen Stoff, der ihm zu Gebote stand, und war nach der Schlußszene des letzten Aktes so erschöpft, daß sich sein Geist erst allmählich wieder an neuen Dingen, die er von Außen nahm, erholen und erfüllen mußte. Nach dem eifrigen Studium wuchs ihm wieder die gemauserte Schwinge, und nach langjähriger Vorbereitung hatte er sich wieder so weit gesammelt und so viel zusammengelernt aus Kant, aus der Geschichte, aus Shakespeare, daß er auf fünf neue Akte für einen ganzen Mann gelten und etwas in sich Abgeschlossenes produzieren konnte.
Wahrlich dies ist nicht der Flug des Genies! das Genie beginnt seine Laufbahn und sagt beim Anfange schon für das Ende derselben gut. Eine neue Philosophie kann ausbrechen, eine große Entdeckung gemacht werden, ja in seinem eigenen Fache kann ein noch wilderer Komet seine Bahnen durchkreuzen, das Genie ist unerschüttert. Es lernt, o unendlich viel lernt es – was hat Goethe nicht alles gelernt! Aber kein Buch stiftet eine Revolution in seinem Innern, wiewohl Schiller oft in Jena erblickt wurde, daß er über eine neue Erscheinung einen ganz heißen Kopf hatte und mit Enthusiasmus seinen Freunden ankündigte, seit einer Stunde sei er ein ganz anderer Mensch geworden. Schiller war eine leicht erregte Kapazität, die keine schöpferische Einheit besaß und dasjenige, was sie an der Stelle der Einheit doch für die Poesie brauchte, nicht durch die erste Hand des Geistes, sondern durch die zweite Hand der Gesinnung empfing. Darum sollte mich ein Versuch Wunder nehmen, aus Schillers Werken eine Harmonie seiner Grundsätze über das Leben und die Welt, eine Konkordanz der Dinge im Himmel und auf Erden zusammenzustellen. Im ganzen Schiller liegen zahllose Sentenzen, aber kaum eine einzige Maxime. Aus diesen Jamben philosophier' ich mir noch kein Leben zusammen und kann aus dem, was sie verbieten, nimmermehr auf das schließen, was sie erlauben. Ich leugne etwas sehr Prägnantes im Schillerschen Charakter nicht, denn seine objektive Leerheit mußte er durch eine subjektiv-edle Leidenschaft ersetzen; aber er ist ein Charakter ohne Philosophie.
Wenn man von Goethes Immoralität spricht, so soll man bedenken, daß es sich hier um drei Abstufungen handelt. Erstens um Tugenden, welche für die Kunst eine besondere Zurichtung verlangen, zweitens um Tugenden, welche für den größeren und geringeren Wert des Menschen indifferent sind, weil sie sich nach Alter, Stand und Situationen richten und weil manches sehr männlich sein kann, was dem Weibe sehr übel stehen würde, und zuletzt endlich um Tugenden, die für nichts in der Welt umgangen werden dürfen und die ich in Goethes Werken auch nirgends umgangen finde.
Zu diesen gehört z.B. die Ehre. Keine der Goetheschen Gestalten ist über diesen Punkt empfindungslos. Ferner der Stolz; selbst in Wilhelm Meister siedet und kocht Stolz, und nur seine Bildungsmanie, die Goethe mit klassischer Ironie behandelt, verleitet ihn, sich Regionen anzuschließen, für die er nicht geboren war. Werther erduldet die Zurücksetzung in der Residenz mit Ingrimm, aus Stolz, aus Stolz über seinen bürgerlichen Namen; er verachtet die Aristokratie und flieht aufs Land, um dort seinen Tod zu finden.
Und um den Übergang zu seinen Tugenden zu machen, deren Mangel Goethen besonders angerechnet wird, zur Religion u.s.w., so ist die Brücke dort hinüber noch immer ein Fehler, der etwas ungemein Männliches und Schönes hat, nämlich, daß Goethe die Reue nicht kennt.
Der ganze Widerspruch zweier Meinungen, die in der Beurteilung unseres großen Dichters so verschiedene Resultate geben, wendet sich um eine Tugend, die im Grund schon mehr passive Empfindung, als ein aktiver Besitz ist. Die einen beten die Gottheit des Momentes an, die sie so oder so bestimmte und inspirierte; die andere beziehen alles auf ein Gesetz, das außer ihnen liegen soll und von dem sie bald mehr bald weniger ergriffen zu sein behaupten. Jene stehen gut für sich, sind zum Handeln geneigt und irren sich oft; diese zögern und treffen, da sie zu sich selbst kein Vertrauen haben, oft aus der Höhe auf das Richtigere. Von jenen Ersten wurde die Geschichte gemacht von diesen die Religion. Jene legen in die Entwickelungsfurchen der Menschheit höchst fruchtbare Saatkörner; diese aber ziehen den Frieden und die Gnade Gottes nach sich, und wenn jener Same durch ein Ungewitter weggeschwemmt oder seine Frucht von einem Sturme geknickt wird, so besitzen sie Trost genug für die getäuschte Menschheit. Indem so von jenen das Licht, und von diesen die Wärme strömt, ergänzen sie sich auf wunderbare Art, und würden sich selbst durch ihre Verschiedenheit erquicken, wenn sie nicht immer in das Extrem verfielen und sich wechselsweise ausschlössen.
Alle Handlungen und Meinungen Goethes beziehen sich darauf, daß er diejenige Philosophie adoptiert hatte, welche, mehr antik als christlich, keine Reue kannte. Hier war ein Charakter, den das Vertrauen auf seinen Instinkt zum Handeln beseelte und der zu stolz war, von seinen Handlungen etwas zurückzunehmen, selbst wenn der Erfolg dem Anfang nicht entsprach oder sich wohl gar das Motiv bei einer später über den Fall erweiterten Dialektik nur mit Schwierigkeit verteidigen ließ, selbst vor der Moral. Goethe glaubte an eine augenblickliche Eingebung, die ja als poetische Inspiration recht lebhaft zu ihm sprechen mußte, selbst wenn vieles um ihn her erschrickt; ihren Konsequenzen mutig nachzuhängen schien ihm einer Offenbarung angemessen, die er für göttlich hielt. Goethe war außerdem, daß er ein Genie war, ein zu großer Künstler, als daß er zu gleicher Zeit diesen Moment des Erschreckens um ihn her nicht hätte mildern sollen; und erst von dieser Seite an, wo er etwas tat, was eine Erleichterung für seinen unbefangenen und deshalb anstößigen Genius war, beginnt der Widerspruch derer, welche, ich wette, zwar auch nicht erschrocken sind, es aber merkten, daß man hätte erschrecken sollen. Was Milderung des Schreckens war, nannte man Verführung, und eine Absicht ein Raffinement ward aus dem, was zunächst nichts anders ist als das erwachende Gewissen des Dichters, der über das schlummernde, aber göttlich phantasierende und träumende Gewissen des Menschen mildernde, versöhnende und die Augen um Verzeihung bittende Blumen wirft. Wo man glaubt, daß Goethes Unsittlichkeit beginnt, da hört sie eben auf. Wo man sagt, daß diese rosengekränzten Amoretten locken sollen, da sollen sie verscheuchen und Eure Runzeln glatt ziehen zur Vergebung!
Goethe hat es niemals darauf angelegt, eine zweideutige Situation zu entwickeln; sondern will man einmal eine ethische Idee mit poetischer Dialektik behandeln, so wird sie auch immer zwischen Scylla und Charybdis hindurchsegeln müssen. Man spricht von den Situationen, ja sogar von der Idee der Wahlverwandtschaften, nie von einer moralischen Inkonvenienz; aber ihr Ziel ist doch nimmermehr seine mystische Verwechslung eines Gatten und eines Liebhabers gewesen; nimmermehr sind alle Vorbereitungen des Endes im Romane gemacht worden, um jene Szene malen zu können oder am Schluß des Buches einen Schreck über die Vergleichung von Poesie und Wirklichkeit zu erzeugen, der uns nicht in die Beine ginge, um davor zu fliehen wohl aber in die Arme, um darnach zu handeln; sondern Goethe hatte eine poetische Idee, eine Abstraktion aus der Naturwissenschaft über die Gesetze der moralischen Attraktion und Repulsion und über die Erzeugung des Entgegengesetzten, die er durchführen wollte, und wo er wohl erst am Schlusse und zu gleicher Zeit mit dem Leser über den Widerspruch zwischen der Poesie und den Institutionen der Gesellschaft erschrak.
Nur mit vieler Vorsicht darf man zugestehen, daß Goethes weitbauschige Moral und die poetischen Rosen, die auf seinem Lebensweine schwimmen, etwas dem Zeitalter Angehöriges waren.
Denn wenn die Verkleinerer des Dichters auch wohl zugeben möchten, daß ein so duldsames Zeitalter ein großes Glück ist, so würden sie doch eher geneigt sein, aus dieser Assertion zu schließen, daß Goethe von seiner Zeit lebte, daß sie ihn schuf und daß er, das Geschöpft, dem Schöpfer schmeichelte.
Man hatte Goethe zu einem Produkt der Zeit gemacht in dem Sinne, daß die Zeit mit seinem Talente wie eine Kokette mit dem freien Willen ihres Anbeters gespielt hätte und der Dichter gelaufen wäre, das herunterfallende Strickknäuel indifferenter, gleichgültiger, launischer Perioden aufzuheben. Goethe ist vorzugsweise deshalb als der Dichter des Modernen angegriffen worden, weil er die Unterwürfigkeit gegen die Launen des Publikums aufgebracht und begünstigt hätte. Wenn gegen diese Paradoxie sich schon von selbst der erste Blick, den man auf die Literaturgeschichte wirft, einwendet und man im Gegenteil eine entschiedene Verachtung der Masse und des Lesepöbels bei den Dichtern der klassischen Periode, Wieland vielleicht ausgenommen, findet so ist auch Goethes keineswegs von mir bestrittene Verzweigung in die Zeit eine organische Notwendigkeit, die seinem Ruhme nur eine neue Begründung gibt. Es ist wahr, Goethe wandte sich allem zu, was auf seine Zeitgenossen spekulierte, und er verfolgte gern eine neue Richtung, von der es etwas zu lernen gab, und sollte es nur die Scansion des Hexameters sein, die Voß in Weimar wie ein Wundertäter lehrte. Es ist erstaunlich, mit welcher Hast Goethe noch in den besten Jahren des vorigen Jahrhunderts über die Osteologie herfiel, die mit vielem Glücke von Forster, Camper, Loder, Sömmering, Merck damals auf die Geschichte der Natur angewandt wurde. Aber diese naive Neugier und Hingebung an den Moment war geregelt durch einen Rückhalt, der schwer von der Stelle zu bringen war und nie von ihr gebracht ist, von Goethes ganzem Charakter. Wer kann sagen, daß Goethe nicht über seiner Zeit gestanden hätte? Aber er benützte seine Zeit als Stoff und verbrauchte sie, um seine Individualität zu arrondieren, in einer Weise, die seit Menschengedenken alle großen Charaktere gemein hatten. Wenn Schiller auf die Kantische Philosophie stürzte, was lag wohl hinter ihm? auf welche liegenden und zureichenden Gründe konnte er sich wohl zurückziehen? Gewiß Schiller ging in den Stoffen, denen er sich hingab, gänzlich auf, der Stoff verschlang ihn und warf ihn dann so umgestaltet wieder heraus, daß man bei ihm immer von Zeit zu Zeit den Faden der Beurteilung verlor. Als Schiller an seine Vorarbeiten zur Abhandlung über das Erhabene ging, wie wenig lag schon in seinem Kopfe fertig! System und Gedanke bildeten sich bei ihm erst, indem er lernte und er sich aus der Verschiedenheit der fremden Meinungen eine eigne schuf.
Genie und Talent werden wohl am besten so unterschieden, daß jenes auf die Erfindung und dieses auf die Nachahmung bezogen wird. Das Talent hat aber darin fast immer einen Vorsprung vor dem Genie, daß jenes ausdauert, dieses oft verpufft. Denn nicht jeder Wurf des Genies gelingt, während das Talent nie etwas produziert, das nicht seine regelrechte, gezirkelte Abrundung hätte. Ein Genie kann zu Grunde gehen vor der Reife, es kann alle Dinge mit einem göttlichen und großen Hiatus anfangen und von allen zurückgeschleudert werden, während das Talent auf berechneten Wegen zum Ziele kommt und durch ein Zusammennehmen aller der Mittel, die ihm zu Gebote stehen, immer etwas erreicht, das ziemlich vollkommen dasjenige, was er erreichen wollte, wieder gibt. Diese Erscheinung erklärt sich daher, daß das Talent sich nicht in einzelne Tugenden auflöst, das Genie aber durch eine innere Unruhe vom einen zum andern gezogen wird und trotz seiner großartigen Einheit sich noch immer in schwächere oder stärkere Mannigfaltigkeiten auflösen kann. Das Talent ist Anlage und Befähigung, und auf wie viele Geistesgaben es sich auch erstrecken mag, es wird in sich immer Eins sein; denn ein absolutes Talent ist aller Dinge fähig, die durch Nachahmung erreicht werden können. Ein absolutes Talent kommt immer auf einen gewissen Vollendungsgrad, gleichviel ob es die Flöte oder das Waldhorn bläst, ob es Mathematik oder Philosophie studiert, ob es Jurist oder Arzt wird. Ein absolutes Talent arbeitet in allen Fächern und setzt sich, wenn es sein Hauptgeschäft beendigt hat, des Abends in einer kurzen Jacke hin und arbeitet in Pappe, oder drechselt, oder spielt die Bratsche. Das Talent hat in seiner Einheit Vielheit oder Allheit, das Genie jedoch in seiner Einheit nur Mannigfaltigkeit. Es kann Dinge geben, für welche dem Genie der Kopf vernagelt ist, wie Goethen z.B. die Philosophie, so daß der genialste Mathematiker in einem Konzertsaale keinen Musikton hört, sondern nur in den Kreisen und Quadraten studiert, welche auf dem Plafond des Saales in Stuck gearbeitet sind. Weil das Genie erfindet, so wird es in seinen Tätigkeiten absorbiert und muß, um sich vor seiner innern Unruhe und dem verzehrenden Drange der Schöpfung zu retten, eine Gegenwehr zu erobern suchen, die ihm den göttlichen Funken sowohl erhalte, als ihn für die leicht entzündbare und bald verkohlte Phantasie weniger gefährlich mache. Goethe fand diese Gegenwehr in einer Hauptmaxime seines Lebens und seiner Kunst, der Beschränkung.
Goethes Vielheit war keine Allheit. Man übersah diesen Umstand und wollte im Dichter nicht das Genie, sondern nur das Talent gelten lassen. Man hat vom Genie immer nur die Vorstellung des Kometen, der mit unregelmäßiger Bahn am Horizont heraufzieht, mit seinem feurigen Schweife den Gestirnen um die Ohren klatscht und so schnell wieder verschwindet wie jenes außerordentliche Meteor. Alles, was einen Augenblick überrascht und sich dann erschöpft hat, pflegen wir genial zu nennen, in Künsten und Wissenschaften. Das Geniale soll weder Toilette machen, noch sich konservieren, es muß unsern Begriffen zufolge schon früh graues Haar bekommen und entweder mit dem Trunke oder dem Tollhause oder dem Selbstmorde enden. Goethe sah es in der aufgeregten Zeit in der er lebte, um sich, wie sich in der Tat die deutschen Genies zu entwickeln pflegten, und machte die Sophrosyne zum Präservativ gegen frühe Verpuffung. Des Genialen sich tief bewußt nahm er eine nüchterne Eigenschaft des Talentes zu sich herüber, den Takt und brachte in die gährend Masse seines Innern früh eine versöhnende, mildernde und zurückhaltende Neutralisation. Mit dem Salze des Taktes machte er seinen Vorrat an Genie dauerbar und erhielt sich bis auf den letzten Lebensmoment wenigstens in Anschauungen, Begriffen, wenn auch weniger in der Produktion selbst, die jugendliche, ursprüngliche Frische. Man nennt Goethes Philosophie egoistisch: ja, verbindet diesen Egoismus der Selbsterhaltung mit seinem Genie, und man wird begreifen, warum sein Genie die Physiognomie des Talentes hatte.
Talent ist Form, Genie Stoff. Jenes steigert sich in der Anwendung; dieses kann verbraucht und muß ökonomisiert werden. Keiner der großen Geister vorangegangener Literaturen, die sich in großen Produktionen dem Gedächtnisse der Nachwelt erhalten haben, von griechischen, spanischen und englischen Männern, ist so bewußt- und taktlos gewesen, so wenig berechnet und verständig, wie man sich gewöhnlich das Genie vorzustellen pflegt. Ganz abgesehen von Pindar, von dem der Uneingeweihte kaum ahnet daß sein dithyrambisch-ekstatischer Schwung das Produkt einer höchst vorsichtigen, gemessenen, berechneten und logisch disponierten Ausführung ist; so existieren von dem Genie des Sophokles, wie von einem talentvollen Vielschreiber, hundert Tragödien. Die Griechen hatten auch ihre genialen Ephemeren, ihre Lenze und Klinger, z.B. einen Stesichorus und andere episch-lyrische Dichter, von denen uns die Zeit nur wenige Bruchstücke übrig ließ, und deren Originalität so ausgezeichnet sie war, ihnen dennoch nicht die Dauer sicherte. Sie zerplatzten wie bunte Seifenblasen. Und weil Shakespeare dauerte, sollte er deshalb weniger originell sein? wo ihm Mitteilung oder Lektüre eine hübsche Sage zutrug, schnitt er sie für sein poetisches Ideal zurecht und wird als ein Meister verehrt, selbst indem er seine Stoffe von andern entlieh. Hier ist etwas von Handwerk, und wer würde sagen, daß das Genie fehlt?
Das Geniale muß also in der Tat immer erst da beginnen, wo die Ausführung des Dichters beginnt, und der göttliche Funke kann auch etwas sein, das in ihm wohnt, ohne ihn stündlich hinzureißen, das sich sogar einschließen, bewahren und für den vorkommenden Fall in Arbeit setzen läßt. Goethe griff nach allem, dem er eine eigentümliche, d.h. die gehörige Gestaltung, zu geben wußte, und war weit entfernt von jener Gewissenhaftigkeit des Talentes, jedes Ding in allen seinen Notwendigkeiten zu erschöpfen und es über die bloße Skizze in ein vollkommenes Gemälde hinüberzuführen. Mit den Gegenständen der Kunst kann nur derjenige spielen, welcher ihnen gewachsen ist. Das Talent wird jeden Vorteil wahrnehmen und einen Besitz, den es erhaschen kann, nicht anders als in ganzer Vollständigkeit machen. Das Genie, seiner Zulänglichkeit sich bewußt, läßt die Dinge an sich kommen und ist sorglos genug, daß es oft vom Talent übertroffen wird. Das Talent zeigt sich immer nur in seiner Anwendung; das Genie ist etwas Solidarisches, wo eine ausströmende einzelne Anwendung, wenn sie einmal nicht gelingt, doch niemals bewirkt, daß das Ganze, was daheim bleibt, dafür verantwortlich gemacht wird oder im entgegengesetzten Falle dem Ganzen etwas genommen scheint. So will ich einem jeden überlassen, diese Parallele noch weiter durchzuführen und sich über Goethe der Ansicht zu nähern, welche wir noch weiter entwickeln werden.
Es soll denn auch gar nicht verschwiegen werden, daß die Opposition gegen Goethe sich aus einer Tatsache im menschlichen Gemüte herschrieb. Wir sind selten geneigt, dasjenige auch nur liebenswürdig zu finden, was von Menschen, die wir hassen, angebetet wird. So kam es, daß in der Bewunderung Goethes die Wärme der einen die Wärme der anderen erkältete.
Goethe fand eine Menschenklasse, die mir, weil sie dem Genie unentbehrlich ist, eine providentielle Bedeutung zu haben scheint. Das arme Genie, wenn es allein steht! Was sollen die großen Gedanken, wenn sie nur begaffte und unentzifferte Pyramiden sind! Jeder Prophet muß seinen Apostel, jedes Genie seinen Lustigmacher haben. Der Enthusiasmus übernimmt für die Rechnung des großen Hauses sein kleines lobpreisendes Detailgeschäft. Es zeigt auf die Firma seines Gottes und bringt dessen Gold und Silber als Scheidemünze unter die Leute. Die Sprache der Götter und der Menschen muß durch Dolmetscher vermittelt, das Genie muß erklärt, auseinandergesetzt und mit Beispielen belegt werden.
Kant und Goethe haben in Deutschland die meisten Ausleger gefunden. Zahllose Zwerge kamen, welche sich aus dem Rockärmel dieser Riesen vollständige Kleider schnitten. Kant und Goethe unterscheiden sich in dieser Rücksicht nur so, daß jener vervollständigt und popularisiert, dieser hingegen ausgelegt und ins Wunderbare hinaus mißdeutet wurde. In Norddeutschland wurde Goethe zu einem System erhoben, und Herr Schubarth ist in der Tat ein recht geschickt ausgebauter Flügel desselben. Was wir oben von Goethe behauptet haben, daß sich ein ganzes Leben nach ihm einrichten ließe, bewährte sich hier. Herr Schubarth lebte und webte in Goethe; er war die Wahrheit, die ihn frei gemacht hatte, und sein Jünger würde sich nie zu einer Handlung bekannt haben ohne den Calcul, was Goethe in diesem Falle denken oder tun würde. Es war ein sonderbarer Widerspruch, daß Herr Schubarth die Hegelsche Philosophie angriff, die es doch ihrerseits an enthusiastischen Beziehungen zu Goethe nicht fehlen ließ. Möchte man nicht verführt werden, hier an Eifersucht der Liebe zu denken? In der Tat, es kam Goethen ein Wettstreit der Huldigung entgegen, von dem man nur wünschen möchte, daß er weniger exklusiv gewesen wäre. Die Verketzerung solcher, welche nur selten im Tempel erschienen, um anzubeten, regte deren Unmut auf, und sie gingen hin, die Fahnen der in Süddeutschland aufgesteckten unmittelbaren Rebellion gegen Goethe zu vermehren, wenn ihnen auch wohl sonst die von einem Menzel dabei gerührte große Trommel fatal war.
Seit wenigen Jahren haben sich große Veränderungen zugetragen. Die statt Goethe empfohlenen Namen Tieck, Jean Paul und sonst die ganze romantische Schule, gewährten keine Muster für den Fortschritt derjenigen Geister, welche an die Möglichkeit einer neuen Literaturschöpfung für Deutschland glauben. Man mußte auf dasjenige zurückkommen, was befruchtet. Es mußte ein Grab nicht nur vor Hyänen, die verwesende Leichen witterten, geschützt, sondern auch an dem alten lebendigen Gedächtnis unsers großen Dichters mußten diejenigen Gesetze der Kunst, diejenigen Tatsachen der Literatur entwickelt werden, welche Saatkörner der Zukunft sind. Ein ins Meer versunkenes Schloß taucht wieder auf und wird Pharus in der hyperboreischen Nacht. Selbst wo uns Goethe keine Resultate gibt, regt er die Dialektik an und kann durch das, was er nicht gerade selber arbeitet, sondern nur zuläßt, für die sich in Deutschland einleitenden Diskussionen dasjenige werden, was Aristoteles dem Mittelalter war. Denn auch Aristoteles wurde für Dinge angewandt, die er nicht gekannt hatte, und diente als Berufung für Philosopheme, wofür sich in seinen Schriften nur die Prinzipien finden.