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Die Zeit hat ihre Lieblinge. In ihren weitbauschigen Mantel hüllt sie die Auserwählten ihrer Gunst, trägt sie über die Fluten der Begebenheiten, setzt sie in sichern Gegenden aufs Trockne und holt sie wieder, wenn der Sturm verzogen ist und man im Schoße des Glückes sich wieder betten kann.
Goethe hatte sich einer solchen Pflege und Wartung des Schicksals nicht zu erfreuen. In den Tagen der Ruhe hatte er unterlassen, sich die Zeit zum Freunde zu machen. Statt den stolzen Nacken zu ihr emporzuheben, vermied er und beleidigte sie; er hatte es für größer gehalten, den Umständen zu trotzen, als für die Zukunft sich bei ihnen einzuschmeicheln.
Wüßten wir nicht, daß das 19te Jahrhundert um so viel poetischer ist, als das 18te prosaisch war, so würden wir nicht begreifen, wie in so kurzer Zeit sich alle Gesichtspunkte der Literatur umwerfen konnten. Früher hielt man es für genialisch, der Zeit auf den Fuß zu treten, ihr den Sand aus dem Stundenglase zu verschütten, sie zu ignorieren im gelindesten Falle; jetzt dagegen wird für die Weihe des Genies gehalten, die Freundschaft der Zeit besitzen, ihr Jünger, Vertrauter, ihr Herold und Apostel sein. Goethe hatte sowohl für seine Beurteilung, wie für den ganzen Charakter seiner Poesie das Unglück, unter diesem Wendepunkte zu leben und von Ereignissen in einem Kreise herumgedreht zu werden, wo man nicht mehr weiß, ob im Januskopfe das jugendliche Angesicht der Zukunft oder das Profil des Greisen der Vergangenheit angehört. Wo ist der Herrscher oder Sklave? Gehorchtest oder befahlst du?
Aus den historischen Widersprüchen, in welche auf jenem Wendepunkte die ausgezeichneten Befähigungen in der deutschen Geisteswelt verstrickt wurden, schreibt sich der unbehagliche Eindruck her, den noch heute die deutsche Literaturbetrachtung erzeugt. Wenn wir selbst an den glänzendsten Entfaltungen deutscher Wissenschaftsbestrebungen niemals eine recht lachende, nationale Augenweide gehabt haben, wenn uns noch immer die Zwiespältigkeit der Meinungen überall anfällt, wenn die Lust an dem einen durch die gehässige Polemik des andern vergällt wird und zuletzt die Nation von den Ideen selbst zwar sehr viel Ehre, aber sehr wenig Vorteil zieht; so ist es, weil sich unsere glorreichsten Bestrebungen gewöhnlich in dem Charakter der Zeit irrten und von einer Masse, die sie kalt von sich wies, eine mit den Umständen disharmonierende Hingebung verlangten. Jene schreiende Dissonanz, als die Kunst und die Geschichte so feindselig zusammentrafen, verwirrte zuerst die Kunst selbst, erzeugte jene Haarspaltungen der ästhetischen Tendenzen und künstlerischen Theoreme, welche besonders in Goethes und Schillers Briefwechsel sich in einem fortwährenden Zirkel bewegen, lähmte darauf die schöpferische Produktivität unseres größten Dichters, der in einer so unruhigen Zeit, um nicht mit fortgerafft zu werden, sich entschließen mußte, sich in sich zurückzuziehen und in sich den Dichter nur zu einem Teile des Menschen zu machen. Noch immer hallt diese Dissonanz in unsern Zuständen fort, und es wird lange währen, ehe wir aus diesen widersprechenden Tatsachen sowohl die richtigen Urteile, wie die weiseren Entschlüsse gezogen haben.
Man spricht immer von der großen Geschichte, von dem großen Jahrhundert von der Dichterin Zeit, die alles überflügelt. Aber wie wenig die Literaturen auf den Umschwung der nationalen und ästhetischen Begriffe vorbereitet waren, wird man am passendsten aus einer Vergleichung erkennen, die noch nicht angestellt worden ist. Was hat Frankreich durch seine großartige Geschichte wohl für seine Literatur gewonnen? Unsere Rigoristen wollen, daß uns die Schmach hätte begeistern sollen; in Frankreich, sollte man denken, hatte der Ruhm vor der Schmach sogar noch einige Schritte voraus. Der Ruhm konnte ohne viel Überlegung zum Griff in die Leier schnell begeistert sein. Wo sind aber in Frankreich diese großartigen Schöpfungen einer in der Zeit siegestrunkenen Phantasie? Wo sind die ingrimmigen Lieder des Sängers, der mit republikanischen Reimen gegen die epischen Stanzen der Napoleonischen Monarchie gekämpft hätte? Was ließ selbst die Revolution außer André Chenier zurück?
In Frankreich bringt der gleichzeitige Ruhm folgende Verse des Herrn Alissan de Chazet hervor:
Napoléon, de ton image Louise a reçu l'heureux don; Puisse tu, par un autre gage, Chez nous éterniser ton nom! [Napoleon, von Deinem Bild |
Herr Delrieu sang:
Je veux que désormais la France et l'Ausonie Dans le nouvel Alcide admirent ton génie; Adorent tes vertus; En dépit d'Albion, que l'univers respire! Pour toi, pour tes neveux j'éternise l'empire De Trajan, de Titus! [Ich will, daß von nun an Frankreich und Ausonius |
Und bei Gelegenheit der Vermählung des Kaisers mit Marie Louisen schmeichelte Herr Desaugiers:
Viens t'en, Fanchon, viens t'en vite aux Tuil'ries! L'concert commence et j'úy somm' pas encor. Ah! pour chanter leurs Majestés chéries Coeurs, instrumens, tout est bientôt d'accord. [Komme hinein, Fanchon, komme schnell in die Tuilerien! |
Man wird sagen, Herr Alissan de Chazet, Herr Delrieu und Herr Desaugiers waren keine großen Geister; aber die Herren Fontanes, Jay, Jouy u.a. galten dafür. Wie verlegen und unbeholfen ist selbst Chateaubriand der damaligen Zeit gegenüber, wo er, der nie einen Charakter gehabt hat dennoch der einzige Charakter war und überdies noch von einer Frau übertroffen wurde, der Staël! Man täusche sich nicht; die Einsichten über das Verhältnis der Kunst zum Leben kamen viel später.
Deutschland besaß freilich weit glänzendere Mittel als Frankreich, um die allgemeinen Ideen und Tatsachen der Wirklichkeit auszusprechen; allein um das Einzelne zu fassen, fehlte es bei uns an der Erfreulichkeit und Entfernung desselben, um das Allgemeine, an einer übersichtlichen Abrundung, welche die sich damals dramatisch drängenden Ereignisse erst später erhielten, als sie episch hinter dem Momente lagen. Die beiden Jahrhunderte lagen noch in ihren Widersprüchen so wenig grell vor aller Augen, daß sowohl in Frankreich wie in Deutschland sich die Zeitpoesie der alten herkömmlichen Formen bediente und um neue Dinge einstweilen noch immer abgetragene Gewänder schlug, Frankreich die mythologische Garderobe des Parnaß, Goethe seine Promethastereien im Epimenides. Kurz dasjenige, was man die neue Poesie nennen kann, die Schule Byrons, die französische Romantik mit ihrem Odenschwung, nebst deutschen Bestrebungen; diese Revolution der ästhetischen Begriffe und Ideale, beginnt erst mit dem Tode Napoleons. Denn mit diesem Augenblick wurde in die laufende Geschichtschreibung die poetische Gerechtigkeit eingeführt.
Überdies hat Deutschland eine außerordentliche Erscheinung erlebt. Wenig Zeiten waren von künstlerischen Interessen so sehr eingenommen, wie gerade die historisch aufgeregtesten im Anfang unseres Jahrhunderts. Die beiden Tendenzen unserer Literatur, welche sich an die Universitäten Jena und Heidelberg knüpfen und die sich später in Berlin vereinigten, schlossen sich unmittelbar an die rastlose Produktionslust an, welcher durch einen frühzeitigen Tod Schiller entrissen wurde, und die sich auch, fast möchte man sagen, durch die moralische Ansteckung des Gewissens Goethen mitgeteilt hatte, der mitten im Getümmel der sich drängenden Ereignisse seine prosaischen Meisterwerke zeitigte. Wo konnte bei so lebhaften Bestrebungen in Kunst, Philosophie und empirischer Naturbetrachtung wohl das Gefühl einer Isolierung und eines neu einzuschlagenden Weges durchbrechen? Goethe war mit Schiller in einen lebendigen Rapport getreten. Schiller repräsentierte das allgemein Menschliche und die Geschichte; Goethe das Individuelle und die Natur. Diese entgegengesetzten Prinzipien kämpften mit friedlichen Waffen und brachten zu Gunsten der ästhetischen Technik und der Erziehung zum Poeten Resultate hervor, welche sich bei allem Bezuge auf die Zeit und ihre Verhältnisse, doch immer nur mitten in den Traditionen der alten formellen Literaturgeschichte bewegten. Man fühlte sich immer in dem Zusammenhange dessen, was in der Anordnung des Tages die Ordnung der Kunst war. Es gab keine Lücke, von der man sich gestanden hätte, sie mit Aufopferung seiner selbst ausfüllen zu müssen. Die Bändigung der Revolution durch Napoleon hatte die Interessen wieder in einander geknüpft, die Nationen drängten sich in ihre Kerne zusammen und hoben, um stärker zu sein, den inneren Zwiespalt ihrer Tendenzen auf. Wo niemand das tut, was er tun möchte, da darf es kein Vorwurf sein, daß ein jeder das tut, was er kann. Wo alle dulden, wie kann man den tadeln, der sich einen Trost zu verschaffen sucht und in dessen Segnungen soviel als möglich hineinziehen möchte? Öffentliches Unglück, das man aus seinen eigenen Mitteln nicht enden kann, entschuldigt im Schoße der Duldenden jede Handlung, da keiner diejenige tut, welche den Schaden besserte und das Recht der Strafe heiligen könnte.
Unglückliche Zeiten, die sich trösten, aufgeregte, die sich beruhigen wollen, werden immer auf die Literatur zurückkommen. Sie fängt die für die äußere Gefahr zu mißlichen Radien der Überzeugung und des freien Gedankens auf und leitet sie in das schöne Farbenspiel einer gebrochenen Reflexion wieder zurück. In ihre schattenreichen Haine flüchtete man sich vor der glühenden Mittagshitze und träumt mit dem Vogel, dessen Gesang wir uns zu deuten suchen. Man will in allen tyrannischen Zeiten die Garantie seiner natürlichen Freiheit retten. Wo die Menschen nur noch Bürger und Krieger sind, wo sie nach Tausenden Herdenweise verteilt werden und Gesetzen sich fügen müssen, welche die Natur verleugnen, da lechzt man nach Natur, nach jener Nacktheit, in welcher wir geboren wurden; nach jener Verantwortlichkeit, die einst vor Gottes Thron wahrlich niemand an unserer Statt Übernehmen wird, sondern wo wir für uns selbst stehend, mit niemanden als mit Gott unter vier Augen zu reden haben. Dies Band der freien Selbstbestimmung ist das Gewebe der Literatur. Tempel bauen sich auf, wo wir, von den Dienern Baals ungesehen, den heimlichen Göttern opfern dürfen, Katheder, wo unsere Hoffnung als Weisheit gelehrt wird, eine andere Welt, in der wir geistig leben und mit immer fester werdenden Fuße wandeln. Die Literatur und Kunst ist jene Religion, welche uns mit der Gottheit unter vier Augen läßt.
Das erste Drittel unseres Jahrhunderts ist verronnen. Welches werden die Resultate sein, die sich im letzten Drittel zu betätigen haben? Kein Jahrhundert hat mit geschwätziger Hast so viel Fragen aufgeworfen wie das unsrige. Die allgemeine Aufklärung weckte das Verständnis und machte jeden fähig, an der Lösung jener Fragen seinen Anteil zu nehmen. Eine chaotische Begriffsverwirrung war die Folge. Die kriegerischen Erlebnisse weckten die Leidenschaft und den Stoff, welcher durch sie entzündet werden konnte, gaben die Interessen und Ideen her. Von jenen Waffen, die sie alle trugen, blieben in den Händen die Schwielen zurück; als drohende Heiligtümer hängen an den Wänden die Trophäen und Erinnerungen des vergangenen Völkerkampfes; alle unsere Debatten haben einen so trotzigen und feindseligen Charakter, daß es immer ist, als hörte man dazwischen den Hahn einer gezogenen Flinte knacken. Ob man das Pulver von der Pfanne blasen wird? Ja. Das Resultat, von dem das 19te Jahrhundert seinen Namen empfing, scheint noch über zwei Menschenalter hinaus zu liegen, und wir werden es bald den Enkeln überlassen müssen, unsere Rechte zu fordern und als die ihrigen zu verteidigen.
Es ist erwiesen genug, daß an dieser Verwirrung die Literatur die größte Schuld trägt. Wenn ich auch nicht sagen will, daß die Literatur sie hervorgerufen hat, so beförderte sie den Zwiespalt schon dadurch, daß sie ihn nicht hintertrieb. Alle literarische Definitionen sind auf der Flucht. Was ein Gesetz an sich trägt, hat seine Geltung verloren; was eine Schlußfolgerung ist, sieht sich vergebens nach ihren Voraussetzungen um. Die Tatsachen der Literatur schweben in der Luft. Alle Paragraphen sind wie die Nummern eines Lottos zusammengewürfelt, aus welchen nur noch der blinde Zufall Nieten und Gewinne zieht. Einiges, das sich sicher dünkt, streckt sich mit vornehmer Behaglichkeit auf dem Ruhebette aus und schleudert so gleichgültig, als wenn ein Engländer sich die Zähne stochert, seine Urteile von sich. Schelling – Hegel – was hat die Welt dann, wenn der eine von beiden siegt? Wenn nun dieser Kampf erst entschieden ist, wenn nun jeder erst sagen kann, was er will; was wird dann wohl gesagt werden? Diese so breit entfaltete Anstrengung und Erbitterung mußte doch die Vermutung erregen, daß ihr nur das eine erst beseitigen wollt um dann recht tüchtig an das andere zu gehen? Wenn ihr diese Entgegnung verachtet so verachtet ihr eure Zeitgenossen; denn warum haltet ihr sie auf? Warum verlangt ihr so breite Dimensionen der Anerkennung? Und wie ihr, so alle, die, um das Wort zu haben, tausend Worte verlieren, und wenn sie es endlich haben, dann verstummen werden.
Aber diese Stummheit hat etwas Tröstendes. Denn sie erleichtert uns die Rechnung, wenn wir alle Ideenposten unserer Zeit ansetzen und daraus ein Fazit für das Jahrhundert ziehen wollen. Wenn ihr stumm sein werdet und dann nichts sein wollet, als was ihr selber seid, dann werden wir nur sehr wenig zu addieren haben. Faßt man die Spitzen so zahlloser Pfeilbündel, die Ziele dieser hitzigen Bestrebungen des Pietismus, der Scholastik, des Liberalismus u.s.f. zusammen und ritzt dann wirklich nur so flüchtig die Haut der Zukunft? Das ist vortrefflich. Da muß die Wahrheit unseres Jahrhunderts gerade zwischen dem Extrem der Revolution und den Lehrbüchern eurer Philosophie mitten inne liegen.
Die Philosophie unserer Tage fühlte es, daß sie eine Bestimmung von sich aussprechen müßte, welche über die Debatte und ihre eigene Ausschließlichkeit hinaus läge. Sie fühlte, daß man mit so gierigen Armen nicht in das Herz der Nation greifen dürfe, ohne daß etwas anderes in ihren Händen läge, als das Blut ihrer Gegner und ihr angemaßter Ruhm. Wohin rafft sich diese Philosophie auf? Über die Inhaltlosigkeit ihrer ehemaligen Behauptungen erschreckend, fühlt sie, daß sie etwas tun muß, was tüchtig und erfreulich ist oder wie Goethe sagen würde, was Hunde vom Ofen lockt. Seither regnet es einen Strom von Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele und die persönliche Fortdauer. Ich mag diese moderne Ostermorgenfrage hier nicht aufnehmen, weil sie nicht hieher gehört; aber sie ist ein Symptom.
Der kleine Zirkel, auf den alles ankömmt, heißt: Wer sind wir? Wozu? Von wem? Wohin? Die großen Sphären der Philosophie tanzen um diesen kleinen Zirkel, ohne ihn an irgend einem Punkte seiner Peripherie zu berühren. Man muß Tangenten ziehen. Man muß beweisen, was ist die Asche, in welche dereinst unser Kopf, der stolze Weltdurchsegler, unser rüstiger Arm, unsere Real- und Sprachkenntnisse zusammensinken? Nur Mut, ihr neuesten Unsterblichkeitslehrer! Wühlt in dem Staube und sichtet ihn durch das Haarsieb eurer Dialektik! Bleibt auch nichts zurück, so läßt sich diesem hohlen Nichts, das die Welt erschuf, doch immer noch ein Name geben, purpurn, schimmernd beim Phantasten, mild, hoffnungsgrün beim Dichter; grau, geisterhaft beim Exorzisten; gelb, intolerant und exklusiv beim Zeloten. So sehen wir mit einem Male die Philosophie auf jene alten Fragen reduziert, die sie sich von den Leichensteinen der Friedhöfe abliest. Die Schulen sind geschlossen, die Lehrer wandeln in Mondscheinsferien, die Jünger lauschen an der zugefallenen Pforte, und aus den transparenten Irrlichtern der modernen Unsterblichkeitstheorien, die über den Gräbern hüpfen, setzen sich die identischen Worte zusammen: Wir sind, die wir sind; gebt Gott die Ehre!
Mehr oder weniger wollte auch Goethe nicht. Hier erst ist der Ort, wo man wieder des weisen Dichters helle und klangvolle Stimme vernimmt, aus welcher eine gesunde und lachende Weltbetrachtung spricht. Zwischen jenen philosophischen Systemen, die sich so sehr verrechnet hatten, daß sie die Unsterblichkeit der Seele alle als etwas Vergessenes nachholen mußten, wandelte er nach einem Ziele, das sich der Genius des Jahrhunderts gesteckt zu haben scheint. Weder die Freiheit, noch die Gesetzmäßigkeit des Gedankens will ich nennen, weil man damit andere Begriffe verbindet. Es ist aber die Autonomie des Gedankens, in spekulativer wie in ästhetischer Hinsicht.
Das Ziel ist mit wenig ungefähren Sätzen ausgesprochen:
– Befreiung des Gedankens vom System und den dogmatischen Formen.
– Der Irrtum als Chance des Gedankens, wenn er nur die Wahrheit des Individuums und die Schönheit der Form hat.
– Nur diejenige Wahrheit ist schön, welche eine individuelle ist.
– Die Tendenz ist lobenswert; aber ihren Gedanken, bloß als den Gedanken der Allgemeinheit wird entweder die Wahrheit oder die Schönheit mangeln.
– Die Tendenz ist kein Spiel, sie muß siegen oder besiegt werden, weil sie auf Interessen beruht, aber in diesem Jahrhundert entscheidet sich erst die eine Frage, ob die Literatur sich aus den Interessen erheben und eine selbst bezweckte Stellung behaupten kann oder ob sie fortfahren wird, mit den Interessen verwechselt zu werden, und mit einer ferneren Unmöglichkeit ihrer selbst enden wird?
– Übrigens darf, wer mich Gott nicht mit Händen greifen läßt, nicht zürnen, wenn ich meinen Augen mehr traue, wie den seinigen.
– Statt angemaßter Wahrheiten gebt bescheidene Überzeugungen! Bescheidene Überzeugungen aber sind solche, die keine Verpflichtung sind.
– Die Systeme sind gut. Aber es sind ihrer zu viel. Nämlich zu viel auf einmal. Sie sollen auch alle erhört werden. Deshalb mögen sie einstweilen auf das neutrale Gebiet der Schönheit treten, doch warten, bis sie der Zeitgeist rufen wird, und sich in ihrer vorläufigen Lage den Gesetzen des neutralen Gebietes bequemen.
– Endlich erlaube mir jeder, der mich nicht geschaffen hat, noch einmal, da meinen Schöpfer zu suchen, wo ich ihn finde!
Durch diese Gedankenverbindungen gehört Goethe dem 19ten Jahrhundert an. Ich wüßte auch wahrlich nicht worauf man in Zeiten einer allgemeinen Begriffsverwirrung anders zurückkommen will, als auf die Natur, die Gesundheit, die Freiheit, den besten Humor und auf das, was niemand machen, geben, oder nachahmen kann, auf das Genie.
Goethe hat sich im Anfang dieses Jahrhunderts von allen Liebhabereien desselben entfernt gehalten, sowohl von dem Nifl- und Muspelheimer-Himmel der Nordlandsreckenromantik, wie von der blauen Blume Hardenbergs, der Indomanie der Schlegel, welche sich beide im Ganges von ihren literarischen Sünden reinigen wollten. Allen diesen Bestrebungen lag in der Tat eine gewisse Verwandtschaft mit Ideen der Zeit, ja sogar eine Sympathie mit dem Schicksale der Nation zum Grunde; aber es war von einem vollendeten Charakter nicht zu erwarten, daß er aus Patriotismus seinen Geschmack verderben sollte.
Alle neuere Poesie in Deutschland hat nun einen Ton angenommen, der von fremden Dingen auf sie übertragen ist. Sie lehnt sich an allgemeine Tatsachen und Begriffe, welche, da sie nicht selten erhebender Natur sind, den durch sie angeregten poetischen Empfindungen eine heilige Weihe und Wirkung geben. Durch eine sinnige Behandlung ihrer Interessen sind die Menschen bald gewonnen. Jene poetischen Trompeter, die den Zügen der Tendenzen voranreiten, gekleidet in die Livree der Kämpfenden, sind die Augenweide der Masse, die sie mit Ruhm bezahlt. Sie nützen, sie erfreuen, sie schmeicheln und kosten wenig. Sie kosten keine alten Traditionen, sie kosten keine uns liebe Philosophie oder Religion; sie beeinträchtigen niemanden in seinen alten Besitztümern. Das Genie kostet die Menschheit etwas. Da muß immer eine Nation oder ein Stück Religion, Philosophie oder Wissenschaft zu Grunde gehen. Diesen Schaden wird das Genie freilich später aus seinen eigenen Mitteln wieder herstellen.
Zu dieser Wohlfeilheit gesellte sich seit Herder der große Nachdruck, welchen man auf die Unterscheidung der Nationalliteraturen legte. Studium und Interessen vereinigten sich, die Literaturen unter allgemeine Kennzeichen und klimatische Reverberen zu bringen. Der Begriff des Nationalen legte sich wie ein Reifen um die Anschauungen des Poeten und drückte alle seine Bilder und Gedanken auf einen kleinen Mittelpunkt zusammen, der ungefähr dem Durchschnittswerte der Allgemeinheit gleich kam. Die Nation will sich in der Literatur bespiegeln: sie will, daß die Literatur ihre jeweiligen politischen, religiösen und moralischen Zustände ausspreche. Sie wollen sich in den Weisen des Dichters wieder finden mit ihren kleinen und großen Leidenschaften, mit Frau und Kind, wie sie in ihrem Besuchszimmer im Konterfei hängen. Dem, was alle fühlen und denken, soll der Dichter nur die schöneren Worte geben. Man sagte damals: die Zeit ist wie eine Riesenharfe ausgespannt, aus welcher jeder einzelne Dichter sich einen Ton auffangen müsse für sein eigenes kleines Instrument der Subjektivität.
Wohin diese damals mit entsetzlicher Leidenschaft gelehrte Ästhetik geführt hat, zeigt der gegenwärtige Ausblick. Die poetischen Kräfte der Nation sind erschöpft keine einzige derjenigen Leistungen, welche sich unter uns noch einiger Teilnahme zu erfreuen haben, lassen sich mit den Voraussetzungen jener Ästhetik in Einklang bringen. Sie widersprechen in ihren Prinzipien all den Merkmalen, welche die sogenannte Nationalliteratur tragen soll. Es ist durch den Erfolg entschieden, wie wenig befruchtend und anregend jene patriotischen Lehren wirken konnten. Wir sahen es. Überall Produktionsohnmacht. Und wo ein Produkt ist, da wird nur die Tendenz gesehen!
Die Weltliteratur will die Nationalität nicht verdrängen. Sie verlangt schwerlich, daß man seinen heimischen Bergen und Tälern entsagend, sich an kosmopolitische Bilder und Landschaften gewöhne. Die Weltliteratur ist sogar die Garantie der Nationalität. Sie wird immer, wenn das Evangelium der letzteren mit zu vielen Golgathagefahren gepredigt wird, oder sonstige Beandstandnahmen desselben eintreten, den mißlichen Anknüpfungspunkten zu Hülfe kommen und vor einem Europäischen Forum dasjenige möglich machen, was in der Heimat unzuverlässig ist. Die Nationalität wird durch den weltliterarischen Zustand nicht aufgehoben, sondern gerechtfertigt. Der heimischen Literatur wird das Urteil und die Geburt durch ihn erleichtert, wie namentlich in Deutschland die Voraussetzungen einer nationalen Literatur so sehr erschwert sind, daß man bei uns über ein Talent den Stab bricht, während demselben das Ausland akklamiert. Was wir auch gegen Heine einzuwenden haben, so ist es doch unerträglich, daß bei uns ein Name ungestraft darf gelästert werden, der durch seine außerordentlichen Fähigkeiten sich bereits eine europäische Bekanntschaft erworben hat.
Wenn man weiß, wie wesentlich für Deutschland diese zänkische und hypochondrische Kritik ist, welche nichts in der Welt ohne Anfechtung lassen kann, die über alles sich erhitzend, an jede Statue des Phidias noch ein Fragezeichen anhängen würde, so kann man sich die erboste Hartnäckigkeit erklären, mit welcher man sich bei uns gegen das Prinzip einer Weltliteratur sträubt. Man muß wohl ein so durchgreifendes und einfaches Regulativ der ästhetischen Beurteilung hassen, weil es das Gewerbe beeinträchtigt, weil es alle die Bosheiten, Unversöhnlichkeiten und Angebereien ausschließt, mit welchen in Deutschland produktive Talente begrüßt, verfolgt und oft getötet werden.
Die Grundsätze der Weltliteratur geben sich sogleich zu erkennen, wenn man nur die äußere Physiognomie derselben näher bezeichnet. Zur Weltliteratur gehört alles, das würdig ist, in die fremden Sprachen übersetzt zu werden, somit alle Entdeckungen, welche die Wissenschaft bereichern, alle Phänomene, welche ein neues Gesetz in der Kunst zu erfinden und die Regeln der alten Ästhetik zu zerstören scheinen. Die geringe Ausbeute derartiger Produktionen würde namentlich Deutschland von jener Überflutung des Literaturmarktes befreien, welche den Umsatz, die Teilnahme, den Überblick und die Kritik erschwert. Mit dem inneren Werte käme die äußere Würde der Literatur. Die Literatur erhöbe sich von der niederen Stufe, auf welche sie als ein Bedürfnis herabgesunken ist. Sie würde sich als eine organische Offenbarung des Menschengeistes betätigen und mit einem Schlage durch ihre eigene naive Unübertrefflichkeit alle jene Fragen beenden, welche sich auf dem jetzigen Gebiete der Geisteswelt zu keinem andern Zwecke durchkreuzen, als um die Mittelmäßigkeit zu ordnen, zu placieren, zu erläutern und mit falschen Lorbeern zu bekränzen.
Ich gebe zu, daß in der Weltliteratur dieselben Verwechselungen vorkommen können, wie in der Nationalliteratur. Kotzebue ist vor dem europäischen Tribunal anerkannt. Raupach sogar dürfte eher übersetzt werden, als der Faust von Nikolaus Lenau, oder ein Roman von Julius Mosen. Ich kann nicht sagen, daß ich etwas wüßte, was hier dem Genie den Rang immer vor dem bloßen Talente sicherte, es sei denn, daß sich das Genie die Tugenden des Talentes anzueignen suchte. Dies wäre Aufforderung genug an unsere heimische Literatur, sich aus ihren flüssigen, wenn auch noch so edlen Bildungsstoffen herauszugestalten, frei die Welt zu überblicken, alle nebelhaften Anschauungen von jenen urschönen Bildern hinwegzuziehen; die nicht fehlen werden, wo Prädestination ist. Diese zusammengeronnene Schönheit, welche sich in der deutschen Poesie findet, gleicht dem Korinthischen Erze, das von tausend flüssigen Götter- und Heldenstatuen siedet und wallet. Da ist keine Prägnanz, keine Deutlichkeit, keine Wahrheit der Umrisse. Licht und Schatten gehen ohne Perspektive in einander und machen, daß die ordinärsten Gestalten Sieger sind, weil sie sind. Dies schöne lebendige Sein mit Händen und Füßen, dies Sein mit einschmeichelnden überredenden Worten, dies Sein in Stiefeln und Sporen, klirrend auf den Marmorstiegen der poetischen Phantasiepaläste; wo fände sich dies oft bei den tiefsinnigsten Dialektikern des Gemüts und der Einbildungskraft, bei Fähigkeiten, die zum Siege alles zu besitzen scheinen?
Das ist es. Der Dilettantismus zerstört die Wirkung des Genies. Jene der Zeit parallellaufende sogenannte Nationalpoesie brachte die Poesie nicht außer Atem, da das Leben immer dasjenige ist, was uns am leichtesten wird. Die Poesie als eine Sonntagsfeier, als ein an hohen Festtagen angetanes Kleid, hat nicht jenen olympischen Schweiß auf der Stirn, den man mit Lorbeern zu trocknen unwillkürlich versucht wird. Uhlands Muse ist nie echauffiert. In seinen Gedichten ist täglich Sonntag. Die Glocken läuten, und die Menschen gehen geputzt in die große Kirche der Natur, wo zum festlichen Tanze unter der Linde der Boden hübsch rein und sauber gekehrt ist, wo alle Dinge im Chore singen und die Meinungen im Unisono einfallen. Gewiß schön; auch weltliterarisch als deutsches Genrebild, als eine Sammlung von Nationaltrachten, die sich der Engländer kauft, wenn er über Rotterdam in seine Heimat zurückreist. Allein in jedem andern Bereiche, das nicht die Lyrik ist, wird diese Sonntagsstimmung ein phlegmatisches Wohlbehagen, ein romantisch genießendes, nicht plastisch schaffendes. Wer ein fremdes Leben wirken will, muß zuvor das seinige aufs Spiel setzen.
Die Deutschen bilden sich ein, daß ihnen eine Menge Dinge gestattet seien, die sich die Franzosen und Engländer nicht erlauben dürfen. Die eigentümliche Komplexion unserer physischen und moralischen Natur soll andere Gesetze zu verlangen scheinen, als sie das Ausland befolgt. Man rundet Bemerkungen zuletzt gern mit einer schmeichelhaften Phrase ab, wovor der Genius unseres Vaterlandes erröten müßte, wenn er nicht schon an das seit Jahrhunderten stinkende Eigenlob der Deutschen gewöhnt wäre. Ich mag auch gegen die noblen Eigenschaften meiner Landsleute nichts einwenden. Ich ließe diese patriotische Koketterie gern gewähren, wenn sie nicht in der Literatur etwas gelten und das Schlechte nur durch Eitelkeit, die man darauf hat, rechtfertigen wollte; und ich glaube wohl, daß ein Franzose daran keinen Geschmack hat, woran sich deutsche Herzen erfreuen. Aber es gibt auch viele deutsche Tugenden, die uns selbst schon zur Last werden. Die sogenannten echtdeutschen Produkte unserer Literatur sind die mittelmäßigsten.
Als Goethe die Weltliteratur empfahl, dachte er schwerlich daran, daß die einheimische Literatur nach dem Beifalle der Fremden geizen und nach exotischen Maßstäben eine Regulierung ihres Wertes dulden solle. Goethe wollte zunächst nichts als die erfreuliche Empfindung einer Anerkennung von jeder nur möglichen Seite her. Darauf verlangte er von seiner Weltliteratur wechselseitige Repressalien des Genies, Austausch von Ideen, die man sich mitteilen sollte als die Resultate einer durch Teilung schnell geförderten großen gemeinsamen Geistesarbeit. Goethe dachte an eine Tendenz der Zukunft, zuletzt ohne Eigennutz, um so mehr, da er sich schwerlich getraut haben würde, alle seine Produktionen von einem weltliterarischen Standpunkte anzusprechen. Es ist überdies sonderbar. Goethe erwähnte die Weltliteratur, um der sogenannten zeitgemäßen Poesie zu entfliehen, und derjenige Name, an welchen er die Weltliteratur anknüpfte, war die höchste Potenzierung der modernen Bildung: Lord Byron.
Byron gehört nicht zu jenen Günstlingen, welche sich die Muse der Dichtung selbst erwählt, sie mit den glänzendsten Gaben ausstattet und ihnen die Sonnenrosse ihrer stolzen Bahnen selber anschirret. Dante, Shakespeare, Cervantes traten aus dem innersten Heiligtum der Poesie, umflattert von den Genien der Schönheit, welche ihnen die unverwelklichen Blütenkränze ihrer Dichtungen um die hohe Stirne flochten. Die Bajaderen der Grazie tanzten vor ihnen, die Satyrn bliesen auf ihren Waldflöten, die Tiere des Feldes legten sich gebändigt zu den Füßen der Sänger nieder. Die Dichtkunst war ihr Atem und ihre Seele. Was sie berührten, verschonten sie. Sie waren Priester, die eine heilige Offenbarung zu lehren in die Welt gesandt wurden.
Byron dagegen war nur ein Charakter, der sich der Poesie bemächtigte. Die Poesie selbst gab sich ihm unwillig hin; er mußte sie bändigen. Die Poesie hätte ihn nicht auserwählt, aber Byron war so kräftig, daß er sie zwang einen Willen zu haben, der der seinige war. Die Poesie war für Byron ein Hülfsmittel. Er ließ den Genius der Musen nicht frei in sich walten, sondern verwandte ihn ohne Plan und Ziel für die beliebigen Wendungen seines Lebens. Sein Leben war ihm noch immer mehr als seine Poesie. Das hätte uns nie einen klassischen Dichter gebracht, wenn nicht zufällig sein ganzes Leben eine poetische Elastizität gewesen wäre.
Lord Byrons Dichtungen haben den Reiz der Originalität, obschon seine Poesie selbst nicht neu ist. Der Eindruck des Neuen macht sich bei Byron durch die Anwendung eines Charakters auf die Poesie. Allein jene Ursprünglichkeit des dichterischen Genius, welche ein reiner Ausfluß des Ideals zu sein schiene, fehlt den Schöpfungen des herrlichen Mannes. Byron hatte Ideen und griff, um sie zu verkörpern, in einen Glückstopf. Wer würde sagen, daß er niemals auf Nieten gestoßen sei! Byron hatte gleichsam die Poesie um sich her versammelt als ein fertiges Ganze, als eine Tradition, da alles Schöne ewig ist, ja ich meine sogar, daß Byron glaubte, die Poesie wäre etwas, das sich von selbst verstünde. Der Gedanke und die Absicht warten, sie bedürfen ihres Kleides, sie kleiden sich selbst nicht; sondern Byron greift nach jener Tradition und wirft seinen Absichten dasjenige um, was sein Geschmack ihn als das Beste zu wählen lehrte. Man wird nicht wagen, Lord Byron in lyrischer und dramatischer Hinsicht hochzustellen. Er war groß in der beschreibenden Poesie. Er wählte sich immer die glänzendsten Bilder unter der reichen Auswahl, die sich ihm anbot. Er ist meisterhaft in jenen Ausmalungen von Stürmen und Ungewittern, Seefahrten, Landschaften und den vielen Details, welchen die epische Poesie eine gewisse Umständlichkeit, Breite und reflektive Ausdehnung nicht verweigern darf. Byron lebte mit der Poesie wie mit seiner Gattin. Er mied ihren Umgang und weinte, wenn sie ihn verließ; er tyrannisierte sie und fluchte, wenn sie sich deshalb beklagte. Er konnte sie nicht essen sehen, er wollte sie nur in der malerischen Situation haben, als Gedanke, Schmuck, als etwas Unwirkliches und doch Vorhandenes; sie war seine Gefährtin nicht, nicht der Atem seiner Seele, er schien sie zu hassen, und doch liebte er sie!
Was nun Goethe bestimmte, an Lord Byron einen so ausdrücklichen Anteil zu nehmen, ist deshalb schwer zu entziffern, weil ihn Goethe seiner Wesenheit nach wahrscheinlich mißverstanden hat. Goethe bezeugt viel Lust, den englischen Dichter in jene erste Reihe zu stellen, wo wir nur die Günstlinge der Musen antreffen, wo die Dichtkunst eine sich ihrer innern Gesetze bewußte Offenbarung der Schönheit ist und Goethe selbst seinen kurulischen Sitz einnimmt. Jene Anomalien der Byronschen Lebensweise scheinen Goethen zufällige Abweichungen zu sein, von anekdotischem Interesse, sonst unerheblich für einen Genius, der über den Charakter seiner poetischen Mittel nachgedacht habe und bis zur innern Zentralisation des Künstlers in sich durchzudringen versuchte. Goethe wandte sich deshalb jener thetischen Poesie zu, die namentlich im Dramatischen von Byron ohne Glück kultiviert ist. Was läßt sich über Marino Falieri Günstiges urteilen! Die Rhetorik langt aus dem Munde der darin aufgeführten Personen Zettel heraus, die mit sehr schönen aber unmächtigen Reden bedeckt sind. Manfred ist eine Dunstgestalt ohne den Reiz des Lebens, eine der metaphysisch-poetischen Chrien, die es jetzt im satanischen Fache ebenso gut gibt, wie im theologischen. Wie flach, allgemein und eben durch die Unermeßlichkeit so leer ist Kain! Die Erhabenheit dieser Dichtung liegt nicht in der Auffassung, sondern in dem Gegenstand. Die Wolken jagen und türmen sich aufeinander, Millionen von Meilen werden wie Rechenpfennige gespendet, dazwischen ein Skeptizismus, der weder poetisch noch philosophisch ist und schon von Natur kalt lassen muß. Ich glaube doch, daß Goethen, wenn er es lobte, hiebei nicht aufrichtig und von Herzen warm geworden ist.
Goethe war zu beklagen; denn unmöglich besaß er Freiheit genug, um an Byrons besten Produktionen, an den Erzählungen, jene Genüge zu finden, die er sich stellt, an den philosophischen Leistungen des Dichters gefunden zu haben. Wie mußte ein an die klassische Monotonie des Homer, an die geschwätzige Gleichmäßigkeit Ariost's gewöhntes Urteil berührt werden, wenn Byron eine kleine Anekdote zu einem endlosen Gedichte dehnt, hier etwas einmischt, das nicht zur Sache gehört, dort gegen die Kritiker und Hofpoeten polemisiert, an einer andern Stelle den winzigsten Detailumstand in's Endloseste ausspinnt, und das alles unterminiert mit Horaz, Virgil und einer die poetische Jungfräulichkeit überall verletzenden Gelehrsamkeit! Goethe akkomodierte sich. Die Dedikationen Byrons trieben ihn in die Enge, die englische Kolonie in Weimar verpflichtete ihn zur Anteilnahme, und um nicht ganz an der Selbstbetörung zu nichte zu werden, hielt er sich dann an jene mysteriösen Kompositionen, in welchen er sich die schimmerndsten Lichtstreifen von Poesie zu erblicken überredete.
Es ist ein Unglück, daß Goethe den Don Juan vielleicht häuslich goutierte, ihn aber nicht öffentlich anzuempfehlen wagte. Indem er auf jene Produktionen Byrons verwies, welche eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen eigenen Leistungen haben, verrückte er den Standpunkt der Weltliteratur. Vor diesem allgemeinen Tribunale sollte Lord Byron nur als ein Charakter gelten, der, wie wir ihn bezeichnet haben, sich eines Stückes Poesie bemächtigt hatte. Jetzt scheint es, als wäre gerade die Nachahmung jener dem Dichter mißlungenen Partien empfohlen worden. Man erschrickt, wenn man eine so durchaus abscheuliche Komposition wie Edgar Quinets Ahasverus mit der Anmaßung auftreten sieht, als gehöre sie zur Weltliteratur, als setze sie deutsche und englische Elemente nach Frankreich über, als sei sie in irgend einem Betracht dem Faust Goethes an die Seite zu stellen. Es herrschen hier mannigfache Begriffsverwechselungen, von denen nicht die geringste die ist, daß die Wahl großer Stoffe schon günstig gegen die Ausführung durch kleine Talente zu stimmen pflegt.
Überhaupt ist auch für Deutschland Goethes Nachwirkung nicht materiell, sondern formell. Was er uns hinterließ, ist die Tradition des abstrakten Genies, die Form, die Grenze und die Methode. Er hinterließ uns etwas, woran man lernen soll, sein großes Vorbild, eine Meisterschaft, die sich gewiß auch für die Beurteilung fremder Produktionen auf einige ausgesprochene Maßstäbe zurückführen läßt. Durch Goethes Studium soll sich jede ausschweifende luxurierende Phantasie im Zügel ergriffen fühlen und auf jene Bahn einlenken, wo selbst das Willkürlichste nicht ohne innere Formation ist, jenen Blumen gleich, welche der Frost auf Fensterscheiben zeichnet. Es ist wahr, Goethe war ein Kondottiere des Genies. Will ihn die Vergangenheit dafür strafen, immerhin! Die Zukunft muß ihm danken; denn von seiner Allgemeinheit lernt sie, von seiner Unbefangenheit wird sie befruchtet. Niemand kann ein Vorbild sein, der nicht etwas in sich trägt, das sich auf alle Fälle anwenden läßt.
Jeder Cicerone der gegenwärtigen deutschen Literaturzustände wird in Verlegenheit geraten, wenn ihn ein Fremder früge: Wo ist das Genie? Du sprichst von Tendenzen, von philosophischen Sekten, von entscheidenden Sekten: wo ist das Genie? Wo ist jene Allgemeinheit, die kein anderes Kredo hat als eines auf sich selbst? Wo ist jener Funke, der hier als mildes Feuer wärmt, dort als Flamme wütet, der alles entzündet, was du willst, und der aus den größten Tollkühnheiten sich immer wieder in seine stille heimliche Glut zurückzieht? Wo ist jene Freiheit vom Gesetz, von der Meinung, von der Partei, wo jener Abenteurer, der nur sich und seine Farbe und seine Dame kennt, und die Lanze bricht mit Ideen? Klopstock, Herder, Wieland – das ist schon lange her.
Wir haben Steffens, Schelling, Raumer, Görres, wir haben aufgeweckte Köpfe, die in jedem Fache mit sicherem Erfolge arbeiten würden. Aber wie viel Erzählung, wie viel Literatur und Tendenzgeschichte brauchen wir, um jeden dieser Namen nach seinem Werte zu charakterisieren! Diese allgemeine Gefangennahme der Geister durch ihre Wunderlichkeiten, diese Erleuchtung, in die man sie erst stellen muß, ehe sie einen rechten Schatten werfen, ist das größte Hindernis der Nacheiferung. Denn wo anfassen? Wo das unmittelbare Talent von seinen Anerzogenheiten trennen? Wo sind diese Männer noch die freien Söhne der Natur, junge Waghälse, die sich mit Selbstvertrauen auf die Brust schlugen, und wo schon jene hinfälligen verschlagenen und für die heterogensten Zwecke einer isolierten Wissenschaft gefangenen Charaktere, die nicht befürchten können, weil sie Anknüpfungspunkte haben, nicht für das Genie, sondern für die Schule?
Goethe aber ist ein Name, auf den man zu allen Zeiten zurückkommen kann. Durch nichts bestimmt, kann er jedes bestimmen. Seine Dichtungen sind ein kritisches Regulativ für jede zukünftige Schöpfung. Wer wollte seine Philosophie adoptieren! Wer kann sein Leben den Triumph der Aufopferung nennen! Wer möchte, wenn er auch so gerecht wäre, daß er das nicht tadelte, was Goethe zu tun hinterließ, doch so tolerant sein, daß er alles billigte, was Goethe tat! Aber diese Stimmungen und Gefühle mildern sich mit der Zeit und gehören doch weniger in die Literatur. In der Geschichte der Kunst wird sein Name sich wie eine goldhaltige Ader fortziehen und sich mit leuchtenden Metallkörnern an die Wurzeln jener Bäume hängen, welche jetzt gepflanzt, noch schüchtern und unhaltbar vom Winde schwanken, dereinst aber auch mit weitausgreifenden Ästen sich entfalten, und nicht bloß zeigen werden, daß sie von grünem Holze sind, sondern auch erquickende Schatten werfen können.
Weder eine Gesinnung, noch eine Manier sollte durch diese Schrift anempfohlen werden. Herrlich die Jugend, welche aufrichtiger, hingebender und feuriger empfinden kann, als Goethe konnte. Man kann hochherziger denken vom Vaterland, von der Liebe, von den Formen der Gesellschaft und den Rätseln der Geschichte. Ja selbst die Kunst war in den Händen des Dichters nicht immer ein heiliges Weihgefäß, aus dem er Segen und Gottesnähe auf die Gemeinde sprengte. Goethe hatte die größten Anschauungen, Imaginationen, deren Ausführung ihn fortwährend hoch über jenen Verhältnissen gehalten hätte, denen er unterlag; und er zog es vor, seine ungeheure Kraft an kleinen Stoffen zu verschwenden und das natürliche Prinzip, daß alle Dinge ohne Anstrengung nach einem eingebornen Organismus sich entwickeln müßten, auch auf die moralische Welt, und zum großen Schaden der Nation, auf die Imputation des ästhetischen Gewissens zu übertragen. Indem die Poesie bei ihm die augenblickliche Erregung, der Akt des Dichtens selbst Abschließung einer abweichenden Stimmung war, so bildete er in sich nicht jene innere Triebkraft aus, die den Menschen immer aus seinem Gleichgewichte herauszuheben sucht und ihn mit Aufopferung des genossenen Momentes auf immer höhere Stufen und Terrassen der Zukunft erhebt. Über alle diese Fragen kann es keinen Zweifel mehr geben.
Doch wie man sie auch lösen mag, sie sollten uns niemals die Freude und Genüge an dem unsterblichen Teile Goethes verkümmern. In einer Zeit, die von politischen Stürmen sich beruhigend, und auf eine friedliche Weise die philosophischen Resultate derselben auf die Literatur anwenden will, ist von Vorbildern keins so beherzigenswert wie Goethe. Wenn sich die jüngere Generation an seinen Werken bildet so konnte sie kein Mittel finden, das so sonnig die Nebel des Augenblicks zerteilte, kein Fahrzeug, das sie über die wogenden Fluten widersprechender Begriffe so sicher hinübersetzte. Die Zeit der Tendenz kann beginnen, wenn man über die Zeit des Talentes im Reinen ist. Dann kann man auch wieder anfangen, Schiller statt Goethe zu empfehlen.