Karl Gutzkow
Über Goethe
Karl Gutzkow

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Goethe kam so unbewußt in seine Stellung der Nation gegenüber, daß er lange Zeit die Physiognomie eines Dilettanten nicht verlieren wollte; jede neue Kraft, welche auf die Öffentlichkeit wirken will, wird sie sogleich nach Gesichtspunkten, die in ihrem Interesse gestellt sind, ermessen und immer das Mangelhafte da als vorhanden auszugeben suchen, wo sie sich einbildet, den Schaden oder das Fehlende ersetzen zu können. Goethe aber war so wenig Willens auf die Teilnahme des Publikums zu spekulieren, daß er selbst nach seinen ersten veröffentlichten Produktionen nicht aufhören konnte, das Publikum lieber nach der Verehrung zu beurteilen, die ihm Klopstock, Gleim und die seiner Natur entgegengesetztesten Geister zu verlangen schienen. Goethe stand in keinem Rapport zum Publikum. Er wußte nicht was er demselben positiv mit sich zum Geschenke machte. Mit irgend einer Tendenz und Richtung wußte er sich am wenigsten in Einklang zu bringen und hat ob seine Wirkung gleich gewaltig war, doch niemals in dem selbst gelebt oder hat in dem fortgefahren zu leben, wo sein Anfang alle Welt entzündete.

Ich wüßte nichts, was so schlagend die Genialität eines Phänomens bezeichnet als dessen Harmlosigkeit. Während Klopstock, Voß, Ramler, Wieland, Herder, in ihren einmal angeschlagenen Tönen einen ausdauernde Hartnäckigkeit besaßen, die sie zuletzt, fast möchte man sagen, zu ihren eigenen Plagiatoren machte, hielt sich Goethe niemals an das, was aus ihm eine Schule hätte machen können oder eine Religion, deren erster Priester er hätte sein müssen. Freilich hatte er bei dieser Zufälligkeit seiner Bestrebungen den meisten Verlust. Wie schlagend auch seine spätern Effekte waren, so wurde er doch, nachdem er Werthern durch den Triumph der Empfindsamkeit begraben und das Vorurteil des Publikums getäuscht hatte, niemals wieder recht populär. Auf Kosten einer ihn und seinen Genius vernichtenden Monotonie wollte er es nicht sein. Nur diejenigen Schriftsteller sind, wie z.B. Schiller, plötzlich ein Gemeingut aller Klassen geworden, welche das Publikum einmal an einem bestimmten Ton gewöhnt haben, welcher nun immer in jedem folgenden Werke wiederkehren muß. Neuheit in jedem neuen Buche stört die Bequemlichkeit der Leser, setzt eine Beschäftigung mit dem Dichter voraus, wozu nicht alle die gehörige Muße haben, und erschwert somit das allgemeine Verständnis, ohne welches es keine Popularität gibt.

Goethe legt allerdings auf seine Behauptungen über die Gelegenheitspoesie zu viel Nachdruck. So genialisch auch zufällige Veranlassungen z.B. seines Clavigo sind, so kann man doch nicht zugeben, daß die durch Goethes gesellschaftliche Stellung in Weimar veranlaßten Allegorien und Festspiele durch die Zufälligkeit so interessant würden, als sie langweilig sind. Dennoch bleibt das Prinzip für die ganze Laufbahn unseres Dichters entscheidend.

Will man es in Betreff der Häuslichkeit noch auf einfachere Begriffe zurückführen, so möcht' ich hier an die Maske und die Musik erinnern; jene, von dem Dichter mit so viel Vorliebe gebraucht, und in mancherlei Mummereien und der Lust am Geheimnisse sich aussprechend, vergegenwärtigen lebhaft die Jugend des Dichters mit jenen possenhaften Arrangements, welche zum Erstenmale in Goethe das poetische Bedürfnis anregten. Ja die Musik war es, welche ihn ohne Weiteres in den Vers hinein warf, so daß nicht nur seinen lyrischen Gedichten die Melodie immer von selbst vorzuklingen scheint, sondern sein produktiver Eifer sich auch an Singspiele machte, die, wie Erwin und Elmire, besonders aber Claudine von Villabella gewiß keine hohen Anflüge nahmen, aber doch ungemein gewandt angelegt und im einzelnen gar allerliebst ausgeführt sind. Eine Hast ergriff den Dichter, sich unaufhörlich in Kompositionen dieser Art zu ergehen. Seine Mittel standen ihm immer siegreich zur Seite und unterstützten ihn darin, daß seine Poesien vom Gefühl der praktischen Brauchbarkeit und des gelegentlichen Bedürfnisses veranlaßt wurden. Die Oper, die ernste wie die komisch, ist unersättlich in ihren Forderungen an die improvisierte Erfindung.

Der Klang der Musik bahnt uns den Weg, um besonders an Goethes lyrischen Erzeugnissen anzudeuten, wie alles in ihnen erlebt, empfunden und von des Tages Ordnung angegeben ist. Glücklicherweise haben wir fast zu allen ihren Einzelnheiten lebendige Schlüssel der Biographie und können das viele, was uns hier noch fehlen mag, durch Ahnung ergänzen.

Nach Petrarka gab keine Lyrik so viel Wahrheit für Dichtung wie Goethes, und Goethe übertrifft sogar Petrarka. Denn was Petrarka sang, verstand sich nur für die Situation, in der er sang, und erhielt sich für sie in der Literaturgeschichte. Doch Goethes Poesien, meist durch ganz individuelle Erlebnisse angeschlagen, klingen auf alles anwendbar im Volkstone fort und sind in die Teilnahme der Masse, die freilich den Verfasser nicht mehr anzugeben weiß, noch tiefer gedrungen, als die Gedichte Schillers.

Unbefangen und heiter sind Goethes lyrische Erstlinge. Sie adoptieren die poetische Sprache der Zeit, den Schäferton, wo Amor sich zu Damon schleicht und dieser gute Junge, sanft die Flöte blasend, Dorilis aus ihren Träumen weckt. Luna schleicht mit Silberglanz durch Busch und Eichen, und Zephir ist der beschwingte Bote, der der Schwester Apollos leise voranweht. Hier ist alles klein, zart frisch, heilig durch die Veranlassung; man nascht und tanzt mit den Amoretten, der Ernst wird vertändelt und selbst die Empfindung scheint mehr poetisch überliefert, als von innen hervorquillend.

Jetzt kommen schon tiefer klingende Töne, das Versmaß ist länger ausgehalten, der Dichter sehnt sich nach der ersten Liebe und sieht die Unschuld in Nebel gehüllt von ihm wegfliehen. Plötzlich bricht ein schreiender Akkord in diese Modulationen. In dem Gedichte Abschied friert dem Dichter das Wort auf dem Munde zu Eis. Jetzt weht eine schneidend kalte, aber unübertrefflich wahr und schön gefühlte Resignation durch eine Empfindung, die zwar feiert, ausruht und verachtet, trotz alles Stoizismus aber doch vom tiefsten Schmerze durchschnitten ist. Der Dichter begründet sein philosophisches Evangelium mit einer Ironie, die uns Tränen in das Auge und um den Mund zu gleicher Zeit ein Lächeln jagt. Tiefe Stille herrscht in des Schiffers Herzen, die Stille nach überstandenem Sturm; auf der ungeheuren Weite regt sich keine Welle mehr; er steht am Mast leicht hingelehnt, und pfeift seine Maxime der Gleichgültigkeit: Sehe jeder wie er's treibe! Und doch kömmt zuweilen wieder eine Ermattung über ihn, er kann der Ermunterung: »lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da,« nicht die siegreiche Kraft des Trostes abgewinnen und schleudert seinen ungeheuern Groll in reimlosen Dithyrambenquadern von einer Höhe des Parnaß herab, wie sie nie wieder erstiegen ist.

Da faßt ihn eine frische Neigung, hinreichender Ersatz für die Lücke, eine Neigung mit mehr Zärtlichkeit als Liebe. Und diese haucht in Liedern aus, die nicht so melancholisch sind, wie die vorangegangenen, auch nicht mehr so allgemein sehnsüchtig und in der Geliebten nur die Liebe liebend, sondern rasch, klug, besorgt, angemessen Ort und Stunde. Wer erlebte dies nicht! Du scheitertest schon oft mit deinem Herzen, du hast die Liebe schon als Kunst, dein Benehmen ist ein Handgriff der Verführung, und dennoch sehnt sich die letzte Abendröte weichender Unschuld nach dem Zauber der Natur noch einmal zurück, nach einer wahren und echten Empfindung, die uns, von unserm Herzen ausgeschlossen, zu gewinnen kaum noch möglich schien und sich in den schmelzendsten Tönen offenbaret. So in diesen Liedern Goethes. Die Liebe mäßigt sich, da sie wohl aus Erfahrung weiß, daß man in ihr nichts überstürzen und keine Genüsse zeitigen und zu rasch abschlürfen soll, und trotz dieses Raffinements wird der Dichter mit recht frischem Herzen noch einmal wieder naiv und munter, ein Bär, den Lillis Menagerie bis zum Murmeltiere zähmte. War die Natur früher die Anknüpfung einer ungestillten Sehnsucht, war sie früher nur die Vertraute des Liebenden, so ist sie jetzt lebendig geworden und Leben schaffend, sie öffnet ihre Mannigfaltigkeit einem Auge, das sich Ähnlichkeiten ihres Glückes sucht, ihre Situationen ordnen sich vor dem beruhigten sinnenden Dichter, fremde Zustände locken seine behagliche Betrachtung, und die poetische Form wird eine neue, die Ballade.

Goethe verstand unter Ballade jede poetische Empfindung, für welche der Dichter von anderswoher eine Staffage nimmt. Dies ist immer eine historische, gleichviel ob er sie der Geschichte entlehnt oder schlechthin einer äußern Wirklichkeit, die nicht durch seine eigenen Mittel und Wege geschaffen ist. Diese Mischung von Epos und Lyrik, äußert sich am liebsten dramatisch, wie auch in den schottischen Beispielen der Ballade der Dialog die Erzählung zu ersetzen pflegt. Indem Goethe dies Verfahren von der Sage auf alles andere, was nur nicht aus ihm selbst war, übertrug, schuf er eine neue Gattung der Poesie, die von Vielen später mannigfach und gut kultiviert, die deutsche Verskunst in leidlichem Schwunge erhalten hat, selbst als das Genie eine Seltenheit wurde.

In dieser Weise wand z.B. Wilhelm Müller recht anmutige Kränze, wo sich dieselben Situationen der Zärtlichkeit, Eifersucht und Versöhnung immer mit verschiedenen Subjekten, heute mit einer Müllerin, morgen mit einem Musikanten wiederholten. Auch ist die schwäbische Schule mehr ein Produkt der Goethischen Ballade, als des Goethischen Liedes, nicht bloß in den historischen Sagen, wo es in die Augen fällt, sondern selbst in der Originalität der Uhlandischen Muse. Uhland hat die Baukunst von Goethes Ballade gelernt. Es sind fremden Herzen untergelegte Empfindungen, die er besingt; es sind Tatsachen des Gefühls, um welche er mit Leichtigkeit einen historischen Rahmen legt. Das Zusammenfallen der ursprünglichen Idee mit diesem historischen Vehikel gibt allen Liedern Uhlands jenen epigrammatischen Schluß, der leider in neuerer Zeit in den Begriffen über das lyrische Gedicht mancherlei Verwüstung angerichtet und an die Stelle der Empfindung den Witz gesetzt hat. In Goethes Ballade, nämlich dem Genre, was er auf seine eigene Rechnung so nannte, herrscht eine eigentümliche Zweiheit, welche immer der Ausdruck der Reflexion ist. Uhland steigerte dies bis zum höchsten Grade und erreichte damit oft eine ungemein ergreifende Wirkung. Wer kann das Schloß am Meere und ähnliches lesen, ohne zu gestehen, daß nach den einfachen Worten des Sängers erst das Gedicht beginnt? Man ist überrascht von dieser kunstvollen Einfachheit der eben gehörten Fragen und Antworten, so daß sich erst am Schlusse derselben vor unsern Augen die ganze Anschauung der poetischen Situation zusammensetzt und sich ein Ton aus unserm Innern heraufwühlt, der die tiefsten Seiten unseres Gemüts zu wunderbaren Melodien weckt. Es ist dies einzig die frappante Wirkung des Epigrammatischen. Diese Form zwingt uns, Vorder- und Nachsatz noch einmal zu wiederholen und für uns selbst den Ursachen eines Gedichtes nachzuspüren, von dessen Wirkung wir elektrisch längst getroffen sind.

Goethes späteste lyrische Erzeugnisse sind trunkene Orientslieder, mit welchen Anakreon sich die greise Stirn umwindet. Sie bahnten den Übergang zur weisheitsvollen Gnome, zahmen Xenie, zum ernsten oder scherzenden Spruchgedicht. Wenn beim Mahle das Barbiton unter den Gästen kreiste, so blieb Goethe der griechischen Sitte immer eingedenk und sang frisch und munter sein Skolion herunter. Er lehrte dann die lachende Weisheit der epikurischen Gärten, Weisheit des Lebens, heiterste Resignation, und jenen Mut, nach der Lehre des Horaz, noch im höchsten Alter, von jedem Tag die reifende Frucht zu brechen. Und so hat jedes Gedicht der Goethischen Muse einen inneren Bezug und läßt sich einer allgemeinen Weltansicht einreihen. Nichts steht abseiten und würde nicht mit dem ganzen ausgedehnten Mantel des Sängers zu decken sein. Aber äußere Maßstäbe reichen schwerlich dabei aus, sie ließen das meiste unverstanden und würden oft mit unbehaglichen Resultaten enden. Es ist mit diesen Gedichten, wie Goethe selbst sagt wie mit den gemalten Fensterscheiben einer Kirche. Draußen sehen sie schwarz und geklekst aus, von innen aber leuchten sie mit wunderbarer Pracht und das vom falschen Standpunkte Unverständliche löst sich in Sagen und Geschichten, in feste Gestalten, Ebenmaß, Schatten und Licht auf, daß unsere Augen wie durch Zauber geblendet sind.

Es ist nicht die Absicht dieser Unterhaltungen, nach viel trefflichen Vorgängen uns mit einer Charakteristik der einzelnen Dichtungen Goethes zu beschäftigen. Wir suchen nur, zu einem Zwecke, der sich auf die Länge noch deutlicher herausstellen soll, das Individuelle an ihm zu charakterisieren und nachzuweisen, wie bei ihm Kunst und Natur sich schöpferisch vermählten. So macht es denn auch unser Standpunkt der Literaturgeschichte und Poetik notwendig, hier noch einige Erörterungen über das Schöne beizubringen, wie es sich Goethen anbot wie er es suchte, und zuletzt, wonach er es beurteilte.

 

Was zündet den Dichter? Man wird schnell zur Hand sein und sagen: das Ideal. Man glaubt nämlich, daß der reinste und korrekteste Ausdruck der Schönheit auch die Schönheit selber wäre und daß das poetische Genie immer auf der Stufe stehen müsse, auf welcher Raphael stand.

Aber die Ästhetik hat noch keinen Dichter gemacht. Das allgemein Idealische, das Korrekte und Klassische ist die schlechteste Befruchtung der Phantasie. Man kann durch einen Heuschober zu einem bessern Gedichte veranlaßt werden, als durch einen Marmorpalast. Daraus folgt daß sich das dichterische Genie mehr um die Niederländer, als die Italiener bekümmern muß.

Goethes poetische Erziehung bestätigt diese Meinung in allen Punkten. Er läuft durch die Dresdener Galerie; Raphael und Corregio versteht er nicht; aber Rembrandt, Rubens und sogar originelle Mittelmäßigkeiten ziehen ihn lebhaft an. Goethe ging durch den Mannheimer Antikensaal, mehr befürchtend und staunend, als durch die zahllosen Schönheiten angeregt. Das Allgemeine, Idealische zündet den poetischen Genius nicht, sondern das Individuelle, Einzelne, Charakteristische.

Goethe hat uns den Eindruck überliefert, welchen in früherer Zeit ein Gemälde von Rembrandt und ein Stück von Goudt nach Elsheimer auf ihn machten. Rembrandts Geburt Christi riß ihn zur Bewunderung hin. In dem andern, Philemon und Baucis, hat sich Jupiter auf einen Großvaterstuhl niedergelassen, Merkur ruht auf einem niedern Lager aus, Wirt und Wirtin sind nach ihrer Art beschäftigt sie zu bedienen. Jupiter hat sich indessen in der Stube umgesehen, und just fallen seine Augen auf einen Holzschnitt an der Wand, wo er einen seiner Lieblingsschwänke, durch Merkurs Beihülfe ausgeführt, klärlich abgebildet sieht. Nun setzt Goethe, gar bezeichnend für Dasjenige, was in ihm den Dichter anzuregen pflegt, hinzu: »Wann so ein Zug nicht mehr wert ist, als ein ganzes Zeughaus wahrhaft antiker Nachtgeschirre, so will ich alles Denken, Dichten, Trachten und Schreiben aufgeben.« Und dies mit Recht; denn alles natürliche Dichten und Denken entspringt aus dem Einzelnen und Individuellen, so wie auch nichts den Dichter so ergreifen wird, als was ihn überrascht, nämlich die Nuance. Alles Schöne wird sich dem Genius ursprünglich als eine Handlung, eine Situation, kurz als etwas offenbaren, das mit uranfänglicher Gewalt aus den Dingen selbst herausspringt und die Kreise seiner weiteren Ausführung wie ein in das Wasser fallender Tropfen von selbst zieht. Kein schöpferischer Geist nimmt zuerst eine Idee, um sich nachher die ihr entsprechenden Personen zu suchen, sondern auf jene Lichtpunkte achtet er, jene positiven, wirklichen und von der Wirklichkeit erfundenen, welche die ihnen entsprechenden Ideen von selbst ausstrahlen. Das Schöne an und für sich betrachtet in der harmonischen Gestaltung aller Teile eines Kunstwerkes, macht wohl zunächst den Eindruck des Charakteristischen nicht und soll es nicht, da das Schöne ja nur die Einheit im Charakteristischen selbst ist; das Charakteristische aber ist es, welches die Schöpfung veranlaßt. Wenn sie zuletzt schön wird, so ist uns das Übereinstimmen des Anfangs mit dem Ende der Ausführung und der Idee. Diese Begriffe bleiben fest, so lange die Literatur nicht durch die Schule, sondern durch die Naivetät des Genies bestimmt wird.

Goethe unterlag jedoch dem Überraschenden nicht; dagegen wappnete er sich durch seine Kunst. Die Romantiker und Modernen hielten den blendenden Glanz dieser Lichtpunkte nicht aus und schlugen immer in die Extreme über, so daß sie auf der einen Seite entweder sehr glatt, sorglos, lüstern einatmend, weiblich genießend wurden, auf der andern rauh, struppig, immer aufgeregt, samenschwellend, in Überfülle gebend, pointiert. Die Romantiker konnten die Teilnahme nirgends fassen, weil sie dieselbe von allen Seiten angreifen wollten. Da war alles pikiert, alles sonderbar und originell, die Farben waren nicht verwischt, sondern lagen dick aufgetragen, wie auf der Palette. Der Eindruck war barock, wunderlich und zuletzt ermüdend, weil es an Ruhepunkten überall gebrach. Ebenso das entgegengesetzte Extrem, welches durch einen der ersten Stifter der Romantik Heinse recht deutlich gemacht wird. Ardinghello zieht mannigfach an, ein hoher gebildeter und freier Geist umweht uns; mancherlei Üppigkeiten machen sogar unser Blut in kleinen Kügelchen durch die Adern rollen. Doch halten wir nirgends inne, kein Vorsprung, der besonders originell wäre, hemmt den allerdings kecken und doch wieder so phlegmatischen Lauf; man fühlt sich von keiner einzigen Idee lebhafter angespornt oder erschräke einmal vor irgend einer besonders überraschenden Wendung. Und wie hier die Romantik anfing, so endete sie auch mit der Monotonie; denn was kann monotoner, verschwommener und egaler sein, als Fouqué oder die Minnesänger?

Wenn man die Gesetze der Goethischen Dichtkunst auf eine Formel zurückführen will, so beschränken sie sich auf die Relativitäten der beiden Begriffe des Allgemeinen und Besondern. Das Besondere sollte immer dem Genie, und das Allgemeine der Kunst angehören, aber die Erfahrung zeigt uns, daß man das Allgemeine gern für die Sache des Interesses und das Besondere für die Sache des Geschmackes hält. Es gibt viele Dichter, welche ihre Nation beglückt haben, wenn sie zur abstrakten Allgemeinheit einer löblichen Idee die positive und konkrete Unterlage eines Faktums suchten. Aber die Größten sind es nicht. Das Genie beginnt mit dem Faktum und besitzt so viel Kunst und Natur, daß es dasselbe auf die günstigste Weise auch immer unter die Strahlenbrechung der Allgemeinheit bringen kann. Wäre unser Zeitalter nicht in der Notwendigkeit, sehr viel auf den guten Willen, die Ehrlichkeit und die Tendenz geben zu müssen, und wäre die Bildung dieses Zeitalters weniger rhetorisch, so würde es für die Besonderheit denselben Instinkt haben, den es nur für die Allgemeinheit zu haben scheint; es würde allerdings die Dichtungen Schillers heißer lieben dürfen, als die Goethes, weil Schiller kühn und Goethe nur weise war; aber doch niemals das Genie des letztern, gegen das Genie des ersteren in Abrede gestellt haben; da in der Literatur wenigstens das Besondere höher steht, als das Allgemeine.

Goethe, wie er sich denn selbst das Klarste war, empfand bei einer zwischen ihm und Schiller eingetretenen zarten Differenz den Unterschied vollkommen, wenn er sagt: »Es macht viel aus, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne an's Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nur dieses Besondere lebendig faßt erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.«

Wir setzen hinzu: die Initiative der Schillerschen Dichtung war das Interesse. Er suchte dann für seine Begriffe die persönlichen Spiegelbilder, und Dank seiner Bestimmung! daß er oft die trefflichsten fand. Von einem edeln, feurigen, aber inhaltlosen Instinkte ging er aus, seine glühende Einbildungskraft kam dem suchenden Verlangen zu Hülfe und gaukelte ihm lange Züge von Gestalten vor, aus denen er wählte, was stark genug war, seine Stärke zu tragen. Je reifer die Anschauung, desto glücklicher die Wahl. So sind Karl Moor und Kabale und Liebe noch Schöpfungen, die, trotz ihrer dämonischmarkierten Bestimmtheit, doch unsere Vorstellung nur an Allgemeines überliefern. Immer mit dem Schluß dieser Dramen stürzt ihre Erfindung zusammen, und der uns packende Rest ist ein unbestimmtes, leeres, schauerliches Mißbehagen an der Gesellschaft, das, weil die Weltkopie in ihnen das Original doch wahrlich nicht treu wiedergibt, auch nicht einmal Entschlüsse in uns bewirken kann. Wie schnitt Schiller am Stoffe des Fiesko herum! Wie schwer wird es ihm, vom Mittelpunkte der Tatsache aus, die Tatsache zu sichten und zu ordnen! Posa ist vortrefflich, aber für das Hauptinteresse des Karlos, nur eine Zutat aus der Allgemeinheit. Eben so müssen in der Stuart und Jungfrau immer Repräsentationen von allgemeinen Begriffen auftreten, Liebhabereien und Empfindungen, welche das Ereignis verrücken und die Tatsache nur zum Vehikel beliebiger Vorstellungen zu machen scheinen. Erst Wallenstein und Tell genügen; jener, weil er in der Tat individuell gehalten ist; dieser, weil in ihm das Allgemeine zufällig mit dem Besondern selbst zusammenfällt.

Über Goethes Dichtungen schwebt niemals der große Schillersche Horizont, sondern sie halten das Interesse streng an der Sache und offenbaren sich mikrokosmisch. Goethe gibt, was das Allgemeine betrifft, immer nur Perspektiven und Fernsichten in sie, unermeßliche zwar, aber in einem und demselben Kunstwerke oft nach den entgegengesetztesten Richtungen hin. Auf der einzelnen Blüte der poetischen Besonderheit zeigen sich hier alle Gesetze der Pflanzenmetamorphose; an diesen dünnen Staubfädchen wird man dennoch in das innerste Heiligtum des Naturgeheimnisses gezogen; an diesen bunten schimmernden Farben sprechen sich die himmelanziehenden Gesetze der großen Sonne aus. Ob uns Tasso eine Gefühlswelt, Karlos ein System der Lebensphilosophie und die Hölle im Faust den ganzen Himmel erschließt; es geht von kleinen zufälligen Punkten aus. Am Schleppkleide der Gelegenheit, wie sie eine Zeitung, ein fliegend Blatt, ein altes Buch angibt, zieht der Dichter den Triumph der ganzen Erde nach sich. Wenn Schiller einen größere Umfang zu haben scheint als Goethe, so ist dies, wie Sterne von großen Nebelringen umgeben sind. Goethe hat diesen Nebelring nicht; dafür ist aber sein Kern strahlender und wirkt besser in der Finsternis.

Goethe hatte einen solchen Abscheu vor dem Allgemeinen, daß ihn auch jede Definition des Schönen in Verwirrung brachte. Frage man, worin liegt der Zauber der Dinge, wenn sie gefallen; läßt er sich den Dingen geben, oder müssen sie darnach gewählt sein? so trieb Goethe seine Furcht, daß man das Leben in eine Formel einfangen könne, so weit daß er sogar erklärte, der Ausdruck, Idee des Schönen, habe schon an sich etwas Unstatthaftes. Goethe hütete sich, die Schönheit in etwas Einzelnem zu finden, da sie im Gegenteile immer etwas Zusammengesetztes sein müsse. Wie kam er zu dieser Sprödigkeit?

Goethe war in der Mitte seines Lebens umdrängt von Theorien über die Schönheit; kein neues System etablierte sich, ohne nicht auch für die Ästhetik Fächer und Repositorien aufzutun. Das veranlaßte Goethen, sich hiebei immer negativ zu halten, und über Begriffe, für welche der grassierende Idealismus nicht Sublimationen genug finden konnte, immer im herabgestimmtesten Tone zu sprechen. In dieser Flut barbarischer Wendungen und Hypothesen war es für den Dichter sogar ein Verdienst die Göttlichkeit seiner Mission in irdische Worte zu kleiden und das Schöne mit einer scheinbaren Geringschätzung zu beurteilen. Der Nebulismus schien Ausdrücke wie: richtig, erfreulich, gefällig u.s.w. verdrängen zu wollen; diese mußte man retten; man mußte der praktischen Vernunft, man mußte der Poesie als Poetik und dem menschlichen Gefäße des göttlichen Inhaltes Gerechtigkeit widerfahren lassen. Eiferer übersahen dies Verdienst. Die Einfachheit mit welcher Goethe über seine Kunst wie über ein Handwerk sprach, diese Einfachheit, welche uns aus den transzendentalen Zeiten die gesunde Vernunft gerettet hat, fand die böswilligste Auslegung. Man brachte es dahin, daß es scheinen sollte, als hätte Goethe wirklich eine Verwandtschaft mit Hans Sachs, nur daß er die Dichtkunst selbst wie die Schusterei getrieben habe. Wolfgang Menzel wenigstens, ohne Kenntnis der deutschen Philosophie und nicht ahnend, daß Goethes Aussprüche über die Kunst im oppositiven Sinne gegeben sind, behandelt den Dichter immer gern wie einen Fabrikanten.

Es scheint mir, als hätte Goethe bei Gelegenheit seines Besuches in Münster im Jahr 1792 sich über den Begriff des Schönen am aufrichtigsten geäußert. Einer so individuellen, humanen und wohlwollenden Philosophie, wie der des Hemsterhuis gegenüber, ließ sich schwer in Widersprüche geraten. Hemsterhuis nannte das Schöne jene erfreuliche Erscheinung, wo wir die größte Menge von Vorstellungen in einem Momente bequem überblicken und fassen können. Diese viel zu weite, auf besondere Fälle nur sehr schwerfällig anwendbare Definition unterschrieb Goethe, falls sie so zu erstehen wäre, wie er sie später in seine eigene Sprache übersetzte. Er kommentierte so: das Schöne sei, das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Vollkommenheit Schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen. Er fügte dann hinzu, das Schöne sei nicht sowohl leistend als versprechend und müsse hoffen, begehren und erwarten machen.

Nichts ist schön, das nicht anregt. Schönheit ist ein psychischer Moment, wo Wirkendes und Gewirktes zu einem seligen Genusse zusammenfallen und nichts in unserem Sein ohne Erschütterung bleibt, selbst der sinnliche Teil nicht. Schönheit an und für sich, als das Dargestellte ohne Ausfluß auf unser Entzücken gedacht, ist auch nichts Vollendetes in dem Sinne, daß sie durch etwas anderes nicht könnte erhöht und gesteigert werden, sondern sie ist der Grundton, in welchen unsere ergriffenen Sinne einfallen müssen zum harmonischen Akkorde. Das Schöne ist nichts Absolutes, das nach eigenen Gesetzen konstruiert, regelrecht gefügt, kalt und stumm wie Narziß sich an seinen eigenen Reizen weidete, sondern Sehnsucht die den Arm verlangend ausstreckt nach einem Auge, in dem sie sich spiegeln, einem Munde, aus dem sie sich selbst verstehen kann. Die abgeschlossene Ruhe der Antike ist ein längst bestrittener Satz, und so lange die alten Marmorbüsten Augen ohne Sterne haben, werden sie eines Herzens bedürfen, das sie empfindet und ihre geisterhafte Stummheit zu lösen ihnen entgegenkommt. Das Erhabene ist nicht das Schöne. Das Erhabene ist Gefühl der Masse, des Gleichgewichtes und eines es tragenden Mittelpunktes. Das Erhabene ist einfach, die Schönheit zusammengesetzt. Das Erhabene ist die Zirkelform bei den Alten, ein Obelisk, eine Säule, bei Neuern überhaupt alles, was strebt in's Unendliche, ein Turm des Münsters; das Erhabene überwältigt, es produziert in uns nur Rührung und Ohnmacht; aber das Schöne erhebt, das Schöne ist Leben, Mitteilung, Aufforderung, es macht den Betrachtenden selbst zum Künstler. Denn man weiß, daß das Schöne immer erst aus der zweiten Hand kömmt, wenn die Natur die erste ist. Dies Gebäude, Gemälde, Gedicht ist eine Täuschung; hier wetteifert die Kunst mit der Wirklichkeit und sagen werden wir: das ist schön! wenn wir jenen Koinzidenzpunkt fassen können, wo das Mechanische plötzlich Organismus zu sein scheint, wo uns die Illusion wie lebendig in's Antlitz blickt und die fortwährende ästhetische Überraschung gleichsam macht, daß uns die Stifte des Kunstwerkes, die Teile einer Sache, die ja nur eine Vorstellung ist, zusammenzufallen scheinen, und wir hinzuspringen, nachzubilden, nachzuschaffen und das zu suchen, was, Dank den Göttern! noch nicht verloren ist.

Dies sind die Wirkungen des Genies. So wird sich Goethe den Jahrhunderten erhalten. Die Guten, Reifen und Gebildeten werden immerdar von seinen Zauberschöpfungen gezündet werden und durch sie den in jedes Menschen Brust schlummernden Poeten in sich wecken. Die Produktionen erhalten sich wie ein Saatkorn, das auf hunderterlei Acker fallend der Nachwelt blühende Gefilde und reiche Herbste sichert. Und leben in seinen Werken, sichert noch vorm Tode nicht; aber in seinen Werken zeugen – das ist der Prüfstein!


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