Karl Gutzkow
Über Goethe
Karl Gutzkow

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II

Vor einiger Zeit versuchte Görres eine Genealogie Goethes, welche von der in den Taufbüchern der Frankfurter Kirchen notierten sehr verschieden war.

Görres teilt die Menschen in zwei große Feldlager ein; hüben die Genialen, drüben die Philister; und fährt dann fort: ein Fürst der Genialen, ein im Himmel apanagierter Prinz soll es gewesen sein, der sich zu einer Tochter der Erde herabließ, zu einem Aschenbrödel, ein Gott zu einer Bajadere. Mit dieser habe er in unrechter Ehe Wolfgang Goethe gezeugt.

Umgekehrt scheint es, daß man das an Goethe Prosaische, Untergeordnete, oder Bedenkliche vielmehr auf Rechnung seines Vaters setzen muß. Von Seiten der Mutter wird dem Menschen nie etwas Untergeordnetes angeboren.

Wenn Goethes Poesie durch einen Fehltritt entstand, so verirrte sich eine Fee des Himmels mit einem jungen, servilen Pagen. Dieses Umganges Frucht war ein junger, verschämter, mädchenhafter Gärtnerbursche, der am Hofe seiner Mutter lebt; ein junger Mann mit viel besorglichen Rücksichten, aber voll des naivsten Mutterwitzes, der die herrlichsten poetischen Schwingen bekömmt, wenn seine Prinzessin Mutter in seidenen Gewändern an ihm vorüber rauscht, ihn mit wunderbarer Zärtlichkeit anblickt und den duftenden Blumenstrauß empfängt den er ihr höflich darbietet. Verliebt sich nun Goethe sogar in seine Mutter, als Oedipus in Jokasten, so wüßt' ich nichts, was das Eigentümliche Goethischer Lizenz über Sitte und Moral vollkommener charakterisieren könnte.

So ist Goethes Auftreten in allen bürgerlichen Beziehungen resignierend, bedächtig und die sozialen Abstände ermessend. Ist es doch, als lehnte er sich gleichsam an seine eigene heroische Gestalt, die Arme auf den Rücken zurückgelegt, freilich imponierend, aber weniger durch das, was er bei andern an freier Bewegung hinderte, als durch das, was er ihr zu gestatten schien. Seine Erscheinung vernichtete durch die Rolle, die man übernehmen, durchführen und tüchtig spielen mußte, um nicht ganz in seinen Schatten zu fallen.

Das Haus und die Familie, die stille Sittlichkeit und Naivetät der bescheidenen Existenz, ja sogar Blödigkeit, wenn ihr die Erziehung nicht einige Haltung gegeben hätte, waren an Goethe das Nächste. Doch hier begannen schon seine dichterischen Übergänge in andere Sphären. Aus der Beschränkung kleiner Kreise spann sich Goethes poetischer Faden hervor, aus dem Rocken an der schnurrenden Spindel, aus dem Leib der behäbig sich schmiegenden Katze, kurz aus echtdeutschen Elementen, wie sie im Götz, im Faust im Egmont zu so meisterhaften und unsere Herzen magnetisierenden Geweben sich zusammenfügen.Die Poesie bildete sich hier sogleich mit einer Maxime. Der Übergang von den Erinnerungen an den mütterlichen Ursprung und dem Hause und der von Goethe ziemlich kalt aufgeworfenen Frage: Was ist das Vaterland? ergab sich bald. Goethe leugnete das Schöne und Herrliche in den Bardentendenzen Klopstocks und Sineds gewiß nicht; im Gegenteil tadelte er seine Zeitgenossen, daß sie lieber auf französische Flittern blickten, als auf jene goldenen Harfen, welche die ermüdenden großen Sänger in Deutschland aufgehängt hätten, aber er las ein Buch von Sonnenfels über die Liebe zum Vaterland und fand es sehr lächerlich. Er gestand offen, eine Erziehung zum krassen Patriotismus der Römer läge nur im Interesse gefahrvoller Zeiten und könnte, zum absoluten Gesetze erhoben, den Ruin aller Zivilisation herbeiführen. Das Schlechteste, worauf sich in der Tat eine Nation gegen die andere berufen kann, ist der bloße Patriotismus. Ein unbeholfener und deutscher Bär entschuldigt seine Verstöße gegen den Anstand sehr schlecht, wenn er brüsk sich umwendet und an seine Lenden schlägt, die von Thuiskon stammen. Sagte nicht Themistokles schon, das Liebenswerte sei niemals die Scholle des Landes, sondern treffliche Institutionen? Goethe fürchtete, daß durch Schriften, wie die von Sonnenfels, die Leerheit der Köpfe mit einem Lärm angefüllt würde, den tüchtigere Dinge, und besonders die Erkenntnis der eigenen Oberflächlichkeit, hätten ersetzen sollen. Er philosophierte mit Recht, daß man in Zeiten der Ruhe die Erziehung, statt an den Nationalhaß und den patriotischen Spektakel, an die Familie und die Bildung im Schoße der Guten und Edeln anknüpfen müsse.

Die Familie, das Häusliche, ja sogar das Philisterhaftdeutsche ist der Leib, aus welchem die höhere Psyche der Goethischen Lebensanschauung emporsteigt. Es ist ein Winken nach einem fernen Heimatlande, ein süßes Locken aus den Grotten der Natur und dem Empyreum des Geistes, es ist der rauschend vorüberklingende Moment, als die Götter über die Geburt eines Genies zu Rate gingen. Und der Auserwählteste der Sterblichen schwebt dem geheimnisvollen Winken nach, mit den rauschend entfalteten Schwingen der Poesie, die Pforten des Himmels öffnen sich und werfen die glänzenden Lichtströme der Sonne in ein Auge, das nicht erblindet, da es Verwandtes sieht. Jetzt ist Goethe der freie Göttersohn des Himmels und schreitet stolz und keck durch eine Welt, die ihm Spielzeug ist. Titanenideen ergreifen sein Hirn, während er durch die Wälder und Berge streift, die Sprache wirft den Reim von sich, seine Einfälle sind erhaben, wahnsinnig, humoristisch, bis sich an dem Versuche einen Prometheus zu dichten endlich die wogende und schäumende Welle bricht und in dem Moment wo der fiebernde Trotz des Genies, Krankheit wird, die rotwangige besonnene und vom Vater geerbte Gesundheit der transzendentalen Krisis zu Hülfe kommt; dann genas er allmählich in einer Mäßigung, innerlich gesund, doch noch im Auge die Spur des Unheimlichen tragend, bis er zuletzt mit frischgesammelter und die Erinnerung des ganzen Himmels in sich tragender Kraft den Faust schuf. Prometheus in der Anlage, die uns fragmentarisch erhalten ist konnte ein Titanendrama werden, das auf Deutschland vielleicht gräßlicher gewirkt hätte, als Werthers Leiden; aber wir hätten mit ihm auch den Dichter verloren. Denn die Idee dieses Prometheus ließ sich nur mit einer Einseitigkeit durchführen, die derjenige haben muß, welcher seine Rechnung mit dem Leben und seiner Wirtin abschließt, das letzte Geld und die Uhr auf den Tisch legt und unangenehm zu enden weiß. Goethe hat sich Zeit seines Lebens von der Prometheusfabel nicht erholen können. Sie spukte in allerlei Formen wieder in ihm durch, aber die Zurückhaltung der Leidenschaft erkältete zuletzt die Auffassung.

Geh vom Häuslichen aus und verbreite dich, so du kannst, über alle Welt! Hiemit bezeichnete Goethe selbst den Weg, den seine Poesie zu ihren Zielen nahm. Es ist die eigentliche Zauberformel, welche ein ganzes dichterisches Geheimnis erschließt.

Sie war das Symbol des Goethischen Lebens in auf- wie in absteigender Linie. Aus beschränkter Sphäre hinaus sich drängend wurde seine Sehnsucht schnell ein poetisches Bild, das seinen Schritten voranschwebte und ihn lockte und Berge und Täler vergessen ließ, die er durchwandert um die in immer schöneren Farben und deutlicheren Umrissen sich malende Anschauung einzufangen. Jeder Anfang in Goethe war harmlos und vom nächsten ausgehend. Ja er versprach in erster Jugend so wenig, daß er selbst von Herder in Straßburg, der schon Standpunkte, Übersichten und Allgemeinheiten gewonnen hatte, für linkisch in der Auffassung und Schönheitsbeurteilung angesehen wurde. Goethes poetische Entwicklung war ein träumerisches Ausspinnen seiner häuslichen Zustände und primitiven Eindrücke und so hinaus über die Vorurteile, Gesetze, Sitten hinweg, bis in die Alpen-Regionen des freien Gedankens und der dichterischen Wahrheit. Ein rüstiger Wanderer, zieht er von seiner Heimat aus und lernet Schönheit, zurückblickend in ein sonniges vom gelben Strom durchschlängeltes Tal, fern der blaue Rand der Gebirge, die unvollendete Kuppel des Domes, und doch ergänzt und vollkommen, gleichsam durch ihre Herrschaft über das, was unter ihr liegt ein rauschendes Treiben, das der Dichterjüngling verlassen kann, ohne aufzuhören es zu lieben. Dies war für Goethe entscheidend, denn jeder andere Genius, pflegt die Metamorphosen seines Dichtens und Lebens in sich wechselseitig zu zerstören und nicht selten auf das, was er heute war, morgen, wie schon auf das Unwürdigste zurückzublicken. Goethe gab seine primitive Anschauung niemals auf, sein häusliches Vermächtnis, das Stilleben der bescheidenen Existenz, auf welches er sich immer wieder zurückziehen konnte, wie ein industrieller Spekulant nach großen Gewinnen oder Verlusten auf seine liegenden und für ein würdiges Dasein immer zureichenden Gründe.

Will man Goethes Steigen aus der Häuslichkeit zur Verbreitung über alle Welt mit einem Bilde vergleichen, das ihm ganz besonders gegenwärtig war; so nehme man seine Wanderung nach Erwins Grabe, eine Besteigung des Straßburger Münsters, wo er auf jeder einzelnen Station inne hielt und ein Gebet des vom Schöpfergeist durchdrungenen Dichters an den großen Meister des Baues richtete. Auf der letzten Platte blickte er in die sonnige Ebene des gesegneten Landes, weit hinaus in die blauen Ahnungen der Schweiz und heimatlich gen Speier und Worms; das Herz frohlockte der unermeßlichen Augenweide und schmiegte sich dankend an das, was ihn auf diesen so wunderbar erhöhten Gipfel trug, an die Kunst, und wie ein Seher seiner eigenen Zukunft schrieb er den bedeutungsvollen Spruch, daß alle Poesie innere, individuelle Keimkraft ist und ein dem Genius sich von selber gebendes Anschwellen der Gefühle für Maß und Verhältnis.

Die absteigende Bewegung fehlte bei Goethe nicht, und in neuerer Zeit ist sie sogar mehr besprochen worden wie die aufsteigende. Hatte Goethe einmal in dem Allgemeinen vergeblich getastet, dann zog er zur rechten Stunde behutsam seine Fühlfäden zurück. Er verspätete sich niemals beim Ideale oder genoß die Umarmungen der Phantasie länger, als der Mond am Himmel stand. Hatte er gegen die Prosa einen poetischen Feldzug geführt, so zog er es doch vor, was die Winterquartiere betraf, sie lieber in der Prosa selbst zu nehmen. Wer ihm hieraus einen Vorwurf macht, was betrachtet der? Nur das Ziel, nicht den Gang selbst.

Wenn Goethe aus der Poesie herabsteigt, so flüchtet er sich nicht in die Familie, sondern er sucht sie zu produzieren. Nicht die Prosa beginnt jetzt, sondern die Philosophie. Die Produktion der Familie ist das Himmelszeichen, durch welches die Wintersonne Goethes schreitet. Mißgunst der Zeiten, Unbehaglichkeit der öffentlichen Meinung, getäuschte Berechnung historischer Ereignisse drängten ihn aus idealischen Anschauungen heraus und bannten ihn in einen engen Kreis, den er unter Sturm und Ungewitter, als das letzte zu retten suchte. Die heiligen Begriffe, welche Goethe mit der Familie verband, verscheuchen den Gedanken an die winterliche Bequemlichkeit eines warmen Ofens, die ein Ermüdeter oder Träger gesucht hätte. Die Familie war Goethen, von allem menschlichen Dasein, wie Jean Paul sagen würde, die Essigmutter, das Saatkorn und die Garantie jeder andern möglichen Entwickelung im Politischen und Nationalen. Alle spätere Poesie unseres Dichters, ist von diesen Vorstellungen über die Produktion der Familie ergriffen. Bezüge des Anstandes, Zurückhaltungen mancherlei Art, mischen sich in die leidenschaftlichen Motive; aus der Geselligkeit entsteht die Gewohnheit, aus der Gewohnheit das Wohlwollen, aus dem Wohlwollen die Neigung, aus der Neigung die Liebe und aus ihr freilich genährt durch die lange konventionelle Zurückhaltung, zuletzt die glühendste Leidenschaft. Ob Goethe positiv oder negativ verfuhr, ob er uns in späteren Jahren eben so übermäßig vorbereitete, wie er in seiner Jugend durch die plötzlichen Schläge uns überraschte; immer blieb das Resultat etwas, das uns blendete, weil es alles für sich hatte, alles in der Wahrheit und Schönheit.

Fanden wir somit im Häuslichen die genetische Grundlage der Goethischen Dichtungsweise; so können wir selbst die Entwickelung fernerer Originalitäten unseres Dichters an dies familiäre Prinzip anknüpfen. Wir werden finden, daß, wenn wir selbst über die ersten Prämissen einer literarhistorischen Kritik, über die Sprache und die Gelegenheit seiner Dichtungen sprechen, besonders aber die lyrische Empfindung Goethes zergliedern; daß sich alle unsere Urteile hierüber an die eben angeleitete Betrachtung unmittelbar anreihen können.

 

Eine Geschichte des Goethischen Stiles ist leider erschwert, durch die Diskretion gegen andere oder die Furcht gegen sich selbst, welche Goethen bestimmte, alle aus seiner Entwickelungsperiode herstammenden Briefe zu vernichten. Diese Korrespondenz ist nicht das Geringste, was die deutsche Literatur seit jener Epoche, wo mit Goethen eine Veränderung vorging, die ihm all seinen Freunden unerklärlich machte, an dem Dichter verloren hat. Veranlassung zur Vernichtung sieht man weniger, als Entschuldigung. Ich glaube die letztern in der Koketterie zu finden, welche die damalige Zeit mit sich selber trieb; in den Lavatereien, wo die flachsten Menschen auf den Gedanken kamen, sich für physiognomische Bedeutsamkeiten zu halten. Diese Richtung haßte Goethe und persiflierte die Süßlichkeit des einreißenden Tones, die wechselseitigen Liebesversicherungen einander sich wildfremder Menschen um so lieber, als er sich selbst eine große Schuld an diesem empfindsamen Modetone durch seinen Werther beimessen durfte. Ich sage nicht, daß Goethe sich vor den Schwärmereien seiner verloren gegangenen Korrespondenz fürchtete, aber er nahm ein Ärgernis an dieser Selbstbespiegelungsseuche, die in eine wahre Apotheose alles Unbedeutenden ausarten zu wollen schien. Aus diesem Grund vernichtete er seine Korrespondenz, und wir haben an dieser Übereilung eben so sehr den Verlust literarhistorischer Tatsachen, wie biographischer Handhaben für Goethes Entwicklung selbst zu beklagen.

Die kleinen Billete Goethes, welche in dem neulich erschienen Briefwechsel Mercks mitgeteilt sind, charakterisieren unseres Dichters stilistische Eigentümlichkeiten bis ins Komische so grell. Goethes heimische Sprache ist kurz, abgerissen, ohne Verbindungen, durchaus das lebhafte Produkt eines in sicherer Familie auf festem Fuße gebildeten Willens. Der Ton ist naiv befehlend, herzlich bis zur Vertraulichkeit und immer hastig wie ein Dialog. Das meiste in dem, was gesagt wird, soll sich gleichsam schon von selbst verstehen, und man sieht die Ungeduld hervorbrechen, daß man nicht schon am Auge wahrnimmt, was zu sagen der Mund sich erst so weitläuftig in Bewegung setzen muß. Dann hilft sich die Lebhaftigkeit und Ungeduld, um die Auseinandersetzung zu vermeiden, gewöhnlich mit Sprichwörtern, die das Gespräch immer objektiv, immer im Zusammenhange mit der gesunden Vernunft und dem, was gar nicht anders sein kann und was ja jedermann gleich einsehen müsse, zu erhalten suchen. Ein solcher Stil widerspricht immer, erwartet aber selbst keinen Widerspruch.

Als man Goethen in Leipzig, wegen seiner unmeißnerischen Art zu sprechen, auslachte, glaubte er sich durch seine oberdeutsche Nationalität entschuldigen zu können; auch in Dichtung und Wahrheit hat er über seine Spruchrede recht hübsche Anmerkungen gemacht; allein ich glaube, was er auf die Nationalität schiebt, ist grade durch sein Familienprinzip und besonders durch die Lokalität seiner Erziehung zu erklären. Noch heute wiederholt sich in Frankfurt, was Goethe an sich erlebte. Eine so eng zusammengerückte wohlhabende Gemeinsamkeit, wie sie Frankfurt darbietet, hebt das jugendliche Bewußtsein früh aus seiner unbestimmten Dämmerung heraus. Die mannigfachen auf Gewerb und Vermögen sehr einflußreichen Verwandtschaften treiben die Kinder bald in den Vordergrund und zwingen ihnen bei Zeiten eine Reife auf, welche den Jahren zuvorkommt. Von allen Seiten sind zwar die Schranken sehr nahe gezogen, doch herrscht in ihnen die Frucht des Reichtums, eine gar löbliche Freiheit, begünstigt durch das erfreuliche Gefühl der Eltern und Verwandten, wenn sie die Fortpflanzer der gemütlichen Aristokratie ihres Namens frischblühend und die künftige Selbständigkeit sogar durch einen mit schwerem Herzen bestraften Trotz verratend um sich sehen. Dabei sind alle Begriffe traditionell und müssen sich als solche erhalten, weil die größte Freiheit sich ja immer als die sicherste Beschützerin des Gesetzes zu bewähren pflegt. In diesen Kreisen können sich die träumerischen, mürrischen, sich isolierenden jugendlichen Charaktere der Provinz und der großen Hauptstädte nur bei besonders ungünstigen Vermögens- Verwandtschafts- und Familienumständen entwickeln. Ja auch das Genie bricht hier nur selten hervor, da sich die Bildung des jungen Mannes frühzeitig in eine allgemeine, gesunde und tüchtige Verstandesrichtung nivelliert. Was hier auf die Jugend wirkt, ist das Beispiel. Früh versteht die Jugend die Manieren des Alters und macht sie nach, da sie ihr ehrwürdig erscheinen. Die Begriffe überliefern sich schnell, Haltung, Benehmen, alles drückt sich wie mit einem Spiegel in der weichen Bildungsmasse ab, und die Sprache mit ihren körnigen Erfahrungssprüchen, stehenden Redensarten und dem lexikographischen Umfange, der auch gerade dem Umfang der Begriffe gleich kommt, ist von der Jugend früh dem Alter abgelauscht. Zuletzt verhindert die muntere lachende Gesundheit und Freiheit, in dem allen Altklugheit zu finden.

 

Auf Goethe ist die Anwendung leicht gemacht. Seine Sprache war früh reif, vollständig, keck. Sprichwörter ersetzten das noch mangelnde eigene Urteil. Noch seine ersten Produktionen sind ganz in diesem Lakonismus geschrieben, den Goethe z.B. im Götz nicht vom Mittelalter oder vom Volke zu entlehnen brauchte, sondern der seine eigene Natur war. Die Wendungen körnig, die Verbindungen abgerissen. Partikeln in Fülle, wenn sie den Ton nuancieren und gleichsam der Akzent des Stiles sind, und fehlend, wo man sie als Ruhepunkt des logischen Prozesses und der künstlich ausgesponnenen Dialektik zu brauchen pflegt. Die Weitläuftigkeit der persönlichen Fürwörter wird vermieden, als verstände es sich von selbst, ob ich, oder du, oder er gemeint ist. Auch ging dies kurze, die Sprache und ihre Privilegien prellende Verfahren auf Goethes erste Versifikationen über. Man glaubt Goethe habe bei seinem Puppenspiel und den satirischen Kleinigkeiten an Hans Sachs und dessen Weise gedacht. Gewiß nicht, er lernte ihn erst später kennen; es war dies etwas Angebornes, das selbst in der Kunstprosa des Veteranen als Reminiszenz öfters zurückkehrte und durch die damals so kalten und bedächtigen Abstraktionen als ein gar ergötzlicher Transparent zuweilen hindurch schimmerte.

Wenn Goethe im späteren Verlauf seines Dichterstrebens, diesen naiven Volkston verließ, so adoptierte er doch keinesweges eine ihm dargebotene fremde Ausdrucksweise. Zum Glück wie zum Nachteil der deutschen Literatur war die Sprache, ihr Organ, niemals auf dem bestimmten Kammerton einer akademischen Skala gestimmt. Frankreich hat eine Dichtersprache, die man einmal adoptieren muß, will man den Kothurn betreten oder auch nur auf dem Haberrohre der Idylle blasen. Dies beeinträchtigt die Originalität, hält aber auch, wie Goethe selbst in seinen Entwürfen über den Dilettantismus bemerkt, die Unzulänglichkeit und die Liebhaberei zurück. Deutschland hat bei seiner bildsamen und von keiner Crusca bevormundeten Sprache doch das Unglück, daß mit ihr alle Welt in die Literatur hineinpfuschen kann. Wäre unsere Literatur im vorigen Jahrhundert nicht durch ihre klassischen Kräfte im Aufschwunge gewesen, es würde den zahllos auftauchenden Naturdichtern und Dilettanten gelungen sein, sie mit einem Schlage in die Anarchie zu stürzen, in welche sie jetzt durch eine allgemeine Pfuscherei allmählich gekommen ist.

Klassische Muster boten sich Goethen an. Er verschmähte sie alle, bis auf ein Beispiel, dem er nicht widerstehen konnte. Wer seinen ersten prosaischen Versuch, zum Andenken Erwins von Steinbach, gelesen hat scheidet den Anteil, welchen Haman an dem Stile desselben hat, sehr leicht heraus. Der Ton ist prophetisch, die Wendung apostrophisch. Dogma und Polemik wechseln ab. Die Bilder sind gelehrt, die Leidenschaften gegen die Franzosen und Pfaffen überraschend grell, das Ganze endet wieder mit Prometheus, dem Goethischen Steckenpegasus. Doch schon ist Klang in diesem Weihegebet, ein Gefühl für jene Rundung, die die Sprache des Egmont und Clavigo, für die Rezitation noch willkommener macht als die Schillersche. Allmählich wurde Goethe Meister dieses üppigen fleischigen Ausdrucks seiner zweiten Periode, der elastisch weicht und zurückkommt, wogend und wallend wie das Meer und, mit etwas rhetorischem Numerus rauschend, doch nie anders als in sanft schmelzender Zerkräuselung sich am Ufer bricht. Der Wellenschlag des mittelländischen Meeres lockt das Gefühl des Taktes und der rhythmischen Abmessung, und die Herrlichkeit dieser Prosa flutet nun hinüber in Tassos und Iphigeniens melodischen Jambus. Seine Poesie wird Atmen der Natur. Die Natur spricht, spricht in Tönen, Musik ist die Seele seiner Schöpfungen; mag er nun in Venedig, am Ufer des Lido, bunte Epigrammenmuscheln fischen oder auf dem Nacken einer Römerin die fleischigsten Hexameter trommeln.

Goethe hatte Not sich von Formen loszureißen, die ihm leicht wurden und Vergnügen machten. Er opferte ihnen wohl einen zufälligen Inhalt, fühlte aber bald, wie wenig echt dies war, dauerte nicht aus und blieb im Fragmente stecken. Was trieb ihn nicht alles zum Hexameter? Was opferte er ihm nicht! Wolfs Zweifel an der Einheit der Ilias, Vossens Geheimnis über den rechten Bau des Hexameters, das erst mit dem Tode Klopstocks veröffentlicht werden sollte, hielten Goethes epische Interessen in fortwährender Spannung. Er gesteht selbst daß ihn das metrische Bedürfnis zu Reinecke Fuchs getrieben. Gott sei Dank, Achilleis blieb schon Fragment. Aber die epische Breite hatte ihn erfaßt und zwang seinen Genius zu einer neuen Metamorphose, zur Kultur einer Prosa, deren glänzende Entfaltung die schon erschienenen Bände Wilhelm Meisters ahnen ließen.

 

Goethes prosaische Diktion verdient eine Betrachtung, die sich vom Dichter ganz unabhängig anstellen läßt; denn hier ist in der Tat ein Maßstab entdeckt, durch welchen die schwankenden Bestimmungen über den deutschen Ausdruck geregelt werden sollten. Von der gelehrten Bilderfülle Jean Pauls und dem Naturalismus der Modernen wird man immer auf jenen bezaubernden Ton zurückkehren müssen, welcher, reich an Gesetzen, in Goethes Prosa herrscht. Diesen geglätteten Marmor nachzuahmen, möcht ich weniger anraten; als ihn zu studieren.

Goethes Prosa ist kein Ausdruck der Unmittelbarkeit, man sieht in ihr die Sprachwerkzeuge nirgends selbst oder die Gehirnfiber transparent hindurchschimmern, welche den Gedanken oben auf ihre Spitze trägt. Nirgends verrät sich die logische Maschinerie oder ein dialektischer Kampf der Idee mit dem Stoffe; sondern Goethes Prosa ist eine Perspektive des Theaters, ein überdachtes erlerntes, vom schaffenden Gedankensouffleur leise zugerauntes Stück. Goethe reproduziert sprechend, was er im selben Momente denkend schuf. Die Dinge sprechen bei ihm nicht selbst, sondern sie müssen sich an den Dichter wenden, um zu Worte zu kommen. Darum ist diese Sprache, deutlich und doch bescheiden, klar ohne dadurch aufzufallen, im Extreme aber diplomatisch.

Dem Jean Paulismus oder der modernen Naivetät lauscht man neugierig zu, und dennoch strengt die Lektüre an und nimmt alle unsere Geistestätigkeiten in Anspruch. An Goethes Prosa arbeiten wir mit, unterstützen die Produktion des Gedankens und schließen, da Goethes Bericht immer nur das Spiegelbild der Reflexion ist, von dem Bilde auf sein Gegenüber. Vergleicht man Goethes Prosa mit der ozeanischen majestätisch flutenden Ruhe des Weltmeers, so ist doch nur der äußere Anblick so stille, gezähmte Leidenschaft. Goethes Anregungen sind belebend und reproduktiv, und so hat diese trügerische Ruhe eine überwältigende Unterlage, eine Wirklichkeit, gerade so wild und schroff in uns wieder auftauchend, wie der Dichter sie in sanften schlummernden Träumen erzählt. Das Äußerliche dieses Geheimnisses wird unzählig nachgeahmt, man scheint dabei vergessen zu haben, daß Goethes Prosa nur für die Erzählung als Organ der epischen Dichtung klassisch ist, und dabei sind noch am glücklichsten die Herren Carus in Dresden und Varnhagen von Ense in Berlin.

Man muß aber nicht übersehen, daß Goethe selbst dies Mißständnis veranlaßte. Indem er diese Sprache mit ihrer höchstzerbrechlichen Kostbarkeit selten mit Auswahl und Sparsamkeit benutzte, so vermischte er ein wenig ihren klassischen Stempel. Die Reproduktion verwandelte sich in Abstraktion. Alle konkreten Anschauungen verflüchtigten in formlose Verallgemeinerungen, das Handgreiflichste verhüllte sich in mystifizierende Nebelflöre, und das, was sich kristallinisch gebildet hatte, zerschmolz in sehr vage Flüssigkeiten. Ja diese verschwimmende abstrakte Ausdrucksweise Goethes teilte sich sogar der Poesie seines Verses mit. Wenn auch der Reim und das metrische Gesetz hier die Verallgemeinerungen beschränkte, wenn sich gerade im Gedicht diese ausweichende Diplomatie in eine besondere Geheimnissung und Wichtigkeit verwandeln konnte, so schützt uns doch nichts davor, daß wir zuweilen das Unnützeste in die vielversprechendsten Kleider gehüllt sahen. Wer erinnert sich hier nicht der Artikelauslassungen, der Infinitiv- und Partizipial-Konstruktionen, des Superlativs für den hinreichenden einfachen Grad, kurz eines Tones, der hier erweiternd, dort beschränkend, sanft zum einen anderes lenkend, alles in dem Schönen, Reinen, schönstens suchte zu vereinen? Oft aber drang durch diese häßlichen Töne noch eine jugendliche Naivetät, und ohne Aufhören wurden sie entschuldigt, durch des Alters redselige Lust der Mitteilung, die uns auch hier so manches hinterließ, was wir zur Charakteristik unseres Dichters schmerzlich vermissen würden.

Wir kehren zum Häuslichen zurück, wenn es sich nächst der Diktion um die Veranlassungen der Goethischen Produktionen handelt.

Man weiß, welche hohe Meinung der Dichter von der Gelegenheitspoesie hatte. Fast alle seine Dichtungen gab der Zufall an. In seinen Jugendkreisen herrschte ein heiterer geselliger Ton, der sich durch wechselseitige Anregung dauernd erhielt, der den einzelnen hervortrieb, indem ihn die Masse, unterstützte und der zunächst im vorzüglichsten Grade die Satire begünstigte. Goethe verlebte eine Jugend, die rings von geselligen dichterischen Aufforderungen umgeben war. Sein Vater war ein origineller Mann, in dessen Kopfe sich praktische Ideen und Pläne durchkreuzten und der um jeden Preis auch den Sohn dafür gewinnen wollte; der sich aber dennoch von dem Ehrgeize nicht trennen konnte, an seinem Sohne auch den Ruhm eines schönen Geistes zu erleben. So ging kein Familienfest ohne poetische Verherrlichung hin. Das Verhältnis zu Lilli zeigt uns selbst den Verfasser des Werther und Götz noch mitten in diesen Anregungen des Zufalls immer mit neuen Einfällen und unermüdlichen Opfergaben auf dem Hausaltar der Geselligkeit. Liebend oder spottend wurden die Originalitäten der Umgebung dargestellt, die Pläne gestalteten sich schnell und verkörperten sich in den leichtesten und zufälligsten Formen.

Wenn auch Goethe gegen diese Produktionen streng war und sie vernichtete, so konnte er doch niemals diesen Instinkt eines plötzlich und unmittelbar auflodernden Interesses unterdrücken. Alles Neue ergriff ihn lebhaft und zwang ihm die Äußerung der darüber angeregten Empfindungen ab. Die Poesie war in ihm das Gesundeste, ja noch mehr als dies, sie war positive Heilkraft und verwandelte jedes wissentliche oder im Gefühl versteckte Unbehagen in verlebte, objektive, zurückgelassene Zustände, wo der Schmerz sein Nachweh und auch die Freude jene Überraschung verlor, mit welcher sie doch das Gemüt mehr zu beängstigen, als zu erquicken pflegt. Einem Dichter, der über seine Mittel und Kräfte gebietet, tut die Welt wenig an, er ist der größte Egoist; denn selbst das Unglück ist bei ihm ein Geschenk, für welches er den Göttern danken muß.


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