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Siebentes Capitel.

Zerbrochene Ringe.

Louis Armand, der mit Murray und dessen polizeilicher Eskorte fast zu gleicher Zeit in der Residenz angekommen war, ging vom Profoßhaus voll Betrübniß zwar, doch nicht ganz ohne Hoffnung für Murray's ferneres Schicksal in seine bescheidenen Zimmer zurück, die sich inzwischen nach seinem Wunsche durch das von Rafflard innegehabte noch vermehrten. In der Werkstatt fand er alle seine Anordnungen befolgt. Diejenigen Gesellen, welchen er, unterbrochen zwar von den vielen in sein Leben eingreifenden Begebenheiten, doch mit gründlichster Anleitung seine Art zu arbeiten mitgetheilt hatte, waren in der Befriedigung seiner strengen Ansprüche vorgeschritten. Er fand, daß man die Modelle zu Holzarbeiten, die er aus Thon geformt zurückgelassen, wohlgelungen in Holz nachgeahmt hatte und freute sich, daß sein auf Märtens' Namen gehendes Geschäft inzwischen einen unerwarteten Aufschwung genommen hatte. Waren auch die Zeiten für Kunsttischlerei und Modellirarbeit, einen Luxuszweig der Gewerbe, nicht eben günstig, stockten ohnehin bei dem politischen Drucke, der auf den Gemüthern lastete, alle Industrieen, so waren doch die Leistungen, die Louis Armand in seinem Fache aus Paris mitbrachte, zu auffallend gewesen, als daß sie ihm nicht eine reichliche Nachfrage dennoch hätten zuwenden sollen.

Frau Märtens war »kurios«, wie sie sagte, wie Fränzchen lebe, ob sie nicht grüßen lasse, ob der alte Sandrart nichts dem jungen sagen lasse, ob Heunisch »allegro« wäre. Louis war so rasch, so übereilt von Hohenberg abgereist, daß er alle diese Fragen nur unvollständig beantworten konnte. Höchlichst verwundert war Frau Märtens, daß Fränzchen nicht bei'm Onkel, sondern mit dessen »Permission« im Hause eines dem alten Sandrart so nahewohnenden Ökonomen, des Generalpächters der Fürstlich Hohenbergischen Besitzungen, lebte. Sie malte sich das Verhältniß in großartigsten Umrissen aus und freute sich, dem jungen Sergeanten, der ein treufleißiger Besucher der alten Leute geblieben war, eine so neue Mittheilung stecken zu können. Ei, sagte sie, in der Küche ist sie nicht perfekt, aber einen Böfflamoth, einen Bissteck und einen Amuleth kann sie machen. Von einem Verhältnisse zwischen Louis selbst und diesem des Boeuf à la mode, des Beafsteaks und der Omeletten kundigen Fränzchen war nicht die Rede. Der sonderbare kleine platonische Roman, der sich zwischen Louis und Franziska angesponnen hatte, war von Frau Märtens und ihrer Brille völlig unbeachtet geblieben. Die halbwüchsige Gelehrte bemerkte in Liebessachen nur das Auffallende, das Hochromantische, durchschlagend Tragische und in Holzschnitten Darstellbare, ja selbst dem jungen Sandrart »schwante« nur etwas und einige Tage später, als Louis in der Werkstatt stand, nahte er sich Diesem ganz zutraulich mit der Frage nach Heunisch, seinem Vater, nach Fränzchen, dem ganzen Ullagrund und wünschte zu wissen, wie er Alle verlassen hätte.

Louis war tief verdüstert. Er war bei Egon gewesen und hatte ihn nur zwischen Thür und Angel sprechen können. Was hatte er gehört: Da bist du schon? Louis du bist zurück! Was hat dich heimgejagt? Dein Geschäft? Deine Bestellungen? Sieh! Sieh! Du fandest Alles vortrefflich – du schriebst mir, daß Ackermann ein Tausendkünstler ist – Gott gebe seinen Segen – nun willkommen, Louis – ah, Louis – wo nehm' ich Tage her, die mehr Stunden zählen als vierundzwanzig! Wann werd' ich dich ordentlich sprechen können? Siehst du, Das hab' ich von Eurer politischen Laufbahn – nun bin ich mitten im Gewühl – vergib die Eile, Louis – Und mit diesen Worten hatte sich Egon an Sollizitanten wenden müssen, deren in aller Morgenfrühe schon ein Dutzend im Zimmer standen. Louis war gegangen, einen Pfeil im Herzen... Das ist aus, dachte er, darüber mach' denn ein Kreuz!

Erschüttert noch und tiefverletzt stand Louis in der Werkstatt und grübelte über ein Gedicht, das zur Noth seine Stimmung ausdrücken sollte. Er gedachte Oleander's, Siegbert's, Murray's und Ackermann's – Alle diese edlen Männer hatten den Gedanken an Egon verdrängt und doch hing er an dem Jugendfreund wie an seinem Bruder. Er versuchte zum ersten Male in der Sprache seiner Vorfahren, in der deutschen, zu dichten und wagte, angeweht von Oleander's milderen Anschauungen und doch noch nicht ganz befreit von der bittern Schärfe seiner französischen Reminiscenzen, ein Gedicht in dieser fast an die lateinische katholische Poesie des Mittelalters erinnernden Fassung:

Welt, wie bist du weit und groß!
Alle Riegel sind gesprengt,
Alle Pforten ausgehängt!
Wie sich's wälzt und wie sich's drängt!
Und was birgt wohl noch dein Schoos?

Wolken, weilt! Wie folg' ich euch?
Stehe, Zeit, wie halt' ich dich?
Raum, du gähnst so fürchterlich!
Wo im Chaos rett' ich mich?
Bin ich nur der Feder gleich?

Wie dereinst bei'm Weltgericht
Hör' ich der Verdammten Chor.
Jeder drängt zum Richterohr,
Trägt nur sich, sein Rühmen vor,
Seine Furcht, sein Hoffen spricht!

Herzen ohne Harmonie
Durcheinander. Jedes' Brust
Hallt das Echo eigner Lust
Seiner Sprache nur bewußt,
Seiner eig'nen Melodie.

Tausend Uhren – Mitternacht
Weisend und die Pendel doch
Ungleich schwankend, tief und hoch,
Keinen hat der Kaiser noch
In den gleichen Takt gebracht!

Gern hätt' ich zum Wald hinaus
Mich in Einsamkeit gebannt,
Hätte an der Quelle Rand
Einen stillen grünen Stand
Mir gesucht, ein friedlich Haus.

Gerne hätt' ich mich gestellt
An den Busch der Nachtigall,
An ein Lerchennest im Thal,
Fliehend jeden Widerhall
Dieser Zeit und dieser Welt!

Doch ich muß, ein treuer Thurm,
Wachen an dem Meeresrand
Bleiben fest im alten Stand,
Wenn umspühlt vom Wogenbrand,
Wenn umdonnert auch vom Sturm.

Die Entscheidung soll ich sehn,
Wenn zerkracht der Wolkenball!
In der dumpfen Donner Schall
In dem allgemeinen Fall
Muß ich sinken oder stehn.

Ein solches Gedicht, vom Augenblick geschaffen, blieb in Louis fest, wenn er es auch später erst niederschrieb. Er hatte die wilde Stimmung seiner früheren Auffassungen noch nicht ganz dämpfen können, in der Form aber schon jene Natürlichkeit und Einfachheit, die er dem Beispiele Oleander's verdankte, sich anzueignen versucht.

Wie er noch so stand, dichtete, arbeitete, trat der junge Sandrart in die Werkstatt und begab sich sogleich an den Winkel, wo vor dem Fenster, nicht fern vom großen eisernen Ofen, dessen Röhren durch die ganze Werkstatt sich zogen, Louis' gewöhnlicher Platz war. Er hatte von Madame Märtens rasch »avertirt« bekommen, daß Herr Louis Armand wieder »ritour« wäre und näherte sich ihm mit der Scheu, die Jedermann fühlen mußte, der Louis' tieferes Streben mit der Zeit aus seiner einfachen, fast schüchternen Art sich zu geben, erkannt hatte. Alles, was er schon von der Alten gehört, mußte ihm Louis wiederholen und vernahm es so aufmerksam, so überrascht, als hätt' es ihm Louis zum ersten Male erzählt.

Mein Vater erwartet mich zu Weihnachten, sagte er, aber ich werde keinen Urlaub bekommen; die dritte Kompagnie wird kurz gehalten. Aldenhoven ist Kapitain geworden. Wir werden gefuchtelt.

Wie geht es dem Major? fragte Louis.

Der Sergeant erzählte von dem immer offner hervortretenden Bruch in der Armee selbst. Werdeck, soweit sich Das aus seiner Sphäre beobachten ließe, wäre düster und mismuthig, doch hätte er ihm kürzlich erst gesagt: Sandrart, Ihr kennt einen jungen Mann, Namens Louis Armand! Haltet Euch an ihn und seine Freunde! Sandrart wiederholte diese Worte mit Schüchternheit.

Wenn Sie wollen, Sergeant, sagte Louis und reichte ihm die Hand, ohne irgend eine Misstimmung wegen Franziska's zu verrathen.

Der junge Krieger klagte über die Verwahrlosung des innern Menschen unter den Waffen. Man exercire, stehe Wache, putze seine Montur und Armatur und im Übrigen hieß' es: Bete oder faullenze!

Es ist bei uns in Frankreich nicht anders, sagte Armand. Der Soldat soll immer eine Maschine sein, soll immer nur der Disciplin leben. Wer dann seine Zeit ausgedient hat, kommt nach Hause, hat sein Handwerk verlernt oder die Arbeit am Pfluge ist ihm zu gering geworden.

Es ist ein Glück, daß es ehrliche Mädchen gibt...

Wieso Mädchen und ehrliche?

Wer heirathen will, muß doch wieder an die Hobelbank oder auf's Feld zurück; um die Mädchen holt man ein, was man für sich beinah verlernt hat.

Das Gespräch war von den Gesellen belauscht worden. Man lachte und Louis ließ sich eine so heitre Störung schon gefallen. Er setzte das Gespräch fort, von dem er nicht ahnte, daß es ihm später als »Soldatenverführung« ausgelegt werden sollte. Sandrart erzählte von den Schmeicheleien, mit denen man das Selbstbewußtsein des Heeres, das nur durch Schlachten gehoben werden könnte, heben wolle und nur einschläfere. Er erzählte von den Märchen, mit denen man die Krieger erschrecke, von einer neuen Revolution, wo nicht das Kind im Mutterleibe geschont werden sollte. Die Rothen wollten den König, die Prinzen und Prinzessinnen morden und kein Soldat sollte ungespießt bleiben...

Die Gesellen lachten...

Aber es kommt immer nicht, fuhr der aufgeregte Sergeant fort. Wir stehen des Morgens auf und gehen des Abends zu Bett mit dem Gedanken: Nun wird's losbrechen! Und kommt dann ein kleiner Allarm oder eine Schlägerei im Wirthshause oder eine Straßenrottirung, so können Sie sich daraus erklären, warum unsre Mannschaften gleich so fuchswild und erbittert zuschlagen. Die Leute sind gereizt und denken: Nun geht's an's Leben!

Trauriger Zustand, wenn in einem und demselben Staate zwei Kräfte so gegeneinander wüthen, bemerkte Louis ruhig; es ist aber überall so. Der Adel und die Bureaukratie haben sich die Armeen apartgenommen und dressiren sie nach ihrem Gefallen. Leider hat man da ein so gutes Feld für seine Intrigue! Die Fahne, der ihr geschworne Eid, der erlaubte Stolz des Kriegers, die Erinnerungen seines Truppenkörpers, die Achtung vor dem Souverän, das Alles sind Begriffe, an die sich für ein schwärmerisches Gemüth so vortrefflich anknüpfen läßt! Man fanatisirt diese Menschen durch ein Verbrechen, das man die Sünde gegen den heiligen Geist nennt.

Man wünschte Erklärung dieser Sünde...

Es ist die Sünde, sprach Louis so laut, daß Alle hörten, die Sünde, die irgend eine richtige Thatsache, eine Wahrheit, die in der Menschenbrust wie mit ehernen Buchstaben eingegraben steht, zu einem falschen Zwecke benutzt. Wer vollends von seiner irrthümlichen Anwendung einer Wahrheit selbst überzeugt ist, kann kaum Vergebung erwarten.

Die Gesellen horchten und blinkten sich zu. Manche hielten Louis für etwas viel Höheres, als wofür er sich ausgab.

Ich verstehe wohl, sagte Sandrart, der sich auf einige Bretter gesetzt hatte, ich verstehe, daß Sie den Spektakel mit dem Fahneneid meinen...

Ich halte jeden Eid für heilig! bemerkte Louis.

Und nun sprudelte der Sergeant, den ein Ärger mit seinem Kapitän gereizt zu haben schien, Alles hervor, was für und wider den Fahneneid den Soldaten offen und heimlich jetzt zugesteckt zu werden pflegte. Tag ein Tag aus, fuhr Sandrart fort, kommen Leute in die Kasernen oder auf den Exercierplatz und predigen uns den heiligen Eid. Der Eine läßt Kaffee aus einem Keller in der Nähe holen, der Andre verschenkt wollene Strümpfe... die Leute trinken den Kaffee, nehmen die wollenen Strümpfe... und immer heißt's dabei: Was wir geschworen haben, halten wir. Aber...

Ein Eid ist heilig! erwiderte Louis. Ich tadle die Soldaten nicht, die ihn leisten, sondern die, die ihn abnehmen. Es muß dahin kommen, daß der Soldat nicht in die Lage versetzt wird, einen einseitigen und in die Gesellschaft den Brand des Aufruhrs schleudernden Eid zu schwören. Er soll schwören, die öffentliche Ordnung des Vaterlandes im Innern und seine Größe und Ehre nach Außen zu vertheidigen. Die gesetzlichen Organe dieser Ordnung und Ehre haben sich geändert. Es sind nicht mehr die Fürsten, sondern die Vertreter der Völker.

Wir brauchen keine Fürsten mehr! rief es aus einer Ecke.

Wir brauchen keine Soldaten mehr! aus einer andern.

Louis wandte sich eben, um ein lautes St! auszusprechen, als der alte Märtens in seiner blauen Schürze und wollenen gestrickten Überjacke hereintrat und dieser lärmend und stürmisch gewordenen Unterhaltung ohnehin ein Ende machte. Er litt niemals, daß in seiner Werkstatt über Politik gesprochen wurde.

Auch der Sergeant, der alle diese Gesellen kannte, wußte das Verbot und nahm den verwildert gewordenen Gegenstand nicht wieder auf. Er sprach von Franziska und klagte, daß er zu Weihnachten keinen Urlaub bekommen würde. Der Feldwebel sähe lieber, daß er sich seine Bescheerung schicken ließe, um sie mit ihm theilen zu können...

Und der Major?

Der Major – wer weiß, wie lange der noch Majort. Das ist Einer, der nächstens sagen wird: Der Eid drückt mich!

Marsch in die Kaserne! rief der alte Märtens dazwischen. Dien' Er seinem König und lob' er Gott den Herrn, Amen!

Die Gesellen lachten nun erst recht. Sandrart ließ sich nicht stören. Er war zu bewegt. Er hatte seit der einfachen Begegnung mit den Offizieren auf dem Fortunaball und in dem Worte: Gehorsam außer Dienst jenen nagenden Quälgeist in sich, der bei den untern Ständen mehr Unruhe und Schaden im Gemüthe stiftet als bei der Bildung. Das prickelte, das hetzte ihn. Immer derselbe Refrain, immer dieselbe wunde Stelle, die nicht heilen wollte und die täglich berührt wurde... Endlich ging er. Als er Louis die Hand gab und fragte, ob er bald in den Ullagrund schriebe, rief eine Stimme ihm nach: Sergeant! Gartenstraße Nr. 14 alle Abend um acht Uhr ist Verein – kommen Sie und bringen Sie Kameraden mit, die das Herz auf dem rechten Fleck haben!

Wer sagt Das? Wer verführt hier die Soldaten? rief der alte Meister und rannte zu dem Sprecher hinüber, einem kleinen, dicken, wohlgenährten Arbeiter, dem Advokaten der Werkstatt.

Sandrart hielt den zornigen Alten auf und beruhigte ihn. Aber der Meister tobte jetzt seine patriotische, alte, deutsche Gesinnung aus nach dem Thema: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gotte, was Gottes ist! Er machte sein Recht als Meister und Werkstattbesitzer mit ein Dutzend Hammerschlägen auf den Werktischplatten geltend. Sandrart ging. Die Rebellen schwiegen. Auch Louis schwieg. Da aber manche Anzüglichkeit des alten Mannes ihm selbst gelten sollte und er sich schwer beherrschte, so zog er vor, eine Weile auf sein Zimmer zu gehen und dem Alten Zeit zu lassen, sich inzwischen gründlichst auszutoben, was auch geschah, diesmal sogar mit Fremdwörtern aus dem Lexikon seiner gebildeten Ehehälfte.

Eine Woche ging so hin. Louis lebte zurückgezogen. Er suchte nur Dankmar auf und fand ihn nicht. Zum Major Werdeck wagte er sich nicht. Über Murray's Schicksal wurde ihm keinerlei Beruhigung. Der Drang, ihm zu helfen, die im Forsthause vorgekommenen Dinge in einem Lichte darzustellen, wo alle Schuld nur auf ihn falle, war so mächtig in ihm, daß er anfangs an Egon's Beistand dachte. Allein war Das noch sein Egon? Er war's im Tone, in der Behandlung noch gewesen; er hatte ihn nicht lieblos empfangen, ihm täglich sein Haus angeboten. Aber eine Kluft hatte sich zwischen Beiden aufgethan, weiter, als der natürliche Abstand der Geburt. Die Romantik war vorüber, das praktische Leben hatte begonnen. Louis entschuldigte Egon, klagte sich an, zieh sich selbst der Eitelkeit, daß er von dem Freunde Egon, der einst in Lyon seine Schwester liebte und mit ihr wie mit seinem Weibe lebte, jemals die später entdeckte Fürstenwürde nicht trennte. Er fand es natürlich, daß Alles so kam, wie es jetzt gekommen; aber ihm lästig fallen, eine Audienz erbitten, ihm schreiben, eine Bitte vorlegen... dazu war er zu stolz, zu verletzt, zu eingeschüchtert. Dann fiel ihm bei, ob nicht Dankmar Wildungen als Jurist helfen könnte und eben so schmeichelte sich ihm die Vorstellung ein, ob er nicht wagen sollte, den mehrfach genannten Otto von Dystra aufzusuchen und ihm die Lage eines Mannes vorzustellen, der aus einem fernen Welttheile ihm nicht unbekannt sein sollte.

Es war wieder Mittag. Die Arbeiter zerstreuten sich. Als sich Louis nach einem bescheidenen Mahle in einer nahgelegenen Wirthschaft in der Voraussetzung, vielleicht nun heute endlich Dankmar Wildungen und den von Murray erwähnten Gönner, Otto von Dystra, aufzusuchen, besser anzog und in seinen Geräthschaften ordnete, fielen ihm die Gegenstände auf, die er im Forsthause damals an sich genommen hatte. Es war ein Gesangbuch, ein Blumenstrauß und ein zierlicher Mädchenkamm. Er hatte diese Dinge an sich genommen, weil die von Ursula daran geknüpften Reden ihm so auffallend klangen, daß er glaubte, vielleicht enthielten sie Thatsachen, die sich auf Murray's Sohn bezogen...

Der Kamm war von Schildpatt und zeigte mit Elfenbein ausgelegt die Buchstaben H. D. Das Gesangbuch führte auf bestimmte Namen. Es war in schwarzes Leder gebunden und enthielt auf dem Deckel die Notiz über die Geburt und die Verlobung eines jungen Mädchens, von dem Louis wußte, daß es eines Sonntags an der Sägemühle verunglückte. Heunisch, sagte er sich, hat sicher diese Gegenstände, auch den Blumenstrauß, den sie grade trug, aufbewahrt und die Alte sie eingeschlossen, um durch ihren steten Anblick ihn nicht zu traurig zu stimmen. Das Gesangbuch, der Kamm, der welke Blumenstrauß wurden Louis fast unter der Hand zu Tönen und Klängen und Reimen eines Gedichtes...

Wie er den welken Strauß, der krampfhaft zusammengeballt schien, auseinanderfaltete, hörte er ein Klingen, wie von einem fallenden metallnen Gegenstande. Am Boden sah er einen zerbrochenen Goldreif blinken. Er hob ihn auf. Sicher hatte dieser Ring in dem Gewirr des welken, heuartig gewordenen Blumenstraußes schon lange versteckt gelegen. Der Verlobungsring des unglücklichen Mädchens! dachte er. Wo ist nur die zweite Hälfte? Er suchte und fand sie nicht. Wer weiß, dachte er, durch welchen Zufall dieser Ring zerbrach! Die Treue hat ihr Heunisch wirklich gehalten... Louis wollte den Ring mit den übrigen Gegenständen bei Seite legen, als ihm doch noch einfiel, nach einer möglichen Gravirung innen zu sehen. Er erstaunte, nicht die Buchstaben zu finden, die auf Heunisch's Geschichte paßten. Er las in dem Ringe P. und die ersten Züge eines kleinen v., die ohne Zweifel auf einen adligen Namen schließen ließen. Auch sah er jetzt, daß er keinen Trau- oder Verlobungsring, sondern einen einfachen goldnen Reifen, dessen Kopf durch einen Stein verziert gewesen sein mußte, vor sich hatte. Die adlige Bezeichnung des Ringes ließ ihm als wahrscheinlich erkennen, daß er einen Theil jenes Ringes vor sich hatte, von dem ihm Murray einst erzählt hatte. Und so steckte er dies Fragment behutsam zu sich und gedachte, ihn dem unglücklichen Gefangenen bei erster Gelegenheit, wo er hoffte, ihn sprechen zu dürfen, zu übergeben. Die übrigen Gegenstände verschloß er wieder.

Mit einem alten Mantel, den er über seinen gewählten Anzug warf, ging Louis aus, um auf's Neue zu versuchen, Dankmar Wildungen zu treffen. Wie groß war seine Freude, als er grade beim Eintritt in das von den Freunden bewohnte Haus den Gesuchten die Stiege herabkommen sah! Wär' es Siegbert gewesen, so hätt' er ihn umarmt. Dankmarn schüttelte er die Hand und freute sich der herzlichen Erwiderung.

Seit wann sind Sie zurück?

Über eine Woche.

Wir verfehlten uns. Auch ich fragte nach Ihnen. Wie geht es meinem Bruder? Er schreibt so selten.

Ich verließ ihn wohlauf, heiter und fröhlich...

Heiter? Empfing er –

Es erfolgte jetzt die Verständigung wegen der Trauer. Dankmar sprach über das erlebte Leid. Es waren Worte, die in Kürze die schmerzliche Thatsache zusammenfaßten. Er wünschte, daß Siegbert, wenn er auf dem Lande Zerstreuung hätte, nicht in die Residenz käme, die ihm wenig Trost bieten würde.

Einen Tag bin ich hier und dieses Chaos von Anmaßung und Lüge!

Ich halte Sie auf!

Kommen Sie zu mir, Armand... Gegessen ist auch bei mir schon. Aber einen Kaffee können wir noch brauen! Frau Schievelbein, Mokka, Java, Cheribon! Was sich findet! Aber schwarzen! Denn, Louis, wir trauern.

Damit schloß Dankmar die Thür der bescheidenen, noch warmen Wohnung auf, rückte Bücher, Skripturen vom Tisch und rief noch einmal der Wirthin, die aus ihrem Mittagsschlafe schwer zu wecken war. Während er selbst die Vorbereitungen zu einem Kaffee in seiner blechernen Maschine machte, Spiritus anzündete und endlich von der gähnenden Wirthin unterstützt wurde, einmal häuslich und gemüthlich einen Nachmittag nicht im Kaffeehause, sondern daheim zuzubringen, sprach er vom Tode seiner Mutter, vom Leben überhaupt, vom Geheimniß der Weltschöpfung, vom Gegensatz zwischen Materie und Geist, Himmel, Hölle, Erde, Lampendocht, Spiritus, Filtrirmaschinen und schloß seine aus Schmerz und Scherz gemischte Plauderei mit der Bemerkung:

Ja, lieber Armand, seit wir unter dem Kreuze in dem Rathskeller saßen, ist Manches geschehen; aber was ich auch erlebte und das Schlimmste ist allerdings der Leichenstein-Strich über ein theures Dasein, das ich noch für viel Glück aufgespart glaubte, Alles hat mich gelehrt: Wenn man die Grenze des Daseins fühlt, wenn man sieht, wie Alles endet und enden muß, ohne Ausnahme, dann, mein Freund, nimmt man das Schwerste im Leben leichter und setzt mit größrer Lust sein Leben auch an das Traurigste. Ich bin nicht etwa entmuthigt, wie Sie mich hier sehen. Aber ergrimmter bin ich, entschloßner, gleichgültiger um diese schönen Fratzen, die uns locken und schmeicheln wollen mit Worten: Ach, wie süß ist dies Leben! Schick' dich in diese Lügen! Dulde diese Irrthümer! Laß diese Narren regieren! Laß diese Welt gehen, wie sie geht! Der Tod meiner Mutter war so voll Überredung für mich, an ein Jenseits zu glauben. Ihre Gesichtszüge waren verklärter, nachdenklicher, strenger als je im Leben. Man konnte glauben, der im Schauen begriffene Geist ließe noch Spuren auf dem theuren Antlitz zurück. Wie ich sie in die Grube senken sah, wie Alles um mich her Tod und doch Unsterblichkeit auf dem Friedhofe flüsterte, da empfand ich Liebe für die Geschiedenen, Haß für die Lebenden. Vermessene Thoren, rief es in mir, die Ihr Euch einbildet, das Leben beherrschen zu können! Wer seid Ihr denn, Ihr zufällig Reichen, Ihr angemaßt Mächtigen, Ihr eingebildet Weisen! Hier ist Alles gleich, hier unter diesen welken Trauerpappeln ist die ganze Komödie aus und da drüben jagt, hetzt Ihr Euch mit Euern Leidenschaften und sinnlichen Interessen durcheinander! Glauben Sie mir, Louis, man muß das Leben verachten, um dem Leben eine große That zu hinterlassen. Ich würde mich nicht mehr bedenken, mein Haupt zu opfern, wenn ich glaubte das Rechte getroffen zu haben, um einer göttlichen Wahrheit in unserm Leben ihre Geltung zu verschaffen.

Louis war von der Aufregung, in der er seinen Freund und Gönner wiederfand, erschüttert...

Wie geht es mit Ihren Hoffnungen auf...

Er stockte, das Wort: die Erbschaft, auszusprechen...

Ich bin im Begriff, sie auch in zweiter Instanz zu verlieren, sagte Dankmar und habe dann nur noch das Urtheil vom Obertribunal revidiren zu lassen. Meine Hoffnung, der Welt zeigen zu können, wie wir mit ererbten Rechten verfahren sollen, wird sich nicht erfüllen. Indessen setz' ich Alles daran, wie ein Flügelroß bis an die Stelle zu steigen, wo es immerhin todt niedersinken möge. Sie können sich denken, welche Entbehrungen ich leide. Die Kosten des Prozesses wachsen in's Unglaubliche. Das kleine Vermögen, das sich nun noch von der Mutter aus uns ergeben wird, ging theils im Begräbniß, theils in der Ordnung ihres Nachlasses schon hin. Den Rest werfen wir in jenen Abgrund, der uns keine Ergebnisse bringen wird, ich mag auch noch so viel in diesen Büchern studiren! Jetzt vollends, wo meine Hoffnung, daß mindestens der eine Concurrent, der Staat, die Ungehörigkeit seiner Ansprüche einsehen würde, sich betrogen sieht und durch Egon ein neues Leben in diese Angelegenheit kommt...

Durch Egon? Wissen Sie Das...

Von ihm selbst.

Sie sprachen ihn?

Kürzlich auf der Staatskanzlei, wo ich mir eine Audienz vom Premierminister erbat. Zum Menschen Egon geh' ich nicht.

Sie geben ihn auf?

In meinem Sinne, ja!

Wie war er gegen Sie? Kalt, zurückhaltend?

Im Gegentheil; er war offen und suchte die inzwischen durch seine Maßnahmen so weit gerissene Kluft zwischen uns durch entgegenkommende Freundlichkeit zu verbergen...

Sie machten dieselbe Erfahrung wie ich...

Mein Freund, sagte Dankmar, geben Sie diese Anknüpfung auf! Ich denke mit Wehmuth zurück, wie ich Egon fand, wie er mir die Freundschaft auf offnen Händen entgegentrug, wie er mir den Brudernamen aufdrängte. Dennoch muß ich gegen ihn gerecht sein. Ich entsinne mich, daß wir mehr in ihn hineingelegt haben, als wozu wir berechtigt waren. Wir hörten ihm zu und fühlten da schon die innere Trennung. Da wir ihn aber lieb hatten, wollten wir nicht sehen. Nun ist die chemische Probe gekommen. Wer verdenkt ihm, daß er uns entgegnet: Ihr habt mich wie Eure Puppe behandelt, mit Euern Ideen mich ausgeputzt! Die Zeit des Scherzes ist vorüber.

Louis wollte dies Misverständniß nicht gelten lassen und behauptete, ein fremdartiger Einfluß hätte sich des so hoch gestiegenen Freundes plötzlich bemächtigt und ihn von ihren Anschauungen hinweggerissen...

Nein, nein, sagte Dankmar. Das ist in der Ordnung und nicht weiter zu beklagen. Der Dämon, der die Welt regiert – Gott ist es nicht; der steht noch über diesem Dämon – gibt für seine Schlachten dem Menschen die ihm gebührende Stellung. Der Eine hier, der Andre dort. Wir haben nichts zu thun, als nach unsrer Fahne zu blicken und in den Kampf zu gehen, wenn unser Signal uns ruft. Es ist ganz in der Ordnung, daß auch Egon den ihm von dem vorigen kaufmännischen Ministerium hinterlassenen Prozeß fortführt, ganz in der Ordnung, daß ich ihn verliere. Sie glauben nicht, was uns der Mensch als eine willenlose Maschine, als ein anorganisches Produkt erscheint, wenn man es abblühen und sterben sieht. Wir sind nicht frei. Wir glauben es zu sein und freuen uns nur des Quecksilbers, freier Wille genannt, das doch allein mechanisch in uns hin- und herrollt und uns alle unsre Bewegungen gibt!

Bei allen diesen Bemerkungen, die Dankmar unmuthig und ungeregelt ausstieß, unterzog er sich einer gründlichen, von Frau Schievelbein unterstützten Vorbereitung zu einem gemüthlichen Kaffee. Es gibt gar nichts Traulicheres, als wenn im kalten Novembersturm, auf engem, gut erwärmtem Zimmer junge Männer die kleinen Konsequenzen ihrer Garçonwirthschaft ziehen, den Frauen in ihre Vorrechte greifen, Haushälter spielen, Kaffee filtriren und ihn mit Cigarrendampf und guten Einfällen, in eine Sophaecke gedrückt, behaglich niederschlürfen.

Nun, sagte Dankmar lächelnd, als die Wirthin Tassen zurechtgestellt und erklärt hatte, sie würde bald das heiße Wasser bringen, nun, wie ist es, Louis, haben Sie für das vierblättrige Kleeblatt geworben? Ist das Korn von jener Nacht aufgegangen? Fanden Sie Menschen, die würdig sind, in die kämpfende Brüderschaft vom Geiste zu treten?

Louis war auf Mittheilungen über Dankmar's großes Unternehmen gefaßt, nicht aber darauf, Bericht zu erstatten, was er selbst dafür gethan. Er erschrak fast und gerieth in Verlegenheit, ob er gleich an Murray, Oleander, Ackermann dachte.

Freund, fuhr Dankmar, als er sein Zögern bemerkte, fort, wir müssen vorläufig mit den Blicken werben! Das ist das Prüfzeichen der Wahrheit unsrer Ideen, daß wir vorläufig Menschen finden, die uns würdig scheinen, sich dem großen, innern Kreuzzuge anzuschließen. Sonst lernten wir Menschen kennen, die an uns vorübergingen und von uns vergessen wurden, auch wenn wir ihnen schmerzlich nachsahen. Jetzt haben wir etwas, was uns solche Begegnungen werther macht. Einen edlen Menschen finden ist jetzt für uns eine Eroberung. Wir sollen es mit ihm machen wie Entdeckungsreisende, wenn sie Inseln im Meere finden, die Niemand kannte. Sie pflanzen das Zeichen ihrer Nation auf, nehmen feierlich im Geiste von ihnen Besitz und reisen weiter. Oder wie man Zugvögeln eine Kette umhängt und sie fliegen läßt, wohin sie wollen, in der Hoffnung, sie würden irgendwo über tausend Meilen durch jenes Symbol doch einen Menschen erfreuen, der da sagt: Seht, diesem Reiher hing ein Araber, ein Hindu eine kleine Kette, einen Ring um mit seinem Zeichen und dies Zeichen lautet: Ich grüße dich, Bruder, Mensch, Freund in dem großen Geist, ob er nun Gott, oder Allah oder Lama oder Jehova heißt. So sollen wir jeder uns verwandten edlen Intelligenz unsichtbar das Zeichen der Ritterschaft vom Geiste aufheften und dann ihn wandeln lassen seiner Wege. Sie führen schon zusammen zu einem Ziele!

Dankmar sprach diese Bemerkung mehr im halben Scherz, doch blickte der Ernst und die sichre Absicht durch, diese Werbungen wahr zu machen...

Louis nahm keinen Anstand, ihm zu erklären, daß es auch ihm so ginge. Er wisse nun immer, was er mit den Menschen, die er im Leben sähe, beginnen sollte. So müßten einst die Apostel gewandelt sein und sich sogleich die Seelen herausgefunden haben, denen sie die Botschaft vom Menschensohne bringen wollten. Früher hätte er geprüft, ohne Zweck; er hätte die werthvollen Menschen vergessen oder sich ihrer nur mit jener freudigen Wehmuth erinnert, die wol den Schiffer ergreifen müsse, wenn auf dem Weltmeer ein Segel an ihm vorüberfahre. Ein Salutschuß und dann ewige Trennung! Jetzt aber halte er im Geiste Jeden fest und möchte ihn dauernd zu dem großen Werke der Befreiung verbinden. Und wohl müsse er eingestehen, daß ihm auf dieser kleinen Reise schon Würdigste begegnet wären.

Nennen Sie sie nicht! sagte Dankmar. Es soll unserm Bunde zur Förderung dienen, daß wir nicht wissen, wer zu ihm gehört. Jeder soll werben, Jeder soll an gewissen großen Bundestagen Beweise dafür bringen, daß er Ritter vom Geiste gerüstet und gewappnet gefunden hat, aber die Erkennung sei eine zufällige! Keine Register! Keine Namen!

Louis hatte aber grade recht auf dem Herzen, von Oleander, Ackermann und besonders von Murray zu reden und Dankmar sah ihm seinen Drang dazu an.

Nicht wahr, sagte er, Ackermann scheint Ihnen würdig?

Im vollsten Maße!

Ein Großmeister unsres Ordens! Treu, fest, wohlwollend, unabhängig. Ja, Louis, unabhängig! Das hab' ich gefunden, das ist der einzige Standpunkt, auf dem man denkt, klar denkt und für die Menschheit etwas in die Schanze schlägt. Doch hab' ich auch Viele gefunden, die edel sind und gern möchten, wenn sie könnten. Da sollt' ich helfen können! Da sollte mein Erbe, ausgehend von den geistlichen Rittern, den geistigen Rittern wieder zufließen! Darum möcht' ich Schätze gewinnen, um die Schwachen zu ermuntern, Witwen, Waisen, die ihren Beschützer verloren, zu trösten, Unmöglichscheinendes möglich zu machen. Darum will ich Geld zu unserm Ringe! Darum mein Mühen und Sorgen um den Kitt unsres Gebäudes!

Louis entgegnete, daß die Männer, die er gefunden, auch ohne die Ermunterung und Schadloshaltung durch irdische Mittel sich der Ritterschaft des Geistes widmen, Helm und Harnisch anthun würden für den Kreuzzug der Idee...

Um so besser, sagte Dankmar. Aber nennen Sie Niemanden! Sammeln Sie, werben Sie im Stillen! Ich bin so glücklich gewesen, daß ich wohl schon von zwanzig edlen Männern sagen kann: Sie sind die Unsrigen.

Louis staunte...

Von Leidenfrost und Werdeck hab' ich brieflich gleiche Ergebnisse. Noch haben wir uns nicht konstituirt, noch fehlt uns die Symbolik, über die ich in nächtlichen Stunden grüble, wie einst Muhammed mag gegrübelt haben, was er von Zoroaster, Christus, Sokrates brauchen könne; noch sind mir nicht die Engel der rechten Erleuchtung erschienen und schon finden wir segensreiche Wirkungen. Lesen Sie nicht schon von vielen Orten her, daß die gefangenen Volksfreunde Mittel finden, zu entfliehen? Mancher, der das Schicksal einer Untersuchung nicht ahnt, wird bei Zeiten gewarnt. Jene Beamte, die kürzlich ihre Ämter niederlegten, weil sie mit ihrer Abhängigkeit in Widerspruch geriethen, wurden schon von uns unterstützt. Es finden sich Liebesgaben, die wie Wasser aus einem Felsen springen. Moses' Zauberstab wirkt Wunder. Es sind Herzen versöhnt worden, unbekannte Freunde zusammengeführt, Warnungen, Rathschläge empfängt man von unbekannter Hand und schon setzen die Vertrauten an die Spitze ihrer Briefe vier Punkte, die das vierblättrige Kleeblatt der seltenen Freundschaft bezeichnen. Alles regt sich schon, ein neuer Frühling des Geistes, ein Hoffnungslenz der Gesinnung beginnt; nur Siegbert schlummert noch. Nicht wahr, den fanden Sie wohl tief unter Träumen wandelnd? Glauben Sie, daß uns auch Siegbert Mannschaften zuführen wird?

Louis staunend über diese Schilderung konnte nichts versichern, bezweifelte es aber fast, da er sah, wie Dankmar gewirkt hatte und wie Der glühte vor innerer Befriedigung.

Siegbert wird uns Frauen nennen, die er gewinnen möchte, sagte Dankmar lächelnd. Er hatte dabei auf dem Herzen, nach Selma zu fragen...

Schon lange lag ihm ein Wort über Selma auf den Lippen. Er wagte es nicht auszusprechen. Er war von der beklemmenden Vorstellung gedrückt: Wie, wenn sich Das, was Du mit Melanie erlebtest, bei Selma wiederholte?! Siegbert ist liebenswürdig. Er wird von Ackermann mit Zuvorkommenheit aufgenommen werden. Selma wird ihn sehen, ihn lieben. Und Siegbert? Kann sein Herz in Wahrheit bei Olga weilen, jenseits der Alpen? Kann er einer solchen Phantasie nachjagen? Auch die Fürstin Wäsämskoi, obgleich sie in unsrer Abwesenheit fast täglich hier anfragen ließ, wann wir zurückkämen, kann Die ihn für's Leben fesseln? Nein, nein, das Schicksal spielt unserm Herzen zum zweiten Male eine Prüfung zu. Siegbert und Selma finden sich und dieses Band darf ich nicht lösen, wie ich die Irrung zwischen Siegbert und Melanie löste!

Und so fest stand diese Vorstellung bei Dankmar, daß er in der That nicht den Muth hatte, nach Selma zu fragen und auch aus Furcht, von ihr zu hören, Louis' Mittheilungen über des Bruders Lebensweise rasch unterbrach und ihn nach seinen eignen Angelegenheiten fragte. Da hatte denn Louis die Erzählung über Murray und die Bitte um Dankmar's Rath und Beistand schon eingeleitet, als man die Treppe herauf Männerschritte hörte.

Frau Schievelbein, die eben das heiße Wasser in einem summenden Theekessel bringen wollte, öffnete und ein Herr im grauen Militärmantel trat auf den Vorplatz, gefolgt von einem andern, der sich Schnee und Regen aus einem dicken langzottigen Tüffelrocke abschüttelte...

Die Kommenden waren Major Werdeck und sein Freund Max Leidenfrost.


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