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Fünftes Capitel.

Der Heidekrug.

Dämmerung umhüllte die kleinen tempelheider Anhöhen. An einem linden Hauch aus Westen erfrischten die Bäume am Wege ihr bestäubtes Laub. Leichte Wölkchen, die sich am Rande des tiefblauen Horizonts vor die blitzenden Sterne legten, verhießen vielleicht für den Morgen einen erquickenden Regen, dessen die Natur so bedürftig war. Von der großen Stadt her, die fern im Thale abwärts noch wie ein Lichtmeer wogte, schlugen die Thurmuhren die zehnte Stunde. Deutlich trug der Westwind Schlag auf Schlag herüber zu dem einsamen Fuhrwerk, das der aus dem Schlaf geweckte Gaul des Pelikanwirthes noch ziemlich langsam zog; denn auch der Weg ging jetzt steil aufwärts.

Den beiden Passagieren, die wohl fühlten, daß ihnen vor allen Dingen Verständigung noththat, kam dieser mäßige Schritt zustatten. Dankmar drückte sich in die Rückwand des kleinen Wagens, Hackert führte auf dem Vordersitze die Peitsche. Beide schienen ernstlich zu überlegen, wie sie so plötzlich in diese nahe Verbindung gekommen waren. Dankmar, der außer der nächsten Unbequemlichkeit einer zweideutigen, an ihn geketteten Bekanntschaft noch die viel größere Last des Verlustes seiner werthvollen Papiere zu tragen hatte, entschloß sich, um Raum zur Erwägung seines plötzlichen Reisezwecks zu gewinnen und ungestört über die Wege nachdenken zu können, die er zur Wiedererlangung seines Schatzes würde einschlagen müssen, lieber vorerst das nächste Unbehagen abzuschütteln und sich, soweit es bei der zweifelhaften Ehrlichkeit seines Vordermannes möglich war, über diese wunderliche, aufdringliche Begegnung zu verständigen. So begann er denn kurz vor Tempelheide, als sie langsamer die Höhe hinauffuhren:

Jene Kirche da hat Sie mit meinem Bruder bekanntgemacht?

Hackert antwortete nicht.

Sie haben ihm Aufschlüsse über eine gewisse Gattung protestantischer Johanniterkreuze gegeben? fuhr Dankmar fort.

Das Korn der blinden Henne! war Alles, was Hackert kurzab antwortete.

Damit war die erste Annäherung schon wieder abgebrochen.

Dankmar kopfschüttelnd, sah zur Kirche, zum Parke, zum Schlosse des alten Präsidenten hinüber. Tiefe Stille, nächtliches, friedliches Walten....

Eben wollte er wieder eine abgerissene Bemerkung an Hackert richten, als von dem düstern Parke her die Töne einer wahrscheinlich dort aufgehängten Äolsharfe erklangen.

Es war ein zauberhafter Accord, der der schweigsamen Nacht eine geisterhafte Feierlichkeit, die Stimmung einer wehmüthigen Melancholie gab.

Die Anhöhe ging steil. Dankmar konnte den weichen Tönen aufmerksam lauschen und einige noch helle Fenster des kleinen Schlosses länger im Auge behalten. Es war ihm, als bemerkte er an diesen Fenstern eine weibliche Gestalt, die sicher wie er, aber ohne Zweifel mit unendlich ruhigern und mildern Gefühlen, dem sanften, melodischen Gesäusel des Parkes lauschte....

Hackert erkannte die Dame, die Siegbert Wildungen den labenden Trunk geschickt hatte. Für die Äolsharfe, für den träumerischen Blick jener, wie es schien, leidenden und tieftrauernden Frau zu den Sternen empor hatte er keine Empfindung. Er schien in völlige Apathie oder in tiefes nachdenkliches Grübeln versunken.

Die nächtlich stille Scene, verklärt von den Sternen und dem klagenden Lufthauche vom düstern Parke her, wurde oben von einem heftigen thierischen Gekrächze gestört, das die Accorde der Äolsharfe übertönte. Dankmar besann sich. Er wußte, daß der oberste Chef aller Justizcollegien ein großer Freund der Thierseele war und sich in Studien über die Temperamente, Instincte und Angewöhnungen wilder und zahmer Bestien einen Namen erworben hatte. Er sah noch, daß die weibliche Erscheinung, wol auch erschreckt durch die Störung ihrer stillen Abendandacht, vom Fenster verschwand, und fuhr jetzt bergab, verfolgt von einem wirren Durcheinander der, wie es schien, durch Hackert's Peitsche wachgewordenen Menagerie des alten Präsidenten. Ein düsterer Tannenwald nahm bald das kleine Fuhrwerk auf.

Wie Dankmar seinen Vordermann so schweigsam und stillergeben in seine Kutscherrolle fand, rückte er zur weitern Verständigung mit der aufrichtigen Erklärung heraus:

Sagen Sie mir aber bei dieser Gelegenheit, bester Freund, für was halte ich Sie? Sind Sie Cavalier oder eine Art Commissionair?

Sie staunen über meine resolute Art, Geschäfte zu machen? sagte Hackert, ohne sich umzuwenden.

Allerdings. Sie reiten mir ein Pferd in den Stall, Sie bieten sich mir als Kutscher an. Ich überlege, wieviel ich Ihnen für diese Expedition nach dem Schlosse Hohenberg zu bezahlen habe.

Bieten Sie! sagte Hackert fast höhnisch.

Bieten Sie? wiederholte sich Dankmar. Gut, dachte er, wir wollen bieten.

Drei Thaler, bester Freund! Ich rechne dabei noch die Mühe für das hoffentlich abgelieferte Pferd.

Wie Dankmar hierauf gespannt die Erwiderung abwartete, hielt Hackert plötzlich still, legte die Peitsche neben sich hin und wendete sich mit verdächtiger Miene rückwärts.

Nun? sprang Dankmar auf und maß seinen Vordermann, dessen Benehmen in diesem düstern Tannenwalde sonderbar genug aussah.

Das Pferd hab' ich geritten, sagte Hackert ergrimmt, weil ich's gern that und weil Ihr Bruder mir Freundlichkeiten erwies, ohne mich zu kennen. Ich hab's gethan aus noch einem andern Grunde, den Sie künftig einmal hören sollen, wenn wir uns besser verstehen, als es bisjetzt den Anschein hat. Zum Fahren nach Hohenberg erbot ich mich, weil ich in Hohenberg zu thun habe. Ein Kutscher bin ich nicht, fahre auch jetzt keinen Schritt weiter, wenn Sie mir hier nicht auf der Stelle gestatten, neben Ihnen zu sitzen. In Hohenberg aber fahren Sie, ich steige dort aus oder bin gleichsam Ihr Freund, verstehen Sie? Nicht um hundert Thaler fahre ich Sie in Hohenberg.

Damit wollte er über die Lehne springen und an Dankmar's Seite sich setzen.

Halt da! sagte dieser und wehrte dem Beginnen mit Entschlossenheit.

Sie als Freund anzuerkennen, hab' ich keine Veranlassung, erklärte er. Behagt es Ihnen nicht, vor mir zu sitzen, so sind wir noch nahe genug am Pelikan, daß Sie umkehren können....

Hackert's Antlitz verzog sich zu einem bitter grimmigen Lächeln. Der innerlich in ihm tobende Zorn gab ihm etwas Grinsendes. Er fühlte, daß er seinen Mann gefunden hatte, und blieb, niedergedrückt von dem viel stärkern Dankmar, auf seinem alten Platze.

Also welches waren die Bedingungen? sagte Dankmar. Wir wollen eine nach der andern prüfen und zugestehen, was den Umständen angemessen ist.

Hackert dachte jetzt auf andere Art das Gleichgewicht herzustellen. Er streckte sich nachlässig auf dem Kutscherbock, zog eine Cigarre aus einem schön gestickten, einst gewiß farbig frischen, jetzt etwas abgetragenen Etui, zündete sie an einem portativen Streichfeuerzeuge an und blies die Wolken vor sich hinaus, als verachtete er Den, der ihn mit Gewalt in eine niedrige Stellung hinabdrücken wollte.

Also welches waren die Bedingungen? wiederholte Dankmar. Erstens, Sie sitzen vor mir. Zweitens...

Hackert blieb ruhig und rauchte.

Zweitens, fuhr Dankmar fort, bei Hohenberg ergreife ich Peitsche und Zügel. Zugestanden in dem Falle, daß Sie aussteigen und mir die Gnade nicht abschlagen, dann drei Thaler für Ihre Dienste anzunehmen.

Hol Sie der Teufel! rief Hackert lachend, hieb wild auf den Gaul ein und klatschte mit der Peitsche so übermüthig, daß es laut durch den stillen Wald widerhallte.

Dankmar schwieg. Er hatte einen Anmaßenden züchtigen, einen Verdächtigen in die nothwendigen Schranken zurückweisen wollen. Den ihm von Pelikanwirth geborgten Mantel über die Füße schlagend, gab er sich nun mit ganzer Seele der Überlegung alles Dessen hin, was er anordnen wollte, um wieder zu seinem verlorenen Gute zu kommen. Daß ihm dieser Unfall begegnen konnte, mitten in dem Gedränge der Hoffnungen, die sich ihm an die Angeroder Entdeckung knüpften, erfüllte ihn fast mit Groll gegen die Launen des Geschicks. Er sah sich nicht etwa gestört in dem Genusse von Reichthümern, die ihm seine Entdeckung gewinnen konnte, er hatte diese Träume so entschieden abgelehnt, daß wir seinem ehrlichen Worte glauben dürfen... es erfüllten ihn andere, uns noch dunkle Vorstellungen. Vielleicht begeisterte ihn nur der juristische Kampf um die Geltendmachung seiner Ansprüche. Vielleicht spornte ihn die Vorstellung: Du trittst jetzt mit einem verjährt scheinenden Rechte auf, weckst vergangene Misbräuche aus dem Moder der Schreibstuben, kämpfst gegen Besitzthümer, die sich vielleicht in ihrer Begründung unendlich sicher dünken! Vielleicht verglich er die Zeit selbst mit seinem persönlichen Interesse. Dankmar war Jurist und Politiker. Sein Vater, ein denkender, ernster Beobachter, hatte früh in dieses Kindes Talenten die Fertigkeit der Rede, die schnelle Auffassung, den unverwüstlichen Trieb der Gerechtigkeit erkannt, und Dankmar, dem vielleicht ein anderer Beruf augenblicklich lieber gewesen wäre, mußte sich doch später sagen, daß die Bestimmung des Vaters einer tiefen Beobachtung entsprungen und eine richtige war. Man rühmte allgemein seine juristischen Deductionen. Nur zur rein formelhaften Erfassung des Rechts konnte er sich nicht abtödten. Ein Unrecht vertheidigen, das Recht suchen je nach der spielenden Beleuchtung scheinbarer Rechtssätze und zweideutiger Gesetzesstellen, war ihm auf die Länge unmöglich. Deshalb auch währte die Begründung einer festen Stellung für ihn länger als bei manchem geringern Talente. Er hatte schon seit fünf Jahren die Universität verlassen, alle Prüfungen bestanden, war vor den Gerichten, wie in der Gesellschaft wohlgekannt und seines Freimuths wegen gefürchtet, von der jüngern Frauenwelt, seines männlichen Äußern, fröhlichen Humors und seiner ritterlichen Galanterie wegen ebenso geschätzt wie sein sanfterer Bruder von der ältern Frauenwelt; aber zu einem ergiebigen Anhalt an Ämter und Würden hatte er es noch nicht gebracht. Nur hier und da flossen ihm zuweilen in Diäten die Mittel zu, die ihm erlaubten, seinen Antheil an dem hinterlassenen kleinen väterlichen Vermögen zum größten Theile noch der Mutter anheimzustellen. Die Urkunden, die ihn vielleicht als den rechtmäßigen Erben eines vermoderten Hugo von Wildungen erwiesen, verwandelten sich in seiner Phantasie keineswegs in die Millionen, von denen er dem Bruder gesprochen. Er wußte, daß der Staat in diesem Augenblicke Alles daransetzte, jene allerdings seit Jahrhunderten offene Erbschaftsfrage in seinem Interesse zu lösen und die städtischen Besitzungen dem Fiscus zu gewinnen. Ihn reizte nur die Theilnahme an diesem Kampfe. Er wollte dem feudalen Staate zeigen, wie sich seine Anmaßungen in den Angeln eines Erbrechts bewegten, das zuletzt jedem Andern ebenso gut zustattenkommen könne wie einem Fürsten. Er knüpfte an diesen Proceß nur seine Wissenschaft, seine Kunst und die auf ihr sich gründende Zukunft seines Berufs, für den er ebenso viel Ehrgeiz besaß wie sein Bruder für die Malerkunst. Und nun sollten diese Träume an dem misgünstigsten Zufall, der einen einsamen auf der Landstraße preisgegebenen Frachtwagen treffen konnte, scheitern? Er sah den Schrein erbrochen, die werthvollen Papiere zerstreut, zu gewöhnlichen Zwecken gedankenlos misbraucht, ja vielleicht gar in den Händen der beiden Parteien, denen vor allen der Besitz dieser uralten, glücklich aufgefundenen Verschreibungen zu entziehen war! Er verfiel in tiefes, unmuthiges Sinnen.

Wenn Sie darüber nachdenken, fing Hackert jetzt, der sich in sein Schicksal ergab, von selbst an, wie Sie zu Ihrem Verluste wiederkommen können, so rechnen Sie dabei nur nicht auf die hohenberger Justiz. Mit der sieht's nicht zum besten aus.

Dankmar bemerkte:

Sind Sie in Hohenberg bekannt?

Bekannt eben nicht, antwortete Hackert; schlechte Justiz merkt man nie so gut in der Nähe wie in der Ferne. Den dortigen Patrimonialrichter kenne ich aber. Er war oft in der Residenz. Er soll nun in die ordentlichen Gerichte aufgenommen werden, und handelt noch mit der Regierung über seinen künftigen Titel. Fürstlich hohenbergischer Justizdirector hieß er und möchte den langen Schwanz nicht gern aufgeben, wenigstens seine Frau nicht, wenn auch die Stellung draufgehen wird.

Wir treffen also ein Patrimonialgericht? sagte Dankmar. Das ist mir für unsern Fall erwünscht. Es geht da mit einem Processe kurz und bündig zu.

Ja, ja, antwortete Hackert, die Hohenberger haben gleich ihren Thurm, drei Klafter tief, bei der Hand. Der Thurm ist Inquisitoriat, Spinn-, Zuchthaus, Festung, Alles in einem Loche. Nach den allgemeinen vaterländischen Zuchthäusern schicken nämlich die Patrimonialrichter nicht gern, das wissen Sie wol? Da müßten sie ja ans nächste Landesgericht referiren, das gibt Schreiberei, Untersuchung; da werden von oben her Nasen über schlechte Proceduren ausgetheilt, und so kann Einer einen Mord anstiften, stehlen, einbrechen, falsch schwören und so lustig fort; der Herr Justizdirector findet immer soviel mildernde Umstände, daß der Mörder mit einem halben Jahre Localhaft davonkommt und die Regierungsjustiz nicht genirt wird. Ein halbes Jahr, länger darf der Fürst von Hohenberg Keinen strafen, sonst muß der Spectakel gleich an das allgemeine Landgericht.

Dankmar empfand jetzt fast Reue über die entschiedene Art, wie er Hackert entgegengetreten war. Er sprach da so kundig über Rechtsverhältnisse, daß fast ein collegialisches Gefühl in ihm auftauchte. Um Hackert's zurückgekehrte gute Laune im Zuge zu erhalten, sagte er:

Ihre Schilderung ist nicht übel. Apropos! Sie erwähnen den Fürsten von Hohenberg. Wissen Sie etwas von ihm? Ich wunderte mich, was mein verdammter Fuhrmann von einem Balle auf dem Schlosse fabelte. Der alte Fürst Waldemar von Hohenberg ist todt. Der junge Prinz Egon ist ja wol verschollen?

Prinz Egon, sagte Hackert, der über diese Verhältnisse allseitig unterrichtet schien, Prinz Egon ist in Paris oder sonstwo und kommt schwerlich mehr nach Hohenberg zurück. Wenn die Herrschaft nicht zu Hause ist, halten Hunde und Katzen Hof. In Hohenberg auch die Füchse und Wölfe und Blutegel. Die drei Hauptcreditoren der fürstlichen Masse sind vor ein paar Tagen hinaus mit Kind und Kegel, um Luftbäder zu nehmen. Justizrath Schlurck ißt gern Forellen, frisch aus dem Murmelbach, wie die Frau Justizdirectorin sagt, die Schlurck's schwache Seiten kennt......

Hat denn Schlurck die Curatel auch über die Hohenberg'sche Masse? fragte Dankmar, der den Namen des gefeierten und vielgesuchten Advocaten Franz Schlurck sehr wohl kannte.

Wo hätte Franz Schlurck nicht seine Finger im Spiel! war Hackert's scharfbetonte Antwort. Seit dem Tode des Fürsten von Hohenberg geht dort Alles durch seine Hand, bei Lebzeiten des Fürsten war er schon Administrator. Es ist prächtig Das mit so einer Administration! Die Gläubiger jagen den Besitzer von Haus und Hof, setzen einen Verwalter über die verschuldeten Häuser und Güter, lassen Den den Rahm oben abschöpfen und nehmen Das, was zuletzt von dem Spaße übrigbleibt, als Abschlag für die Zeit, wo's besser wird. Alle Jahre feiern sie eine allerliebste Assemblée, die sie die Besprechung der Masse-Creditoren nennen. Man rechnet erst, man schimpft, man droht, man lärmt, aber Abends ist Ball, Versöhnung, Händedruck und wol auch »Gänschen, du liebes Gänschen, was rasselt im Stroh!«

Die letzten Worte sang Hackert mit frivolem Ausdrucke und nach bekannter volksthümlicher Melodie.

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Dankmar fühlte zwar, daß Hackert aus seinem Schreiberamte eine vielfach unterhaltende Bekanntschaft mit allerhand Privathändeln sich erworben hatte, mochte ihm aber doch, um seine eigenen Angelegenheiten bewegt, in den innern Zusammenhang seiner Ansichten und Empfindungen nicht zu weit folgen. Er begnügte sich, auf alle diese Mittheilungen vorerst zu schweigen. Auf die Länge – die Uhr einer Dorfkirche schlug die zwölfte Stunde – fühlte er eine Anwandlung von Schlaf. Wirklich sah er auch nur mit halbwachem Bewußtsein, daß sie in ein stilles Örtchen kamen, wo nicht einmal das Bellen eines Hundes sich hören ließ. Ein Brunnen plätscherte laut vor einem Hause, das vielleicht eine Herberge war. Dankmar sah nothdürftig, daß Hackert abstieg, den Gaul bei Seite und an den Brunnen führte. Hackert nahm ihm die Halfter ab und ließ ihn an den Rand des Wassers. Dabei langte er ein Stück Brot aus der hintern Rocktasche und theilte mit dem Gaul. Ein großes Messer, das er aufklappte, schnitt bald für das Thier, bald für ihn einen Bissen ab. Auch in das Wasserbecken des Brunnens beugte sich Hackert, trank wie der Gaul und klopfte dann die Tropfen ab, die ihm dabei auf Halstuch und Weste gefallen sein mochten. An diesen sorgsamen Verrichtungen hatte Dankmar, durch die müden Augen blinzelnd, seine Freude. Sie gaben ihm so sehr das Gefühl der Sicherheit, daß er, ohne gerade Neigung für seinen Vordermann zu gewinnen, ihm doch volleres Vertrauen zu schenken anfing und den Schlummer immermehr über sich Herr werden ließ.

Doch schlief er nicht so fest, um nicht zuweilen, aufgerüttelt von dem inzwischen wieder weiterrollenden Wagen, seinen Gedanken klarer nachzuhängen. Wie man so oft an sich erfährt, daß jede im ersten Sturme ergriffene Unternehmung nicht immer standhält, wenn die zu ihrer Ausführung nothwendige Zeit langsam schleichend an uns vorüberzieht, so übermannte auch Dankmarn bald das Gefühl der Ergebung in Das, was das Schicksal über seinen Verlust nun würde bestimmt haben. Er konnte sich ausmalen, welche Freude ihm das Wiederfinden des Schreines bereiten würde; aber ebensosehr rüstete er sich auch schon auf die Gewißheit, daß er all den Plänen, die er an jene Entdeckung im Archivsaale des alten Tempelhauses geknüpft hatte, entsagen müßte. Er warf diese Thatsache wie so viele andere, denen der Erfolg fehlte, in jenes große weite Meer, auf dem schon so viel Hoffen untergegangen, so viele Träume gescheitert sind. Und das Gefühl einer gewissen Leere übermannte ihn so gewaltig, die Gleichgültigkeit gegen jedes Geschick überschlich ihn mit der schwindenden Kraft des jungen, schlafgewohnten Körpers so unwiderstehlich, daß er nach einiger Zeit sich aufraffend den mit großen gespenstisch offenen Augen in die Nacht hinausstarrenden Hackert anrief:

Freund, ich will Ihnen sagen, woran wir besser thun.

Nun? fragte Hackert wie aus Träumen erwachend.

Beim ersten Wirthshause, das wir entdecken, halten wir, trommeln die Leute aus dem Schlafe, führen den Gaul in den Stall und schlafen im Bette oder auf der Diele oder im Stroh eines Stalles, gleichviel. Was meinen Sie?

Mir ist's recht, sagte Hackert und zeigte auf ein Licht, das in einiger Entfernung am Saume eines Waldes sichtbar wurde. Wo sind wir wol hier?

Kennen Sie nicht einmal den Weg, fragte Dankmar, den Sie so muthig fahren?

Dies ist die erste Reise, die ich in meinem Leben mache, sagte Hackert. Ich habe den Sündenpfuhl, in dem ich geboren bin, noch auf zwei Meilen nie verlassen.

Nun begreif' ich, sprach Dankmar lachend und doch wieder von Mistrauen ergriffen, daß Sie die Gelegenheit einer Luftveränderung beim Schopfe festhielten. Wenn man Sie anschaut, möchte man nicht glauben, daß Sie in irgend Etwas noch ein jungfräuliches Gemüth sein können. Übrigens will ich hoffen, daß wir nicht auf dem Wege nach Hamburg oder Leipzig, statt nach Hohenberg sind. Sie machen mir schöne Sachen! Jetzt auf das Licht zu! Und da bleiben wir, bis es hell wird und wir wissen, wo wir hier unter den Sternen herumkreuzen.

Hackert pfiff dem Gaule zu, der von dem Lichte auch eine freundlichere Ahnung zu bekommen schien und sich wacker in Trab setzte.

Ich bin ja erst zweiundzwanzig Jahre alt, sagte Hackert, gleichsam um sich zu entschuldigen. Was weiß ich, wo die Wegweiser da all am Wege hinzeigen!

Zweiundzwanzig Jahre erst? antwortete Dankmar staunend und maß dabei, sich vorneigend, die Furchen auf Hackert's Stirn, die tiefliegenden Augen, die schlotterige, entnervte Haltung. Seine Lippen waren fahl, das Auge nur dann feurig, wenn es in unheimliche Erregung kam. Zweiundzwanzig Jahre, wiederholte er, wie haben Sie das gemacht, schon wie ein Sechsunddreißiger auszusehen? setzte er nicht ohne Bitterkeit hinzu.

Ich habe geschrieben, antwortete Hackert. Wer von seinem vierzehnten Jahre an nur auf dem Schreiberbocke reitet, kann keine so farbigen Wangen haben, wie meine Haare sind. Sechs Tage in der Woche habe ich acht Jahre lang Actenstaub geschlürft und Proceßgift eingeathmet. Abends und Sonntags hab' ich gelebt....

Gelebt? wiederholte Dankmar. Was nennen Sie leben? Es scheint, leben hieß bei Ihnen soviel als sich langsam umbringen.

Hackert gab auf diese Bemerkung keine andere Antwort, als daß er nach einer Weile bemerkte:

Das Licht ist ein Wirthshaus.

Ein gewaltiges Hundegebell begrüßte die nächtlichen Ankömmlinge. Sie standen vor der Pforte eines großen Gehöftes, aus dem im Dämmerlichte Leitern, Stangen und Scheunen hervorsahen. Ein dem dunkeln Walde zu gelegenes stattliches Wohnhaus schien geschlossen, oben aber in den Fenstern des ersten Stocks brannten noch Lichter. Hackert sprang vom Wagen und stieß mit dem Griffe der Peitsche an den Thorweg, daß die Hunde nur noch zorniger bellten. Auf ein mehrmaliges Heda! kamen endlich über den gepflasterten Hof die Pantoffeln des Hausknechts angeschlorrt. Ein großer Holzriegel wurde von innen zurückgeschoben, eine Stalllaterne warf ihre trüben Strahlen auf Hackert's bleiches Angesicht.

Können wir Nachtquartier haben? war Hackert's Frage, der überhaupt so gewandt sich in Alles zu finden wußte, als wenn er Jahrelang auf Reisen zugebracht hätte.

Nur herein! rief der Hausknecht mit einem sonderbar fröhlichen Tone. Hier seid's gut geborgen, Kinder! Juchhe! Du armes Thierchen du! wandte sich der fröhliche Hausknecht zum Pferde. Komm! komm! mein Hühnchen! Friß Vogel und stirb mir nicht! Ja! Ja! Wenn's immer, wenn's immer, wenn's immer so wär'.

Hier geht's ja spaßhaft zu, sagte Dankmar und sprang von seinem Sitze herunter. Ihr singt ja wie die Nachtigall im Busch.

Hört Ihr sie schlagen, Herr? fragte der Hausknecht. Ihr kennt mein Lieschen im Busch? Noch drei Tage, dann sagt sie: Adieu Dietrich, Adieu Heidekrug! Und erst über's Jahr kommt sie wieder. Fahr' wohl!

Hackert erklärte diesen Humor für die Folgen eines gut angewandten Trinkgeldes. Dabei fielen sie fast über einen andern Knecht, der lang auf einem Strohhaufen ausgestreckt im Hofe lag.

Dietrich und Heidekrug! bemerkte Dankmar. Soviel haben wir jetzt weg. Der Heidekrug...

Ja, ja, der Heidekrug – komm, Schimmel! Im Stall – im Stall – im Stall ist's kühl.

Damit zog der fröhliche Hausknecht vom Heidekrug singend den Gaul von dem Einspänner in den Hof und begann ihn vorm Stalle auszuschirren.

Heidekrug? sagte Hackert. Wohnt denn hier der Heidekrüger?

Ja, Kutscher, das habt Ihr gut gerathen. Hier wohnt der Heidekrüger.

Dankmar, dem der Name ebenfalls auffiel, bemerkte:

Der Heidekrüger? Das wird doch nicht Herr Justus sein?

Just Herr Justus, sagte Dietrich und führte den Gaul in den Stall.

Kennen Sie den gelehrten Gastwirth auch? fragte Hackert.

Ich wundere mich, daß Sie ihn kennen.

Hackert wurde über diese Replik wieder verdrießlich. Dankmar's unausgesetzter Zweifel an seiner Bildung und die offenbar geringschätzige Ansicht von seinem Herkommen verletzten den bizarren und, wie es schien, mannichfach mit der Welt bekannten und wieder mit ihr zerfallenen jungen Mann.

Während Dietrich mit dem Gaul beschäftigt war, hatten sich die beiden Gefährten im Hofe des Heidekrugs genauer umgesehen. Er machte einen freundlichen, willkommenheißenden Eindruck. Rings begrenzten ihn Scheunen und Schuppen. Im Stalle hatten sie mehre Pferde bemerkt. Der Rinderstall grenzte dicht daneben. Ein wohlgehaltenes Stacket schied den Hof von einem reichen Baumgarten ab, der sich hinten zum Walde verlor. Die Düngerhaufen hier und dort gehörten zum Wesen einer großen Ökonomie. Das Wohnhaus hatte hinterwärts einen Anbau für die Küche. An der Seite, die nach dem Hofe ging, zog sich ein Spalier in die Höhe, das den weißen Kalk mit grünem dichten Weinlaub bedeckte. Vor den untern Fenstern waren große Blumentöpfe und Rankengewächse in Kästen aufgestellt, auf deren einem gerade eine Katze lag, die mit funkelnden Augen hier wahrscheinlich das Schlafzimmer der Herrschaft hütete. Der Eingang des Hauses nach vorn war geschlossen, aber hinterwärts, von dem Eingange zur Küche her, fanden sie eine offene Thür und unter ihr eine Magd sitzend, die hier auf der Schwelle ebenfalls eingeschlafen war, vom Lärm der in ihren Hütten festgeschlossenen Hunde aber nun erwachte. Als sie die Augen aufschlug und die Fremden erblickte, griff sie rasch nach einem glänzenden Gegenstande, der in ihrem Schooße lag und ihr entfallen schien. Es war ein neuer blanker Thaler. Wie sie sich besann und ihr Geldstück in Sicherheit gebracht hatte, sagte sie den Ankömmlingen, daß dies der Heidekrug, ihr Herr, Herr Justus, der Heidekrüger wäre. Oben fänden sich Zimmer genug und kalt essen könnten sie auch noch und wie sie wol oben am lauten Sprechen im Saale hörten, auch Gäste fänden sie noch. Der Herr, dem der Wagen da unten gehöre, wolle noch heute weiter, um mit Sonnenaufgang in der Residenz zu sein.

Ja, ja, sagte sie etwas polternd, bei uns geht's bunt her! Hier machen wir die Nacht zum Tage und die Tage zur Nacht. Wir sind hier Alle überstudirt!

Hackert hatte bereits den von der verdrießlichen, aber rührigen »überstudirten« Magd erwähnten Wagen der oben befindlichen Herrschaft bemerkt. Er stand auf der andern Seite des Hauses, bereit zum Vorfahren. Ein Kutscher in Livree saß eingehüllt in einem leichten Staubmantel auf dem Bocke und schlief.

Wem gehört der Wagen? fragte Dankmar, die Livree des Schlafenden ins Auge fassend.

Einem prächtigen Herrn aus der Stadt, sagte die Magd. Er ist erst drei mal auf dem Heidekrug gewesen, und ich denke, wenn er öfter kommt, werden die Leute nicht mehr sagen: Auf dem Heidekrug wird die Milch schon in der Kuh sauer.

Sagen Das die Leute?

Ja, Herr, ich weiß nicht, ob Sie ein Studirter sind. Aber ich denke immer, der Bauer soll dem Herrn Pastor das Latein lassen. Die Ochsen lernen doch im Leben kein Hebräisch...

Wenn sie nicht an Moses und die Propheten verpfändet werden... fiel Dankmar lachend ein. Wenn ich hier wirklich auf dem Gute des Heidekrügers Justus bin, so merk' ich fast, das Gesinde theilt nicht die Leidenschaft seines Herrn für Politik....

Die Magd hörte nicht. Sie war hinterher, ein Licht anzuzünden und den Ankömmlingen hinaufzuleuchten in die Zimmer, die sie ihnen anweisen wollte.

Dankmar beobachtete Hackert, der sich inzwischen mit scheuem Blicke dem eleganten Reisewagen genähert hatte und prüfend vor ihm stand und vor sich hin murmelte:

Neumann! Bei Gott, er ist's! Es ist Neumann.

Was murmeln Sie denn? Kennen Sie den Wagen?

Hackert zeigte auf die Chiffre am Schlage.

Man mußte nahetreten, um sie in dem nur sternenhellen Dunkel zu erkennen.

F. S. Nicht wahr? sagte Dankmar.

F. S. wiederholte Hackert bestätigend und gab die Erklärung:

Franz Schlurck.

Meinen Sie wirklich? Der Justizrath Schlurck? Der Kutscher schläft. Wir wollen die Magd fragen. In dem Falle bleib' ich noch auf. Ich hätte Lust, den berühmten Juristen kennen zu lernen.

Hackert schwieg. Er war nachdenklich vor dem Wagen wie festgebannt, streichelte die Pferde und lachte mit einem eigenen, fast schwermüthigen Ausdrucke in sich hinein.

Kommen Sie mit hinauf, Hackert! Hören Sie nur, wie man noch die Gläser anstößt! Es ist mir, als dränge bis hierher ein duftender Punschgeruch. Essen wir in der lustigen Gesellschaft oben zu Nacht und stoßen wir fröhlich mit den Fröhlichen an!

Hackert hörte nicht. Er stand wie abwesend vor den Pferden und streichelte sie. Diesen that der nächtliche Gruß wohl. Die prächtigen Thiere schnaubten leise und reckten die Ohren. Hackert aber fuhr ihnen sanft über die Mähne. Da strichen die Rosse die Hufen auf dem Pflaster und schlugen die langen Schweife in die Höhe. Die Mähnen der Thiere bewegten sich unruhig und ihre dunkeln großen Augen blinzelten in der Nacht ganz geheimnißvoll, als wollten sie sagen: Sieh da, Hackert, wir kennen dich, warum sehen wir dich nicht mehr?

Gute Nacht! sagte darauf Hackert, der alles Dies nachzufühlen schien, und wandte sich dem Stalle zu.

Die mit dem Lichte wartende Magd, drängend und freundlich gestimmt, bemerkte:

Ei kommen Sie doch. Es sind oben auch Zimmer für die Kutscher!

Geh' Sie zum Henker mit Ihrem Kutscher! sagte Hackert und schlenkerte die müden Glieder dem Stalle zu, wo er, auf Dankmar's Nachruf nicht hörend, rasch und gleichgültig verschwand.

Er will im Stalle schlafen, sagte die Magd. Es ist besser, er ist bei Ihrem Pferde. Dem Dietrich bekommt's nicht, wenn der gute Herr oben bei uns zu oft einkehrt.

Zahlt der immer so gute Trinkgelder?

Er will nur, daß Alles lustig ist, gibt gleich Wein und Geld und unsern Herrn wechselt er auch ganz aus. Kommen Sie! Ich geb' Ihnen ein gutes Zimmer und gehen Sie getrost noch in den Saal.

Nun gut! sagte Dankmar. Etwas kalte Küche! Braten, Wein, wenn man ihn haben kann! Dann mach Sie's Bett! Ich will noch einen Augenblick in den Saal treten.

Dankmar kannte nur den bedeutenden Ruf des Justizraths Franz Schlurck. Er war der gesuchteste Anwalt der vornehmen Welt, hatte Häuser und Güter in Administration, verwaltete minorennen reichen Erben ihre künftigen Besitzthümer, galt für einen der beliebtesten Gesellschafter und war besonders durch das glänzende Haus, das er machte, und die Schönheit seiner Tochter Melanie Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Dankmar kannte die reizende Melanie nur von flüchtiger Begegnung, hatte auch Schlurck nie persönlich gesehen. Er fand es ganz in der Ordnung, die Gelegenheit zu benutzen, einen vielbesprochenen Mann, der ihm gewissermaßen als nachahmenswerthes Vorbild seiner eigenen Laufbahn gelten konnte, kennen zu lernen. Daß Schlurck allein reiste, ohne seine Familie, hatte er schon vernommen. Er rechnete darauf, außer Schlurck nur noch den Heidekrüger Justus zu finden, einen gleichfalls bekannten öffentlichen Charakter, der schon seit Jahren viel Wunderliches von sich reden machte.

Als Dankmar die Treppe hinaufgestiegen war und die Thür, hinter der er sprechen hörte, geöffnet hatte, blendete ihn anfangs der entgegenstrahlende Lichtschimmer, sodaß er erst fast nichts von Dem sah, was er hier antreffen sollte.

Auf seinen Gruß antworteten ihm mehre Stimmen zugleich mit einem theilweise überraschten: Guten Abend!

Um ein Uhr des Nachts hatten im Saale des Heidekrugs aber nur noch drei Männer beisammengesessen, die eingehüllt vom feinsten wohlriechendsten Cigarrendampf den Morgen mit wachen Augen begrüßen zu wollen schienen. Den Heidekrüger und den Justizrath glaubte Dankmar sogleich zu erkennen. Es war aber noch ein Dritter anwesend, der entfernt von diesen Beiden mit einer blauen Blouse bekleidet in einem düstern Winkel saß.


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