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Das Welt-Ei blieb in seinem Bestand ein Jahr, und berstete dann in zwei Hälften auseinander. Die eine Hälfte wurde der Himmel, die andre die Erde.
Oupnekhat.
In Lassa herrschte jetzt eine neue Ordnung der Dinge. Der Sieg des Teschu-Lama war entschieden, und die Unbequemlichkeiten, welche sich für ihn noch ergeben konnten, hinderten ihn nicht, von dem Throne seiner Eroberung vollständigen Besitz zu ergreifen. Das plötzliche Verschwinden des Dalai Lama bewies allem Volk, daß ein böser, unmächtiger Geist bisher an dem Ruder der Welt gesessen habe, der, vor der Uebermacht eines Höheren entflohen, niemals wagen würde, durch einen Angriff diesen herauszufordern. Der neue Himmel umschlang die alte Erde wie eine längst verlobte und jetzt erworbene Braut.
Man kennt die Maßregeln, welche Usurpatoren nach dem Sturze legitimer Dynastien ergreifen. Sind die neuen Herrscher ohne Leidenschaft, und verfahren sie nach den Eingebungen ihrer Klugheit, so adoptiren sie die frühern Einrichtungen, wenn sich die Völker dabei wohl befunden haben. Das ist eine Gerechtigkeit, die ihnen wohlfeil zu stehen kömmt. Dhii-Kummuz zählte in allen seinen Proclamationen jene Institutionen auf, die ihnen durch die Wohlthat seines und ihres Herrn auch ferner verbleiben sollten. Dazu gehörte vor allen Dingen die Luft und das Wasser, die Scholle Landes, auf welcher Jedermann seine Wohnung erbaut hatte, die gesunden Gliedmaßen, welche die Natur schenkte, Frau und Kind, der Brunnen und die Linde im Hofe, die Nachtigall, welche nächtlich unter dieser singt; die Vergangenheit, die Erinnerung und alle die Sprüche, welche sich Einer auswendig gelernt hatte. Diese Einrichtungen wurden mit keiner Hand angetastet. Eben so wenig die tägliche Einfuhr des Getreides und Gemüses in die Stadt; die Befugniß, das Gras zu mähen, wenn es einen Fuß hoch gewachsen; die Benutzung des Flusses Tsang-Tschu, um die Pferde in die Schwemme zu führen; ja selbst an der alten tibetanischen Sitte, das Schöpsenfleisch an der Luft zu trocknen und mürbe zu machen, wurde nichts verändert. Alle Welt frohlockte über die neue Herrschaft, welche ihren Anfang mit so milden Thaten bezeichnete, und nannte in Gebeten, Briefen und öffentlichen Reden den Teschu-Lama ihren wahren und alleinigen Gott, Regierer und Erhalter.
Schwieriger mußte es der neuen Dynastie fallen, sich das Vertrauen der Priesterschaft zu erwerben. Nicht, als wäre nicht die Thatsache längst erwiesen, daß die Diener Gottes auch immer die bereitwilligsten Diener seiner Stellvertreter sind, sondern es handelte sich hier um die Anhänger zweier verschiedenen Lehr-Meinungen, von denen die bisher verketzerte den Sieg davon getragen hatte. Aber daß auch hierin sich nicht Mittel und Wege finden sollten, um allen Inconvenienzen vorzubeugen, beweis't die Erfahrung der Geschichte und der glückliche Erfolg, den eine Clausel des Besitz-Ergreifungs-Patentes nach sich zog. Dhii-Kummuz sagte hier nämlich, daß so wie die Freiheit der Person von der neuen Regierung garantirt sey, eben so auch die Religionsübung in jedes Willkür überlassen bleibe. Man erwarte allerdings, daß Niemand seinen Bauch oder die Nase eines Andern vergöttere; daß man jedem ausländischen Religionswerber gebührlich antworten, und sich namentlich sowohl vor einem verderblichen Mischcultus als vor Aufklärern, Deismus und Neologie hüten werde; sonst solle jedoch Jeder in der Meinung, welche seit Jahrhunderten im Lande gesetzlich tolerirt werde, ungekränkt bleiben. Der neue Lama erschuf sich zwar mit dieser Verfügung eine Gegenpartei in seiner eignen Umgebung. Denn die Gelbmützen hatten bestimmt darauf gerechnet, mit dem Siege ihres Lama auch den Untergang der Rothquäste entschieden zu sehen. Aber Dhii-Kummuz sagte deßhalb in einer vertraulichen Unterredung: »Der Staat besteht aus widerstrebenden Interessen, und die Kunst des Regierens verstehen heißt, sie gegen einander ausgleichen. Ich sehe ein, daß unter den Gelbmützen seit dem ersten Tage unserer glorreichen Regierung die Gesichter immer bösere Mienen machen, aber warum sollten wir sie fürchten, da wir in den Rothquästen eine Macht gewonnen haben, welche jenen das Widerspiel hält? Das Geheimniß unserer künftigen Existenz liegt darin, alle Mittel, welche uns zu Gebote stehen, zur rechten Zeit zu benutzen.«
Dickson, der bei der Belagerung mit seinen halben und vernagelten Kanonen Wunder gewirkt hatte, erhielt zur Belohnung seiner treuen und einträglichen Dienste die Stelle des Oberdeibuns oder des General-Feldmarschalls sämmtlicher Truppen von Tibet. Die Artillerie, sowohl in ihrer theoretischen Begründung als praktischen Anwendung, blieb dabei immer sein Steckenpferd. Er suchte sie auf jede Art zu vervollkommnen; und obschon ihm nicht mehr Geschütze zu Gebote standen als bisher (die Chinesen wollten ihm papierne verkaufen, diese konnt' er aber nicht brauchen), so gab er doch diesen eine Vollendung, die jede Möglichkeit hinter sich ließ. Ja der Anblick einer nicht unbeträchtlichen Ebene, wie sie Lassa umgibt, verführte ihn auch zur Ausführung der längst aufgegebenen Lieblingsidee, eine reitende Artillerie herzustellen. Er entzog der Fuß-Artillerie die beiden vernagelten Zwölfpfünder, und bemannte sie mit Cavallerie. Ohne Zweifel kamen auf diesem Wege jene Geschütze ihrer ursprünglichen Bestimmung wieder näher. Denn statt daß sie früher im Treffen nur den ruhigen, gefahrdrohenden Anblick in der Ferne gewährten, und durch ihre Regungslosigkeit, die sich ja jeden Augenblick furchtbar hätte entladen können, den Feind mit Schrecken erfüllten, so ließen sie sich jetzt wie rasselnde Eisendrachen bewegen, und mußten unter die Reihen der Feinde Furcht und Verwirrung bringen. Dickson hat sich um seine Waffe in Mittel-Asien große Verdienste erworben.
Auch die Verhältnisse des Dalai Lama zu China wurden aufs Neue geregelt. Obschon seine Verpflichtungen gegen den Sohn des Himmels dieselben blieben, welche Maha Guru hatte erfüllen müssen, so wollte es doch der Zufall, daß gerade jetzt, zu gleicher Zeit mit den in Tibet vorgefallenen Veränderungen, die alten Repräsentanten der chinesischen Macht am Hofe von Lassa abberufen wurden, um durch neue ersetzt zu werden. Den Correspondenten gab das Grab nicht wieder heraus, aber den Uebrigen lag nichts Eiligeres ob, als dem Rufe ihres Herrn Folge zu leisten. Vielleicht wurden sie ja zu neuen und größern Ehren berufen; warum sollten sie ihre Schritte nicht beflügeln?
Vielleicht war der Oberst Tschu-Kiang der einzige Chinese, der die Verlängerung des Aufenthalts zu Lassa gewünscht hätte. An welchem andern Orte hätt' er bequemer auf seinen Lorbeeren ruhen können? Er hielt sich nicht mit Unrecht für den Begründer der neuen Dynastie; er wußte, daß der Sieg des Teschu-Lama nur die Folge seiner Tapferkeit war, und dieser Fürst war dankbar genug, den Dienst, welchen ihm der Oberst durch sein zwar mißlungenes, aber doch nicht unnützes Unternehmen geleistet hatte, fortwährend anzuerkennen. Von Stund an hatte sein Stolz auch keine Gränzen mehr. Der Himmel hing ihm zu niedrig, weil er stets fürchtete, mit dem Kopf an ihm anzustoßen. Früher konnte man ihm seine Größe streitig machen, und er war daher zänkisch, ungenießbar, launenhaft; jetzt kam Alles darin überein, daß er niemals von sich zu wenig gesagt hatte, und seitdem war seine Miene stets ein freundliches Lächeln, eine gefällige, nicht einmal beleidigende Wohlgewogenheit. Diese tröstliche Umänderung fand aber nur für Lassa statt, wo Niemanden an seiner wahrhaften Größe Zweifel aufstiegen; auswärts mußte er wieder seiner Thaten eigner Herold werden.
Eben so früh wurde die Heldenlaufbahn unterbrochen, welche Schü-King in Leitung öffentlicher Angelegenheiten begonnen hatte. Während der Belagerung und des Sturmes hatte sie Sorge, sich mit ihrem Hause vor Angriffen sicher zu stellen. Tschu-Kiang verließ sie in der Verwirrung nicht, sondern theilte eben so die Gefahren als das Trübsal der Nachricht, welche sie jetzt über das Ableben des Correspondenten erhielten. Die nähern Umstände dieses Ereignisses blieben ihnen immer verborgen.
Jetzt erst gab Schü-King den dringenden Anträgen des Obersten ernstliches Gehör. Sie äußerte zwar, man wisse nicht, was ihrer im himmlischen Reiche erwarte, ihr Geliebter könne seinen Gehalt verlieren; doch berief sich dieser auf seine Tante in Wampu, auf die einträglichen Geschäfte, welche sie in Ochsen mache, und ihre stete Bereitwilligkeit, ihm unter die Arme zu greifen. Schü-King gab sich zufrieden, und von diesem Augenblick an haben niemals Liebende in friedlicherem und zärtlicherem Verhältnisse gelebt. Nur einmal vor der Abreise trübte sich noch der Himmel dieses Glücks. Es entstund nämlich die Frage, was mit den fünfzehn von ihrem Ehegemahl verlassenen Weibern des Harems zu beginnen sey? Der Oberst, ohne den Eindruck seiner Worte zu berechnen, fuhr mit der kurzen Erklärung heraus, daß er schon lange daran gedacht hätte, diese ganze Sippschaft an seine linke Seite zu nehmen, und sie in einige kleine Bevorrechtungen einzusetzen. Es war der letzte Backenstreich, den er als Bräutigam von Schü-King für diese unüberlegten Reden empfing. Er hielt sich die brennende Wange und erwiderte kleinlaut, daß er so nachdrücklichen Wünschen augenblicklich Gehör geben wolle. Schü-King knüpfte an die strafende Bewegung ihrer Hand einen langen Discurs über die jetzt in China einreißende Sitte der Kebsweiber, über gewisse Dinge, die ihr künftiger Mann niemals aus den Augen setzen dürfe, die sie streng ahnden werde, die er sich niemals solle einfallen lassen, die sie nun und nimmermehr zugeben werde. Der Oberst suchte sie zu beruhigen, er versprach Alles, was in seinen Kräften stände, und hatte so sehr den Muth verloren, daß er seine strenge Gebieterin nicht einmal zu fragen wagte, was sie denn mit den dreimal fünfverlassenen Geschöpfen zu beginnen gedenke? Schü-King gab ihm aber aus eigenem Antriebe die Erklärung, daß sich in China Auswege genug finden würden, schöner, munterer und unterrichteter Mädchen ledig zu werden.
Es war an einem frischen kühlen Morgen des Spätherbstes, als aus Lassa eine lange, unabsehbare Reise-Karawane zog. Sämmtliche Chinesen machten ihrer demnächst eintreffenden Ablösung Platz. Die einfache Ordnung des Zuges bestand darin, daß das Militär rings den übrigen aus Weibern, Kindern und Civilbeamten bestehenden Troß umgab. Schü-King mit ihren Weibern wurde getragen; ihre Begleiterinnen mußten sich verschleiern, weil Tschu-Kiang häufig an den Palankin seiner Braut heranritt. Aber die meisten dieser Frauen hatten keine Augen für ihre Umgebung, sie trugen ihre Gedanken weit in die heimathliche Ferne, träumten von Wiedersehn und schönern Tagen. Yeg-Jeg sprach leise mit ihrem graduirten Doctor, die Schauspielerin mit ihrem Ober-Tribunalsrath, eine Jede mit Jedem, der ihrem Herzen nahe stand.
Der Rand der Gebirgskette, welche das schöne Thal von Lassa umschließt, ist erreicht. Noch einen Blick für die reißenden Wellen des wilden Tsang-Tschu, für die vergoldeten Kuppeln der heiligen Gottesstadt, für die hohen Obelisken auf dem Berge Botala, und nun lebet wohl! Mögen sich die Berge vor Euern Tritten ebnen und die Wellen des gelben Flusses bald in Euern Augen spiegeln! Dürftet Ihr alle daheim in der Blume des Weltalls, so Ihr Männer seyd, Sommerhüte von Blättern, in den Ohren Edelsteine, und flatternde Enden an Eurem Gürtel tragen, und so Ihr Frauen, Euch schmücken können mit krausen Scorpionen-Locken, mit schönen Namen, die für gute Symbole gelten, und mit grünen Obergewändern, welche Frühlingsfeier und reiche Lust des Herzens bedeuten! Wenn Ihr Euch dem Kaiser nahet, so woll' er seinen Ring vom Finger ziehen, und ihn Euch anstecken, woll' er Euch eine Pfauenfeder an den Hut heften, und silberne Troddeln geben, um sie an Eure Oberkleider zu hängen! Harrt Eurer daheim eine Braut, so mag sie nicht gealtert haben, sondern noch immer ihr Wuchs schwellen wie ein Baum, von dem Gewande seiner Blätter umrauscht; ihrer Wangen Haut sey ein geronnener Rahm, ihres Mundes Lächeln ein Frühlingstag, der sich mit Duft umziehet; ihre Augenbrauen seyen dunkle Schmetterlinge und die Zähne feuchte Kürbis-Kerne, und die Nägel an ihren Fingern Rosenblätter. Hattet Ihr Arbeiten zu einem Examen eingegeben, so mögen die Prüfungscommissionen sie inzwischen gebilligt und Eure Fähigkeiten den Oberbehörden empfohlen haben. Hinterließet Ihr Schulden, so wünscht die uneigennützige Muse, daß Eure Vettern sie unterdessen bezahlt haben mögen. Wer sein Weib zu der Zeit verließ, als der vorjährige Weizen gesäet wurde, mag es mit keinem Säugling an der Brust wiederfinden, und wer seinen Brüdern den Auftrag gab, die Zinsen eines Capitals zu erheben, mag so viel Treue an ihnen finden, daß sie die Zinsen zum Capital schlugen! Die Vögel Lu-See ziehen dem Mittelpunkte der Erde zu, und lassen sich in der Ferne auf den Teichen nieder. Ein Zug von Gästen naht sich mit geschwungenen kaiserlichen Fahnen, welche hoch das Drachenbild emporhalten. Schmücket die Thore aller Städte zu ihrem Empfange, lasset bunte Wimpeln von den Altanen wehen, und spannt durchsichtige kühle Flore aus, um die Strahlen der Sonne zu wehren! Und wenn sie Euch verlassen haben, so sendet ihnen nicht Haß und Widerwillen nach, sondern ein schmerzliches Bedauern, daß sie so früh von Euch geschieden sind!
Wir aber folgen jetzt den drei flüchtigen Wesen, deren ferneres Schicksal hinfort unsre Aufmerksamkeit allein in Anspruch nehmen wird.
Maha Guru hatte Mühe, sich in eine Welt zu finden, welche ihm seit Jahren verschlossen war. Alles beschäftigte seine Aufmerksamkeit, und selbst bei dem kleinsten Gegenstande kostete ihm das Wiedererkennen eine Anstrengung; die Erscheinungen der Natur und des Lebens waren nur durch die Vermittlung mündlicher oder schriftlicher Belehrung vor seine Seele getreten, sie hatten für ihn nie eine andre Wahrheit gehabt, als die, welche sie der Sprache der Gleichnisse, Sentenzen und der Energie geben.
Der Eindruck, welchen dieser Zustand auf des jungen Mannes Gefährten machte, mußte wunderbar, selbst unheimlich seyn. Es war noch der ganze Duft einer fernen Welt, der den Entthronten umwob. Wenn er auf dem beschleunigten Wege, den so kurz als möglich zu nehmen die Nothwendigkeit gebot, ermattet niedersank, und sein schwärmerischer, wehmüthiger Blick auf einen Stein oder eine Pflanze zu seiner Seite fiel und mit langer, traumartiger Bewußtlosigkeit auf diesem Gegenstande ruhen blieb; so beugten sich unwillkürlich die Kniee des Schamanen und Gylluspa's, und beide betrachteten stumm den mährchenhaften Knaben, dessen Anblick uns zu Thränen gerührt hätte, sie aber noch immer zu stillem Gebete begeisterte. Dann richtete sich der Ermattete wieder auf, umarmte die treuen Seelen, die ihn mit unbeschreiblicher Inbrunst liebten, und winkte, den beschwerlichen Weg wieder fortzusetzen.
Es gibt unzählige Menschen, welche nur wie Träume über den Erscheinungen der Alltäglichkeit schweben. Ihr seyd in einer Gesellschaft, Euer Mund strömt in zügellosen Ergüssen über, Eure Laune entzückt Jeden, der am Leben seine Lust findet; und doch war vielleicht ein Wesen unter Euern Zuhörern, in dessen Seele jedes Eurer beklatschten Worte tiefe Furchen zog, das vor den Ausbrüchen des jubelnden Beifalls zusammenschreckte, und sich sehnte, einen Ausgang aus diesen menschlichen, erlaubten, und den Reiz des Lebens erhöhenden Genüssen zu finden. Diese stillen Herzen weichen Euch auf der Straße aus, wenn Ihr einmal länger als eine halbe Secunde gelacht habt, und danken Euch in Ihrer Angst früher, ehe Ihr noch gegrüßt habt. Ihr verlangt einen Dienst von ihnen? Seyd gewiß, daß sie Euch schon jede Bitte gewährt haben, ehe Ihr sie noch vorbrachtet. Sollte sie die Angst zu dieser Bereitwilligkeit treiben? Nein, sie fürchten nur Eure Leidenschaft, sie wollen keinen Schmerz in Euch erregen, sie wollen nicht, daß Ihr in die Menschheit ungerechte Zweifel setzt. Kennt Ihr diese treuen Menschen? Ihr trefft sie in großen Städten da, wo sich die Straßen in Gärten verlieren, wohin der Bewohner der mittlern Stadt jährlich einmal pilgert, um die Königin der Nacht bei einem Gärtner blühen zu sehen; nicht selten in der Nähe eines Dichters, eines Geistlichen, eines alten Sonderlings, der sich mit seinen Renten und seiner Haushälterin gegen die Welt abgeschlossen hat. In Euern Familien ist es vielleicht der ältere Bruder Eurer Mutter, an dem Ihr in Eurer Jugend mit zärtlicher Hingebung hinget; dessen Weisheit Euch mit edlen Vorsätzen erfüllte; an dem Ihr niemals bemerktet, daß auf seinem Rocke sich die Fäden zählen ließen; daß seine Wäsche nicht rein war, wenn die Mutter nicht dafür sorgte; daß sich für seine morgende Zukunft erst am heutigen Abend entschied, wo er bei den Verwandten in der Runde essen sollte; an dem Ihr dieß Alles nicht bemerktet, weil Ihr ihn niemals klagen, nie eine Thräne vergießen sahet. Oder es ist gar Eure jüngste Schwester, diese Unglückliche, die mit dem Tode ringend in die Welt trat; die im sechsten Jahr erst sprechen, und im achten laufen lernte, weil sie im Rücken eine natürliche Last, die nicht leicht ist, zu tragen hat, und die keinen einzigen körperlichen Reiz besitzt, als ein seelenvolles, himmelblaues Auge und das schönste hellblonde Seidenhaar. Sie folgte Euern Jahren nach, ihr großes Herz erweiterte sich, und das Maß ihrer Liebe zu Euch nimmt immer noch zu. Jeden Eurer Wünsche lies't sie von Euern Augen, sie liebt Alles, woran Eure Seele hängt, sie umarmt den Freund, mit welchem Ihr für Eure Ideale schwärmt, und ließe das Leben für jenes Mädchen, dem Ihr Euer Herz geschenkt habt. Kennt Ihr nun jene Menschen, die ich zeichnen wollte? Dieß sind die Seelen, welche niemals auf der Erde heimisch werden, und sich aus dem Himmel nur in diese Räume verflogen zu haben scheinen.
Ich muß aber noch höher steigen; von den Stufen, wo die Engel stehen, zu jenen Thronen, auf welchen die Weltenschöpfer sitzen. Thürmen wir den Pelion auf den Ossa, rufen wir die Titanen zum Streit, vielleicht gelingt es uns, unbemerkt hinter der Draperie des Weltenthrones heranzuschleichen, und einen Nagel aus dem Sessel zu ziehen, auf welchem die Allmächtigen lagern! Triumph! Der Schöpfer der vier Elemente stürzt hinunter; in einem Nu hat er mitten im civilisirten Europa Fuß gefaßt. Der Gott verliert den Muth nicht. Denn er weiß, daß er Feuer, Wasser, Erde und Luft geschaffen hat. Wird ihn nichts in Verlegenheit bringen? Ja, er wird seine eignen Werke nicht wieder erkennen. Die Gränzen, welche er zwischen die Elemente setzte, hat der Mensch längst aufgehoben. Chemismus, Gasentwicklung, Dämpfe! Was versteht der Himmel von diesen Dingen? Einen Feuerzeug wird der verirrte Gott mit kindischer Neugier betrachten, eine Compressionsflinte muß ihn in Erstaunen versetzen.
Ich lasse diesem Gott der Elemente die übrigen folgen. Die drei Naturreiche, die menschlichen Tugenden, die großen Entschlüsse, die ehrlichen Nahrungszweige, die Kunst, die Wissenschaft, den Handel – alle himmlischen Anwälte dieser Gegenstände werden von der Art, wie sie sie hienieden antreffen, überrascht seyn. Die ausgestorbenen Thiergeschlechter mit der Veredlungskunde, mit dem Dünger und der Rhinoplastik; die Bestimmungen der Sitte über das Ehrbare und die Vermehrung der anständigen Gewohnheiten; die Berechnungen des Ehrgeizes und der Durst der Völker nach großen Ereignissen, den sie selbst auf Kosten ihrer Freiheit befriedigt wissen wollen; die mannichfachen Verzweigungen menschlicher Thätigkeit, welche der Luxus und das steigende Bedürfniß veranlaßt haben, mit der Kunst des Unthätigseyns und der Verzweiflung der Proletarier; die Rouladen der Sontag, die altdeutschen Kopfsenkungen und die Ghaselen nebst der G-Saite, der Lithographie und der Kunst Gedichte durch den Würfel zu machen; die Rotation der Erdachse und die griechischen Partikeln nebst der Göttinger Bibliothek und dem Meßkatalog, endlich im Handel die Giro-Banken, die Anleihen nebst dem Papiergelde, dem Credit und den Wechselreitern – das Alles sind die Erfindungen, welche dem Menschen eigenthümlich gehören, und an denen die Götter erst dann Antheil haben, wenn sie sich darin unterrichten lassen. Wie unglücklich müßten sie also seyn, wenn sie sich durch einen Zufall unter die Menschen verliefen!
Maha Guru war in so fern ein antiker Gott, als ihn die Liebe zu einer Irdischen zwar nicht von seinem Throne getrieben, diese Leidenschaft ihn aber unter die Menschen begleitete. Gylluspa lehrte ihn die Vergangenheit entbehren. Sie selbst hatte für die Vergangenheit das Gedächtniß verloren. Die Vorwürfe, welche sie in den finstern Stunden ihrer langen Kerkernächte dem eher Ohnmächtigen als Treulosen machte, waren verstummt in ihrem Munde. Sie hätte sie Dem jetzt machen müssen, der ihr das Leben rettete, dessen Wiederfinden die ganze Gluth ihrer alten Leidenschaft von Neuem anfachte. Maha Guru's sanfte Rede, sein langer Blick auf die Reize Gylluspa's, sein Lauschen auf den Ausdruck ihrer Miene und die zärtliche Hingebung, mit der der Ermattete zuweilen seine treuen Gefährten umarmte, waren ihr hinlängliche Zeugnisse, daß die Versicherungen der Liebe, welche sie einst von Maha Guru unter dem Mangobaum empfangen hatte, in selige Erfüllung gehen würden.
Die Entfernung von Lassa war eine Flucht, die in jedem Augenblicke hätte mißlingen und mit dem Tode des entthronten Lama enden können. Bei jedem andern Lama hätte der Usurpator darauf rechnen können, daß der Entflohene im Gebirge einen Anhang aufwiegeln und mit starker Macht auf dem Schauplatze wieder erscheinen werde. Alle Maßregeln, die er ergriff, waren auch auf Verhütung eines solchen Ereignisses gerichtet. Selbst wenn er wußte, daß sich Maha Guru mit seinem Verluste begnügte, und zu wenig Energie besaß, um mit eigner Hand sich den alten Besitz oder Rache zu verschaffen, so konnte er leicht von den Unzufriedenen als Vorwand benutzt werden, und im Verein mit dem Fanatismus anders lehrender Priester, die in Religionsangelegenheiten leicht erregbare Masse des Volks in Bewegung bringen. Deßhalb folgten dem Flüchtling auf allen Wegen die Diener des neuen Lama; ein hoher Preis wurde auf sein Leben gesetzt, und die Behörden in den umliegenden Oertern überall aufgefordert, allen Fleiß auf die Entdeckung des verschwundenen Lügengottes zu wenden.
Die Flüchtigen hatten durch die Entweichung von Lassa, welche sie mitten in den verworrenen Scenen der Plünderung und Zerstörung bewerkstelligt hatten, einen guten Vorsprung gewonnen. Die Vorsicht des Schamanen führte sie über die schwierigsten, unwegsamsten, aber auch die sichersten Pfade. Die Richtung blieb nach Süden hingerichtet, wo er im Lande Butan eine Freistadt für den Verfolgten, dessen Loos er zu dem seinen machte, zu finden hoffte. Butan ist zwar eine Provinz von Tibet, aber von dem Schauplatze der vergangenen Begebenheiten hinreichend entfernt.
Was läßt sich von dem Seelenzustande, in welchem sich der Schaman befinden mußte, sagen? Wir haben uns wohl gehütet, diesen Mann als einen scharfen, entschiedenen, Alles nur mit Plan und Absicht beginnenden Charakter hinzustellen, weil uns ein solcher unter den hier obwaltenden Verhältnissen unmöglich schien. Man zieht seine Vorurtheile nicht so schnell aus, wie seine Kleider, und wird in die Gewöhnung der Sitte zehnmal wieder zurückfallen, wenn man es einmal wagte, sich von ihr zu entfernen. Zu Allem, was die Schicksale der drei Fliehenden zusammen gewürfelt hatte, gab der Schaman aus eignem Willen Einiges hinzu, aber er selbst wäre nie im Stande gewesen, sich auf die Höhe dieser Erlebnisse zu stellen und sie nach seiner Einsicht zu lenken. Deßhalb mußten ihn die Erfolge eben so sehr ergreifen, als hätt' er sie nie voraussehen können.
Darin lag aber auch zu gleicher Zeit eine große Beruhigung für seine erschütterte Seele. Er hatte nicht selbst Hand ans Werk gelegt, als noch für ihn die entschiedene Katastrophe keine Seite bot, die er zu Maha Guru's eignem Besten benutzen konnte. Erst da, als ihm die Möglichkeit ward, das Glück zweier Menschen durch das kurze Unglück eines dritten zu begründen, und durch jenes dieß wieder zu entfernen; da begann er jene Plane zu beschleunigen, deren Erfolg jetzt der flüchtige Fuß dieser drei Wesen war. Seine letzte Tätigkeit war zuletzt auch immer nur darauf gerichtet, dem Verderben seine bösen Ausgänge zu nehmen oder ihnen mit Klugheit vorzubeugen. War in der That sein an dem Bruder begangenes Verbrechen mehr, als die unterlassene Mittheilung einer gemachten Entdeckung? Mit dieser Verschwiegenheit fiel oder stand sein Plan, den er, wenn auch nicht für redlich, doch für gut ersonnen hielt.
Wenn es aber dennoch keine Gränze gibt, wo das Unerlaubte durch die gute Absicht gerechtfertigt wird, so trat die Liebe jetzt als die Vermittlerin der Reue mit dem Verbrechen auf. Lag in Maha Guru's zufriedener Hingebung an sein Schicksal nicht die schönste Beruhigung für jeden Vorwurf des Gewissens? Ja es trat zuletzt eine Stunde ein, da Frohlocken und jubelnde Freude in die Kleeblattherzen der Liebenden einzog, Maha Guru feierte mit verklärtem Auge seine irdische Wiedergeburt; er fühlte das Glück, an Herzen zu ruhen, wo jeder Pulsschlag sich ihm zum Opfer brachte; er stimmte einen Triumphgesang an, daß die lebensfrohen Wonnen des Menschen die todten Entbehrungen des Gottes in ihm besiegt hatten, und umarmte seinen Bruder, der ihn aus der Heimlichkeit eines unverständlichen, ihm dunklen und erschaffenden Daseyns in das volle, freie, das Herz erhebende Leben der Menschen gerettet habe. Seit diesem Augenblicke schwanden die trüben Wolken von des Schamanen Stirn.
Nach einer mühevollen Wanderung, die mehrere Tage nicht unterbrochen wurde, immer weiter entfernt von den Oertern, wo die Verfolgung mit scharfen Augen und weit reichenden Armen ihre Opfer suchte, erreichten die Flüchtlinge endlich ein Asyl, das der Schaman mit Sorgfalt gewählt und zur Herberge lange vorher schon eingerichtet hatte. Es war mitten in den unersteiglichsten Gebirgen ein abgeschiedenes, stilles und durch seine Freundlichkeit gegen die schroffen Umgebungen abstechendes Thal, von Niemanden bewohnt, und nur in weiterer Entfernung von stillen, friedlichen Nachbarn umgeben. Zwar konnte hier keine üppige Vegetation gedeihen, aber sie war lebhaft genug, um zu einer Ansiedlung zu reizen. Eine geräumige Wohnung lehnte sich an die grüne Bergwand, und war von einer Umzäunung umgeben, welche noch einen wohlangebauten Pflanzengarten umschloß. Die klare Welle eines Stromes, der sich aus dem Waldgestrüpp hervordrängte, wo ihm ein Fels vielleicht seinen Ursprung gab, floß mit erquickendem Rauschen durch die Einfriedigung und verlor sich am andern Ende des Thales hinter dem schroffsten Gestein, das in dieser Umgebung sich dem Auge darbot. Einer so lieblichen Einsamkeit hätte jeder Verfolgte seine Zukunft mit Freuden anvertraut, wäre die Liebe und Freundschaft auch nicht seine Begleiterin gewesen.
Das Thal war nicht so unbewohnt, als es schien. Mancherlei Hausgethier bewegte sich in dem innern Hofraum, und einige Diener eilten den Ankommenden entgegen. Alles war hier zu wohnlicher Häuslichkeit eingerichtet. Gylluspa und der Schaman flüsterten stille Gebete, als sie die Schwelle des Hauses betraten, und Maha Guru, dem das Beten noch eine unbekannte Verrichtung war, sah ihrer Andacht mit Wohlgefallen zu.
Die nächst eintretenden Scenen brauchen wir nur mit einigen Worten zu erwähnen. Wenn wir die Sitten Tibets nicht vergessen haben und die Bedürfnisse liebender Herzen kennen, so wissen wir, welche sonderbare Hochzeit jetzt in diesem Hause gefeiert wird. Zum Lauschen an der Brautkammer wird kein Raum seyn, da abwechselnd das Schlüsselloch von einem der beiden Brüder in Besitz genommen ist. Erst als das Heraus- und Hineingehen ein Ende hatte, würden wir an die Thür heranschleichen dürfen, aber nichts mehr sehen und vernehmen, als den tief athmenden Schlaf dreier in seliger Umarmung Verschlungener.
Erwachet ihr Lieben, zur Erfüllung der schönen Träume, die über Eurem lächelnden Antlitze schweben!