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Fang-Schu, der Feldherr, führt sein Heer
Dreitausend Wagen reich an Wehr,
Sie treiben wohl den Feind zu Paaren.
Fang-Schu, der Feldherr, zieht voraus,
Es tönet laut der Trommeln Braus,
Und wohlgeschaart ziehn alle Schaaren.
Zum Angriffszeichen gnüget schon
Den Muth'gen ein gelinder Ton.
Doch soll's des Rückzugs Zeichen seyn,
Und soll'n wir ihm Gehör verleihn,
So dürft ihr nicht die Trommel sparen.
Schi-King.
Es war finstere Nacht. Tausend Fackeln leuchteten im Gebirge. Der rothe Schein, den jede einzelne warf, konnte auch nur den Schritt eines Einzigen sichern. Für die übrigen Tausende, die mit ihren Rüstungen über das Gebirge kletterten, gesellten sich zu den natürlichen Hindernissen des gefahrvollen Weges noch die blendenden Schatten, welche die Fackelträger in die tiefen Abgründe warfen.
Bald stürzte ein Roß, bald ein Reiter, der es am Zügel führte. In dem verworrenen Zurufen, welches von einer Bergspitze auf die andere schallte, und das schlummernde Echo weckte, erstickten die Schmerzensschreie der Unglücklichen, welche die falsche Berechnung des Wegs und die Tollkühnheit der Anführer mit ihrem Leben bezahlen mußten.
Am entlegensten Ende des Zuges und noch am tiefsten Fuße des Berges ertönte das Commando einer uns wohl bekannten Stimme. »Die Fackeln von den Pulverwägen!« rief es mit siebenfachem Echo. »Wir haben so viel brennbares Material, daß wir mit Einem Funken die asiatischen Hochgebirge in die Luft sprengen könnten.«
Es war Dickson, der mit seiner schweren Artillerie weit zurückblieb, und in der That nur mit den außerordentlichsten Anstrengungen des Weges Meister werden konnte. Seine wenigen Geschütze wären außerdem verloren gewesen, wenn er nicht jedes in Augenschein nahm und bald hier, bald da zugegen war. Die Stücke waren mit einem Dutzend Pferden bespannt, welche von eben so viel Kanonieren wieder kurz am Zügel geführt werden mußten. Dickson rief dabei unaufhörlich oder nur in kurzen Zwischenräumen: »fünfzig Stockprügel für Jeden, der elend genug ist, sich hinten aufzusetzen! Und die Hälfte für Jeden, der sich von seinem Thiere ziehen läßt!« Dabei machte er seiner Galle an allen Gegenständen Luft; er war im Zuge, die anstößigsten Dinge zu sagen. »Das sind die Folgen der Vielherrschaft,« rief er; »schätzte man meine Rathschläge so hoch, als sie werth sind, so würde man besser bedient seyn. Was gab ich im Kriegsrath für eine Meinung ab? Ich stimmte für Zögerung, für eine Rast, die vier Stunden vor dem Untergange der Sonne beginnt; für einen Marsch, der Niemanden ermüdet, und uns Zeit läßt zu den nöthigen Erholungen, zur Verdauung und zu einem erquicklichen Trunke. Ich drang nicht durch, weil in dieser Armee zu Viele rathen wollen. Steckt die Köpfe nicht zusammen! Himmel, sitzt da nicht Einer auf dem Protzkasten?« Dickson lief hinzu, stolperte, stand mit einem derben Fluche wieder auf, und überzeugte sich von seinem Irrthume. »Was gibt's da zu lachen?« rief er einen Trupp Kanoniere an, welche hinten an dem schadhaften Mörser schoben; »Ich wette, der Schuft hat meinen Fall benutzt und ist heruntergesprungen, während ich ihn nicht sehen konnte. Wie schlaff an der Haubitze dort die Stricke hängen! treibt die Pferde an, ihr Buben! Und rennt mich – zum Henker, die Steine tanzen mir unter den Füßen weg; wollt ihr mich hinunterstoßen?«
Der General war stehen geblieben und wurde von der vorüberfahrenden Positionsartillerie so hart gestreift, daß er einige Schritte zurücktrat, und erschrocken, nichts als Luft hinter sich zu fassen, jenen Schrei ausstieß. Da er noch nicht fiel, fand er den Muth, sich umzusehen, wo denn der Tod noch ganzer drei Schritte weit entfernt lag. Es gewährte ihm eine Beruhigung von seinem Schrecken, auf die Mitglieder des Kriegsraths zu schmähen und seine Mannschaft zu Vertrauten seines Grolls zu machen. »In der Compagnieschule zu Calcutta,« sagte er, »hab' ich Blicke in die Strategik geworfen, daß mir ihre feinsten Grundsätze erklärlich wurden. Konnt' ich daher ohne Lachen hören, wie einige Regimentschefs in einem vor vierzehn Tagen gehaltenen Rathe auf Bildung einer reitenden Artillerie drangen? Himmel, das wäre ein Commando gewesen. Rechtsum schwenkt! Sturmlauf! Die ganze Batterie in einer Viertelstunde 20,000 Fuß über dem Meeresspiegel. Nein, diese Menschen sind zu bedauern. Hätte man doch nie auf sie gehört! Warum müssen sie über die Touren, welche wir täglich machen, den Ausschlag geben? Wer über Artillerie und Geniewesen unnütze Worte verliert, von dem heb' ich nie etwas auf, weil ich weiß, daß es in keinem Ding etwas Werth hat. Gerechter Gott, was willst du, Dschangho?«
Es war nicht der ganze Feuerwerker Dschangho, der an Dickson vorüberflog, sondern nur sein Kopf und ein Stück seines Rumpfes. Diese Begegnung war von einer ungeheuern Explosion begleitet. Ein Pulverkasten hatte bei dem unvorsichtigen Handhaben der Fackeln Feuer gefangen und war in die Luft gesprungen mit Mann und Roß, die ihn bedienten.
»Das Ding ist nun einmal geschehen,« sagte Dickson nach einer Weile; »lasse sich Niemand entmuthigen! Wer auch das Bein seines Bruders finden sollte, zögere nicht, das seinige darauf zu stellen. Zur Klage haben wir jetzt durchaus keine Zeit. Wer heult da? Niemand soll den Mund verziehen!«
Mehrere Stimmen fingen nämlich einen leisen Trauergesang zu murmeln an. Hätte Dickson sie aufkommen lassen, so würden sich alle Zungen zu Klageliedern gelös't, und eine Muthlosigkeit sich dem ganzen Heere mitgetheilt haben. Der General fuhr aber mit so heftigen Drohungen dazwischen, daß jeder sein Gebet unhörbar zwischen den Zähnen flüsterte, und die Bedienung des Postens, auf dem er sich befand, nicht aus den Augen ließ.
Solche nächtliche Zufälle hielten den Marsch der Artillerie hinter den Uebrigen weit zurück. Dicksons Eifer und seine rücksichtslose Energie gehörten dazu, die Ordnung des Zuges zu erhalten, und ihn, bei den vielen Hindernissen, die ihn trafen, nicht in völlige Auflösung zu versetzen. Wo ein Rad brach, ein Strick riß, wo ein Pferd ausgleitete, wo beim Niedersteigen ein Hemmschuh aus dem Gleise fuhr, und das Geschütz mit Gewalt auf seine bewegenden Kräfte rollte, da war er mit Rath und That immer zugegen, um jeder Verwirrung vorzubeugen, und schnell die Ursachen zur Muthlosigkeit wegzuräumen.
Als endlich der Weg anfing mehr bergabwärts zu führen, stellten sich auch die Hoffnungen einer baldigen Rast und mit ihr eine neue Anfeuerung ein. Das Thal öffnete sich immer mehr, und man erblickte einen hellen Schimmer, der sich eine weite Strecke durch das nächtliche Dunkel zog. Es waren die Wachtfeuer der schon früher eingetroffenen Krieger, denen ein weiter Thalkessel zur Rast von den gehabten Anstrengungen hinlänglichen Raum gab. Am folgenden Morgen konnte man hoffen, von der nächsten Bergwand, die zu besteigen allein noch übrig war, das bedrohte Lassa zu erblicken. Noch war ihr Vorhaben für die Allwissenheit des Dalai-Lama ein Geheimniß. Keiner der ausgestellten Wachtposten hatte bei der Ablösung seinem Officier eine verdächtige Erscheinung in der Umgegend zu berichten.
Als der Artilleriepark in die Thal-Ebene hinabrasselte, lagen die übrigen Krieger schon an ihren Feuern zur Ruhe ausgestreckt. Die Geschütze wurden in Ordnung aufgestellt, die Pferde ausgespannt, an Pfähle befestigt, zur Noth gefüttert, und die Kanoniere waren noch früher eingeschlafen als jene. Dickson aber fühlte seine Befehlshaber-Pflichten zu sehr, als daß er dem Beispiele seiner Leute sogleich hätte folgen sollen. Er frug sich vielmehr nach dem Hauptquartiere hin, um an Berathungen Theil zu nehmen, wenn sie vielleicht gepflogen werden sollten. Es war aber sehr still um das große Zelt, das die heiligen Glieder des Teschu-Lama umschloß, nur aus einem Theile desselben brannte noch eine schwache Flamme. Dem Eintreten des bekannten Generals stand nichts entgegen, und Dickson fand seinen Freund, Dhii-Kummuz, noch in so später Nacht über einem großen Pergamentsbogen beschäftigt, auf dem er zierliche Charaktere in großen Zügen mehr malte, als schrieb.
»Wer du auch seyn mög'st,« rief Dhii-Kummuz dem Eintretenden, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen, entgegen, »nach einigen Augenblicken bin ich bereit, alle Geschenke zu empfangen, welche man mir geben wird.«
»Ich bringe nichts, als einen müden Fuß, eine trockene Kehle und ein begieriges Ohr,« entgegnete Dickson, und sein Freund, ihn sogleich erkennend, sagte kurz vor sich hin: »Dickson;« ließ sich aber nicht stören, sondern arbeitete auf seinen Bögen weiter. Dickson brummte über die Unfreundlichkeit der Gelehrten, und sah dem Schreiber über die Schultern zu. Endlich wusch aber dieser seinen Pinsel im Wasser von den Farben rein, hielt das Geschriebene mit zufriedenem Blicke gegen das matte Licht der Lampe, und begrüßte dann seinen Freund mit herzlichem Willkommen. »Als ich gestern die gebratenen Fische mit dir aß,« sagte er, »und dir die Kopfstücke und mir die Schwänze ließ, hätt' ich da glauben mögen, daß wir beide vielleicht unser jüngstes Gericht gehalten hätten! Ein verwünschter Weg! du riethest dagegen, und ich fange an, deinen Instinct als ein untrügliches Ahnungsvermögen zu verehren.«
Dickson war aber selbst für Lobeserhebungen nicht zugänglich, wenn seiner Leibesnothdurft etwas abging. Er verlangte vor allen Dingen ein bequemes Nachtmahl, sodann eine Wiederholung der beifälligen Aeußerungen, welche sein Wirth über ihn gemacht hatte, und als er beides erhalten, Aufklärung über die eben beendete Beschäftigung des Dhii-Kummuz. »Ich bin aus dem Lande der Cultur gebürtig,« sagte er, »und kann auf der Straße nichts Geschriebenes liegen sehen, ohne es aufzuheben. Was bedeuten diese nächtlichen kalligraphischen Uebungen?«
»Ich kenne den Gebrauch deines Vaterlandes nicht,« entgegnete der Befragte; »aber bei uns herrscht die Sitte, selbst dem Feinde Rechenschaft darüber abzulegen, was uns zu einem Kriege gegen ihn bewogen hat. Wir erlassen in diesem Falle beim Anfang aller Feindseligkeiten eine weitläuftige Schrift, die wir Proclamation, auch wohl Manifest nennen. Ueber dieser Arbeit hast du mich angetroffen.«
Dickson, der für Definitionen eine unbeschreibliche Ehrfurcht hatte, hörte mit offenem Munde zu, und vergaß über jene gründliche Auseinandersetzung sogar, daß in Europa die Manifeste nicht weniger heimisch sind. »Das ist sehr merkwürdig,« sagte er, »doch was hast du im Namen des Lama, unsers Herrn, den Leuten denn aufgeheftet?«
»Nicht wahr?« fragte Dhii-Kummuz, »wir haben sehr wichtige Ursachen zu diesem Kampfe?«
»Ohne Grund sind wir in der That nicht hier,« antwortete Dickson.
»Und diese Ursachen sind höchst gerecht?«
»Sie sind durchaus nicht ungerecht.«
»Wir kamen nicht von freien Stücken?«
»Nein, wir sind durch Beleidigungen gereizt worden.«
»Und diese Beleidigungen waren unerträglich?«
»Sie waren zahllos, und ließen sich allerdings nicht ertragen.«
»Der Lama hat die gerechtesten Ansprüche auf den Thron des Himmels?«
»Ich frage dich nur, wer sie ihm streitig machen sollte?«
»Der Dalai Lama kann nur schlecht beglaubigte Ansprüche aufweisen?«
»Wir haben sie nie beglaubigt.«
»Es ist der Wille des Himmels, daß in Tibet eine andre Ordnung der Dinge herrsche?«
»Wir sind unstreitig damit beauftragt, sie einzuführen.«
»Wollen wir die Lage der feindlichen Provinzen verschlechtern?«
»Behüte! wir beabsichtigen ihr Bestes, und kommen mit den reichsten Versprechungen.«
»Werden auch diese Versprechungen gehalten werden?«
»Was du nur frägst! freilich, aber unter gewissen Bedingungen.«
»Und diese sind?«
»O so geh mir zum Henker! So examinirt man einen Narren, commandir' ich denn eine feindliche Batterie? Bin ich als Parlamentär im Lager? Sage mir lieber, was auf jenem Pergamente enthalten ist?«
Dhii-Kummuz fand aber jetzt keine Zeit, diese Mittheilung zu machen; denn draußen war es unruhig geworden, mehrere Stimmen riefen durcheinander, und ein anwachsender Lärm näherte sich dem Hauptquartier, wo sich die beiden nächtlichen Sprecher befanden. Einige Officiere kamen aus den hintern Räumen des Quartiers herbeigeeilt, um nach der Ursache dieser Störung sich zu erkundigen. Man führte einen Menschen herein, der sich von Lassa her durch die Spalten und Engpässe der Gebirgswand in das Thal geschlichen haben, und von den Wachtposten bemerkt seyn sollte. Nach der Aussage derer, die ihn gefangen, warf er bei dem ersten Anruf der Schildwache statt der Antwort ein Paket Papiere von sich, und schien zweifelhaft zu seyn, ob er die Flucht ergreifen, oder das Folgende abwarten solle.
Dhii-Kummuz untersuchte die Papiere und verhörte den Ueberbringer derselben. Es war allerdings ein Spion, aber ein solcher, der nur in Lassa gewärtigen konnte, aufgehängt zu werden. Er war von jener Partei abgeschickt worden, die in Lassa für den Teschu-Lama gewonnen war, und er selbst ein Chinese. Das Paket enthielt Briefe von Schü-King an ihren Bruder, den sie unter den Ankömmlingen vermuthete, von Tschu-Kiang an den Teschu-Lama über die von ihm getroffenen Vorbereitungen, über die sichersten Operationen, welche sich gegen die schwache Besatzung machen ließen, endlich noch Plane, Zeichnungen und einige Schreiben von den Vertrauten der Aufrührer, die sich in der unmittelbaren Nähe Maha Guru's befanden. Aus allen diesen Documenten ließ sich absehen, wie dunkel noch in Lassa das Gerücht von dem Vorhaben des Statthalters war, und wie wenige Vorkehrungen getroffen seyn mußten, um den Erfolg eines unvermutheten Ueberfalls zu vereiteln. Dem Statthalter ließ sich zum kommenden Morgenthee außer seiner Pfeife keine angenehmere Unterhaltung geben.
Dem gewandten Chinesen gab man außer der verdienten Belohnung noch eine Rückfracht, die ihm gefährlich werden konnte, nämlich das Manifest, welches Dhii-Kummuz verfaßt hatte. Er wurde in die Gegend wieder zurückgeführt, über welche er gekommen war, und von dem Verfasser der Proclamation mit Erläuterungen über den Gebrauch derselben begleitet. Als Dhii-Kummuz in das Zelt zurückkehrte, fand er seinen Freund Dickson vom Schlafe schon überwältigt, und ist ohne Zweifel mit dem ganzen, heimlichstillen Lager seinem Beispiele gefolgt. Schrieb ich eine geheimnißvolle, magische, magnetische Geschichte, so würd' ich diesen wunderbaren Mann in eine versteckte Thür gehen, etwas Unerkennbares aus der Tasche nehmen oder sonst einen ähnlichen Spuk treiben lassen, der die Phantasie des Lesers befruchtet und seine Neugier spannt. Aber ich schildere Ereignisse und Menschen, die dem Leben und der Wirklichkeit entnommen sind.
Auf dem Berge Botala, dem Sitze des Dalai Lama, wollten auch am Morgen des folgenden Tages die gewohnten frommen Uebungen unter lautem Gesang und Gebet ihren Anfang nehmen, als der Wächter auf der höchsten Zinne desselben, dem Gipfel Marbori, in der Ferne die sonderbarsten Bewegungen erblickte. Alle Alpenketten, die von der Westseite das Thal von Lassa begränzen, schienen zu schwanken, und ein lang aushaltender, scharfer Blick entdeckte bald, daß unabsehbare Kriegerschaaren von den Bergen herabstiegen und die Gegend zwischen dem Fuße des Gebirgs und dem linken Ufer des Flusses Tsang-Tschu überschwemmten. Noch ehe er aber, bleich vor Schrecken, zu den versammelten Vätern hinabgestiegen war, hatte schon des Dalai Lama ältester Bruder, der General der kalmückischen Cavallerie, die Stufen des Palastes zurückgelegt, den Saal mit seiner Botschaft von einem feindlichen Ueberfall erfüllt und die Betenden auseinander gesprengt. Er suchte die Zimmer des Dalai Lama, ungeachtet des scharfen Verbots für Laien, diesem heiligen Orte in den Morgenstunden sich zu nahen.
Maha Guru saß mit gestütztem Haupte in einem kleinen Gemach, wo durch eine Oeffnung die ersten Strahlen der aufsteigenden Morgensonne über den gelben Raum eines alten Buches gesammelt fielen, uralten Geheimnissen nachsinnend, als der General athemlos hereinstürzte und den Frieden dieser stillen Einsamkeit durch seine eiligen Berichte störte. Maha Guru richtete sich still von seinem Buche auf, seufzte und sprach: »Wie können doch Menschen so frevelhaft seyn, und das Glück ihres Lebens verscherzen! Wer sind die Verblendeten, welche sich meinem heiligen Throne mit böser Absicht nahen?«
Der General erklärte, daß er davon noch keine sichere Kenntniß habe, zweifelte aber nicht, daß die schon seit längerer Zeit verbreiteten Gerüchte über die feindseligen Absichten des Teschu-Lama durch diesen Einfall bestätigt seyn könnten. Dann fügte er hinzu, daß er Sorge tragen werde, den Palast des Lama unüberwindlich zu machen. Wenn er, wie er hoffe, den Feind nicht aus offenem Felde schlage, so könnt' es bei einem Sturme auf die Stadt nur den unglaublichsten Anstrengungen gelingen, eine solche Befestigung, wie er sie der Residenz geben wolle, zu überwinden. Maha Guru erwiderte die ängstliche, hastige Sorgfalt seines Bruders mit einem freundlichen Lächeln, das auf diesen wie ein überirdischer Zauber wirkte. Er warf sich vor ihm nieder und rief mit begeisterter Stimme: »Auf deiner Stirne ist es hell und klar, mein göttlicher Meister; welche Besorgniß dürft' ich vor der Zukunft haben! Keine Kugel, die wir schießen, wird ihren Mann verfehlen, und unsere Pfeile brauchen wir nicht zu vergiften, weil sie dennoch tödtlich treffen. Du hast gelächelt, und wie werden wir unsere Schwenkungen machen! Welches Manöuvre kann es geben, das uns nicht gelingen müßte? Kein Roß wird beim Sturmlauf sein Eisen am Hufe verlieren, keinem Sattel der Gurt reißen, wir dürfen des glänzendsten Sieges gewiß seyn. Lebe wohl, in Augenblicken dringender Gefahr bin ich in deiner Nähe!«
Mit diesen Worten blieb Maha Guru allein. Er warf einen langen, nachsinnenden Blick durch die Fensteröffnung, in den blauen Himmelsraum, und kehrte dann zu den Geheimnissen seines Buches wieder zurück.
Inzwischen wurden die Zurüstungen zu dem bevorstehenden Kampfe mit der größten Eile betrieben. Der Palast des Dalai Lama bedurfte nur einer zahlreichen Besatzung, um einer vollkommenen Festung zu gleichen. Es waren Schanzen und Gräben hinlänglich vorhanden, welche jetzt mit Bewaffneten gefüllt wurden. Vor die Thore legten sich ungeheure Riegel, andere wurden durch eine Menge Hindernisse verrammelt, die es erst zu besiegen galt, wenn der andringende Feind einen Fuß breit Weges gewinnen wollte. Dazu kam, daß der Gedanke, für den Himmel und die Unsterblichkeit zu kämpfen, selbst eine zagende Seele zum Muth anfeuerte.
In der Stadt, welche mit einiger Entfernung am Fuße der hohen geistlichen Residenz liegt, war die Verwirrung auf einen schon höhern Grad gestiegen. Die mit Pfeil und Bogen, Wurfspießen oder langen Flinten bewaffneten nipalesischen Reiter hatten sich schon in einzelnen Schwärmen den Stadtthoren genähert, und die in der Eile zusammengeraffte Besatzung derselben mit neckenden Plänkeleien gedrängt. Die aufgeschreckte Bevölkerung selbst legte der eiligen Rüstung Hindernisse in den Weg. Die Priester strömten aus ihren Klöstern und regten durch ihre Lamentationen nur die Klage der Bewohner, nicht ihren Entschluß, mit thätiger Hülfe beizuspringen, auf. Doch der energische Eifer, den der General, des Lamas Bruder, in dem Anordnen der Vertheidigung entwickelte, half auch diesen Unordnungen bald ab. Jedermann erhielt die scharfe Weisung in sein Haus zurückzukehren, und es nur zu verlassen, wenn er bewaffnet unter die Reihen der Krieger treten wolle. Blieb' er daheim, so müßt' er sein Haus zu einer Festung umwandeln, alle Kräfte, die ihm zu Gebote ständen, aufbieten, die Diener bewaffnen und an den Eingängen zur Verwahrung des Eintritts aufstellen. Den weiblichen Händen wurde die Zubereitung solcher Materialien anempfohlen, welche bei Belagerungen immer eine der letzten, aber auch der wirksamsten Rollen spielen. Siedendes Oel, Pech und Erdharz erwarteten ihre Opfer. Auf den Höfen wurde das Pflaster aufgerissen, da ein alter Mauerwall zertrümmert, hier ein Brunnen, der kein Wasser mehr geben wollte, abgetragen, und die Steine in großen Haufen auf die Dächer gebracht. Selbst die zahllosen Priester thaten mehr als beten und die Sturmglocke ziehen. Sie verschanzten ihre Klöster, bewaffneten sich und schlossen sich in ihren Rüstungen den Vorbereitungen an, welche allgemein gegen das Wagniß eines Sturms gemacht wurden.
An einigen Punkten der Stadt hatte der Kampf schon seinen Anfang genommen. Mehrere kleine Mauerwälle, welche sich auf der Fläche vor der Stadt befanden, und nicht vertheidigt werden konnten, wenn man die Streitkräfte nicht zersplittern wollte, waren von dem Feinde schon in Besitz genommen und zu Anhaltspunkten weiterer Operationen gemacht worden. Wir würden eine schlechte Meinung von Dicksons strategischen Kenntnissen bekommen, wenn nicht bald einige seiner Kanonen von diesem Hinterhalt aus zu spielen beginnen sollten.
Durch diese Concentration konnten die Truppen des Dalai Lama nur an Energie gewinnen. Sie versammelten mehr Kräfte an einem Ort, und richteten durch einen lebhaften Widerstand so viel aus, daß der Feind zu maskirten Bewegungen seine Zuflucht nehmen mußte. Einige Feldstücke, welche ihre mangelhafte Beschaffenheit durch eine gute Position ersetzten, richteten unter den Angreifenden mehr Verwüstung an, als diese mit den ihrigen gegen eine aus Felsstücken gebaute, uralte Mauer. Nur der Verrätherei gelang es, das Gleichgewicht der streitenden Kräfte zu stören, und dem Feinde Vortheile zu verschaffen, welche er durch seine eigene Anstrengung schwerlich errungen hätte.
Tschu-Kiangs Vorhaben war in der That keine Chimäre, mit der er seine Eitelkeit betrog und die Gunst Schü-Kings auf immer an sich fesseln wollte. Die Versprechungen, welche er in der verflossenen Nacht durch einen Boten dem Correspondenten mit der Versicherung seiner übergroßen Freude, ihn nach so langer Trennung wieder in seine Arme zu schließen, gemacht hatte, waren aufrichtig gemeint; er besaß die Mittel, sie in Erfüllung zu setzen.
Den ersten und einflußreichsten Officieren hatte er sein Vertrauen geschenkt, und diese sagten ihren Beistand zu, gelockt durch die Aussicht auf reiche Belohnung, und beruhigt durch die dem Correspondenten anheimfallende Verantwortlichkeit. Der größte Theil der chinesischen Mannschaft ergab sich blind den Anordnungen dieser Befehlshaber.
Wie ungern man einem Gecken Lobsprüche ertheilt, so verdient er sie doch, wenn uns in seinem Betragen plötzlich eine seltene Entschlossenheit, ja sogar in Augenblicken der Gefahr uns seine Tapferkeit überrascht. Der Oberst entwickelte bei dem Ausbruche der heutigen Katastrophe einen so entschiedenen, festen Willen, daß ein Kenner seiner lächerlichen Person an ihm irre werden mochte. Zum ersten Male saß er mit fester Haltung in seinem Sattel, das geckenhafte Wiegen und Ueberneigen beim Reiten war verschwunden; er hatte sein Auge überall, commandirte mit einer mannhaften Stimme, die alles Süße verbannt hatte, kurz wer in seine Plane eingeweiht war, mußte erwarten, daß ihm nichts fehlschlagen würde. Noch ehe Ming-Ta-Lao, der General, von den bedenklichen Unfällen in Kenntniß gesetzt war, und deßhalb seine Befehle austheilen konnte, hatte der Oberst die seinigen schon gegeben. Er rückte in geschlossenen Reihen dem Thore zu, das dem Hauptangriffe des Feindes in der entgegengesetztesten Richtung lag, und das von den Angegriffenen am schwächsten besetzt war. Hier wollte er sich den Durchgang erzwingen und ihn damit zu gleicher Zeit den Feinden öffnen.
So gering aber die Besatzung des bedrohten Thores war, so leistete sie doch dem verrätherischen Unternehmen des Obersten einen kräftigen Widerstand. Tschu-Kiang war darauf gefaßt, den Durchgang erst erkämpfen zu müssen. Er befahl seiner Mannschaft, auf die Wache Feuer zu geben, dann abzusitzen und im Sturmschritt auf die Widerstehenden einzudringen. Diese Manöuvres gelangen nur zum Theil, weil sie an der Tapferkeit der Gegner eine muthige Gegenwehr fanden. Der Lärm des Gefechts zog auch sogleich für die Bedrängten Hülfe herbei, und es gedieh zu einem ernsten, erbitterten Kampfe. Auch für die Chinesen erschien Entsatz; denn zu gleicher Zeit begann der Feind aus der Ferne die Außenwerke des befestigten Thores anzugreifen und sich, von der innern Verwirrung geschützt, demselben auf weniger als Schußweite zu nahen.
Nichts desto weniger brachte den Obersten die zuströmende Unterstützung seiner Gegner bald in eine unvortheilhafte Stellung. Er mußte aufgeben, gegen das Thor zu operiren, und sich auf die Vertheidigung gegen eine erbitterte, wachsende Menge beschränken. Er legte in diesen Augenblicken Proben der seltensten Tapferkeit und Gewandtheit ab, selbst Einsicht in die Taktik verrieth er bald durch eine verdeckte Bewegung, bald durch einen scheinbaren Rückzug. Er würde ohne Zweifel die auf ihn eindringende Uebermacht auch noch länger beschäftigt, und vielleicht gar die inzwischen zugenommenen Fortschritte der äußern Angriffe benutzt haben, wenn nicht endlich eine Scene eingetreten wäre, welche dem fernern Kampf ein Ende machte, und jeden treulosen Chinesen den Säbel in die Scheide stecken hieß.
Ming-Ta-Lao war erst spät mit dem Ereignisse, das ganz Lassa in Bewegung setzte, bekannt geworden. Als er auf den Posten, den zu behaupten seine Pflicht war, treten wollte, sah er, daß ihm der Oberst schon zuvorgekommen war. Er hatte die wenige Mannschaft, welche im Hofe der chinesischen Cavallerie noch zurückgeblieben war, aufgeboten, und kam jetzt nach langem Suchen an den Ort gesprengt, wo sich für ihn der auffallendste Kampf entwickelt hatte. Da bedurfte es keiner langen Nachfrage; er konnte dreist seinen Augen trauen, und verlor über die Rolle, welche er hier den Obersten und seine Leute spielen sah, vor Entrüstung und Schrecken zuerst fast alle Fassung. Doch benutzte er schnell die Pause, welche sein plötzliches Erscheinen veranlaßte, und ritt mit Entschlossenheit unter die Empörer, sie mit seinem Säbel und seinen eben so scharfen Vorwürfen aus einander haltend. »So mögen doch aus den Gräbern Eurer Mütter die Ohren der Esel hervorsehen, mit denen sie neun Monate vor Eurer Geburt Umgang gepflogen!« rief er mit entrüsteter Stimme den eingeschüchterten Empörern zu. »Wo soll ich einsylbige Wörter genug hernehmen, um Eure nichtswürdigen Unternehmungen in das rechte Licht zu stellen! Seh' ich nicht, daß dieser Boden von dem rothen, hinterlistig vergossenen Blute Eurer Brüder raucht? O bei dem höchsten Drachen der kaiserlichen Hofburg in Peking! wie durfte mir in alten Tagen noch eine solche Treulosigkeit begegnen. Seh' ich nicht dort einen Mann an Eurer Spitze, der sonst an meinem Busen alle seine Schmerzen ausweinte und heute sich nicht scheuen würde, auch in mein Blut seinen scharfgeschliffenen Säbel zu tauchen? Werden die Freundschaften so wohlfeil? Trägt man die Schwüre in Körben auf den Markt, und verkauft sie nach dem Tagespreise? Steckt Eure Säbel in die Scheide, daß es einen Klang gibt, als wolltet Ihr die Arie Yang-Keu-Tsa, oder die Arie von der Versöhnung anstimmen! Seit wann gehen die Söhne des himmlischen Sohnes in die Schlacht, ohne das Lied von den zwei feindlichen Brüdern zu singen? Wenn die Hoboen diesen Gesang begleiten, seit wann haben sie aufgehört, in der Begleitung das liebliche und zärtliche Girren der Turteltauben nachzuahmen? Habt Ihr die Stelle vergessen, wo es heißt, wenn zwei Brüder über die Scholle eines Ackers zanken, so geht der Herbst an ihnen vorüber, ohne ihnen Brodkorn für den Winter zu geben? Schämt Euch, Entartete; schließt Eure Reihen, richtet Eure Augen nach meinem Commando, und singt: wo zwei Fürstenbrüder hadern!«
Was war da zu machen? Der General war seinen Leuten mit Mäßigung begegnet; er hatte die den Chinesen angeborne tumultuarische Gesinnung durch keine unzeitigen Drohungen gereizt, und war ihnen von der empfindlichsten Seite beigekommen. Jetzt wandten sie sich mit lautem Geschrei ihrem Oberanführer zu und schwuren in diesen schwierigen Zeitläuften keine Handbreit von seiner Seite zu weichen. Tschu-Kiangs Säbel fuhr zuletzt in die Scheide; er zog sich zurück, und seine starken Entschlüsse waren im Nu verschwunden. Dieselbe Muthlosigkeit, welche ihm immer eigen war, stellte sich bei ihm wieder ein; er hatte nur noch Sinn für seine eigne Person, zog einen Spiegel hervor und fing an, seine durch den Kampf in Verwirrung gerathene Toilette wieder in Ordnung zu bringen. In der Fortsetzung des Gefechts verlieren wir ihn auch ganz aus den Augen.
Obgleich für die Belagerer der Plan fehlgeschlagen war, daß ihnen durch den Ausbruch der chinesischen Besatzung der Eintritt in die Stadt ohne weitere Anstrengungen eröffnet werden sollte, so hatte ihnen doch die Episode der innern Verwirrung den besten Vorschub geleistet, und die Fortschritte in der Occupation erleichtert. Sturmleitern waren an der äußern Mauer, trotz aller Versuche der Belagerten, sie umzustürzen, glücklich angebracht, und verschiedenartige rohe Belagerungs-Werkzeuge verrichteten schon ihren zerstörenden Dienst. Nach ansehnlichem Verluste für die Stürmenden kam es endlich zum Handgemenge; mehrere Krieger faßten auf der obern Mauer festen Fuß, und nach einem kurzen Kampfe war das Thor erobert. Dieselben Erfolge traten bald an andern Seiten der Stadt ein. Durch die Straßen währte jedoch Angriff und Vertheidigung immer noch fort, und jeder Schritt, den die Sieger vorwärts thaten, mußte mit blutigen Opfern erkauft werden. Der Fanatismus der Priester feuerte inzwischen sowohl die ermattenden Kräfte an, als er auch selbst an dem schwankenden Kampfe Theil nahm. Sie gaben damit das Signal für die übrige Bevölkerung, und schufen eine Macht, die um so furchtbarer wurde, als selbst für die augenblicklichen Sieger die Nothwendigkeit eingetreten war, sich durch das Nachlassen des anderseitigen Widerstandes von ihren übergroßen Mühen zu erholen. So kamen jetzt beide Parteien wieder in ein bald hieher, bald dorthin schwankendes Gleichgewicht.
Nur Einen Kriegerhaufen unter den Angreifenden gab es, der unwiderstehliche Fortschritte machte. Es war derselbe, dessen Ueberlegenheit das erste Thor geöffnet hatte. Dieser Zug schien von einer genauen Kenntniß des Ortes geleitet zu seyn, denn alle seine Richtungen trafen auf Auswege, die nur von Wenigen verlegt wurden, oder selbst von einer Uebermacht nur mit Mühe vertheidigt werden konnten. Er bahnte sich mit augenblicklicher Schnelle den Weg zur Residenz des Dalai Lama. Seine Absicht war nicht schwer zu errathen, und die Kriegerschaaren, welche zum Schutze des Palastes aufgestellt waren, setzten daher Alles daran, sie zu vereiteln. Aber auch hier wurde jede Operation von einer Umsicht geleitet, welche die vollständigste Bekanntschaft mit der Oertlichkeit verrieth. In kurzer Zeit und mit geringen Verlusten hatten diese Krieger eine Seite des Berges Botala gewonnen, die zwar am entlegensten von dem Aufenthalte des Lama lag, aber vielleicht am sichersten zu ihm führte und am wenigsten vertheidigt werden konnte.
Wir werden uns die auffallend glücklichen Fortschritte erklären können, wenn wir wissen, daß Maha Guru's Bruder, der Schaman, an der Spitze dieses Haufens stand. Der von ihm lange vorbereitete Augenblick war jetzt erschienen. Eine rasche That sollte die Verwickelungen lösen, welche niemals zu befriedigenden Resultaten geführt hätten, wenn ein jeder nur in seinem eignen, ungestörten Kreise geblieben wäre. Es galt durch einen schnellen Entschluß die Schranken zu heben, welche die Wünsche des Einen unerfüllt von den Pflichten des Andern trennten. Ein schwacher Sterblicher hatte hier die Macht, das Loos des Himmels zu werfen. Der Schaman war auf alle Fälle entschlossen, seinen Bruder von einem Throne zu entfernen, den er länger nicht behaupten konnte...
Die wohlgelungene Berechnung aller Oertlichkeiten in der weitläuftigen Residenz des Dalai Lama gab den unerschrockenen Bestürmern derselben einen siegreichen Vorsprung. Ueberall, wohin sie ihr Anführer treten ließ, fanden sie nur geringen Widerstand, weil Niemand an die Vertheidigung versteckter, scheinbar unangreifbarer Punkte gedacht hatte. Sie durchschritten Höfe, wo ihnen einzelne Wachen begegneten, die bei ihrem Anblicke flohen, und eilten durch lange Gemächer, in denen nur ihre eigenen Fußtritte widerhallten. Erst als der Schaman die Gewißheit hatte, daß man sich endlich in der unmittelbarsten Nähe des Dalai Lama befände, trafen sie auf entschiedene Gegenwehr. Auf ihren kühnen Wegen waren sie keineswegs unverfolgt geblieben; die Nachricht von dem unvermutheten Ueberfall hatte sich mit Blitzesschnelle durch die Burg verbreitet, und jetzt sahen sich die Tollkühnen von allen Seiten umringt. Die einzige Hoffnung, welche sie unter diesen Umständen noch haben durften, war der Entsatz der übrigen Belagerer, denen ihre Digression einen freiern Spielraum verschaffte. Bis auf diesen Moment fanden sie noch immer ihre Hülfsmittel in dem eignen Muthe und der aushaltenden Kraft, welche diese auserlesene Schaar vor Allen beseelte.
Aber nicht bloß auf Vertheidigung beschränkten sich die Begleiter des Schamanen, sondern es lagen die siegreichsten Angriffe in den Bewegungen, welche sie fortwährend unter dem Schutz der Localität machten. Sie deckten an verschiedenen Stellen nur die Thür und kämpften, um ihren Rücken frei zu erhalten, bis der Durchgang in ein andres Zimmer mit Gewalt erbrochen war. Ein solcher Rückzug war eine fortlaufende Eroberung.
In diesem Augenblicke krachten aber die Riegel und die Pfosten der letzten zertrümmerten Thür. Wie ein Pfeil schoß eine Zahl Kämpfender in das geöffnete Zimmer, und die Waffen sanken augenblicklich, wie auf einen höhern Befehl. Der Dalai Lama kniete auf dem Fußboden und fütterte mit rührender Sorgfalt ein Paar junge Tauben, das auf seinen Schultern saß. Die bluttriefende Leidenschaft neben der schüchternen Unschuld! Welch' ergreifender Contrast!
Diese Scene war nicht an der Zeit. Der Schaman verscheuchte sie, raffte seinen Bruder auf, und verlangte, daß er sich ihm zum Schutz ergebe. Aber noch ehe des Gottes fragender, rührender, seelenvoller Blick das Herz des Drängers entzündet hatte, erschallte schon aus dem Hintergrunde die lärmend rufende Stimme des Generals der Kalmücken, keinen Augenblick zu weilen und die Empörer sogleich wieder anzugreifen. Der Kampf begann aufs Neue, der dritte Bruder bahnte sich in die vordere Reihe den Weg und suchte suchte sich Maha Guru's zu bemächtigen, der von dem Schamanen in den Kreis seiner Begleiter gezogen wurde. Die Begegnung der Brüder störte aufs Neue den Verlauf dieser peinlichen Scene. Das gegen den Schamanen aufgehobene Schwert des Generals sank, als er den leiblichen Bruder in ihm erkannte. Er konnte nicht annehmen, in ihm einen Feind zu finden, und verlangte eine Erklärung über sein Unternehmen.
»Des Allerheiligsten eigener Wille soll entscheiden!« rief er, nachdem der Schaman sein Verlangen mitgetheilt, und die Uebergabe Maha Guru's in seine Hände zur Bedingung seines Weichens gemacht hatte. Alles schwieg voll gespannter Erwartung. Und der Gott erhob seine entsagende, getröstete, freudige Stimme und sprach mit einem Ausdruck, welcher selbst die ergriff, die er in diesen Worten verdammte: »Gerecht ist der Priester, der an seinem Altare stirbt. Gerecht sind die, welche als treue Wächter ihrer Pflicht untergehen. Gerecht ist der, welcher in den Schranken der Natur und des Gesetzes bleibt.«
Was bedurfte es weiter, um die Leute des Generals zu dem verzweifeltsten Muthe anzufeuern? Ihre Erbitterung stieg um so höher, als ihnen der Lama entzogen war; denn der Schaman hielt ihn im Hintergrunde unter seinen Mitkämpfern zurück. Die Scenen des ersten Kampfes kehrten alle mit gesteigerter Hitze wieder. Das Zimmer war mit Blutspuren bezeichnet, die sich bald so anhäuften, daß es schwierig war, beim Gefecht auf festem Fuße zu stehen. Der General kämpfte mit einem Löwenmuthe, der selbst den treulosen Schamanen zerrissen hätte, wenn ihm dieser unter seine schonungslose, unnahbare Hand gekommen wäre. Die Angriffe wurden aber mit derselben Hartnäckigkeit erwidert; denn es galt jetzt weniger einen eroberten Preis zu schützen, als das eigne Leben, das von einer wüthenden Uebermacht bedroht war. Die Kämpfer kamen immer dichter auf einander, die Leiber sind fest verschlungen, und ringen um einen Fußbreit Raum, den man erobern mußte, um ihn sicher zu behaupten. Eine Scheidewand von Leichnamen trennt auf einige Momente, wie man ihrer ansichtig wurde, die Mordenden. Aber auch sie wird erstiegen, und desto unwirksamer, je mehr sie anwächs't. Konnte man glauben, daß eine solche Verwirrung noch höher steigen würde? Aber dieser höchste Grad trat ein und mit ihm eine plötzliche Veränderung der Scene. Der General war plötzlich verschwunden; wer ihn suchte, sah auf den blutigen Leichenhügel, der sich im Zimmer erhob; neue Mannschaft war der ermatteten zu Hülfe gekommen, aber sie fand keinen Feind mehr, da sie sich durch den Rücken der unglücklichen Beschützer dieses heiligen Ortes ihren Weg gebahnt hatte. Die Residenz befand sich in den Händen der siegreichen Eroberer.
Der Schaman hatte sich seine kostbare Beute zu erhalten gewußt. Er eilte, den schüchternen Bruder an der Hand führend, durch die von Kriegern durchstürmten Gänge, bahnte sich den Weg durch einen brennenden Theil der Burg und brachte die bedrohte Person des entthronten Dalai Lama in Sicherheit, ehe sie von der Erbitterung der siegreichen, fanatischen Parteihäupter erreicht werden konnte. Er warf seinem Gefangenen den Mantel des nächsten todten Kriegers, der am Boden lag, über, und zog ihn mit sich durch das Gedränge den Berg Botala in die Ebene hinunter. Welch ein Bild lag vor ihnen ausgebreitet! Mord, Brand und alle Schrecken des wildesten Krieges waren in dieß sonst so friedliche, nur von den Gebeten der Priester und dem Läuten der Glocken widerhallende Thal gezogen. Verheerende Flammen zucken über die zertrümmerten Dächer der Häuser, dunkle Rauchwolken steigen auf und lagern sich an den höchsten Gipfeln der fernen Waldgebirge. Die Hitze, der Wahnsinn eines Thürmers, die zerstörte Lage der Klöster-Dachstühle bringt die zahllosen Glocken der Stadt in Bewegung; die Bewohner fliehen die Thore, welche ihnen keinen Schutz gewährten, und entziehen sich den Gräueln einer Verwüstung, die ihnen Besitz, das Leben geliebter Personen und jede Hoffnung auf Ersatz dieses großen Verlusts entzog. Der Fluß Tsang-Tschu war so roth gefärbt, daß man zweifeln konnte, ob seine Wellen das vergossene Blut mit sich fortführten, oder nur den Widerschein der brennenden Stadt gaben.
Der unerkannte Maha Guru wandelte jetzt zum ersten Male wieder unter den Sterblichen als einer ihres Gleichen. Er, der die ganze Zeit seiner bewußten Jugend in der Angelegenheit seines ersten vorbereitenden Aufenthalts und seither in den Gärten, auf dem Pamuri nur im Gespräch mit der leblosen Natur, mit sich selbst und langweiligen Priestern zugebracht hatte, mußte von diesem heillosen Anblick, den die Verwirrung der Stadt ihm darbot, mächtig ergriffen werden. Die Erscheinungen eilten so stürmisch an ihm vorüber, daß er sich mit ängstlicher Scheu an die Seite seines rüstigen Bruders barg. Auch wenn alle diese neuen Umgebungen von einem friedlichen, heitern Glücke beschattet gewesen wären, würde sich doch in des Jünglings Brust dieselbe beklommene, überraschte, fremdartige Stimmung erzeugt haben. Er hätte mit kindischer Neugier jedem Arbeiter zugesehen, der auf dem Laden seines Fensters Röcke zugeschnitten oder Hüte gerundet. Ihm wär' es auffallend gewesen, daß eine Magd auf der Handmühle Getreide zermalmte. Von der Zusammensetzung der Straßen würde er sich schwer einen Begriff gemacht haben, nachdem er Zeit seines Lebens von Lassa nur jenen heiligen Weg, der ihn zu seiner Herrlichkeit führte, kennen gelernt hatte. Und auch jetzt unter den Gräueln der Zerstörung traten einzelne Gegenstände heraus, die seine Neugier rege machten. Er bestürmte deßhalb seinen Bruder mit Fragen, und gab sich nicht eher zufrieden, bis dieser ihm Ursprung und Ziel aller dieser Dinge mit kurzen Worten angegeben hatte.
Den Weg, welchen sie beide einschlugen, mußten sie sich oft erst über Leichen bahnen. Maha Guru, der noch vor einigen Augenblicken bei dem Kampf in seiner verlornen Residenz dem Tode so nahe gewesen war, empfand vor diesem Anblick den meisten Widerwillen. Er wandte sich von den blassen, kalten Gesichtern ab. Die Liebe zum Leben, die seiner frühern resignirenden Stimmung fremd gewesen, war mit dem Bewußtseyn menschlicher Empfindungen in seine Seele wieder eingezogen. Er wandte sich seinem Bruder zu, und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Als diese Menschen beim letzten Rufen des Hahns und dem ersten Strahle der Sonne heut ihr Morgengebet an mich richteten, ahnten sie wohl nicht, welchem Verhängniß sie so bald fallen sollten! Du hättest mich nicht dort droben in meiner Ruhe stören sollen, vielleicht wär' es meinen frommen Gedanken gelungen, das äußerste von allen diesen Opfern entfernt zu halten.«
Der Schaman zog seinen weichherzigen, von seiner Götterschaft noch immer geäfften Bruder mit sich fort, zeigte ihm aber, wie in dem wirren Gewoge und Treiben, das um sie her rausche, noch jeden Augenblick der Tod seine Hand über einen ihm Verfallenen ausstrecke. Und Maha Guru sah mit Schrecken, wie hier die rohen Plünderer mit Unbarmherzigkeit einem Hülflosen begegneten, wie dort ein brennender Balken auf den Armen niederstürzte, der sich kaum aus dem Schutt seines Hauses hervorgerettet hatte. Diese unaufhörlichen Todesscenen in seiner nächsten Nähe brachten Maha Guru zur Verzweiflung. Er wollte sich von seinem Bruder losreißen, um den Unglücklichen zu Hülfe zu eilen, und der Eilende konnte ihn nur mit Mühe von seinen menschenfreundlichen Wagnissen zurückhalten.
Sie näherten sich inzwischen dem Ende der Stadt. Das Kloster der schwarzen Gylongs stand in hellen Flammen. Es schien von allen seinen geistlichen Bewohnern verlassen; denn Niemand ließ sich mit dem Brand im Kampfe begriffen wahrnehmen. Den Schamanen faßte der Gedanke an Gylluspa. Er glaubte sie in Sicherheit, da ihm nichts von ihrer fehlgeschlagenen Reise bekannt war. Er dachte sie sich in den Armen der Päpstin von Palte, geschützt vor jedem Eingriffe in ihre Freiheit. Und doch rang sie in diesem Augenblicke mit dem Tode. Sein Blick hätte sie wahrnehmen können, wie sie verzweiflungsvoll auf einem hohen Fenstervorsprung stand, mit den Armen kämpfend, als wolle sie die erstickenden Flammen abwehren. Der Sinn seines Ohrs war gefangen, und vergebens schlug an ihn der Nothschrei des Entsetzens aus dem theuersten Munde. Wie hell auch die blutigrothen Fackeln ihren Widerschein verbreiteten, er sah nichts von dem weißen Gewande, das aufgelös't und von der Flamme verzehrt am Winde flatterte und kaum noch den zitternden Leib der Angebeteten verhüllte.
Gylluspa, welche nach dem Ueberfall an den vorigen Ort ihres Unglücks zurückgebracht war, hatte von dem anbrechenden Kampfe nicht früher eine Vorstellung seiner Absicht und seiner Ursachen, als schon die furchtbarsten Folgen desselben auf sie einbrachen. Die Bewohner des Klosters ergriffen die Flucht, und die Verwirrung, zu welcher sich noch die Schrecken des Brands gesellten, trennte sie bald von ihren Vätern. Sie durchirrte hülflos die unermeßlichen Räume der geistlichen Wohnung, überall verlegte ihr die um sich leckende Flamme den Weg. Sie sank erschöpft von ihren vergeblichen Versuchen, einen Ausgang zu finden, nieder, und schrack wieder auf, wenn sie auf verbrannte und erstickte Körper gefallen war. Das Gebälk stürzte über ihr zusammen, einem Wunder verdankte sie ihre Rettung, und doch bedurfte sie in demselben Momente eines zweiten Wunders, um einer neuen Gefahr zu entrinnen. Endlich schien sie einen Ausweg gefunden zu haben, eine Stiege war noch unversehrt, sie betrat sie und kam immer höher. Da stand sie jetzt auf einem der höchsten Orte des Klosters, sie hatte geglaubt, überall sey Rettung, wo die Flamme den Weg nicht hin gefunden. Zu ihren Füßen lagen glühend und rauchend die Trümmer der niedrigern Vorsprünge des unregelmäßigen Gebäudes. Sollte sie den schauderhaften Sprung wagen, der sie in die sengenden Arme eines Vulcans brachte? Jetzt schwand ihr jede Hoffnung, sie stieß mit der letzten Anstrengung einen verzweiflungsvollen Schrei um Rettung aus, und sank bewußtlos zusammen.
Es ist eine alte Geschichte, die in Romanen schon hundertmal vorgekommen ist, und die ich hier nur nacherzähle, weil ich in meinem Falle etwas Wahres berichte. Gylluspa wurde gerettet. Wir lachen, wenn uns die Dichter einen Brand schildern, ein flatterndes Gewand, einen Schrei, einen Jüngling, eine Blitzesschnelle, ein Stürmen durch brennende, fallende Balken, ein Ach der zuschauenden Menge, ein plötzliches Wiedererscheinen nach langem Verschwinden, die errungene Beute, und mit einem fürchterlichen Krachen einen Augenblick nach vollbrachter That das Zusammenstürzen des Gebäudes. Aber wir haben Grund dazu. Wir leben in civilisirten Ländern, und müssen unsre monatlichen Abgaben an die Commune zahlen, um Löscheimer, Wasserspritzen, Feuerleitern in gutem Zustande zu erhalten. Nur da darf die Poesie die Rettungsanstalten übersehen, wo sie nicht existiren. In Tibet ist man auf so entsetzliche Vorkommnisse mit nichts, mit gar nichts versehen; dort können Hunderte in einem Brande ersticken, und eben so viel auf eine poetische Weise davon gerettet werden. Dort kann eine löbliche Feuerpolizei mit der Dichtkunst in keinen Streit gerathen.
Gylluspa's Retter war aber weder der Schaman, noch ein anderer als Maha Guru. Er hatte sich unerschrocken durch das lodernde Feuer seinen Weg gebahnt. Die lange Gewöhnung an seine Herrschaft über die Elemente benahm ihm jede Rücksicht auf die zerstörende Gewalt. Feuer, Wasser, Luft und Erde schwammen bei ihm noch immer in Eins zusammen, und schienen ihm Kräfte, die von einem Winke seiner Hand in Ohnmacht sänken.
Der Geretteten geschwundene Lebensgeister kehrten wieder zurück. Welch ein Wiedersehen! Der Schaman wollte seinen Sinnen nicht trauen, weil er den Zusammenhang dieser Begebenheit nicht fassen konnte. Maha Guru aber schloß Gylluspa mit zärtlicher Inbrunst in seine Arme und schüttelte mit den versengten Fetzen seiner Kleider auch die Vergangenheit von sich. Er hatte sich mit dieser That den Eintritt in die Reihen der Menschen erkauft, und stolz auf seinen Gewinn schritt er mit den beiden theuersten Wesen, die er besaß, durch die verworrenen Haufen den Bergen zu, welche ihnen für den ersten Moment einige Rast und für die Zukunft ungestörte Sicherheit gewähren sollten.