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Dieser Weiber Augen leuchten,
Daß sie mir wie Sonnen deuchten
Oder Fackeln hell in Brand.
Doch der Schiller dieser Seide
Macht die Farb' an ihrem Kleide
Ungewiß und räthselhaft.
Schi-King.
Nach der schrecklichen Katastrophe Hali-Jongs erwachte Gylluspa in sechs Armen, die sich sorgfältig mit ihr beschäftigten. Sie war nicht verwaist; denn ihre übrigen drei Väter traten jetzt mit denselben Verpflichtungen auf, welche der todte Bruder vor allen gegen sie übernommen hatte. Sie hatten sie von den Stufen des steinernen Altars, wo Hali-Jong als Opfer gefallen war, in diese einsame Zelle getragen, welche ihnen die Priester anwiesen. Sie umstanden das schönste Kleinod ihrer schwindenden Schätze, und betrachteten die ohnmächtige Gylluspa mit Blicken, aus welchen wechselnd das Entsetzen der erlebten blutigen Scene und die Besorgniß für ihre Tochter sprach. Auch von Gylluspa's Seele stiegen allmählich die verhüllenden Nebel, und die Erinnerung trat in so lebensgroßen Zügen vor ihr Bewußtseyn, daß sie keiner Aufklärung über das Geschehene bedurfte, sondern sich ganz dem Schmerz darüber hingeben konnte. Die Klage, in welche diese Unglücklichen ausbrachen, war lang, stürmisch, leidenschaftlich; ein schluchzendes Schweigen lös'te sie ab, bis mit dem fester auf die Zukunft gerichteten Blick endlich eine aushaltende, stille Pause eintrat.
Die Zukunft brachte vor allen Dingen eine neue Ordnung der Familienverhältnisse. Obschon sich nichts natürlicher ergeben konnte, so begann doch der älteste unter den Brüdern darüber noch folgende Erklärung zu geben. »Wir sind im Ungewissen,« sagte Heli-Jong, »über die Wendung, welche unsere Angelegenheiten in den nächsten Augenblicken nehmen werden. Aber einige Verhältnisse gibt es, welche sich durchaus nicht anders bestimmen lassen. Ja, Gylluspa, unwiderruflich bin ich jetzt in die Rechte Hali-Jongs getreten, und darf mich hinfort deinen ersten und bevorzugten Vater nennen. Wenn ich früher nur hinter den Vorhängen deines Schlafzimmers auf deinen Athem lauschte, so darf ich jetzt unerschrocken hineintreten und dir die Decke auf die Brust ziehen, wenn deine heftigen Träume sie herunterschoben. Des Morgens beim Ankleiden darf ich dir die Kraft meiner Hände leihen, um deinen Gürtel stärker anzuziehen. Wenn du aus deiner Kammer heraustrittst, so werden deine ersten Grüße mich beglücken. An der Jahresfeier meiner Geburt mußt du mich in der fünfzeiligen Strophe besingen, da du es sonst nur vierzeilig thatest. In deinen Gebeten an die Götter nehm' ich den Ehrenplatz ein; und wenn ich nach meinem Tode früher nur in den Leib einer Waldschnepfe fahren sollte, so werden jetzt deine Wünsche darauf gerichtet seyn, mir die Wohnung eines Geyers oder eines Bisamthieres zu erflehen. O Gylluspa, man kann nicht glücklicher seyn, als der berechtigte Vater eines solchen Wesens, wie du bist, zu werden!«
Die übrigen Brüder fühlten, daß auch sie durch diese Promotion um eine Stufe höher gerückt waren, und sie umarmten daher Gylluspa mit wahrhaft zärtlicher Inbrunst. Heli-Jong fuhr aber in den Manifesten beim Antritt seiner neuen Herrschaft fort. »Ich war von jeher gewohnt,« sagte er, »Euch Allen mit Liebe zu begegnen. Ich finde es nicht für angemessen, von dieser Gewöhnung, die meinem Charakter so sehr entspricht, zurückzukommen. Wenn mir sonst beim Guß in unserer Fabrik siedendes Metall ins Auge spritzte, so seyd Ihr noch immer mit einem fürchterlichen Geschrei mir zu Hülfe gelaufen, habt mir die Augen mit Salben bedeckt, die Vorhänge des ganzen Hauses zusammengetragen, um mir den Lichtreiz zu entziehen, und Tage und Nächte an meinem Lager durchwacht. Ich kann an diese Ereignisse nicht denken, ohne von dem Andenken an meinen unglücklichen Bruder, an seine treue Hingebung und stete Aufopferung auf das schmerzlichste bewegt zu werden. Ach, meine Lieben, welch grenzenloses Unglück ist uns doch begegnet!«
Solche Erinnerungen rissen alle Schleußen der kaum gedämmten Thränenbäche wieder auf. Der ungeheuerste Schmerz warf sich wieder auf diese treuen Menschen, zerraufte ihnen das Haar, zerrang ihnen die Hände, daß ihr Leib regungslos nur dem Gewichte ihres schweren, öden Hauptes nachsank. Nach einer allmählich wieder eingetretenen Beruhigung nahm Heli-Jong von neuem das Wort und sagte: »Noch umschließen uns diese finstern Räume, die uns so Vieles geraubt haben; meine Hoffnung steht aber darauf, daß sie uns nicht Alles entrissen. Die Thüren dieses Klosters werden für uns keine Riegel haben, und an den Thoren von Lassa werden uns keine Schergen erwarten, um den friedlichen, der Heimath zugewandten Leidträgern die Straße zu verlegen. Wir werden die Oerter wiedersehen, welche wir mit den schönsten Hoffnungen betraten. In sieben Tagen nahen wir uns den heimischen Thälern. Keine Rauchsäule, die von den Essen aufsteigt, keine zückende Flamme, welche zuweilen aufschießend die finstern Wolken erhellt, wird uns am Horizonte erscheinen, sondern einsam ziehen wir in die einsamen Räume ein. Es wird lange währen, daß wir uns an dieß schmerzliche Wiedersehen gewöhnen. Jeder Winkel des Hauses wird uns an einen unersetzlichen Verlust erinnern. Aber der beste Arzt ist die Zeit, und die beste Trösterin die Gewöhnung. O, richtet Euch auf, meine Lieben! Tausend Hände müssen bald wieder geschäftig um uns walten. In den Wäldern tönt die Axt, in den Schachten der Gebirge der Hammer; auf dem Pa-Tschieu kommen Floßhölzer herab, welche die Essen mit Holz und die Glühöfen mit Metall versorgen. Die alten, verurtheilten Modelle werden bald durch neue ersetzt seyn. Fleiß, Kunstfertigkeit und Achtung vor dem religiösen Gesetze werden sich in die Hände arbeiten. Kurz, wenn wir auch nicht vergessen lernen, so werden wir uns doch an die Erinnerung, wie an eine Beruhigung, gewöhnen.«
Hoffnungsschwellendes Schiff! Ein Windstoß erhebt sich in widriger Richtung, und du bist genöthigt, deine rauschenden Segel zu streichen!
Noch hätte das Echo der letzten Worte Heli-Jongs kaum verklungen seyn können, wenn in der kleinen Zelle eines befindlich gewesen wäre, als sich die Thüre öffnete und eine Anzahl Priester hereintrat. Sie hatten sich vielleicht noch nicht einmal von dem Blute des Armen gereinigt, der hier beweint wurde. Die Priester machen nur dann viel Umschweife, wenn sie sich über die Geheimnisse, als deren Wächter sie bestellt zu seyn glauben (da sie doch ihre Ergründer seyn sollten), aussprechen müssen; wo sie aber zu befehlen und anzuordnen haben, da sind sie rasch zu Werke und sparen die weitläuftigen Vorbereitungen. Der Führer der Deputation trat vor, und erklärte den Brüdern, daß es zwar den menschlichen und göttlichen Gesetzen angemessen, einen Hochverräther am Daseyn Gottes bis ins dritte und vierte Glied zu bestrafen, nicht nur seinen Namen auszurotten, sondern auch den Namen derer, die denselben mit ihm führen, seine Brüder, Schwestern und Freunde zu züchtigen, weil sie alle insofern an seinen Verbrechen Theil haben, als sie es nicht verhinderten. »Aber dennoch,« fuhr er fort, »weiß es alle Welt, daß die Kirche nicht nach Blut dürstet. Der Orden der schwarzen Gylongs hat immer geglaubt, daß die Strafe eben so zur Belehrung als zur Sühne dienen müsse. Begangene Verbrechen lassen sich nicht ungeschehen machen; aber wenn sie noch im Werden sind, so kann man ihnen vorbeugen. Erkennet daraus die liebevollen Absichten, welche die Kirche mit Euch, die Ihr dem Verderben schon fast anheim gefallen seyd, hegt! Ihr wollt zurückkehren zu Euren gewohnten Beschäftigungen? Wer stellt aber uns und Euch sicher, daß sich an die kaum abgebrochene Kette von Vergehen keine neuen knüpfen? Wir dürfen nicht zugeben, daß Ihr diesen Ort verlaßt, ohne Belehrungen von uns empfangen zu haben. Ich selbst bin mit diesem Geschäfte beauftragt; ich eröffne für Euch eine Reihe von Vorlesungen über die traditionelle Götterbildung; bereitet Euch zu einer Prüfung vor, die Ihr im Angesichte des ganzen Klosters bestehen müßt, worauf erst Eure Rosse gesattelt und die Thore dieser heiligen Stätte Euch geöffnet seyn dürfen. Da Eure Tochter gewohnt war, die Malereien an den Göttern auszuführen, so darf sie sich dieser Unterweisung nicht entziehen. Macht Euch auf, und folgt mir in die neue Wohnung, die Euch künftig beherbergen soll!«
Die Brüder kannten nichts von Einwendungen gegen den Willen eines Priesters. Sie ergaben sich friedlich in den Aufschub ihrer Abreise und folgten ihrem Lehrmeister, bei dem der anvertraute Unterricht nicht wenig Kenntnisse und nicht wenig Stolz darauf voraussetzen ließ.
Gylluspa, in einen weiten Schleier gehüllt, schwankte ihnen nach. Der Schmerz machte sie stumm; ja selbst dem Gefühl versagte eine deutliche, verständliche Sprache. Sie wußte nicht, was sie verloren, aber auch, was ihr wiedergegeben war, blieb ihr unbekannt. Zuletzt schien es ihr wohl eines festen, abhaltenden Gedankens werth, daß sie in Lassa blieb; sie hing an ihm einen Augenblick, aber als er in ihr Herz schlug, und wie ein Feuerstrahl sie erwärmte, da blickte sie auf; ihr Auge fiel in den Hof und auf ein Grab, in welches Priester eine blutige weiße Hülle senkten. Widerhallte vorher Maha-Guru's Name noch in ihrer Seele, so stieß sie ihn jetzt zurück; denn selbst ein liebendes Herz mußte seine draußen prangende, kraftlose Allmacht mit Unwillen erfüllen. Wir überlassen Gylluspa auf einige Zeit ihrer Trauer, der Sorgfalt ihrer Väter und den klagenden Tönen ihrer Laute, dieser schwachen Trösterin des Schmerzes.
Schü-King war das Gegenbild Gylluspa's. Diese würde in Augenblicken der Gefahr niemals mit fester Entschlossenheit haben auftreten können, wenn sie auch wie jene die Situationen und die Mittel dazu besessen hätte. Schü-King handelte energisch, wenn sie in den Fall kam, es thun zu müssen. Von ihren Lippen war der Uebergang zum Arme schnell, wenn es galt, ihre Worte ins Werk zu setzen. Wenn die Frauen in den Lauf der Dinge eingreifen, so handeln sie oft mit mehr als männlicher Entschlossenheit, weil sie keine Rücksichten kennen, und die Schmeichelei ihnen die Verantwortlichkeit zu einer unbekannten Verpflichtung gemacht hat.
Es war billig, daß der Correspondent während seiner Abwesenheit die ganze Verwaltung seiner häuslichen Angelegenheiten dem wachsamen Auge seiner Schwester anvertraute. Aber er empfahl ihr beim Abschiede noch mehr. Er entwarf ihr ein Bild des Zustandes, in welchem er die Angelegenheiten Tibets und Lassa's zurückließ, und wurde von Schü-King darin oft unterbrochen, weil sie bald eine seiner falschen Angaben zu berichtigen, bald über Verhältnisse, die selbst dem Bruder noch zweifelhaft waren, die richtige Auskunft zu geben hatte. Sie kannte die Eifersucht, mit welcher ein Kloster das andere verfolgte, die üblen Nachreden, welche die verschiedenen Orden der Geistlichkeit hinter sich herstreuten; sie war vollkommen unterrichtet über den Zustand des Heers, wo ihr selbst die Statistik der Sattelgurte nicht unbekannt geblieben war, ja bis auf die kleinsten Erlebnisse des Tags erstreckte sich ihre Kenntniß; sie wußte, welche Frauen im Umkreise binnen drei Monaten niederkommen mußten, welche Eheverlöbnisse eingegangen waren, und auf wie lange Zeit der Nachbar im dritten Hause zur Linken sich Brod gebacken hatte; kurz der Correspondent konnte mit der gerechtesten Beruhigung die Thore der Stadt verlassen. Er umarmte seine Schwester mit aller Zärtlichkeit, und gab ihr die Versicherung, daß zwischen diesem Abschiede und der Accolade des Wiedersehens nur der kurze Zeitraum einiger Wochen liegen würde.
Daß diese Reise ihrem mächtigen Bruder gefährlich seyn könne, fiel Schü-King erst da aufs Herz, als die Wochen immer von neuem anfingen, ohne am Schluß die Reisenden zurückzubringen. Tschu-Kiang, der verliebte Oberst, lief jeden Morgen in der Frühe, sobald er nur mit seiner Toilette fertig geworden war, in das Haus seines gehofften Schwagers, weil er bestimmt darauf gerechnet hatte, daß er diese Nacht, dann diese, dann wieder eine Nacht, endlich eingetroffen sey. Aber die Thürsteher schüttelten schon in der Ferne den Kopf, so daß ihm recht bang wurde, und ihn nur die Complimente der Dienerschaft daran erinnern konnten, sich zu fassen und aufrecht zu halten. Und wenn er des Tages über zu Schü-Kings Füßen saß, so trieb ihn jedes Geräusch auf der Gasse ans Fenster, oder eine plötzliche Ahnung und Caprice seiner Angebeteten zwang ihn, auf der Stelle bis in die fernsten Dörfer zu reiten, weil sie den Bruder dort eben angekommen glaubte. Dem Obersten mußte daher Alles daran gelegen seyn, daß der Correspondent endlich wieder in seinen Wirkungskreis zurückkehrte.
Das Ausbleiben des Ersehnten wurde zuletzt so auffallend, daß die einzige Beruhigung nur noch darin lag, daß man ihn aufgab. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, wurden die verschwiegensten Diener ins Vertrauen gezogen, und über das Land nach allen Richtungen geschickt, um die Spur des Verlornen zu entdecken. Schü-King aber rief eines Morgens den Obersten dicht in ihre Nähe, zerriß ihm die auf seiner Schulter mit Zierlichkeit gelegten Epaulettes von seidnen Atlasbändern, und sagte: »Ich legte mich gestern mit schwankenden Entschlüssen ins Bett, über Nacht sind sie gereift, und ich stand mit einem festen, unwiderruflichen Vorhaben auf. Das Regiment von Tibet ist eine Eroberung geworden, die Jeder machen kann. Ich kenne die Gedanken einiger übermüthigen Menschen, welche wir zu fürchten haben, wenn wir die Zügel in Händen behalten wollen. Wer will mich hindern, im Auftrage meines Bruders zu handeln, wenn meine Thaten von Entschlossenheit und mein Wille von Muth zeugen? Ich mache mein Putzzimmer zum Mittelpunkt, um den sich Alles in Tibet bewegen soll.«
Tschu-Kiang war nur geschaffen, fremde Gedanken anzuhören, nicht sie zu prüfen. Am wenigsten würde Schü-King von ihm eine Billigung der ihrigen verlangt haben. Sie fuhr in ihrem Selbstgespräche fort: »Die Klugheit,« sagte sie, »kämpft nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit Worten, die von Drohungen begleitet sind, mit Handlungen, welche den Schein der Gefälligkeit annehmen, und mit Lügen, die zur rechten Zeit und in passender Verbindung angebracht werden. Die gewaltsamen Schläge schaden dem Hammer mehr, als dem Ambos. Durch weise und mäßige Berechnung sind alle Ziele erreichbar. Warum sollten diese Einsichten den Frauen versagt seyn? Die Männer, welche so oft von ihren Weibern betrogen werden, dürfen sich wohl kaum rühmen, daß nur ihnen die List und die Kunst der Verstellung beschieden ist.«
Darauf begann Schü-King mit einer ausführlichen Darstellung der Verhältnisse, wie sie überall vorlägen, und welche Richtung sie ihnen geben müsse, um den Absichten ihres Bruders, auf den sie keineswegs noch zu hoffen unterließ, entgegen zu kommen. Nachdem sie dabei unzählige Male auf Ming-Ta-Lao, den General, zurückgekommen war, blieb sie beim Dalai Lama stehen.
»Dieser junge Mann,« sagte sie mit sehr profanen Ausdrücken, »findet in seiner neuen Würde Alles, was sich in ihr nur suchen läßt, Bequemlichkeit, Ruhe, Gleichgültigkeit. Er hat nichts zu thun, als seine gnädigen Herablassungen zu studiren. Sein Leben ist eine fortwährende Uebung im Lächeln, und kein Wunder, wenn er es in dieser Kunst so weit bringt, daß sein Anblick unwiderstehlich wird. Er hat mich zu wiederholten Malen gesehen, ich habe ihm schlecht verhehlt, wie zärtlich ich für ihn empfinde; ich will aber niemals wieder vor sein Antlitz treten.«
Tschu-Kiang mußte Dinge hören, die ihn folterten; aber Schü-King fügte zu seiner Beruhigung hinzu: »Auszeichnungen, welche man für Jeden bereit hat, sind es für Niemanden. Ich verwünsche dieses Lächeln des Lama, mit welchem er jede zahnlose Bauernfrau, welche ihre Eier auf dem Markte verkauft hat, und die Stadt nicht verlassen will, ohne ihn zu sehen, von weitem beglückt. Die Gleichgültigkeit dieses jungen Menschen würde jede Andere herausfordern, mir macht sie ihn zuwider.«
Der Oberst rückte selbst mit einer Geschichte heraus, die man sich seit längerer Zeit in Lassa erzählte, und zum Theil auch Schü-Kings Ohr schon erreicht hatte. Es waren Vermuthungen über die Verhältnisse des Dalai Lama zu Gylluspa, der Tochter eines wegen Ketzerei hingerichteten Verbrechers. Sie kamen der Wahrheit ziemlich nahe, und waren hinreichend, wie sie den Verdacht der lauernden Priesterschaft schon erregt hatten, auch die Eifersucht eines ehrgeizigen Weibes zu steigern. Schü-King würde, wenn sie erfuhr, daß Maha Guru, in ihren Augen der menschlichste Gott, den Reizen einer Andern den Vorrang gegeben hätte, ihn zwar nicht mit heftigerer Leidenschaft verfolgt, sich aber an dem Gegenstande seiner Hingebung empfindlich gerächt haben. Sie trug daher ihrem Anbeter auf, über diese Angelegenheiten weitere Erkundigungen einzuziehen.
Bei aller männlichen Energie mußte Schü-King doch dem Weibe unterliegen, wenn ihre Leidenschaften die Richtung auf Liebe und Besitz nahmen. Sie gerieth in einen Zustand der sinnlichsten Erregung, und schwankte zwischen den Umarmungen Tschu-Kiangs und der Theilnahme an einer Scene, für welche sie sich zuletzt entschied, und der wir die nachfolgende Schilderung widmen. Der Oberst wurde entlassen; und Schü-King eilte, so schnell es der verjüngte Maßstab ihrer Füße erlaubte, in den hintern Hof, wo sie den Harem ihres Bruders betrat.
Im Harem war eine von vergoldeten Säulen getragene Halle das Gesellschaftszimmer der Frauen des Correspondenten. Hier mußten sie sich in der Frühe versammeln und die längste Zeit des Tages zubringen; denn die Chinesen wissen, daß die Einsamkeit den Frauen sehr schädlich ist, wenn man sie lebhaft, munter, gesellig erhalten will. Die Chinesen legen aber ihren Weibern auch noch andere Verbindlichkeiten auf. Sie wollen sie, wenn sie sie überraschen, nicht von den Armen des Müßiggangs umfangen antreffen, sondern entweder mit kunstvollen Handarbeiten beschäftigt, oder unter Büchern begraben, oder den Schreibpinsel in der Rechten und ein Stück Papier in der Linken. Auch für die Abwesenheit des Correspondenten blieb es das strengste Verbot, von dieser gewohnten Ordnung der Dinge abzuweichen.
Nichts desto weniger mußte die Verzögerung der endlichen Ankunft des Verreisten auf die Strenge, mit der man in Beobachtung seiner Befehle verfuhr, zurückwirken. Die Augen der verschnittenen Aufseher wurden kurzsichtiger, ihre Erinnerungspeitsche wurde nicht mehr in Wasser getaucht, die Unterrichts- und Gebet-Stunden erlitten ansehnliche Verkürzungen, und Scherz und Lust zog da ein, wo sonst nur eine Verleumdung, eine üble Nachrede, die Mißgunst und Eifersucht die Gemüther und die Lungen in Bewegung setzte. Man rief sich Sänger von der Straße herauf, man bestellte sich Tänzerinnen, welche den Weibern vortanzten, da sie selbst durch ihre kleinen Füße daran verhindert wurden, und wenn sonst nur ein einziger Palankin dafür bestimmt war, die Frauen des Harems eine nach der andern abwechselnd spazieren zu tragen, so brachte man jetzt deren sechs und acht zusammen, und zog in Karawanen auf das Land, ohne sich dabei durch den Schleier viel verhindern zu lassen, zu sehen und gesehen zu werden. Der Garderobe-Aufseher mußte die Festtagskleider herausgeben, und als er sie zurückverlangte, wurde er von einem verabredeten Gelächter empfangen. Man hätte ihm die Augen ausgekratzt, wenn er die Zurückgabe ernstlich gewollt hätte. Er nahm aber ein Einsehen, und befolgte die Maxime der übrigen Inspectoren, welche sich alle dem weiblichen Despotismus unterwarfen, den Morgen um sieben Uhr, den Abend um acht anfangen, die schriftlichen Pensa sehr verkürzen, die Gedächtnißaufgaben gänzlich fallen ließen, und selbst für das Einschleichen männlicher Gesellschafter kein Auge gehabt hätten, wenn dieß anders auch vielleicht nicht geschehen ist.
Schü-King sympathisirte mit jeder Licenz, welche über gezogene Schranken und Befehle sprang. So lange sie in den Unordnungen des Harems nur das Lüften einer pressenden lästigen Kleidung sah, so lange in ihr die erste Gebieterin des weiblichen Lagers noch verehrt wurde, gab sie gern den Ausbrüchen der Ungebundenheit und Freiheit nach. Sie warf den Mantel ihrer Nachsicht um die Ausschweifungen des weiblichen Sansculottismus. Dieß that sie um so mehr, als sie eine Befriedigung ihrer Sinnlichkeit darin fand, an ihnen Theil zu nehmen. Zuweilen gab sie sich den äußersten Anregungen hin, die auf die Phantasie und die verstecktesten Gefühle nur wirken können.
Jetzt eilte sie über die mittlern Höfe, bis sie schon aus der Ferne das Geräusch vernahm, das aus den Räumen des Gesellschaftssaales schlug, und in den Höfen widerhallte. Man sang, man lachte, man klatschte in die Hände, in demselben Augenblick erhob eine Stimme ein Zetergeschrei, mehrere andre fielen ein, Parteien bildeten sich mit kreischenden Parolen; zu den Losungswörtern gesellten sich geschleuderte Nadelkissen, fliegende Fächer, zerschmetterte Stickrahmen, bis sich endlich die Aufseher dazwischen legen und vermitteln wollten. Dieß war aber nur das Signal, um Alle zu vereinigen. Die Parteien bildeten einen Phalanx, wenn es die Inspectorenkette zu durchbrechen galt. Diese wich, suchte den Rücken zu gewinnen, die Zöpfe in Sicherheit zu bringen, und Alles löste sich in ein schallendes Gelächter auf.
Schü-Kings Eintritt in den Saal gab diesen Scenen wieder eine neue Wendung. Alle Weiber drangen auf sie ein, und überhäuften sie mit Liebkosungen und den zärtlichsten Grüßen. Die ältern Damen empfingen sie wie eine langjährige Freundin, und die jüngern, frische, liebliche Kinder, die noch von der Sonne des vorigen Sommers die Wellen des gelben Flusses beschienen gesehen hatten, drängten sich mit zutraulicher Hingebung an sie, und küßten zärtlich die Säume ihrer weiten Seidenärmel. Jede wußte ihrer Gebieterin etwas zu erzählen, das sie ihrer Kenntniß für würdig hielt. Yeg-Jeg hatte zwei Stecknadeln gefunden und überströmte vor Freude; Hong-Niang schlug die Hände zusammen, weil auf ihrem Zimmer die Blume Lan eine Knospe getrieben; Lo-Liang weinte, weil sich ihr Schoß-Hündchen einen Splitter in den Fuß geritzt, und am Wundfieber kranke; Ye-King sagte mit schelmischen Augen, daß sie von einem Tempel der Pu-Kieu oder der allgemeinen Hülfe geträumt, daß sie der Himmels-Königin Weihrauch geopfert habe, und seit einigen Tagen eine merkliche Verengerung ihrer Unterröcke spüre.
So flossen unendliche Redeströme von mehr als dreimal fünf Lippen, und selbst der Schmerz wurde eine Seligkeit, seitdem er sich aussprechen ließ. Allmählich aber stockten die Zungen, man fing an, sich auf die Sprache der Augen zu beschränken, und betrachtete, in die verschiedensten Gruppen zertheilt, abwechselnd bald die Genossinnen, bald Schü-King, welche ihre stummen Blicke mit Schweigen erwiderte. Es schien, als würde allgemein etwas erwartet, das Eines gegen das Andere nicht auszusprechen wagte. Schü-King, weidete sich nicht an den bittenden, sehnsüchtigen Mienen ihrer Umgebung, sondern sie schien dieselben Wünsche zu theilen, vor ihrer Erfüllung aber wollüstig zu erschrecken. Diese Erfüllung lag jedoch in ihrer Hand. Ein Kahlkopf stand schon lange an der Pforte, wie auf dem Sprunge, um augenblicklich die Befehle seiner Gebieterin ins Werk zu setzen. Alles blickte, während Schü-King niedersah und den wogenden Busen hielt, auf den verschmitzten Eunuchen, der mit verfänglichen Gebärden die zitternden Winke erwiderte und nur auf Schü-King wies, als den Schlüssel eines Himmels voller Seligkeiten. Endlich hob diese ihr Haupt, sah nach der Thür, fixirte den lauschenden Diener, und warf ihm so verliebte, schmachtende Zeichen zu, daß er hinausflog, und die Weiber in banger, taumelnder Erwartung zurückließ.
Nach einigen Augenblicken kehrte der Eunuch mit einer großen hölzernen Rundplatte zurück, welche er auf den Händen trug. Es war ein Pfeifenbesteck, das in sechszehn rings herumlaufenden Löchern eben so viel Pfeifen von feinstem, chinesischem Porzellan und in der Mitte eine glühende Flamme enthielt, an welcher sich der Tabak anzünden ließ. Dieser Moment war der ersehnte, von Schü-King erflehte; ihm sollten noch größere Seligkeiten folgen. Die Weiber nahmen hastig von dem Brett eine Jede ihre Pfeife, sahen mit einem lüsternen Blick auf den gelben angefeuchteten Inhalt des Kopfes, griffen nach einem Hölzchen, und waren bald von balsamischen Rauchwolken umhüllt. Aber welche sonderbaren Stellungen nehmen unsre Freundinnen an! Sie haben Eine für die Andere das Auge und jede Rücksicht verloren. Hat man je in einer lang ausgestreckten Stellung Tabak geraucht? Diese Frauen verstehen das vielleicht nicht besser, oder sie haben eine andere Absicht, die wir nicht errathen können. Sie aber darum zu fragen, möchte schwerlich Erfolg haben; denn mit dem ersten Zuge aus der dampfenden Pfeife scheint bei Allen jede Theilnahme an der Außenwelt verschwunden. In dem duftenden Wolkennebel herrschte eine geheimnißvolle Stille. Alle Worte waren von der Zunge verbannt, und selbst wenn die Rauchende auf einen Augenblick die Pfeife vom Munde nahm, blieb sie lautlos und hatte für ihre Nachbarin weder eine Frage noch Antwort, wenn sie wäre verlangt worden. Doch bald zogen durch dieses Schweigen einzelne Laute, die von allen Stimmen nacheinander aufgefangen und wiedergegeben wurden. Es waren Seufzer der Erwartung, ein entzücktes Ach der Ueberraschung. Ein seliges, freies Athmen entrang sich der tiefsten Brust; dieser Hauch schien seine Arme auszubreiten, und die ganze Welt der Erinnerungen und Hoffnungen zu sich heranzuziehen. Es war, als stürbe dieser Athem an der Größe seiner Sehnsucht einen seligen Tod. Denn auf Augenblicke trat das Schweigen wieder ein, die Pfeifen dampften glühender, die Wolken stiegen undurchsichtiger.
Diese Abwechselung kehrte zu öftern Malen wieder; doch verkürzten sich die Intervalle zwischen den Pausen und der leisen, athmenden Musik dieser in Seligkeiten aufgelösten sechszehn Weiber. Die Entzückungen wurden anhaltender, die innere Wollust machte sich mit lauten Worten kund, der Tabak in den Pfeifen verglomm, die Chinesinnen lagen mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf ihren Polsterkissen. Die einzelnen Worte in dem Munde der Einzelnen gewinnen einen Zusammenhang; die tollsten Phantasien schwirren durch den Saal; Nord und Süd, Feuer und Wasser, Liebe und Entsagung verwirren sich in einander; es gibt keine Wünsche, keine Hoffnungen, keine Träume mehr; die Götter steigen von ihren Wohnungen herab, und öffnen alle Seligkeiten aller Himmel.
Yeg-Jeg, dieselbe welche vor einer halben Stund über zwei gefundene Stecknadeln sich die Hände vor Freude wund klatschte, war vielleicht die schönste unter den Weibern des Correspondenten; die jüngste war sie ohne allen Zweifel. Ihre Träume rannen zuerst zu einem vollständigen Sinne zusammen. Ein Gott sprach aus ihrem Innern, nur bediente er sich ihrer hellen, zarten, kindischen Stimme, so daß die ungeheure Gewalt der Empfindung und Vorstellung gegen den Ton, in den sie ausbrach, seltsam lächerlich abstach. »Ach, wie schnell,« rief sie, »tragen mich die Flügel durch die Tage und Nächte, welche ich brauchte, um in diese kalten Gegenden zu kommen! Ich fliege wie der Vogel Peng, welcher hunderttausend Li in einem Fluge macht. Ich sehe Wogen, weiß wie der Schnee, bis zum Himmel hinaufblitzen; die tausend Blumenbeete von Lo-Yang entfalten, von diesem Schnee benetzt, ihre Kelche. Ach, diese gelben Fluthen sind das Bett eines heimathlichen Hoangho. Ich sehe dich wieder, Tschang-Kong, die Leuchte meiner Seele! Ich zweifle nicht daran, daß du jetzt dein Examen bestanden und die Würde eines graduirten Doctors erlangt hast. Du warst in allen Königreichen, welche der nasse Gürtel desselben Flusses umgibt, der Fleißigste. Ja, mein Geliebter war so fleißig, daß er durch seinen Eifer ein eisernes Dintenfaß aufgerieben hätte. Er hat alle classischen Schriftsteller studirt! Er war wie der Wurm, der mitten in Büchern lebt, und es nie satt wird, sie zu verzehren. Auch die Nächte verwandte er auf seine Studien; wenn er kein Licht bezahlen konnte, so las er bei dem Dämmerscheine des Schnees, der durchs Fenster fiel, oder im Sommer bei dem funkelnden Lichte, welches der Glühkäfer um sich verbreitet. O wie selig bin ich, daß ich meinen treuen Freund, den Doctor, in meine Arme schließe!«
Die Worte, welche ihre Nachbarin aussprach, kamen etwa auf folgende Phantasie zurück: »Es müßte gar keinen neunten Himmel geben, wenn ich mich nicht jetzt in ihm befände. Das muß wahr seyn: mein Gemahl ist der schönste Mann in Peking, und da Peking die Blume aller Städte ist, so ist er auch der schönste in allen Königreichen, deren Namen herzuzählen ich jetzt gar keine Zeit habe. Er ist Vizepräsident am Ober-Ceremonien-Gerichtshofe, und hat ein System der feinen Lebensart herausgegeben, nach welchem ich mich hauptsächlich gebildet habe. Ach, dieser Mann lebte nur in Complimenten; selbst wenn er des Abends in meine Kammer trat, so löste er niemals meinen Gürtel, ohne mir etwas Schmeichelhaftes zu sagen. Muß ich mich aber nicht überaus glücklich schätzen, daß der Vicepräsident jetzt hinter mir steht, und die modische Art, meinen Zopf aufzustecken, mit dem Beifall eines Kenners beehrt! O, mein Tsoui, wie freue ich mich, daß ich deinen Tod ohne alle Ursache beklagt habe! Wie konnt' ich auch glauben, daß du an einer Leberverhärtung gestorben bist! Ich hielt mich eine Zeit lang für sehr verlassen, und sang täglich nach der Arie des Chang-Hoa-Chi: mein Gemahl ist gestorben, und seine ansehnliche Pension als Vicepräsident ist ihm nachgefolgt! Ich sehe aber, daß dieß ohne allen Grund war, denn sonst würdest du mich nicht mit deinen Küssen bedecken!«
Eine Dritte erging sich ungefähr in diese Träume: »Gestern waren meine Thränen noch geröthet, wie die des Vogels Tu-Kiuen, und wenn der Nord-Ostwind in meinen Ohren sauste, so verwünschte ich ihn. Ich war einst keine gewöhnliche Schauspielerin, wenn anders eine Anerkennung darin liegt, daß das Publicum sich nach der Vorstellung um meinen Palankin drängte, um mich in mein Quartier zu tragen. Die Schauspiel-Directoren hatten mich lieber als andere Liebhaberinnen, weil ich das Chinesische der Mandarinen vortrefflich sprach, und nichts in meiner Stimme an den Dialekt von Fokien erinnerte. Aber mein Glück ruinirte mich. Ein Obertribunals-Rath hatte sich für meinen Anbeter erklärt, und überhäufte mich mit Zärtlichkeiten, die ich nicht zurückweisen konnte. Ich liebte ihn auch mehr als meine Seele; denn ich schenkte ihm meine Seele. Dieser Freudenkelch wurde bald vom Schicksal vergiftet. An einem schönen Frühlingstage besuchte mich die Gemahlin des Obertribunals-Rathes, schlug mich mit einem Bambusstocke so jämmerlich, daß ich auf dem Rücken noch blaue Flecken davon trage, und machte ihrem Manne den Proceß. Ich mußte fliehen und habe meinen Liebhaber seit Jahren heute zum ersten Male wiedergesehen. Wie ich ihn anbete! Ich singe nach der Arie Ki-Sing-Tsao die Stelle, welche mir aus dem westlichen Pavillon noch einfällt: das harmonische Geräusch der kostbaren Steine, welche an seinem Gürtel hangen, nähert sich immer mehr. Jetzt verbirgt das perlengeschmückte Gitterfenster die Pfirsichblüthe seines Antlitzes; jetzt läßt es mich ihn wiederschauen, den Helden aus dem Paradiese des Wou-Ling. Man könnte sagen: dieß ist der Obertribunals-Rath aus Peking, dessen Frau mich geschlagen hat; ich aber sage: nein, es ist die Sonne, die im östlichen Meere glänzt; es ist ein edles Roß, unter dessen Sattel ich mich sehnsüchtig schmiegen möchte. Ach! Kiun-Chui, ich bin die glücklichste Schauspielerin, die jemals einen Mann gefunden hat, der ihre Reize zu würdigen versteht!«
Diese Exaltationen wurden durch Opium hervorgerufen, mit welchem der verrauchte Tabak angefeuchtet war. Die Betäubten brachen alle in die wahnwitzigsten Träume aus, in denen das Kühnste in Erfüllung und das Entfernteste in die Nähe trat. Es gab in ihren Phantasien nichts mehr, dessen Besitz über ihren Wünschen hinausgelegen hätte; alle Scheidewände waren aufgehoben, und die Seligkeit des Himmels war das Bett, auf welchem sie schwelgten. Eine völlige Abspannung folgte endlich diesen Ausschweifungen. Es währte nicht lange, so lag der ganze Harem in den tiefsten Schlaf versunken.