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Ki-Dsii-Dsching sagte: Es ist genug, daß der Weise Reinheit des Herzens besitze; was sollen die Complimente? Dsii-King antwortete: Wie beklag' ich deine Aeußerung! Vier Pferde könnten sie nicht von meiner Zunge bringen. Entblöße das Fell eines Tigers oder Pardels von seinen Haaren, und es hat nicht mehr Werth, als das eines Hundes oder Schafes! Nein! ohne Complimente keine Reinheit des Herzens.
Unsichtbar treffen der Leser und der Autor wieder zusammen in einer Halle, deren Anlage und Ausschmückung so bezeichnend für den Charakter ihrer Bewohner ist, daß wir uns einer genaueren Beschreibung derselben nicht überheben dürfen.
Dieser Raum ist weit, aber nicht zu hoch. Den Fußboden bedecken kunstvoll gewirkte blumenreiche Teppiche, deren Muster sich an den Tapeten, welche die Wände bekleiden, wiederfinden. Wunderliche Arabesken bilden die Zeichnung derselben Drachen von großen, riesenhaften Blumen umschlungen. Kleine, niedliche Federzeichnungen, die der Akademie von Peking Ehre machten, hingen in reicher Anzahl an den Tapeten. In der Mitte des Zimmers erhebt sich zwei Stufen hoch eine Estrade, die von vier, einen Thronhimmel tragenden Säulen begränzt wird. Die Vorhänge, welche die vergoldeten Pfeiler verbinden, sind aus Seidenstoffen und mit reichen schweren Franzen besetzt. Die Estrade selbst bildete ein Sopha, auf dem sich nach orientalischer Weise bequem zwei Personen mit untergeschlagenen Beinen niedersetzen konnten. Vor diesem Gefäß standen auf kleinen Erhöhungen kupferne Rauchpfannen, die einen wohlgefälligen Geruch im Zimmer verbreiteten. Endlich hingen rings an der Decke eine bei uns nicht unbekannte Art von Laternen, ovalrunde Behälter aus Seidenstoffen, die die Flamme umschlossen halten, und durch die gefärbte Gaze ein sanftes Licht fallen lassen. Es war heller Tag, und dennoch brannten im bunten Farbenspiel diese Leuchter, die zwar bei der sonderbaren Gattung von Fenstern, welche wir, aus dünnen, durchsichtigen Muscheln bestehend, hier antreffen, nicht ohne allen Grund sind, aber den Europäer immer an Diogenes erinnern werden, welcher am lichten Tage mit der Laterne auf den Markt ging.
Diener sind beschäftigt, dieß Zimmer aufzuräumen, die Kohlen unter den Rauchbecken anzuschüren, den Staub von den Gemälden zu wischen und kleine runde Tische aufzustellen, welche in einem Gesellschaftssaale nicht fehlen dürfen. Es ist noch früher Morgen, die Diener räuspern und recken sich, und wie zänkisch sie sich auch untereinander begegnen, so unterließen sie doch nicht, bei der ersten Begegnung sich zu fragen: »Hast du schon Reiß genossen?« und darauf zu antworten: »Ja, mein Bruder, und er hat mir wohl geschmeckt.« In Hinterasien diese spaßhafte Begrüßungsformel zu vergessen, würde bäurische Sitte verrathen und dieselben Vorwürfe zuziehen, als wenn wir unsern guten Morgen und guten Abend nicht über die Zähne bringen könnten.
Ein Oberhofmeister brachte in alle diese Beschäftigungen eine gewisse Ordnung. Die Erwartungen von hohen Besuchen trafen auch bald ein. Ein Tatar im kriegerischen Aufzuge überbrachte ein demüthiges Compliment und den Namen seines Herrn in einem Billet von rothem, in Form eines Schirmes gefaltetem Papier, wo auf dem letzten Blatte ein kleines dreieckiges Stück Goldpapier befestigt war. Der Oberhofmeister verbeugte sich mit Anstand, nahm das Billet und eilte damit in ein neben anstoßendes Zimmer, um es von dem Herrn des Hauses öffnen zu lassen. Er kehrte bald wieder zurück, verbeugte sich tief und sagte: »Mein Herr entbietet dem deinen seinen Gruß! Die Schwelle unsres Hauses wird frohlocken, wenn sie von den Zehen am Fuße deines Herrn nur die leiseste Berührung empfängt.« Der Tatar verneigte sich mit Anstand und eilte, seinem Herrn die Annahme des gemeldeten Besuchs zu hinterbringen.
Da gab es keine Zeit mehr zu verlieren. Der Besuch war unmittelbar vor seinem Eintreffen angekündigt, und konnte in seinem Palankin jeden Augenblick vor der Thür eintreffen. Der Herr des Hauses folgte sogleich seinem Oberhofmeister, dem er sein Bewillkommnungsamt abnahm; denn die kleinste Verletzung des höflichen, für vornehme Leute passenden Ceremoniells, würde ihm eine schlaflose Nacht gebracht haben. Dieser Mann trug eine kleine Calotte von gesticktem, seidenem Zeuge, die vorne mit einer weißen Perle verziert war, und ein kahles, mit einem mühsam gesammelten Zöpfchen versehenes Haupt bedeckte. Zwischen dieser Mütze und dem langen violetten Kleide, das aus schwerem Seidenstoffe zur Erde rauschte, saß ein Antlitz so beherrscht und abgeschliffen von der Welt, ihren Pflichten und ihren lebensklugen Lehren, daß sich hinter dieser todten Maske eben so gut die größte Weisheit wie die verschlagenste Ränkesucht hätte verbergen können. Auf dem Rücken des großblumigen Atlasgewandes war ein Quadrat eingestickt, in dessen Felde sich das sonderbare Symbol eines Storches befand. Kenner der chinesischen Kleiderordnung werden daran sogleich bemerken, daß wir die Ehre haben, mit einem Mandarinen der sechsten Classe Bekanntschaft zu machen. Dieselben Kenner werden dann auch bezeugen, daß dieser angesehene Mann einen Gürtel trug, den vier runde Schildkrötenplatten zusammensetzten, und vorn ein silberner Knopf zierte. Es folgte nicht nothwendig aus seinem Stand, daß schwarzseidene Stiefel seine Füße bekleideten, aber bezeichnend war es, daß er in ihnen (denn sie waren weit genug dazu) eine Anzahl Acten und ein vollständiges Schreibzeug versteckt hatte.
Schon seit einigen Minuten harrt in diesem Galla-Aufzuge der Herr des Hauses vor dem zweiten Portale seiner Wohnung, um abzuwarten, daß der angemeldete Gast endlich vor dem dritten erscheine. Da ist er. Unser Mandarin sechster Classe stürzt hinzu, hilft ihm aus seinem Palankin, ergreift seine linke Hand mit der Linken, und schüttelt sie mit einer Grazie, die man gesehen haben muß, um sie beschreiben zu können. Aber was ist diese erste Begrüßung gegen die Artigkeiten, mit denen sich jetzt die beiden Leute überschütten! – Jedes Zimmer hat drei Eingänge, wer soll die Ehre, durch den mittleren zu gehen, erhalten? Unstreitig der Gast; aber dieser ist viel zu höflich und bescheiden, eine solche Auszeichnung anzunehmen, er sucht vielmehr seinen Wirth hindurchzuschieben, und die Gelegenheit zu benutzen, durch eine der beiden Seitenthüren den Eingang zu gewinnen. Das wollte der Wirth zulassen? – Unmöglich, dieß wäre eine Verletzung der Etiquette, die seiner Natur ganz zuwider ist. Im Gegentheil bedarf es nur einer geschickten Seitenwendung, um durch eine Seitenthüre zu schlüpfen, und in demselben Augenblick schon die Hand des Gastes zu fassen, um ihn durch die mittlere Thür hineinzuführen, eine Ehre, die nun der Besucher unter unaufhörlichen Verbeugungen und einer gewissen gemachten Scham annimmt.
Diese Scene wiederholt sich mit immer erneutem Wetteifer zu drei Malen, bis sich die Herren endlich in das Besuchszimmer hineinbekomplimentirt haben. Die Bedienten springen jetzt hinzu, um nichts zu thun, als einen einzigen Stuhl zu holen. Es ist chinesischer Ton, daß der Wirth diesen saubern, lakirten Sitz, auf dem die Sorgfalt des Oberhofmeisters auch wohl kein Sonnenstäubchen geduldet hätte, erst mit einem Tuche leicht abwischt. Jetzt eilt auch er zu einem Sessel, aber wer wird sich auf den seinigen zuerst niedergelassen haben? Um hier das Richtige und die feine Sitte zu treffen, bedarf es eines jahrelangen Studiums des sich Niederlassens; man mußte so alt seyn, als die beiden hier zusammentreffenden Herren, um dieses Compliment in seiner gehörigen Präcision auszuführen. Das Ganze kömmt dabei darauf hinaus, daß der Eine die Kunst versteht, den Andern zu täuschen, und dabei doch den Schein anzunehmen, überlistet zu seyn. Die wechselseitigen Bewegungen werden mit Geyeraugen belauscht, die Entfernungen des sich setzenden Körpers von dem Stuhle gemessen, die Faltungen des Atlaskleides berechnet; der Eine gibt sich den Schein schon zu sitzen und steht doch noch, und der Andere, wenn er der Hauswirth ist, würde gegen allen feinen Anstand verstoßen, wenn er sich durch diesen Schein in der That überlisten ließe, und früher den Sessel erreichte, als der Besucher. In unserm Falle ist dieß Versehen durchaus nicht zu befürchten; denn hier stehen sich alte, im Ceremoniell unverwundbare Personen gegenüber, denen auch dieß schwierige Manöuvre, dieser glänzende Ausdruck gegenseitiger Hochachtung nur gelingen konnte. Jetzt sitzen sie, sie halten sich gerade, die Hände nicht herumwerfend, nicht damit an den Kleidern ordnend, nicht die Mütze rückend, sondern fest und unbeweglich auf den Knieen liegend, und die Füße nicht übereinander geschlagen, nicht auf dem Boden scharrend, nicht den einen hinter, den andern vor den Stuhl gestreckt, sondern beide in gleicher, abgemessener, unbeweglicher Entfernung vom Körper, die Mienen ruhig, ernst, pagodenartig.
Das erste Wort gebührte dem Wirth, denn an ihm war es, sich über die Ehre dieses Besuches glücklich zu preisen. »In der Stunde der Mitternacht,« sagte er, »stieg der große Gott San-Pao-Fo hernieder, und raunte mir in das entzückte Ohr: »Siehe, dir wird am heutigen Tage eine unermeßliche Freude widerfahren!« Und als ich Ihren Brief, der mit akademischer Zierlichkeit zusammengelegt war, empfing, da schlug mir das Herz vor Freude, denn die Weissagung des Traumes war in Erfüllung gegangen.«
Das war eine Lüge; aber die Etiquette verlangte, daß der Besucher sie durch eine ähnliche erwiderte. Es war ein Mandarin der fünften Classe mit einem dunkelblauen Stern an der Mütze. Aus dem Schilde, das er auf dem Rücken trug, sah man, daß er eine Militärperson vorstellte; denn diese Decoration war bei ihm in Gestalt eines Tigers. »Sie erzählen nur die Hälfte des Wunders,« antwortete er; »San-Pao-Fo ist auch mir im Traume erschienen, und rief mir zu: Reinige die Canäle deines Ohres, und stelle die Jonke deines Fassungsvermögens in Bereitschaft, denn du wirst sie mit den reichsten Ballen der Lebensphilosophie in dem durchbrochenen Korbgeflechte kunstvoller, sententiöser Rede anfüllen können, weil du die Schwelle meines Lieblings durch deinen Fuß entheiligen willst! Und siehe da, ich sitze auf dem Rohrstuhle der Erwartung.«
Dem Wirth stand es frei, diese Aeußerung für ein Compliment, oder für mehr als dieß zu halten. Wir müssen gestehen, daß ihn zuweilen die Eitelkeit anflog, und er den Civilmandarinen der sechsten Classe doch immer noch höher stellte, als den Militärmandarinen der fünften, der einen Knopf von Bergkrystall tragen durfte. Aber er war zu vorsichtig, solche Ansichten auszusprechen. Er sagte also: »Khung-Ju-Dsii, unser großer Meister lehrte: Halte nichts auf deine Weisheit, denn sie ist oft nur der Widerschein deiner Umgebungen! Und wer sind Sie, mein Freund? Ein Stern am himmlischen Reiche, dessen Glanz meine Finsterniß erleuchtet. Die Nachricht, welche der gestrige Abend in mein Haus brachte, verlangt vor Allem, daß ich von Ihnen über mein künftiges Betragen belehrt werde.«
»Mit nichten, mein Freund,« antwortete der Gast; »zwei Pfeile treffen sichrer, zwei Augen sehen weiter, und auf zwanzig Zehen steht man fester. Der Tod des Regenten gibt mir Gelegenheit, die Rathschläge Ihrer Weisheit zu hören; daß ich sie befolge, verlangt meine Freundschaft und mein geringes Maß von Klugheit, wenn ich anders auf meinen Wegen nicht straucheln will.«
»China ist die Blume des Weltalls,« sagte der Wirth mit demüthigen Blicken; »von ihrem Dufte erfrischen sich die Königreiche der Erde, sie erquickt sie alle, und auch diesem Reiche, das heut seinen neuen Beherrscher empfangen wird, fließt ihr Wohlgeruch zu.«
»Ich fühle in meiner Hand nicht die Kraft,« entgegnete der Gast, »Tibet unsern Schutz zu entziehen. Ich handle nur im Auftrage dessen, den uns der Himmel sandte, und habe schon einen Courier nach Peking beordert, um für diesen neuen Fall meine Instructionen zu holen.«
Der Civilmandarin hatte längst dasselbe gethan, er bemerkte, daß der Gast damit sagen wollte, wie es keinem von beiden zukäme, eigenmächtig zu verfahren, und fuhr fort: »Aber wir können nicht warten, bis uns die Depeschen und die Hofzeitung zukommen; heut ist der Regierungsantritt des neuen Lama, und wir müssen Sorge tragen, bei den Feierlichkeiten in allem Glanz unserer Macht zu erscheinen.«
Das waren nun die großen Rathschläge, die der Besucher von dem Wirth verlangt hatte, Dinge, die sich von selbst verstanden, und über welche sie beide nur der Formalität wegen zu conferiren schienen.
Es trat eine Pause ein, in welcher Thee servirt wurde. Jedem der Herren stellten die Bedienten einen lakirten Teller mit kleinen Biscuits vor. Der Besuchende warf die Frage hin: »Wer ist der neue Lama: wie ist er?«
Der Civilmandarin zuckte die Achseln, er wollte nichts von ihm wissen: »Ich kenne ihn nicht,« sagte er ausweichend; »auch unser Kaiser ehrt die Gottheit in ihm, und wir müssen uns freuen, daß das geistliche Regiment endlich wieder an die Stelle des weltlichen tritt.«
Der Militärmandarin sagte: »Ohne Zweifel!« fing aber doch wieder von der Herkunft, der Erziehung, dem Charakter des neuen Herrschers zu fragen an, worüber sich der Wirth so unwissend stellte, als der Andere überzeugt schien, daß er unterrichtet war. Als jedoch der Gefragte eine lange Tirade über die Unerforschlichkeit der Götter, über die Dunkelheit ihrer Wege begann, und sie endlich mit dem Ausrufe schloß: »Kann eines Sterblichen Auge in die geheime Werkstatt der Götterzeugung schauen! Wird es nicht erblinden an den Strahlen, die ihm entgegen leuchten!« Da verzweifelte der Gast, aus dem verschlossenen Manne etwas herauszubringen, schlürfte seine Tasse leer, steckte nach ächt chinesischer Sitte den nicht verzehrten Rest der Biscuite in sein Kleid und erhob sich von seinem Sessel. Unter Wiederholung des langwierigen Ceremoniells, begleitete der Wirth seinen Freund wieder zurück in seinen harrenden Palankin.
Wer waren diese Menschen? Wir werden ihnen noch oft begegnen, und müssen sie also kennen lernen.
Tibet liegt in der Mitte zwischen Indien und China, zwei Ländern, die auf es in religiöser und politischer Hinsicht mannichfache Einflüsse ausüben. Während in den südlichen Theilen des Landes die Religion den Annäherungen und Vermischungen mit hindostanischem Cultus ausgesetzt ist, steht der Norden in einer lästigen Botmäßigkeit, welche sich die Chinesen im Laufe der Zeiten über ihn angeeignet haben. Die Chinesen besitzen die schlaue Politik, welche wir nur im Alterthum, in den Eroberungen der Römer wieder finden, die religiösen Heiligthümer eines unterworfenen Landes unangetastet zu lassen, wodurch sie ihre Absicht, alle Fäden der bürgerlichen Einrichtungen in ihren leitenden Händen zu haben, um desto vollkommener erreichten. Der Dalai Lama, zu dessen Verehrern sich nicht selten die chinesischen Kaiser zählen, muß an seinem Hof chinesische Gesandte aufnehmen, die nicht die auswärtige Macht ihres Herrn repräsentiren, sondern befugt sind, sich in Tibets innere Verwaltung zu mischen. Es gibt in einer solchen Abhängigkeit keine Gränzen. Das erste Zugeständniß bahnt allen übrigen den Weg, und tausend scheinbare Gefälligkeiten können dazu dienen, einen lästigen Zwang, dessen man sich nicht erwehren kann, vorzubereiten. Die chinesischen Abgeordneten dürfen in einem fremden Lande nicht ohne Schutz gelassen werden, und es leuchtet ein, daß die Grundsätze des asiatischen Völkerrechts nicht hinreichen, um ihnen denselben zu gewähren. Welches ist die Folge dieser Nothwendigkeit? Eine fremde Kriegsmacht auf dem einheimischen Boden. Neben dem tibetanischen Militär ist fortwährend in Lassa ein chinesisches Armeecorps stationirt. Unter den Gründen, die für eine solche Erscheinung angeführt werden konnten, war der einfachste, aber nicht der wahrscheinlichste der Schutz, welcher dem chinesischen Gesandten von Hause aus mitgegeben werden mußte.
Die zwei wichtigsten Personnagen der Gesandtschaft haben wir bereits die Ehre gehabt kennen zu lernen. Es war der General der chinesischen, in Lassa stehenden Truppen, Ming-Ta-Lao, Mandarin der fünften Classe, welcher bei dem chinesischen Correspondenten Leang-Kao-Tsu, der zufällig in seinem Mandarinenrange eine Stufe tiefer stand, aber als Civilbeamter und chinesischer Gesandter von dem General keine Befehle anzunehmen hatte, jenen nutzlosen, ceremoniellen Besuch abstattete. In jeder Stellung, wo sich Gleichberechtigte in demselben Geschäftsgange begegnen, werden Eifersucht und Verstecktheit die nächste Folge, zuweilen unvermeidlicher Reibungen seyn; aber bis zu dem äußersten Grade dieser Leidenschaft, die um so heftiger wird, je mehr sie sich unter der Maske der Höflichkeit und des Anstandes verbirgt, kann es nur ein chinesisches Gemüth bringen. Argwohn, Ehrgeiz und Betrug ist die unheilige Dreizahl der chinesischen Untugenden, und von dem Kaufmann an, der seine Waaren anfeuchtet, um sie schwerer zu machen, bis zu den Anfeindungen und Intriguen der Beamten wird die Mehrzahl dieses Volkes von ihnen beherrscht. Was konnte also natürlicher seyn, als daß aus dem Bestreben, sich gegenseitig den Rang abzulaufen, die beiden Repräsentanten des chinesischen Reiches am Hofe von Lassa in den treulosesten Verhältnissen standen? Der General hatte von seinem Stande einige Sitten angenommen, die die schlechte Richtung seines Charakters bei weitem milderten. Obschon er unter der Maske der Freundschaft seinem Collegen alle erdenklichen Nachtheile anwünschte, so war er doch wenigstens zu träge, sie ihm selbst zuzufügen. Er beschränkte sich darauf, über die mißrathenen Plane des Correspondenten zu lachen, und würde sich kein Gewissen daraus gemacht haben, ihm, wenn er an einem unvermeidlichen Abhange der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre jeden Augenblick zu stürzen, ohne weiteres den letzten dazu nöthigen Stoß zu geben. Der Civilcorrespondent andrerseits war nicht in der Lage, daß die Umstände seine Tugenden hätten begünstigen können. Ihm fehlte der Anhang einer Umgebung, die, Abwechselung gewährend, auch der Sucht zu herrschen eine unschädliche Richtung gab, und welche der General immer in seinen Truppen fand. Dem Correspondenten blieb nichts übrig, als sich an dem tibetanischen Hofe eine imposante Stellung zu sichern, und sich mit dem Hofe von Peking in lebhafter Verbindung zu erhalten. Da es in seinem Amte lag, über den Zustand, die Ereignisse, die Menschen von Tibet fortwährend an den Sohn des Himmels zu berichten, so konnte es ihm auch nicht schwer fallen, zuweilen seiner Eifersucht ein Opfer zu bringen, und über die in Lassa stationirten Truppen Bemerkungen anzufügen, die ein Unbefangener mit einfachem Namen Verleumdungen genannt hätte. Der General sagte aber, er fürchte sie nicht, an ihm ließe sich nie der Orden der Pfauenfeder verdienen, und die beiden Collegen waren die besten Freunde; sie hielten zusammen ein Exemplar der Pekinger Hofzeitung, schickten sich Thee- und Reißproben, und gaben Visiten und Gegenvisiten.
Wir haben Leang-Kao-Tsu, kaiserlich-chinesischen Correspondenten am Hofe von Lassa, nur von einer Seite seiner Häuslichkeit kennen gelernt, ja, ihn selbst schildern, heißt, ihn nur halb schildern. Seine Seele glich der Frucht, deren Schale zwei Kerne verschlossen hält. Das zweite Moment seines Lebens war Niemand, als Schü-King, seine geistreiche, schöne, leidenschaftliche Schwester.
Soll ich Schü-Kings Reize schildern, wenn ich sie an der Toilette beobachte? Oder soll ich sie dir vorführen in jener behaglichen Stellung, wenn sie auf einem Sopha sitzend nach ächt chinesischer Sitte die Tabakspfeife zuweilen in den Mund führt, die weißgeschminkten Backen mit Rauch anfüllt, und ihn dann in bläulichen Wolken aus dem Munde herausziehen läßt? Oder endlich wenn sie geheimen Rath mit ihrem Bruder pflegt, und ihm mit Planen, Intriguen und krummen Wegen an die Hand geht?
Schü-King war stolz auf ihren schlanken, mittlern Wuchs, auf ihre kleinen, länglichen und gekrümmten Augen, auf ihren frischen glänzenden Teint, auf alle diese für eine Chinesin so wesentlichen Schönheiten. Aber was waren diese natürlichen Reize gegen die Kunst, mit der sie diese zu beherrschen wußte? Mit fertiger Hand zog sie die schwarzen Tusche in zierlichen Bogenstreifen über ihre Augenbrauen. Welches dämmernde Incarnat legte sie auf ihre Wangen, welche Purpurröthe auf ihre Lippen, auf denen sich nichts schöner ausnehmen konnte, als der blutrothe Farbenpunkt, der die Mitte der untern zierte? Den Kopfputz erwähne ich nur; denn die chinesische Haartour, die in einer Art von Chignon aufgekämmter und mit goldenen Haarnadeln befestigter Locken, die geschmackvollen Verzierungen durch künstliche Blumen, haben längst vor dem Richterstuhle der Mode in Paris eine glänzende Rechtfertigung erlebt, haben den Lauf um die Welt gemacht, und tausend europäischen Engelköpfen vollendete Triumphe verschafft. Aberdieß sind nur Plagiate, ängstliche Copien, die weit hinter ihren Originalen zurückbleiben. Die Schönheit ist erst dann vollkommen, wenn sie von der Harmonie des Ensemble unterstützt wird. Schü-King war eine Chinesin, und sie besaß Alles, was sie hiezu stempelte. Sie lehnte sich nicht gegen die Sitte ihres Landes auf, sondern kokettirte selbst mit den Reizen, die wir abscheulich finden. Man erräth, daß ich von ihren unbedeutenden, unansehnlichen Füßen, von diesen sonderbarsten aller verjüngten Maßstäbe, sprechen will. Ihre Füße waren so klein, daß ihre Hände dagegen noch riesenhaft erschienen. Man rathe, wie lang und breit ihre Schuhe waren. Ich habe ihr nie dazu Maß genommen; aber eine Länge von einem Zoll und eine Breite von anderthalb ist schon das Aeußerste, was sich vermuthen läßt. Und dennoch fehlt allen diesen Vollkommenheiten ein Schmuck, den der Chinese mit Bedauern an Schü-King vermissen wird. Wir würden sogleich bereit seyn, diese Zierde eine garstige Unart zu nennen, aber das sind die Verschiedenheiten des Geschmacks. Wer so glücklich in China ist, den Nagel am kleinen Finger der linken Hand zu der Länge von 4 bis 5 Zoll zu hegen und zu pflegen, kann auf eine tief gefühlte Huldigung, die man seiner Schönheit darbringt, rechnen. Wer diesen Nagel gar zu einer Länge von 6, 8, 10 Zoll zu bringen im Stande ist, der ist auf dem Wege, unter die Götter versetzt zu werden; der Geruch der Heiligkeit ist ihm schon hienieden gewiß. Schü-King besaß diesen Schmuck nicht, und sie beklagte oft einen Verlust, der in ihren Augen nicht gering war. Sie bereitete sich selbst dieses Leid; denn ihr Charakter, ihre Leidenschaftlichkeit, das Feuer in ihren Bewegungen, waren für jene Nagelverlängerung, was die Raupe für ein junges Blatt. Wie konnte sie, die nicht gewohnt war, verschleiert im Hinterhause zu sitzen, und sich von Verschnittenen und alten Weibern Mährchen erzählen zu lassen, fortwährend mit einem Bambusfutteral am linken Finger versehen seyn, die Gesticulationen ihrer Hand ängstlich betrachten, und ihre Seele an diesen Nagel hängen? Wenn sie ihn auch einmal zwei Monate lang gepflegt und aufgefüttert hatte, so geschah es bei einer etwas lebhaften Demonstration, die sie ihrem Bruder machte, daß er in eine falsche Lage kam, und im Nu abknickte; dann weinte sie mit ihrem Bruder, aber der Nagel war verloren. Ach! sie war so schön, so reizend; mußte ihr ein tückisches Schicksal nur diese Zierde mißgönnen?
Schü-King trat so eben aus einem Säulengange in das Gesellschaftszimmer, als ihr Bruder von dem Geleit, das er dem General gegeben, zurückkehrte. Welche zärtliche Bewillkommnung unter den Geschwistern! Wie süßlich Leang-Kao-Tsu, der Correspondent, die Fingerspitzen küßte, um die Freude an seiner Schwester zu erkennen zu geben! Sie erkundigte sich nach King-Ta-Lao's Besuch und sagte, ihre böswilligen Absichten schlecht verbergend: »Mein Bruder, du hättest deine Brille statt am Ohr zu tragen, auf die Nase setzen sollen. Wie war er gekleidet? Trug er die gesetzmäßigen Farben? Hat er dich durch eine falsche Façonnirung, durch einen losen Knopf in deiner Eigenschaft und Würde nicht geringschätzig behandelt?«
»Sey versichert, meine Turteltaube,« antwortete der zärtliche Bruder, »daß ich auch nicht eine Nath aus dem Auge verloren habe. Er ist schlau dieser Fuchs, und trägt seinen Schwanz, wie er nach der großen Kleiderordnung von Tschin-Song, aus der Dynastie Song, nur zugestutzt seyn kann.«
»Auch nichts von gelber Farbe, lieber Bruder, nur einen Faden gelber Seide auf seinem Körper, und wir haben Genugthuung.«
»Auf diese Hoffnungen wollen wir nicht bauen,« entgegnete der Correspondent; »der kluge Mann befolgt drei Regeln, sagt ein weiser Lehrer. Er läßt keine Eisenstäbe vor sein Fenster bauen: denn sie locken den Dieb. Er verschmäht die Süßigkeit des Weines: denn den Wein haben die Advocaten erfunden, um die Processe zu vermehren. Er hütet sich vor der gelben Farbe: denn sie ist die Farbe des Kaisers, und in die Vorrechte des Himmels eingreifen heißt: seinen Körper um einen Kopf bringen. Der General versteht zwar nichts von diesen Lehren, aber der Instinct leitet ihn, ihren Inhalt zu befolgen.«
»Was denkt er über den neuen Lama? Kennt er ihn? Ich fürchte Bruder, du lässest dir eine Falle legen.«
»Du nennst mich deinen Bruder, Schü-King?« antwortete der Correspondent mit lächelnder Miene, sich seinen kleinen Stutzbart streichelnd. »Was er denkt? Die Klötze denken nicht. Eine Falle? Die Füchse besitzen nur ihre Schlauheit bis zu dem Grade, daß sie die Fallen vermeiden. Nein, meine Schwester, in der Nacht ist kein Schlaf über meine Augen gekommen. Diese Veränderung der Regierung bietet meinen Planen die Hand. Ich umstricke sie alle, und werde mir ohne Mühe meine Auszeichnungen verdienen. Kannst du zweifeln, daß ich in einem Monate die Pfauenfeder, in zwei den Rubinknopf an der Mütze, und die Agatsteine am Gürtel, und im dritten den goldenen Pelikan auf dem Rücken habe?«
»Deine Aussichten auf die Zukunft solltest du,« sagte die vorsichtige Schü-King, »eher noch weiter hinausschieben, als daß du den nächsten Augenblick unbeachtet lässest.«
»Was will deine Seele damit sagen?«
Schü-King trat auf den Bruder zu und erklärte sich: »Lassa ist in Bewegung, um sich zu dem Schauspiele vorzubereiten, das am heutigen Tage noch aufgeführt werden soll. In dem großen Pompzuge, der zu Ehren des neuen Lama gehalten wird, darf allerdings dem Abgeordneten des himmlischen Reiches nächst dem Heiligsten nur der ehrenvollste Platz angewiesen werden; aber wie wirst du mit dem General rangiren? Mein Bruder, bedenke, wenn dein Palankin nur einen Zoll hinter seinem Pferde zu stehen käme?«
Nur auf einen Augenblick überflog den stolzen Correspondenten das Schreckliche, was für ihn in dieser Möglichkeit liegen würde, dann sann er darüber nach, ob eine Zurücksetzung seinem Ansehen und noch mehr seinen Planen schaden könnte; endlich aber ergriff er Schü-Kings Hand, lachte und sagte, das Mädchen am Ohrzipfel und an der Nasenspitze küssend: »Trag' um die Ehre deines Bruders keine Sorge! Ich muß der heiligen Person am nächsten stehen, um ihre Bewegungen zu beobachten. Das verlangt meine Instruction, das verlangt die Hofzeitung, für die ich meine tibetanischen Zustände schreibe.«
Schü-King gab sich zufrieden, und bat den Bruder, ihr die Schminke nicht von der Nase zu wischen.
Auf die uns schon bekannte Art wurde jetzt ein neuer Besuch angekündigt, angenommen und bewillkommnet. Der Oberst Tschu-Kiang konnte für Schü-Kings Verlobten gelten, obschon es Augenblicke gab, da ihn die spröde, eigensinnige Schwester des Correspondenten nur auf sehr ungewisse Hoffnungen verwies. Er war nur noch Mandarin der neunten Classe, und trotz seiner schönen, einschmeichelnden Gestalt sagte sie doch zuweilen, daß er deßhalb ihrer unwürdig sey, und es blieb ihm dann nichts übrig, als den Moment abzuwarten, wo sie, erbittert und entmuthigt durch irgend einen fehlgeschlagenen Plan, wieder eines Gegenstandes bedurfte, der sie zerstreute, und den sie quälen konnte. Tschu-Kiangs Zärtlichkeit ging noch weit über seine Eitelkeit. Es beglückte ihn, Schü-Kings Kleidessaum zu küssen, oder aus ihrem kleinen Schuhe lauwarmes Wasser zur Erquickung zu trinken. Diese Hingebung contrastirte seltsam zu dem Werthe, den der Oberst auf sich selbst legte. Wenn man ihn sah, wie er sein kleines Bärtchen an der Oberlippe schwärzte, die Enden sauber beschnitt, und die Entfernungen auf beiden Seiten nach der Linie abmaß; wie er die, auf dem Gesichte zuweilen wuchernden Härchen mit Seidenfäden umwickelte, um sie mit Stumpf und Stiel auszureißen; wie er seinen Zopf des Abends aus zwanzig Strähnen flechten ließ, und ihn in ein Futteral steckte, um ihm über Nacht seine Condensität nicht zu rauben: so schien es auffallend, wie ein Weib gegen diese Reize gleichgültig seyn konnte, und ihm selbst zwar am meisten.
Tschu-Kiang trat ein und spielte seine Rolle als chinesischer Stutzer vortrefflich. Er behandelte das Ceremoniell nur mit einer gewissen Oberflächlichkeit, die auch in dem affectirten Styl seines Ganges wiederkehrte. Der Körper wiegt sich, alle Theile an ihm hängen nur mit einer schlotternden, aufgeknüpften Nachlässigkeit zusammen, der Unterleib muß mit der rechten Schulter in einer correspondirenden, zuckenden Bewegung fortwährend abwechseln, und dem Gange ein Uebergewicht nach der rechten Seite hin geben. Die Kleidung entspricht diesem Benehmen, wenn man an die Stelle der graciösen Nachlässigkeit die übertriebene Sorgfalt und Zierlichkeit treten läßt. Welche prächtigen Kostbarkeiten waren über dem Helm, über die glatte Stirn und über den Gürtel gezogen! Welche Reichthümer an Edelsteinen hingen an den weißgemalten Ohrzipfeln! Tschu-Kiang glich einem Bräutigam, der zum ersten Male in die Kammer seiner Braut tritt.
Der Oberst unterließ niemals durch ein Geschenk oder sonst eine Gefälligkeit seine Besuche willkommener zu machen. So griff er auch heute zuerst nach seinen seidenen Stiefeln, aus denen er etwas Eingewickeltes hervorzog.
»Was bringen Sie, mein junger Freund?« fragte der Correspondent.
»Nichts von Belang,« antwortete der Oberst; »aber als ich mich gestern Abend, müde des Gelärms in den Straßen, zur Ruhe legte, klopfte es noch spät an die Thür der Caserne. Ich höre Pferdegetrappel, einen Wortwechsel mit der Schildwache, die späte Besuche nicht hereinlassen soll, und dabei zuweilen meinen Namen nennen, an den appellirt zu werden schien. Ich schickte hinunter, verschaffte dem Boten Einlaß, erhielt ein zärtliches Schreiben von meiner Tante und ein großes Stück geräuchertes Rindfleisch, das von einem der berühmten Ochsen in Wampu geschnitten ist.«
»Sie Glücklicher!« konnte der neidische Correspondent, der einen guten Bissen nicht verschmähte, anzumerken nicht unterlassen.
»Mein väterlicher Freund! Sie beschämen mich,« fiel der zuvorkommende Oberst ein, und wickelte das saubere, in Seidenpapier geschlagene Päckchen aus einander. »Kann ich mit einer Probe, der auf einen Wink von Ihrer Hand mehr folgen wird, aufwarten?«
Einem solchen Anerbieten und dem kräftigen, würzigen Geruche, der es begleitete, vermochte der Correspondent nicht zu widerstehen; er griff hastig zu, und steckte die dargebotene Gabe, die in kleine Theile geschnitten war, in den Mund.
»Es ist unübertrefflich, dieß classische Vieh von Wampu,« sagte er mit verstopfter Stimme, und fügte dann kauend hinzu: »Die heilige Sage hat den Ursprung der Kühe von Wampu erklärt. Sie erzählt von einem Gotte, der bei einem Mandarinen am grünen Fluß einst einkehrte. Dieser lebte in frommer Gottseligkeit, und mühte sich ab, seinem dürren Boden einen Ertrag abzugewinnen. Der Gott wollte ihm die Reinheit seines Herzens belohnen, und sagte zu ihm: In aber drei Jahren werden deine Kühe goldene Kälber werfen! Der Mandarin erstaunte, fuhr aber fort, sein Land zu bebauen, es mit Canälen zu durchschneiden, die grüne Weide zu schonen, kurz dieß Versprechen des Gottes ging herrlich in Erfüllung, denn seine Kälber wurden auf dem Markte mit Gold aufgewogen. Von diesem Mandarinen am grünen Fluß stammen alle Ochsen in Wampu. Ihre Tante wird Ihnen das erzählen können. Ihr Fleisch find' ich delicat.«
Schü-King hatte sich beim Eintritt des Obersten zurückgezogen und ein zweiter Narcissus ihre Unterhaltung in einem Spiegel gesucht. Sie vertiefte sich im Anschauen ihrer Schönheit, verfolgte die sanften Wellenlinien, mit denen die Natur nur in ihren Feierstunden zeichnet, und ging in dem glänzenden, schwarzen Abgrund ihres Auges unter. Der alberne Oberst mit seinem Rindfleisch! Auch Schü-King hatte Geruchs- und Geschmacks-Nerven; der würzige Geruch stieg ihr in die Nase, und den Heißhunger ihres Bruders verwünschend, ließ sie den metallenen Spiegel aus der Hand fallen.
»Herr Tschu-Kiang,« sagte sie, um ihren Aerger zu unterdrücken, »sollte seinen Degen und Helm in das Depot abliefern, zu seiner Tante ziehen, die Landwirthschaft lernen, und sich endlich als Markt- oder Speise-Meister in Peking oder Kanton anstellen lassen.«
Der Oberst, immer noch vor dem schmausenden Correspondenten stehend, und ihm mit beiden Händen das Papier hinhaltend, ließ es über diese Anrede fallen, wandte sich zur holden Sprecherin und sagte mit süßlicher Stimme: »O Schü-King, Widerschein eines höhern Lebens, ich werde täglich gewisser in meinen Hoffnungen, die Sie einst Vermessenheit nannten. Wie Sie liebevoll für meine Zukunft Sorge tragen! Warum soll ich den Helm, der nächst dem Zopf die schönste Zierde meines Hauptes ist, warum soll ich den Degen von meinen Lenden legen, für die er geschaffen ist? Sie fürchten für mein Leben; denn die Gefahren des Kriegs sind unzählbar. Aber meinem Muth, meiner Tapferkeit, meinen bewiesenen Tollkühnheiten werden Sie die letzte seyn, Ihre Bewunderung zu versagen? Kriegerischer Größe hält sich der zarte Sinn des Weibes am meisten verwandt.«
»Von welchen Gefahren sprechen Sie, lieber Oberst?« fragte Schü-King lachend. »Die halbe chinesische Artillerie besteht aus papierenen Kanonen, und die andere Hälfte ist von den Tataren vernagelt worden. In den Schlachten sind die Cavalleristen durch ihre Regenschirme gesichert. Ich muß lachen, wenn Sie von Gefahren sprechen.«
»Schü-King, der Traum meiner Seele,« antwortete Tschu-Kiang, »wird niemals im Stande seyn, einer grausamen Empfindung ihr fühlendes Herz zu öffnen. Nein, diese Regenschirme sind eine Erfindung der Humanität, und unser aufgeklärtes Zeitalter sollte die Ausgabe nicht scheuen, sie feuerfest zu machen. Das Wechseln der Kugeln ist im Kriege eine traurige Notwendigkeit, die wir den tückischen und feigen Europäern verdanken; nur im Handgemenge zeigt sich die Kraft und die Gewandtheit eines Mannes.«
Der Oberst wollte von diesen Vorzügen, die ihn persönlich trafen, sogleich eine Probe ablegen, und fuhr mit der rechten Hand hinter die linke Seite des Rückens, um seinen Säbel mit Blitzesschnelle aus der Scheide zu ziehen. Man weiß, daß die Chinesen ihre Säbel mit der Spitze nach vorn und dem Griff nach hinten tragen, und demnach über den Rücken vom Leder ziehen. Aber der Oberst selbst hatte vergessen, daß außer dem Dienst die Klingen befestigt seyn müssen, und die Probe seiner Tapferkeit, die in der schnellen Gewandtheit beim Herausziehen liegen sollte, konnte deßhalb nur einen komischen Erfolg haben, über den Schü-King in ein unmäßiges Lachen und Händegeklatsch ausbrach. Tschu-Kiang ließ beschämt die vernagelte Scheide fallen, und strich sich verlegen seinen gewichsten Knebelbart.
Endlich hatte sich der Correspondent von dem verführerischen Anblick der zerschnittenen Fleischstücke dadurch befreit, daß er sie aufgegessen hatte. Die chinesische Gefräßigkeit, die alle Gränzen überschreitet, machte jetzt seinen Speculationen wieder Platz, und es fiel ihm zuerst ein, daß ihm zur Verfolgung derselben der Oberst nicht günstiger hätte erscheinen können. »Vom Krieg redet ihr, meine Lieben?« begann er, der von dem lächerlichen Gestus des Obersten nichts bemerkt hatte, »und könnt über einen so ernsten Gegenstand euch in Lachen ausschütten? Lao-Tse äußert sich darüber wie immer mit einer unübertrefflichen Wahrheit. Der Krieg, sagt er, ist ein Kaufmann, der seine Kunden betrügt. Er gibt ihnen Sand in goldnen Büchsen und Asche in versilbertem Seidenpapier. Der Krieg macht dich mächtiger und reicher, aber er verwildert deine Sitten, und macht dich stinkend vor den Göttern. Ich finde darin eine traurige Wahrheit, an der nichts Lächerliches ist.«
Schü-King gab dieß zu, erklärte aber: »das himmlische Reich hat vor einigen Lastern Ruhe, und der Krieg gehört dazu. Mit wem wollen wir Krieg führen? Wo soll sich die Tapferkeit Tschu-Kiangs bewähren? Warum ist der Oberst nicht in die Factorei nach Kanton gegangen, um unter den holländischen Fahnen zu sterben?«
»Wir sind täglich den Gefahren des Krieges ausgesetzt,« sagte der Verspottete; »die innere Ordnung des Staats ist nur die Folge kriegerischer Anstrengungen. China's Polizei hat nichts von der Polizei in andern Ländern, sondern bei uns ist sie ein Krieg der Guten gegen die Bösen, der Wachsamkeit gegen die Verruchtheit. Es ist wahr, die Hälfte unsrer Artillerie sind papierene Kanonen, aber wir müssen sie bedienen, als seyen sie von Metall. Können Aufrührer, die nur zu oft die Ruhe des himmlischen Reiches stören, in der Ferne unterscheiden, ob die Lunte über einer fingirten, oder einer vernagelten oder einer dienstfähigen Kanone schwebt? Sie werden vor jeder zurückschrecken, und der Krieger muß also jede auf gleiche Weise behandeln. Nein, wir haben noch nicht aufgehört, auf dem Fuße des Krieges zu stehen.«
Es war jetzt an dem Correspondenten, seine Entscheidung zu geben; er aber zog sein Antlitz in sehr ernste Falten, nickte einige Male nachdenklich und ließ sich schweigend auf den Divan neben Schü-King, die ihren Spiegel nicht aus der Hand ließ, nieder. Die Diener ordneten die Mittagstafel an, und der Oberst erhielt seinen Ehrenplatz. Der Correspondent von seinem geräucherten Rindfleisch halb gesättiget, fand Zeit, seinen Mund auch zum Sprechen in Bewegung zu setzen. Nach dem ersten Gericht, das aus marinirten jungen Bambusstängeln, einer zarten Frühlingsspeise, bestand, ergriff er ein Kelchglas mit Wein, hob es bis zur Stirn, setzte es an den Mund, trank in sieben langsamen Zügen auf das Wohl seines Gastes, und senkte es dann tief auf den Tisch, wie es chinesische Sitte ist, weil Jedermann sehen mußte, daß es auch in der That und Wahrheit geleert war. Dann begann er, in seine Rede unzweifelhaft eine versteckte Absicht legend: »Wenn ich auf das Wohl eines Freundes trinke, so denk' ich dabei nicht nur an die Erhaltung seines Glückes, sondern auch an die Beförderung desselben. Sie, mein Theurer, stehen auf einer Stufe, die für Ihre Jugend außerordentlich ist. Ich erstaune, welchen Weg sie noch machen können mit Ihren Empfehlungen, Ihren Talenten.«
Schü-King reichte dem sich stolz aufrichtenden Tschu-Kiang ein in China sehr geschätztes, kostbares Gericht, gebratene Hirschschwänze, und fügte die ironischen Worte als Aufguß hinzu: »Zwar ist der Hirsch ein schlechtes Symbol für einen Krieger, aber die Schönheit seines Geweihes übertrifft Alles. Der Hirsch ist ein umgekehrter Mandarin; je mehr Enden er an seinem Geweih hat, desto kostbarer sein Werth; der Mandarin, je weniger Grade er zählt, desto vornehmer sein Stand. Auf welcher Stufe stehen Sie doch Oberst?«
»Auf der neunten, Schü-King,« antwortete Tschu-Kiang sehr ernst; »aber die Liebe zu Ihnen wird meinen Talenten Flügel geben; ich zweifle nicht daran, daß der Sohn des Himmels beim nächsten Avancement mich die achte Stufe überspringen läßt, und mich sogleich auf die siebente befördert.«
»Dann kommen Sie mir sehr nahe,« sagte lächelnd der Correspondent, dem es ein bitteres Gefühl war, noch auf der sechsten Stufe zu stehen. »Aber lassen Sie die Erwartungen, die Sie auf ungewisse Zufälle richten. Man muß weiter reichen als das Schicksal. Das ist ein Grundsatz, der zwar irreligiös klingt, aber aus der tiefsten Lebensphilosophie geschöpft ist.«
»Mein Bruder hat Recht,« sagte Schü-King, »das Terrain ist Ihnen nicht günstig, Tschu-Kiang. Zwei gleich harte Steine mahlen nicht gut; zwei Sonnen dürfen am Himmel nicht stehen. Was schadet Ihnen die Nebenbuhlerschaft des Generals? Verlassen Sie das kalte Lassa!«
Der Oberst wurde heute von dem Uebermuthe seiner Freundin grausam verwundet. »Der Wille des Kaisers bindet mich an diesen Ort,« sagte er; »ich kenne nur seine Gesetze und die welche mir das eigne Herz vorschreibt. O Schü-King, verläßt die Eidechse den Ort, wo sie ihren Rücken sonnen darf? Pflanzt sich die Blume auf einen Felsen, wo sie nur im Stein wurzelt? Wie kann ich Lassa und Ihre Nähe verlassen?«
»Mein Freund!« unterbrach ihn der Correspondent; »Sie kennen die Gesinnungen meiner Schwester, aber die meinen sind Ihnen noch verborgen. Auch diese werden Ihnen offenbar werden, wenn ich Sie mit den Aufträgen bekannt mache, die ich von Peking erhalten habe. Ihr Name steht unter den vornehmsten Personen, die zur Ausführung derselben bestimmt sind. Nach der heutigen feierlichen Procession erwarten Sie darüber die nähern Aufklärungen.«
Tschu-Kiang war entzückt. Dieß Vertrauen überraschte ihn, obschon er nicht daran zweifelte, desselben im höchsten Grade würdig zu seyn. Die Erwähnung der Procession erinnerte ihn an die Erneurung seiner Toilette, er nahm noch einige Tassen Thee, sagte Schü-King einige Schmeicheleien über die liebenswürdige Art, mit der sie jetzt die Tabakspfeife in den Mund nahm, und empfahl sich, von dem Correspondenten bis zum Ausgang begleitet. Sie winkten sich einander zu, als wüßten sie das schon, was sie erst erfahren sollten. Nichts kann uns einen dümmern Anstrich geben, als die Affectation des Einverständnisses.
Schü-King begab sich in den Harem ihres Bruders, der Correspondent beeilte sich, für die heutige Festlichkeit seinen officiellen Schmuck anzulegen.
Diese Festlichkeit folgte in unmittelbarem Wechsel auf die gestrige Trauer-Ceremonie. Es ist die Pflicht des Lebenden, das Recht der Todten anzuerkennen. Freude und Leid reichen sich wechselseitig die Hände, um den Menschen in der größten aller Tugenden, in der Mäßigkeit, zu erziehen. Der während der Minderjährigkeit des jungen Lama an der Spitze der Geschäfte stehende Stellvertreter war kurz vor dem Ende seiner Regentschaft gestorben. Obgleich der Lama noch nicht völlig das gesetzmäßige Alter erreicht hatte, so war man doch in der Berechnung einiger Monate nicht peinlich, und zog den, welchem Jahre wie Stunden sind, aus seiner Verborgenheit hervor, um ihm die Zügel der Weltordnung in die Hand zu geben. Man vermied die neue Wahl einer Statthalterschaft von zwei Monaten, und sah in dem Tode des Regenten den Willen der Gottheit, sich bald in Fleisch zu offenbaren. Deßhalb folgte auf das Trauerfest um einen weisen, besonnenen Mann, dem Tibet seine Erhaltung während zehn Jahren verdankte, sogleich das große Freudenfest der endlichen Erscheinung des Königs der sechszehntausend Welten, das Fest der Wiederkunft des Himmels auf der Erde.
Wir wollen die frohlockenden Bewohner von Lassa nicht verfolgen, wie sie ihre andächtigen Empfindungen in den Tempeln und Straßen zur Schau tragen, wie sie die Luft mit ihren Jubeltönen erfüllen, und mit sechsfüßigen Trompeten den Herrn des Himmels in die Welt einblasen. Wir begnügen uns den festlichen Zug zu beschreiben, welcher den Dalai Lama aus seinem frühern Sitze in die Burg der Götter geleitete, und daran nichts zu ändern, als die pompöse Langsamkeit durch einen mehr beschleunigenden, raschen, anapästischen Schritt.
So weit sich in einem Tage die Nachricht von dem neuen, der Welt erschienenen Heile hatte verbreiten können, waren die Einwohner an den Ort des Wunders zusammengelaufen. Neugier und Andacht hatte eine unabsehbare Menge von Zuschauern versammelt. Der Weg, den der Gott zu machen hatte, war in der Eile noch besonders zugerichtet worden. Zwei Spaliere, weiß angestrichen, bildeten eine Straße, durch welche sich der Zug bewegte. Auf beiden Seiten lagen in kleinen Entfernungen aufgethürmte Steinhaufen. An den Spalieren entlang stand eine doppelte Reihe von Priestern, die eine wohlriechende, aromatische und musikalische Barrière bildeten; denn sie trugen angezündete Kerzen, die einen angenehmen Geruch verbreiteten, schwangen Rauchfässer und accompagnirten die gesungenen Hymnen mit Hoboen, Seemuscheln und den unerläßlichen Pauken.
Der Lärm wird schwächer, die Erwartung versagt der Kehle den Athem, der ängstlich zurückgehalten wird. Sie nahen, sie nahen, die Heiligen alle und der Heiligste in ihrer Mitte!
Die Hohenpriester und Schriftgelehrten sind wie immer die ersten Apostel eines Wunders. Sie zogen voran in beträchtlicher Anzahl, zwei und zwei, in der einen Hand eine Ruthe, in der andern ein Rauchfaß, das an drei metallenen Ketten am Ende eines langen Stabes hing, und einen dichten Rauch verbreitete. Sie waren in lange Röcke von gelbem Tuche gekleidet, und hatten eine kegelförmige Kappe von derselben Farbe auf dem Haupte, von der an den Seiten ein paar Läppchen zur Bedeckung der Ohren fielen. Es ziemt sich nämlich für die Verkünder eines neuen Cultus auf nichts zu hören, als die eigne Begeisterung.
Der Bund der Priester mit dem Machthaber ist so alt wie die Religion. Die Schergen der Souveraine sind die Krieger. Sechs- bis siebentausend Mann Cavallerie, die mit Köcher, Bogen und Gewehr bewaffnet waren, folgten unmittelbar auf die fromme Avantgarde. Sie wurden von einem Manne befehligt, dem der Haufe abgöttische Verehrung erwies. Er trug ein gelb atlassenes Kleid mit Zobel gefüttert, und war um die Lenden gegürtet. Ein dunkel karmoisinrother scharlachartiger Mantel, der zum Theil sein Atlaskleid bedeckte, ging um den Leib herum, das Ende aber ruhte auf der linken Schulter, so daß der rechte Arm frei war. Er trug einen runden Hut, der mit einem gelben glänzenden Firniß bezogen war, und rothe Stiefeln von bulgarischem Leder. Dieß war der General der tibetanischen Truppen, die aus Kalmücken bestanden. Er hieß der Bruder des Dalai Lama, und war es in der That dem Fleische nach.
Wer hinter der Vorhut die erste Stelle hatte, konnte ihn für den Ehrenplatz halten. Es war billig, daß der chinesische Correspondent ihn behauptete. Unser Freund trat in einer angemessenen Umgebung auf, die den Stolz ihres Führers theilte. Ich erwähne hier nichts von der Garderobe; denn wäre dieß Häuflein in sackleinenen Kleidern aufgetreten, so würde es im Gefühl seiner Souverainetät dennoch das Haupt am kühnsten erhoben haben. Aus der Mitte des diplomatischen Corps ragte ein langer Bambusstab hervor, welcher die Vollmacht des Correspondenten als kaiserlich chinesischen Umba's enthielt. Die Tibetaner sahen mit Scheu auf diese Acte ihrer politischen Abhängigkeit.
Der chinesische General hatte in Lassa scheinbar nur die Mission des Schutzes für den Correspondenten; es war also natürlich, daß er ihm nachging. Er befehligte seine Cavallerie, die nach ihrer Art mit Feuergewehr, Säbel, Helm und papiernen Harnischen bewaffnet war. Der Oberst Tschu-Kiang ritt dicht hinter dem General, überall, wo er ein schönes auf ihn blickendes Auge vermuthete, sein Pferd zum Courbettiren stachelnd. Seine Person kennen wir, aber die Verzierungen seines Rosses sind uns neu. Das Thier, das er ritt, war mit großen karmoisinrothen Quasten und anderem prächtigen Geschirr geschmückt, und mit einer Menge Glöckchen an einem Halsbande behangen, die, so wie es sich in langsamen Schritten bewegte, harmonisch klangen. Uebrigens war der Körper des Pferdes von den vielen seidenhaarigen Kuhschwänzen, die auf beiden Seiten hingen, kaum zu sehen. Ich kann den Sonnenschirm nicht übergehen, der am Halse des Pferdes befestigt war, und den zarten Teint des Reiters gegen die bräunenden Sonnenstrahlen schützte. Selbst in der heißen Jahreszeit ist die Hitze in Lassa erträglich, aber der Oberst wußte, wie schön ihm die Bewegungen seines Armes standen, wenn er sich mit einem Fächer Kühlung zuwehte, und hatte also diesen Fächer nicht vergessen. In dieser Coquetterie ließ er sich nur stören, wenn er zuweilen einen interessanten Gegenstand, ein durch ein Fenster blickendes Mädchenauge belauschen wollte. Er hielt sich dann mit vieler Grazie seine Brille vor die Augen, die er nach chinesischer Sitte an einem Bande im linken Ohrzipfel trug.
Jetzt folgten verschiedene Gruppen, welche mancherlei Staats-Insignien, Fahnen und Standarten führten; nach ihnen kreischende Instrumente und zwei mit reichen Decken belegte Pferde, deren jedes zwei runde Wannen trug, die mit brennendem wohlriechendem Holze gefüllt waren.
Ein Priester-Senior trug in einem Kästchen die Gebetbücher und einige der vorzüglichsten Götzenbilder. Hinter ihm wurden neun prächtige Pferde geführt, die mit einem Gegenstande beladen waren, der ein sonderbares Attribut der Gottheit ist. Aber auch unsere Künstler sind von der unanständigen Nacktheit, mit welcher die Griechen ihre Götter bekleideten, zurückgekommen. Wir sind schon lange gewohnt, die bildlichen Darstellungen unserer Gottheiten nicht ohne Kleider zu lassen, und man wird es daher nicht auffallend finden, daß jene neun Rosse die Garderobe des Gottes der Tibetaner trugen.
Die irdische Hülle des Allerheiligsten ist jetzt an uns vorüber. Die Pulse stocken, die Herzen beben, die Kniee wanken, und mit heißen Thränen sinkt der Gläubige nieder. Er hat kein Auge mehr für die vielen hundert Diener, die zu der nächsten Umgebung des Herrn der Heerschaaren gehören, für die großen goldenen, mit sinnbildlichen Figuren geschmückten Gefäße, welche zwei Männer auf ihren Schultern tragen, und das gewöhnliche Geschenk des Kaisers von China an den neuen Lama bilden; kein Auge mehr für jene Seligen, die an den Stufen seines Thrones stehen, um die Bittschriften zu empfangen und die Almosen auszutheilen; denn in diesem Augenblicke theilen sich die Wolken-Vorhänge des Himmels, die Donner und Blitze rollen und zucken unter dem Fuße des Allmächtigen; die Heiligen mit goldenen Kronen stimmen den Lobgesang an, und die Schöpfung lauscht entzückt dem Preise seiner Herrlichkeit und großen Gewalt.
Du stehst auf von dem Boden, der deine leisen Seufzer und stillen Gebete gehört hat; eine wilde Menge drängt sich dem Zauber nach, den du nun empfunden und mit deinem geistigen Auge geschaut hast. Du weißt nichts von dem prächtigen Thronhimmel, der seinen Tragsessel beschattete; nichts von den sechzehn Chinesen, die zum Zeichen der Huldigung deinen Heiland auf den Schultern trugen. War er jung? War er ein Greis? Flossen Locken über seine Stirn? Strahlte freundlich sein Auge? Oder wurde Trübsinn und Wehmuth von seinen Wimpern beschattet? Hielt er die Hände gefaltet, oder hob er sie auf zum Lichte der Sonne? Dein Auge war geblendet, und dennoch hast du ihn von Angesicht geschaut. Dein Auge sah ihn, und dennoch legte sich auf deinen Mund ein geheimnißvolles Siegel, das weder die Neugier eines Andern, noch das Gelüst deiner eignen Erinnerung je lösen wird.
Die Barrièren der Priester lösen sich auf und drängen sich hinter den Queue der Procession her. Erst am späten Abend gelangt der Zug an den Palast des Lama. Die Menge harrt mit Sehnsucht, daß auf den Thürmen desselben die Fahnen aufgesteckt werden, welche den Moment bezeichnen, da sich der Herrscher auf seinen Thron niederläßt. Ein donnerndes, weit in den Bergen nachhallendes Freudengeschrei wirbelt in der Luft, und bringt einem Thale nach dem andern die freudige Kunde von dem erschlossenen Jenseits.
Du aber, frommer, gläubiger Beter, schlägst dein Auge zu Boden und kehrst in Frieden zu deinen häuslichen Mauern zurück. Dein Mund zittert von inbrünstigem Gebet. Du versammelst deine Söhne und Töchter, und lehrst sie die Tugenden, die den Menschen zieren, die Weisheit, die der Anker seines Lebens ist, und die Hoffnungen, die einst über das brechende Auge und über die erblassenden Lippen eine schmerzlose, freudige Heiterkeit gießen!